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STAR TREK

THE FALL

DER KARMINROTE
SCHATTEN

UNA MCCORMACK

Based on
Star Trek and Star Trek: The Next Generation
created by Gene Roddenberry

Star Trek: Deep Space Nine
created by Rick Berman & Michael Piller

Ins Deutsche übertragen von
Christian Humberg

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Original English language edition copyright © 2013 by CBS Studios Inc. All rights reserved.

Für Jenny
als Wegweiser

HISTORISCHE ANMERKUNG

Die folgenden Geschehnisse ereignen sich zwischen dem 24. August und dem 4. September 2385. Die cardassianische Kastellanin ist unterwegs zur Einweihung der neuen Raumstation Deep Space 9 (STAR TREK – THE FALL »Erkenntnisse aus Ruinen«).

TEIL EINS

DER AFFEKT

»Die Erde ist das Ziel. Sie steht am Ende aller Dinge.«

– Preloc

Meditationen über einen karminroten Schatten
Band III (Erde), 3, iv

EINS

Mein lieber Doktor,

es betrübt mich, Sie bei Ihrem jüngsten Heimatausflug nicht getroffen zu haben, doch es war ein kurzer Besuch und auch meine Zeit leider nur begrenzt. Das Leben eines Botschafters erweist sich als hektischer als das eines Schneiders, und meine Mittagspausen sind nicht mehr annähernd so lang und unterhaltsam wie es unsere gemeinsamen im Replimat einst waren.

Vor zehn Tagen verließ ich Ihre Welt und befinde mich nun auf dem Heimweg – auf keinem geringeren Schiff als der Enterprise! Sie wissen, wie sehr der Gedanke einer Rückkehr nach Cardassia, dieser mir so lange verwehrte Luxus, mein Gemüt beglückt. Und auch wenn ich gestehen muss, dass mich Ihre Welt mit jedem Tag, den ich sie kenne, stärker fasziniert, so bleibt mein Verlangen doch ungebrochen, von meinem eigenen Volk umgeben zu sein, die heißen Sonnenstrahlen der Heimat zu spüren. In Ihrem letzten Brief fragten Sie, ob ich eine endgültige Heimkehr erwöge, und wahrhaftig ist dieser Gedanke stets bei mir. Doch die Allianz unserer beider Zivilisationen ist noch wacklig, und ich glaube, ihr noch immer dienen zu können. Meine Pflicht gegenüber Cardassia treibt mich um – nach wie vor. Wenn auch nie wieder, so hoffe ich, in dem Ausmaß wie in der Vergangenheit …

Bald werden wir nun also Ihre Präsidentin bei uns begrüßen. Ist es das erste Mal, dass eines Ihrer amtierenden Oberhäupter unsere Welt besucht? Ihr brillanter Verstand wüsste die Antwort darauf bestimmt sofort. Und ich hoffe, die Präsidentin fühlt sich bei uns sehr willkommen. Während der vergangenen Monate besprachen wir den Rückzug der letzten Sternenflottenangehörigen von unserer Welt, und ich bekam Nan Bacco recht häufig zu Gesicht. Ich respektiere ihre Vision für unser Volk und bewundere ihre literarischen Kenntnisse. Sie erwies sich mir in Ihrer Abwesenheit als durchaus akzeptabler »Ersatz-Mitesser«.

Gehaben Sie sich wohl, Doktor. Und behalten Sie Ihre Nachrichten im Auge. Schon bald wird der ganze Quadrant Ihre Präsidentin neben unserer Kastellanin stehen sehen, und obwohl Sie mich nicht erblicken werden (denn es ist nun einmal meine Art, in den Schatten zu verweilen), seien Sie doch versichert, dass ihr Aufeinandertreffen nicht zuletzt zurückgeht auf

Ihren treuen Freund

Elim Garak

Vor dem Feuer und vor dem Fall, die die cardassianische Vormachtstellung beendeten und dieses patente, feinsinnige, stolze Volk beinahe auslöschten, bot die cardassianische Hauptstadt einen Anblick sondergleichen. Näherte man sich ihr per Shuttle aus dem niedrigen Orbit (wie es Elim Garak, dem immens nachsichtigen Sohn dieser Welt, dem immense Nachsicht entgegengebracht worden war, so oft in seiner Karriere vergönnt war), sah man die gesamte Stadt unter sich. Hier im Süden, nahe dem Fluss und bei Tag und Nacht vom Lärm der Shuttles geplagt, lag der Bezirk Torr, wo sich das Leben in dicht an dicht stehenden Wohnsiedlungen abspielte und der bittersüße Duft von Gelat unwiderstehlich von den Eckbauten herüberwehte.

Danach folgten die Stahl-und-Glas-Türme von Barvonok mit ihrem silbrigen Glanz. Hier wandelte eine höchst eigenartige Alchemie das, was in der Union an Geld erwirtschaftet worden war, in noch größeren Reichtum für die Finanzstärksten des Bezirks um. Wandte man den Blick nach Westen, so erspähte man die langen, niedrigen Reihen der Lager und Fabriken Munda’ars, von wo aus das, was auf den Welten der Union entstanden war, über die gesamte Heimatwelt distribuiert wurde. In Akleen kündeten lange, kupferfarbene Ithian-Baumreihen von den Alleen, über die Cardassias Miliz viele Jahre lang voller Stolz marschiert war. Und zu guter Letzt lag wieder im Norden, hoch oben über dem Rest, Coranum, wo die Reichen und (somit) Mächtigen aus ihren Villen heraus zwar distanziert, aber aufmerksam über das große Imperium wachten, ihren stolzesten Besitz. All dies konnte man erblicken, wenn man sich mit einem Shuttle im Landeanflug befand; und wer diese Welt – die Heimat – so sehr liebte und sich für den Dienst an ihr derart aufopferte wie Elim Garak, dem schlug das Herz bei ihrem Anblick höher, denn sie war alles für ihn.

Nun jedoch existierte diese Stadt nicht länger. Das Feuer hatte sie genommen. Es war nicht wählerisch vorgegangen – alt oder neu, reich oder arm, Bauwerk oder Lebewesen, das hatte die Flammen nicht gekümmert. Wer Cardassianer war, so hatten die Besatzer offenbar gedacht, gehörte vernichtet. Ausgelöscht, als habe er nie existiert. Und all die Wohnsiedlungsblöcke und Türme, all die Villen und Finanzbauten waren gefallen.

Doch es liegt etwas Unzerstörbares im cardassianischen Gemüt (wie der unerschütterlichste Sohn dieses Volkes, Elim Garak, bestätigen kann). Schon erwuchs eine neue Stadt aus den Gebeinen und der Asche der alten – mutig, ungewiss und nicht arm an Rückschlägen. Neue Türme wurden errichtet, neue Alleen zwischen ihnen gelegt. Wege zu neuen Chancen, neuen Schlupflöchern.

Es blieb allerdings auch etwas vom Alten zurück. Und wie ein Wiedergänger suchte es die halb fertige neue Stadt heim.

Etwa im nördlichsten Teil Torrs (kein willkürliches Beispiel, betrifft diese Erzählung ihn doch direkt). Einst war Torrs Norden dicht besiedeltes Gebiet gewesen, dessen Einwohner tagtäglich per Zug in die Munitionsfabriken von Munda’ar gereist waren. Als die Jem’Hadar gegen Ende des Dominion-Krieges gekommen waren, hatten sie hier viel zu morden vorgefunden, hatten Torrs schmale Sackgassen doch niemandem die Flucht erlaubt. Binnen weniger kurzer Tage waren von dem lebendigen Bezirk nurmehr Trümmer, Asche und Leichen übrig gewesen.

Als Nächstes war dann die Föderation eingetroffen. Sie hatte ihre Hände geöffnet, Obdach, Nahrung, Medizin verschenkt. Und kaum hatte man die Trümmer beiseitegeräumt, die Leichenreste begraben, da wuchsen wieder neue Mauern in die Höhe; kleine, graue, einheitliche Zweckbauten, in denen sich die Überlebenden dankbar zusammenfanden. Und denen sie langsam, ganz langsam, ihren Stempel aufdrückten.

Etwas vom Alten im Neuen. Irgendwie gruppierten sich die Zweckbauten in Gedenken an die alten Straßen und Pfade, und verloren geglaubte Wandgemälde erschienen auf neuen Fassaden. Die Überlebenden brachten mit, was von ihren alten Freund- und Feindschaften noch existierte, und schätzten ihre letzten Habseligkeiten mehr denn je, waren auch sie doch beinahe verloren gegangen. Das neue Eckhaus beispielsweise, in das man einzog, weil es auf dem Staub der alten Heimstatt stand. Die neue Straße, deren Vorgänger man bereits seit Anbeginn der Zeit nicht zu übertreten gewagt hatte und die man deswegen auch fortan mied.

Vor allem überlebte aber das alte Ethos, der (jeglichen Gegenbeweisen trotzende) Glaube, etwas Besseres als ein Cardassianer könne niemand sein. Das Leben von einst – mit seinen sicheren Jobs, sicheren Mustern und sicheren sozialen Gefügen – mochte größtenteils der Vergangenheit angehören, aber hier im Norden bemühte man sich dennoch, es fortzusetzen.

Nord-Torr war auch militant, immer schon. Nordleute unterschieden sich eben von den Friedenspfeifen im Osten des Bezirks, die sie mit Inbrunst verachteten. Nord-Torr lieferte die Soldatenburschen, die der Union dienten – das Fußvolk, nicht die Legaten –, und zwar seit vielen stolzen Generationen. Und es konnte einfach nicht verstehen, warum dieser Dienst plötzlich nicht mehr geachtet wurde, weshalb seine Söhne nicht mehr gefragt sein sollten. Was erlaubte sich das Militär, sie zu verschmähen? Nord-Torrs Stolz war verletzt, sein Besitz enteignet – und sein Boden daher fruchtbar für Populisten, die Wahlkreise suchten. Es gab viele Personen im neuen Cardassia, die sich Chancen erhofften.

Der Norden war kein Ort auf Cardassia Prime, an dem ein Neuling schnell Wurzeln schlug. Daran hatte sich wenig geändert. Trotzdem versuchte ausgerechnet dort jener junge Mann namens Rakhat Blok seit einigen Monaten, heimisch zu werden. Bloks Miene war die vieler Cardassianer seiner Generation, geprägt von einem früh entstandenen und dauerhaft romantischen Glauben an die eigene Kultur. Hätte man ihn gefragt (was niemand tat), hätte Blok erklärt, dass er auf einer der landwirtschaftlichen Welten der Union geboren und eines Lebens voller ebenso langweiliger wie harter Arbeit schnell überdrüssig geworden sei. Er hatte sich der Armee verpflichtet, kaum dass Skrain Dukat die Macht ergriffen und Volk und Reich dem Dominion überantwortet hatte.

Blok war Soldat geworden. Wenngleich nur von niederstem Rang, hatte es ihm gefallen, gehorsam zu sein und immer gleiche Aufgaben zu erfüllen. Hätte man ihn gefragt (was niemand tat), hätte Blok betont, die Kameradschaft gemocht zu haben – mit mehr Geld denn je in der Tasche. Das Gefühl, Teil von etwas zu sein, das größer war als er. All dies hatte er genossen, bis man ihn an die romulanische Front versetzt hatte. Dort hatte es ihm ganz und gar nicht mehr gefallen, und als der Krieg dann beendet war – ganz plötzlich, von einem Augenblick zum anderen –, schienen Ge- und Missfallen ohnehin Aspekte einer vergangenen Ära geworden zu sein. Binnen weniger Stunden war aus Blok, dem stolzen Diener der Union, ein Flüchtling vor den Jem’Hadar und Kriegsgefangener der Romulaner geworden. Nachdem diese ihn endlich entlassen hatten, war Blok heimgegangen und hatte dort jeden tot vorgefunden. Das hatte ihm am wenigsten von allem gefallen.

Hätte man sie gefragt, hätten zahllose Cardassianer seiner Generation ähnliche Geschichten erzählt. Wie viele von ihnen hatte auch der Mann namens Blok nicht lange zwischen den Ruinen seiner alten Heimat und bei den Geistern der toten Familie verweilen wollen. Irgendwie war er nach Cardassia Prime gekommen, in die Hauptstadt, und suchte Arbeit. Die Einheimischen erkannten ihn prompt als Fremden (als Jobdieb, wie es sie in jenen Tagen zuhauf gab), und gingen auf Distanz.

Blok bezog einen Bau, der aus alten cardassianischen Steinen und neuem Plastikret der Föderation errichtet war. Er teilte sich die Behausung mit einer Alten, die ständig vor sich hin murmelte, und einem Mann unbestimmbaren Alters, der nach Kanar stank, kein Wort sprach und der des Nachts, das hörte Blok durch die dünnen Wände, im Schlaf schrie, er ersticke, ersticke, ersticke … Blok gewöhnte sich an, nachts lange draußen zu bleiben, auf den Straßen und Wegen, und am Tag zu schlafen.

Jede Nacht passierte er das Geleta-Haus an der Ecke seiner Straße. Anfangs wagte er nicht, es zu betreten, doch in einer besonders späten und einsamen Stunde tat er es doch. Die Stammgäste schenkten ihm einen kurzen Blick, rückten dann näher zusammen, senkten ihre Stimmen und ignorierten ihn. Trotzdem kam Blok fortan jede Nacht wieder, saß allein und lauschte ihrem vertraulichen Gemurmel, bis in seinem Geist ein komplexes Bild ihres engen Zirkels entstanden war. Und er fragte sich, wie er ihn betreten könnte.

Sie sprachen viel, diese Leute; offener als unter den alten Regimes und offener, als ihnen bewusst war. Sie sprachen von Hunderennen und dem Wetterbericht, vom guten Kanar, den man einfach nirgends mehr bekäme. Sie sprachen oft von früher, als alles besser gewesen sei, und von dem jungen Politiker, der sie verstand und ihnen Dinge sagte, die sie gern hörten. Sie sprachen von den Unruhen der letzten Wochen im Süden, in der Stadt Cemet, deren Studenten einfach nicht wüssten, wie gut sie es hätten.

Eines Abends, etwa vier Wochen nach seiner Ankunft auf Prime, lauschte Blok wieder und zählte dabei im Stillen die vor ihm aufgereiht liegenden Münzen. Hätte man ihn gefragt, hätte er erklärt, warum eine Armeerente nicht ansatzweise reichte, in der Hauptstadt zu überleben, und dass er keine Arbeit fand, weil sich ständig Türen vor ihm schlossen. Und nun, da er seine Münzen zählte und dem mürrischen Gerede zuhörte, dass man momentan überall nur für vier von fünf Tagen gebucht würde, entschloss Blok, nicht länger zu schweigen.

»Vier von fünf Tagen?« Sein Akzent, fremdweltlerisch und ländlich, wirkte neben den flinken Zungen der Einheimischen holprig und dumm. »Was würd’ ich dafür geben. Ich habe keinen einzigen Tag gearbeitet, seit ich hergekommen bin. Nicht einen! Ich finde nichts. Was soll einer wie ich schon groß können, hm?«

Stille folgte. Blok ahnte, was sie dachten: Wenn’s dir hier nicht gefällt, Bursche, dann kannst du jederzeit wieder nach Hause verschwinden.

»Und daheim? Da gibt’s auch nichts mehr. Nicht nur keine Jobs. Auch keine Leute. Keine Häuser. Wisst ihr, wie es auf einigen Reichswelten aussieht? Könnt ihr euch das überhaupt vorstellen? Ich hab für die Union gegen Romulaner gekämpft …«

Das sorgte für eine Reaktion. »Die Zeiten sind für alle hart«, sagte ein Mann weiter hinten. Eine dünne helle Narbe zog sich durch eine seiner Augenwülste. In den Händen hielt er ein großes Glas, in das er blickte, als sei er sich über seine weitere Verwendung unsicher.

»Und ich frage mich, warum wir das noch länger dulden sollten«, sagte Blok. Sein Tonfall wurde schriller, so sehr drängte es ihn, die anderen von seiner Aufrichtigkeit zu überzeugen. »Wären da nur wir Cardassianer, hätte jeder von uns eine Arbeit. Aber so läuft es eben nicht. Die Regierung ist der Gnade von Sternenflottenoffizieren und Föderationsoffiziellen ausgeliefert! Die wollen uns die Jobs vorenthalten, denn wenn wir täten, was sie täten, hätten sie nichts mehr zu tun. Wir sind von ihnen abhängig geworden. Wie Bedienstete. Wie Sklaven. Wisst ihr, was das Schlimmste ist? Letztens sah ich eine Bajoranerin hier herumstolzieren, als gehöre der Ort ihr! Eine Bajoranerin

Abermals kehrte kurz Stille ein, doch ihr folgte zustimmendes Murmeln, unzufriedenes Knurren. Alte Feindschaften vergaß man nicht, nicht hier in Torrs Norden. Schließlich hatten viele Burschen von hier ihr Leben an den Widerstand verloren, als sie versucht hatten, das Volk Bajors vor sich selbst zu schützen.

Der Zirkel weitete sich, und mit einem Mal bemerkte der überraschte Blok, dass er ihm nun angehörte, dass das Schloss seinen Schlüssel endlich akzeptierte. Er sah auf sein Glas, das ihm jemand füllte, und hörte, wie man ihn nach seiner Geschichte fragte. Und er antwortete, schilderte sie ihnen, und erneut und erneut füllte sich sein Glas. So wurde Blok ins Viertel namens Nord-Torr aufgenommen. Am Ende jenes Abends, als sie das warme kleine Lokal widerwillig und zugunsten ihrer deutlich unattraktiveren Heimstätten verließen, stand er leicht schwankend auf den Stufen des Geleta-Hauses und spürte plötzlich eine stützende Hand auf der Schulter.

Er drehte sich um und sah ins Gesicht eines Mannes, der ihm den ganzen Abend über zugehört, aber kein Wort gesagt hatte. Sein Griff war fest, bemerkte Blok, und es lag kein Fuselduft in seinem Atem.

»Sie sind ein Mann, der Besseres verdient«, sagte der Mann.

»Das bin ich«, erwiderte Blok fest und nur ganz leicht lallend. »Das tue ich.«

Der Mann drückte ihm eine Datenkarte in die Hand. »Gehen Sie heim. Schlafen Sie sich aus. Und morgen melden Sie sich bei mir. Ich kann Ihnen Arbeit besorgen. Gute, sichere Arbeit. Arbeit, die Ihnen gefallen dürfte.«

Er lächelte zahnreich, zwinkerte, und dann wandte er sich um, ging die Straße hinab. Blok blieb nur, in Schlangenlinien nach Hause zu gehen, zu seiner Pritsche und den Albträumen der anderen. Doch er tat, wie ihm geheißen; er schlief gut, und als er die Datenkarte am folgenden Nachmittag fand, beschloss er, er könne sie genauso gut benutzen.

Captain Jean-Luc Picard war es nicht gewöhnt, dass seine Gesprächspartner nicht länger auf ihn achteten. Insbesondere, wenn sich diese in seinem Bereitschaftsraum aufhielten.

»Botschafter?«, fragte er. »Stimmt etwas nicht?«

Der cardassianische Föderationsbotschafter, bis eben noch ein höchst aufmerksamer Zuhörer, zuckte zusammen und atmete dann tief ein. Mit ausgestreckter Hand deutete er auf das Fenster.

Picard wunderte sich, welcher Anblick so erschreckend sein mochte, drehte sich um und sah eine hellbraune Scheibe, gezeichnet von dunklen Schatten und Narben, über der schweren Gewichten gleich zwei Monde hingen.

Cardassia Prime.

Ein Schauder der Anspannung zog über seinen Rücken. Der Botschafter betrachtete die raue Welt jedoch, als wolle er sie am liebsten mit beiden Händen packen und liebkosen.

Ob ich die Erde genauso ansehen würde?, fragte sich Picard. Mit Liebe, das ja, auch voller Sehnsucht. Aber mit solch brennender Hingabe? Ich hoffe nicht. Ich hoffe, ich bin nicht so unbeherrscht.

Garak schien sein Missfallen zu spüren und schenkte ihm ein selbstironisches Lächeln. »Verzeihen Sie, Captain, aber der Anblick rührt mich jedes Mal. Es gab Zeiten, da dachte ich, ich sähe sie nie wieder.«

So groß war die Macht des Exils, wusste Picard. Und auch die Nachwehen eines versuchten Genozids. »Ich verstehe«, sagte er freundlich. »Voll und ganz.«

»Und nun haben Sie wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit«, erwiderte Garak immer noch lächelnd.

Picard bezweifelte es nicht. Der Blick der hellblauen Augen des Botschafters war durchdringend, wann immer er sich auf einen richtete. Doch Picard war in ihrem gemeinsamen Spiel nicht minder versiert als Garak und hatte sich schon vor ganz anderen kritischen Cardassianern behauptet.

»Sämtliche Unterlagen über den Rückzug der Sternenflotte von Cardassia befinden sich nun im Büro der Präsidentin«, sagte er. »Wie man mir dort versichert hat, ist alles nur noch eine Frage der richtigen Wortwahl. Probleme seien fortan ausgeschlossen.«

»Auch auf unserer Seite«, wusste Garak. »Unsere Nachrichtenagenturen wurden angewiesen, die Details bis nach der Veranstaltung vertraulich zu behandeln.«

»Wie die unsrigen. Wir verstehen, welch politische Bedeutung das Ereignis für die Kastellanin hat, und wünschen …« Picard suchte nach der angemessensten Formulierung. Es stand ihm nicht zu, lauthals zu verkünden, die Föderation wolle die Wiederwahl Rakena Garans nach Kräften unterstützen – auch wenn dem natürlich so war. Die aktuelle Kastellanin war die beste Wahl.

Garak beobachtete Picard, ein Funkeln im Auge. »In der Tat«, sagte er und befreite den Captain aus seiner Lage.

Die Männer lächelten. Garaks geschulter Blick für den Subtext war, fand Picard, äußerst hilfreich.

»Wenn Kastellanin Garan und unsere Präsidentin sich uns auf Cardassia Prime anschließen«, sagte der Captain, »werden wir hoffentlich beide Zeugen des Moments der Vertragsunterzeichnung.«

Garak atmete tief aus und entspannte sich. Die Früchte monatelanger Arbeit waren bald erntereif.

»Dies war ein höchst reibungsloser Prozess, Herr Botschafter«, fuhr Picard fort. »Sie und Ihr Stab verdienen Lob.«

Garak winkte ab. »Ohne die Hilfe Ihrer Präsidentin wäre uns nichts gelungen, Captain. Nan Bacco ist eine bemerkenswerte Frau. Eine Naturgewalt, wie es gewiss eines Tages in meinen Memoiren heißen wird. Ich weiß, wie viele Ratsmitglieder es trotz unserer inzwischen so engen Bande unklug fanden, dass die Sternenflotte sich gänzlich zurückzieht.«

»Wohl wahr«, sagte Picard. Auch er hegte insgeheim Bedenken über den völligen Rückzug aus dem cardassianischen Raum. Würden sich diese Alliierten wirklich als so verlässlich erweisen, wie die Hoffnung sie bereits zeichnete? Auch der Botschafter hatte sich nicht sofort für den Beitritt der Union zum Khitomer-Abkommen erwärmen können. Wie lange würde er ihn nun unterstützen? So lange er ihm nutzte? Und wie lange blieb man auf Prime gewillt, Freunde zu sein? Das Experiment namens freie Gesellschaft war auf Cardassia noch im Anfangsstadium; über Verlauf und Ausgang ließ sich nur spekulieren. Cardassia war ihm ein äußerst steiniger Nährboden, und niemand garantierte, dass es dort erblühen würde und die neuen Verbündeten langfristig Verbündete blieben.

»Ich glaube«, sagte Garak, »nur eine Nan Bacco konnte den Rat überzeugen, dass dies das Richtige ist – und der effizienteste Gebrauch Ihrer Ressourcen.« Er lächelte. »Praktikabilität, gepaart mit Moral, erweist sich einmal mehr als unschlagbares Argument.«

Und das kam tatsächlich hin. Ganz egal, dass Picard und viele andere eine kleine Restpräsenz im cardassianischen Raum bevorzugten – die Sternenflotte brauchte das Personal woanders. Der Krieg gegen das Dominion und die Borg-Invasion hatten Spuren hinterlassen, und erfahrene Offiziere waren derzeit rar. Außerdem existierte ein Bündnis zwischen den beiden Zivilisationen, allem Vergangenen zum Trotz. Man konnte seine Partner nicht ständig überwachen. Irgendwann musste man einfach darauf bauen, dass sie einen nicht hinterrücks erstachen.

Garaks Blick blieb fest. »Diese Allianz ist für uns ebenso neu wie für Sie, Captain. Es ist ungewohnt für uns, die Föderation als Freund zu betrachten. Doch … unsere Gewohnheiten haben uns schon häufig geschadet.« Für einen Moment fiel die Maske, und Picard erkannte den erschöpften Mann dahinter. »Kurz gesagt, sind wir der Kriege müde – so wie Sie, glaube ich. Deshalb sollten wir versuchen, mit alten Sitten zu brechen und Frieden zu finden.« Er lächelte. »Bis zu einer Freundschaft mag es noch ein wenig hin sein, aber auch da bleibe ich optimistisch.« Einmal mehr sah er zu seiner Heimat hinaus. »Denn trotz allem, was war, sehe ich Cardassia einmal mehr.«

Der Botschafter erhob sich von seinem Sessel und reichte Picard die Hand. Picard spürte die rauen Wülste auf den fremden Fingern. So, so fremd. Garak lächelte nur, und mit einem Mal schien ihm etwas einzufallen. »Ah, ja, bevor ich es vergesse …« Er zog ein kleines, sorgsam verpacktes Präsent hervor, schob es über den Tisch. »Für Sie, Captain.«

Picard runzelte die Stirn, nahm es entgegen und wickelte es aus. Es handelte sich um ein kleines rotes Büchlein, etwa so lang wie seine Hand und daumendick, gebunden in das Leder eines ihm unbekannten Tieres und mit kleinen Flecken – Brandflecken, begriff er – übersät. Dieses Buch war durchs Feuer gegangen.

»Ein kleines Zeichen meiner Dankbarkeit für Ihre Gastfreundschaft«, sagte Garak, »und für alles, was unsere Allianz symbolisiert.« Nun schaute er Picard ins Gesicht. »Ich glaube, Sie hegen mir gegenüber Skepsis, meiner früheren Karriere wegen. Das kann ich Ihnen nicht verübeln. Meine Vergangenheit war nicht gerade schön. Daher …« Er deutete auf das Buch und überließ ihm den Rest.

Picard betrachtete es genauer. Wollte der Botschafter ihm schmeicheln? Ein solches Präsent weckte fraglos seine Aufmerksamkeit. Zwar war Picard bei weitem kein Sammler cardassianischer Erstausgaben, doch sein Auge war geschult genug, zu erkennen, dass mit dieser ein gewisser Nimbus einherging. »Ich vermute, hierzu existiert eine Geschichte.«

»Es stammt aus der Bibliothek meines Vaters«, erklärte Garak. »Obwohl ich bezweifle, dass Tain es je las.«

Langsam strich Picard über den Einband. »Von dieser Bibliothek ist gewiss nicht viel übrig.«

»Nicht viel«, bestätigte Garak.

»Wie hat es überlebt?«

»Ich las es gerade im Keller von Vaters Haus, als die Jem’Hadar über die Stadt kamen. Die oberen Etagen des Gebäudes brannten aus, doch der Keller blieb verschont. Als Archäologe wissen Sie sicher, dass schon viele Relikte alter Zivilisationen unter der Erde die Zeiten überdauern konnten. Dies stellt da keine Ausnahme dar.«

Picard legte das Buch zurück auf den Tisch. Seine Fingerkuppen berührten den Umschlag. »Botschafter, die Geste ehrt mich, aber dies ist ganz fraglos ein Objekt von hoher Bedeutung – persönlicher und kultureller.« Er schob es zurück zu seinem Besitzer. »Das kann ich nicht anneh…«

Garak hob beide Hände, und zu seiner eigenen Überraschung verstummte Picard sofort.

»Ich bestehe darauf«, sagte der Botschafter. »Unsere Vergangenheit mag sein, wie sie ist, aber ich bin fest davon überzeugt, dass unser beider Völker eine gemeinsame Zukunft haben. Einzeln haben wir keine Chance. Wir müssen zu Freunden werden – irgendwie. Sollte es uns nicht gelingen, diese Freundschaft zu festigen, zur Normalität werden zu lassen, dann – und daran hege ich keinerlei Zweifel – werden wir allesamt untergehen.«

Ein Geschenk, dessen Annahme obligatorisch war. Ein wunderschönes Geschenk, kostbar und selten. »In dem Fall nehme ich es gern. Vielen Dank.«

»Ich habe zu danken«, sagte Garak.

Picard spürte, dass es ehrlich gemeint war. Abermals schlug er das Buch auf, vermochte die eng gesetzten Schriftzeichen jedoch nicht zu entziffern. Er lachte auf. »Ich kann es noch nicht lesen. Nicht einmal den Titel!«

Garak lächelte. »Es heißt Meditationen über einen karminroten Schatten«, sagte er, »von Eleta Preloc.« Er nahm seine Padds und Papiere vom Tisch. »Ihre Recherchen werden Sie sicher bald erkennen lassen, dass es eine Seltenheit darstellt: ein cardassianischer Roman, eine Fiktion. Unsere Literatur neigte stets zum Historischen, man könnte sogar vom Nostalgischen sprechen. Und auch Preloc schrieb viele exzellente Bücher dieser Art, von denen die Tetralogie zum Fall der Zweiten Republik gewiss das beachtlichste Werk darstellt. Eines, das sich mit denen Ihres Tolstois oder Mantels messen kann. Mit diesem dort brach die Autorin allerdings mit alten Mustern.« Er lächelte. »Preloc war genial und hatte eine Vision. Sie sah eine Zukunft für unser beider Zivilisationen. Und wer wäre ich, einem Genie zu widersprechen?«

»Ihr Geschenk ehrt mich sehr, Botschafter.«

»Die Geste wird dem Anlass nicht annähernd gerecht.« Garak hatte seine Unterlagen nun sorgfältig gestapelt. »Unsere Hauptstadt ist nicht mehr das kulturelle Zentrum von einst, Captain. Dennoch hoffe ich, Sie und Ihre bezaubernde Gattin zum Abendessen in mein Heim einladen zu dürfen.« Er sah sich verschwörerisch um, und Picard beugte sich vor. »Der Koch der Kastellanin«, flüsterte Garak, als handele es sich um ein Staatsgeheimnis, »ist kein Mann von großem Talent.«

Picard lachte. Er zweifelte an der Aussage, nicht aber daran, dass sie die Einladung annehmen würden.

»Und ist dieser Vertrag erst unterzeichnet«, sagte Garak, »und sind die strahlenden Gesichter unserer Anführer erst vom gesamten Quadranten gesehen worden – von Freund und Feind gleichermaßen –, dann kommen Sie erneut her, auf dass wir auf unsere Allianz anstoßen können. Unsere Freundschaft.«

Man muss eine Stadt kennen, um sie zu beschützen: ihre Straßen und Gassen, ihre versteckten Winkel und dunklen Hinterhöfe. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte Arati Mhevet, leitende Ermittlerin der städtischen Polizei, ihre Heimat so gut gekannt wie ein bajoranischer Kai die Prophezeiungen. Sie war in Nord-Torrs freiem Krankenhaus geboren worden, hatte auf den Straßen und in den winzigen Steingärten der Wohnblocks gespielt. Sie kannte die Abkürzungen zum Fluss, die Trampelpfade nahe den Eisenbahngleisen, und sie und ihre Freunde hatten auch die Löcher in den Zäunen gekannt, durch die man sich ins Industriegebiet von Munda’ar hatte schleichen können, um von dort zu den fernen, hell erleuchteten Höhen Coranums zu sehen. Wieder und wieder hatte die Stadt ihr das Herz gebrochen, als Mhevet älter wurde. Doch als der Krieg kam und die Hauptstadt niederbrannte, hatte auch sie gegen die Jem’Hadar gekämpft – um jedes einzelne Gebäude, jede einzelne Gasse. Wer eine Stadt so gut kennt, der liebt sie nämlich trotz allem, und will sie am Leben erhalten.

Wie alle anderen lernte auch Mhevet die Stadt nun neu kennen. Sie musste schnell lernen, denn das Verbrechen wartet nie auf die Vertreter des Rechts. Es findet seine Nischen und beginnt mit seinem Wirken. Schwarzmarkt-Arzneien von den Kliniken? Na, selbstverständlich. Plastikret-Wände, um Ihre Bleibe um einen Raum zu erweitern? Zufälligerweise lagen vorhin ein oder zwei vergessen im Fond eines Transportschiffs der Sternenflotte. Oder brauchen Sie etwas, das den so speziellen und qualvollen Schmerz des Überlebens lindert? All das geben wir Ihnen nur zu gern. Oh, nein, nein, zahlen Sie nicht direkt. Das ist unnötig. Wir kommen einfach später vorbei und kassieren, einverstanden? Wir wissen, wo Sie wohnen.

Mhevet war eine willige Schülerin, blieb ihre Liebe zur Stadt doch ungebrochen; ganz egal, wie wenig sie noch der aus ihrer Kindheit glich. Die geografischen Veränderungen verbargen nicht, dass etwas vom alten Geist überlebt hatte, ungeachtet der Schrecken und der Angst. Es war, als hätten sich die Cardassianer in den Ruinen der Stärke von einst besonnen, dank derer sie von Anbeginn an auf ihrer so trockenen Welt hatten existieren können, und einen Beschluss gefasst: Nie wieder. Meya-Lilien, wusste es das Sprichwort, erblühen auf steinigstem Boden. Allerdings benötigten sie Nährstoffe – und jemanden, der das Unkraut jätet.

Mhevet trat aus dem Polizeihauptquartier, woraufhin ihr prompt der Dreck in der Luft in Augen und Nase stieg, und nahm dankbar in ihrem Skimmer Platz. Kaum hatte sie den Motor gestartet, begrüßten sie schon frische Luft und das Gebrabbel der Nachrichtenübertragung. Mhevet bog auf den Boulevard und entspannte sich. Sie war eine gute Fahrerin, wusste die Maschine zu beherrschen, und wählte die Schnellspur. In den Nachrichten stritten sich zwei Stimmen über den Wert der politischen Erklärung, die Cardassias Front am Vorabend abgegeben hatte.

»Sie müssen eins begreifen«, sagte eine. »Cardassias Front verkörpert eine neue Strömung unserer Demokratie. Eine, die bislang nicht einmal zu erahnen …«

»Genau da irren Sie sich!«, erwiderte die andere. »Cardassias Front ist bloß alter Chauvinismus in neuen Kleidern. Evek Temet ist ein junger Mann, doch seine Märchen sind die alten.«

»Trotzdem würde ich wetten, er bereitet Rakena Garan nächsten Monat, wenn der Wahlzyklus beginnt, ernste Probleme.«

»Sein Name steht noch auf keinem Wahlschein.«

»Das kommt schon.«

Mhevet verzog das Gesicht. In diesen Tagen hörte oder sah jeder die Nachrichten. Sie waren überall oberstes Gesprächsthema. Mhevet fühlte sich dabei allerdings schuldig. Ihrem Vater (ermordet, als die Jem’Hadar ihre Straße erreicht und alles erschossen hatten, was sich bewegte) hätte die aktuelle politische Debatte missfallen, und je näher das Ende der Nominierungsphase kam, desto lauter wurde sie. Überall ging es nur noch um die Kandidatur zum Amt des Kastellans.

Ihr Vater hätte das gehasst. Auch ihm war nichts wichtiger gewesen als Cardassia, doch der Gedanke an freie Wahlen hätte ihn entsetzt. Weshalb sollte ich wählen wollen?, hatte er einem Freund mal gesagt (ganz leise, um den launischen Orden nicht zu reizen). Was weiß ich schon vom Regieren? Ich bin Bauarbeiter. Meine Arbeit ist gut, solide, und ich beherrsche sie. Solange die da oben mich beschäftigt halten, schert mich ihr Treiben nicht, denn ich habe keinen Grund zu klagen.

Am Ende hatten ihm seine Loyalität und harte Arbeit nichts genutzt. Den Jem’Hadar bedeuteten sie nichts. Für die war er schlicht ein Cardassianer gewesen.

Mhevet strich mit dem Finger über die Komm-Konsole und suchte einen anderen Sender. Musik lief, ein eingängiger und hirnloser Sommerhit. Liebe!, ließ der Interpret sie im Vertrauen wissen. Sie wollen wir! Sie brauchen wir! Allein sie brauchen wir! Mhevet murmelte den Text mit, als ein Funkspruch das Lied abrupt unterbrach. Ob jemand raus nach Munda’ar fahren könne? Mhevet nahm den Fall an, wendete gekonnt ihren Skimmer und schaltete die Sirene ein. Der übrige Verkehr machte ihr artig Platz. Ihre Landsleute waren noch immer cardassianisch genug, Anweisungen der Obrigkeit stoisch Folge zu leisten.

Munda’ar war kaum noch die lebhafte Gegend von einst. Fort waren die riesigen Silos und Lagerhallen, die großen Frachtskimmer mit ihren Ladungen vom Raumhafen. Cardassia hatte nichts mehr mit der Industriemacht von einst gemein, obwohl sich hier und da hoffnungsvolle Zeichen fanden: ein paar neue Firmen, das unverkennbare Dröhnen eines industriellen Replikators. Direkt nach dem Krieg hatte es in Munda’ar nur kleine Bauten gegeben, dort, wo die Trümmer beseitigt worden waren, und Hilfszentren für die Überlebenden. Das Einzige, dessen sich Mhevet aus jener Zeit noch entsann, waren die Schlangen vor den Hilfszentren. Und die Begräbnisse.

Die neuen Gebäude hatten jedoch einen deutlich cardassianischeren Stil. Mit ihren unverkennbaren Türmen und Säulen verströmten sie einen Hauch von Extravaganz, allerdings nicht annähernd so sehr wie die aus der Blütezeit der Union. Das Baumaterial stammte nicht von hier, es war in Föderationsbeige und -grau gehalten. Wer in Cardassias Hauptstadt lebte, bewohnte gewissermaßen zwei Orte: Einer war die Ruine, der Geist des Vergangenen, der andere neu, unfertig und zerbrechlich, aber wachsend. Ein Fundament. Frische Wurzeln.

Das südöstliche Viertel Munda’ars war allerdings noch so eben, wie die Jem’Hadar es zurückgelassen hatten. Mhevet parkte ihren Skimmer neben der einzigen verbliebenen Wand eines ehemaligen Getreidehandels. Ein paar weitere Polizeiwagen signalisierten ihr, dass sie am Ziel war. Tret Fereny, ebenfalls ein Ermittler, wenn auch deutlich jünger als Mhevet, trat aus dem Schatten der Mauer.

»Hi, Ari«, sagte er. Mhevet legte nicht so viel Wert aufs Protokoll, solange die Leute nur spurten. Fereny sah über die Schulter. »Das wird dir nicht gefallen.«

Hinter den Resten der Mauer erwartete sie eine vertraute, deprimierende Szene. Einige Forensiker wuselten um einen Leichnam herum, während eine Handvoll uniformierte Kollegen von der Truppe leidenschaftslos in der Gegend herumstanden. Zwei kleine Mädchen hockten neben ihnen am Boden.

»Haben die den Toten gefunden?«, fragte Mhevet und nickte in Richtung der Kinder. »Was haben sie hier unten gesucht?«

»Sie haben gespielt – ausgerechnet hier! – und sind über ihn gestolpert.« Fereny schüttelte den Kopf. »Dabei sollten sie in der Schule sein. Ernsthaft, die Jugend von heute verwildert! Da sind die Eltern schuld. Die verweichlichten, von den Geschenken der Föderation lebenden Eltern.«

Mhevet lächelte. Fereny war kaum älter als fünfundzwanzig. Auch seine Jugend war von Föderationssubventionen geprägt gewesen. Seit mehr als fünf Jahren gab es sonst wenig zum Leben. Mhevet betrachtete die zwei Mädchen. Eins war blassgrau und zitterte – die Abenteuerlust war ihr gründlich vergangen. Das andere sah sich aus dunklen, neugierigen Augen um. Man würde sie verhören müssen, das stand fest, und es würde nervig werden. Befragungen von Kindern waren derzeit alles andere als einfach. Wie auch sonst jede Befragung.

»Na dann«, sagte sie und trat zum Leichnam, der unter einer grauen Plane lag. »Was haben wir?«

Ein Forensiker bückte sich, schlug die Plane zurück und enthüllte eine graue Uniform. Sie war charakteristisch, in zahlreichen Quadranten bekannt. Ein blauer Streifen zierte ihr oberes Ende. Mhevet schloss kurz die Augen und verfluchte das Schicksal. Hätte sie das Hauptquartier bloß einen Moment später verlassen … Hätte sie nur nicht die Schnellspur genommen … Dann wäre dies das Problem von jemand anderem.

»Ist das eine Sternenflottenuniform?«

Eines der Mädchen, das neugierige, nicht das ängstliche, stand neben Mhevet und betrachtete den Toten mit altersuntypischem und ungesundem Interesse. »Ist es, oder? Und der ist tot, stimmt’s?« Fast schien das Kind sich die Lippen lecken zu wollen. »Mein Papa sagt, nur ein toter Sternenflottenoffizier ist ein guter Sternenflottenoffizier, und …«

»Ja, und dein Papa ist ein Trottel«, sagte Mhevet.

»Das weiß ich«, erwiderte das Kind verächtlich. Es nickte in Richtung des Toten. »Wie ist er gestorben? Hat ihn wer erledigt? Ich wette, den hat wer erledigt. Womit hat er ihn erledigt?« Hoffnungsvoll sah sie sich um, als suche sie nach einer Waffe, die sie ausprobieren konnte.

Mhevet bedeutete einem der Offiziere, die Leiche wieder zuzudecken. »Kümmert sich hier keiner um die Kinder? Ich dachte, wir hätten für so etwas einen Counselor.«

»Wenn du einen Counselor willst«, sagte Fereny, »musst du die Sternenflotte informieren. Aber bist du dazu schon bereit, Ari?«

Das war sie nicht, deswegen würden die beiden noch etwas länger unbecounselt auskommen müssen. Allerdings brauchten sie dazu nicht neben dem kalt werdenden Leichnam eines Sternenflottenoffiziers zu verharren, dem allen Anschein nach jemand mehrfach auf den Schädel geschlagen hatte, bevor er ihn zur Sicherheit auch noch erschoss.

»Setzt sie in den Skimmer«, sagte sie. »Gebt ihnen ein Padd zum Spielen, und notiert die Namen der Eltern.«

»Ich verrate keine Namen«, erwiderte das Mädchen.

»Mein Papa bringt mich um, wenn er hört, wo ich bin.«

»Wir waren uns doch schon einig, dass er ein Trottel ist«, sagte Mhevet. »Also steig zu meinem netten Freund Fereny in den Skimmer. Ich will keinen Mucks mehr von dir hören.« Sie sah zu dem zweiten Kind, das zitternd am Boden saß. »Schafft beide ins Hauptquartier«, raunte sie Fereny zu, »und holt uns bitte schnellstens die Eltern dazu.«

Fereny nickte. Er legte dem Mädchen den Arm um die Schultern und wollte sie Richtung Skimmer führen. Aber das Kind klammerte sich mit aller Macht an einen nahen Stahlträger. Einer der Constables, die sich um Kind zwei kümmerten, kam näher, packte das störrische Ding und nickte Mhevet zu. »Betrachten Sie das als erledigt, Ma’am.«

»Danke«, sagte sie und widmete sich wieder dem Toten. Hinter sich hörte sie das Kind noch »Lebend kriegt ihr mich nie!« brüllen, bevor der Constable es in den Skimmer verfrachtete.

Nun, da ein Hauch von Ordnung hergestellt war, nickte Mhevet den Forensikern zu. Abermals wurde die Plane zurückgeschlagen, und ein Teammitglied drehte den Körper um. Mhevet stöhnte, als sie das Gesicht sah. Die Höcker auf dem Nasenrücken, der lange Ohrring.

Herrlich, dachte sie. Genau das hat uns noch gefehlt.

ZWEI

Mein lieber Doktor,

ich bin zu Hause.

Nie werde ich müde, diese Worte zu schreiben, und ich hoffe, Sie sehen mir jede Wiederholung nach.

Ich bin zu Hause.

Der Herbst hält Einzug in unserer Hauptstadt. Erst vorige Woche konnte man sich zur Mittagssonne nur in den Schatten aufhalten, während der Staub von den Ebenen herüberwehte. Nun aber ist die Hitze des Tages bereits erträglich, und am Abend bedarf es langärmeliger Kleidung. Es regnet mitunter – ein paar Schauer hier und da, die Herbststürme kommen erst später. Sie reinigen die Luft, sodass es sich gelegentlich sogar frei atmen lässt. Der Herbst wird uns Linderung von den härteren Jahreszeiten verschaffen, wenn auch nur kurzzeitig. Schon in wenigen Wochen kommt gewiss der erste kalte Wind von den Bergen, um der Stadt ihren langen Frost zu bereiten. Frühjahr und Herbst sind hier nur von kurzer Dauer. Hauptsächlich existieren wir im Gleißen des Sommers und im winterlichen Eis.

Wie stets, wenn ich nach einer Abwesenheit in meine Stadt heimkehre, sehe ich mich mit Veränderung konfrontiert. Und obwohl der Geist des Ortes, der sie einst war, noch zu spüren ist, sehe ich neue Bauten, neue Häuser und Bahnstrecken in die äußeren Bezirke. Ich sehe das Ende der schlechten Tage und das Versprechen besserer Zeiten. Allerdings sehe ich auch noch Armut; und hier und dort begegnen mir ihre beiden Bettgesellen Leid und Verzweiflung. Trotz allen Wachstums und all der Erneuerungen ist meine Heimat in vielem gleich geblieben.

Wir sollten das nicht vergessen. Es kann zum Problem werden, falls wir dem Ganzen gestatten Wurzeln zu schlagen, denn aus Ungleichheit erwächst stets Neid, und Neid führt zu Hass. Es genügt nicht, dass manche von uns aufblühen. Wir alle sind durch das Feuer gegangen. Ich habe inzwischen viel von Ihrer Welt sehen dürfen, und ich wünschte mir, mein Volk könne einen Hauch ihres Friedens und Wohlstands spüren.

Sollten Sie, wie ich vermute, ein gewisses Interesse an unseren politischen Entwicklungen hegen, wissen Sie, dass die Wahl des Kastellans bevorsteht. Rakena Garan tritt abermals an, so viel ist gewiss. Sie steht unserer Allianz freundlich gegenüber und genießt unvergleichlich großen Zuspruch. Da ist niemand in ihrer Koalition, dem man annähernd gleichen Respekt zollt.

Nun, da ich zu Hause bin und die Nachrichten und Meldungen unmittelbar verfolge, kann ich allerdings nicht umhin, im Umfeld unserer Kastellanin ein gewisses unzufriedenes Grollen zu bemerken. Liegt es daran, dass das Vertraute uns auf Dauer zu vertraut wird, wenn schon nicht lästig? Sieht sich die Kastellanin also schlicht der Enttäuschung ausgesetzt, wie sie die Öffentlichkeit für jeden Politiker bereithält, der sich derart lang im Amt hält?

Sie kennen mich, Doktor. Ich gehe stets vom Schlimmsten aus, ist es doch für Cardassia wahr geworden. Daher entgeht mir auch nicht das neue Gesicht auf der Politbühne. Evek Temet und eine Partei namens Cardassias Front erheben sich aus den Ruinen des alten Direktorats. Gefällige Redner, die Schlagworte wie Meinungsfreiheit und Demokratie erklingen lassen. Höre ich allerdings genauer hin, bemerke ich, wenn auch nur am äußersten Rand meiner akustischen Wahrnehmung, bei ihnen ein besorgniserregendes Hintergrundpfeifen, ähnlich dem Klang einer Hundepfeife. Wollen wir hoffen, dass dies kein Zeichen ist. Wollen wir hoffen, es wird unserer Kastellanin nicht zum Problem. Der Besuch Ihrer Präsidentin wird Garans Beliebtheit stärken. Das glaube ich fest, denn die Alternative wäre zutiefst erschreckend.

Meine Heimkehr ist demnach wieder einmal froh und traurig zugleich. Ich kann schlicht nicht vergessen, was uns verloren ging. Ich kann nicht aufhören, zu hoffen. Und ich kann mich der Sorge nicht erwehren, dass wir uns des Vergangenen immer noch nicht entledigt haben.

Ich hoffe sehr, Sie, Julian, eines Tages auf Cardassia Prime zu begrüßen. Kommen Sie im Frühjahr oder im Herbst, wenn meine Heimat am nachsichtigsten ist. Sie werden empfangen von

Ihrem Freund

Elim Garak

»Bajoraner?«

Arati Mhevet hatte geahnt, dass ihrer Vorgesetzten die Neuigkeit nicht schmecken würde. Daher hatte sie auf dem Rückweg zum Hauptquartier kurz angehalten und Ikri-Krapfen besorgt, als kleine Geste des Friedens. Außerdem hatte sie einen Imbiss nahe dem Sternenflottengelände aufgesucht, wo die von Heimweh geplagten Offiziere heimische Speisen und Getränke fanden. Wie so viele Cardassianer hatten auch Kalanis und Mhevet seit der Ankunft der Föderation Gefallen an Kaffee gefunden. Die quälend langen Schichten, die sie nach Kriegsende absolvieren mussten, um der postapokalyptischen Stadt wieder eine funktionierende Polizeitruppe zu geben, hatten gereicht, aus dem Gefallen eine Art Sucht zu machen.

Dennoch ruhten die Krapfen nun in ihrer Schachtel, während der Kaffee in den Bechern erkaltete.

»Ich fürchte schon«, antwortete Mhevet.

»Ein bajoranischer Sternenflottenoffizier?«

»Ein Lieutenant.«

»Im Munda’ar-Sektor?«

Mhevet hob abwehrend die Hände. »Ich wünschte, ich könnte das wegzaubern, Reta, aber so läuft das nicht. Sein Name war Aleyni Cam, und er gehörte zum Bürgerhilfe-Programm beim HABW.«

»Bürgerhilfe?«

»Sie wissen schon. Da werden Schulen gebaut und dann Kinder angelächelt, damit die nicht glauben, Sternenflottenoffiziere seien Monster.«

Kalanis wandte sich den Krapfen zu und verspeiste einen, langsam und mit kleinen Bissen. Sie war eine gefestigte Person, die wenig aus der Bahn warf. Sie entschied mit Besonnenheit und lebte mit den Konsequenzen.

»Na dann«, sagte sie. »Ein toter bajoranischer Sternenflottenoffizier.« Ein zweiter Krapfen endete exakt wie der erste: Kalanis aß erst die Ränder und danach, in zwei schnellen Happen, den Rest. Dann fegte sie die Krümel von ihrem Tisch und wischte sich die klebrigen Finger ab. Als sie den Kaffee ergriff, rümpfte sie die Nase. »Kalt.«