Hubert Mania

Gauß

Eine Biographie

1. Eine, zweie, dreie

Etwas schrammt über den Küchentisch, und der Vater sagt eine, zweie, dreie. Auch auf Zehenspitzen stehend, gelingt dem Dreijährigen kein Blick über die Tischkante. Dabei wüsste er zu gern, was der Vater da treibt. An seinem Hemdsärmel zupfen möchte er jetzt lieber nicht, denn sonst setzt es wieder laute, böse Worte. Aber wenn er behutsam auf den zweiten Stuhl kletterte, sich auf den Sitz kniete und dabei keinen Mucks von sich gäbe? Viere, fünfe, sechse: Der Vater ist so vertieft in sein undurchsichtiges Spiel, dass er die Kletterpartie seines neugierigen Sprösslings gar nicht bemerkt. Der sieht jetzt kleine flache Scheiben über die Tischplatte rutschen. Manche glänzen wunderbar rötlich wie der neue Kessel, in dem die Mutter das Zwetschgenmus rührt. Andere sind abgegriffen und von ähnlich stumpfer Farbe wie das uralte Stroh im Schuppen hinterm Haus. Siebene, achte, neune: Gebhard Dietrich Gauß häuft die Scheiben zu Türmchen auf, niedrige strohfarbene und höhere kesselfarbene, nur um sie gleich wieder zum Einsturz zu bringen und mit der hohlen Hand über die Tischkante in Papiertüten zu schieben, auf die er ein paar schwungvolle Striche mit Haken, Bäuchen und Schleifen malt. Was für ein seltsames Spiel.*

Gedämpfte Stimmen vor der Tür. Ein Geselle und zwei Handlanger betreten die Küche. Ihre Schürzen und Hosen sind von rotbraunen Lehmspritzern übersät. Sie riechen muffig nach der ewigen Feuchtigkeit des Lehms und ihrem sauren Schweiß. Der Vater ruft die Namen auf und überreicht jedem eine Tüte. Am späten Samstagnachmittag sind die Handwerker stets guter Dinge. Sie scherzen verhalten untereinander und bedanken sich artig bei Vater Gauß, während einer von ihnen die klingenden Scheiben durch seine Finger gleiten lässt: zehne, ölwe, zwölwe. Auch die Mutter sagt «zwölwe» und zeigt dabei auf den Suppentopf auf dem Herd. Oder sie lauscht dem Glockenschlag der nahen Katharinenkirche und sagt dann eines dieser seltsamen Worte, die auch der Vater vor sich hin murmelt, wenn er samstags die blanken Scheiben über den Küchentisch sausen lässt. Der kluge Junge erkennt den Zusammenhang und ahnt die Bedeutung. Er spricht die Silben täglich aufs Neue vor sich hin, prägt sich ihre Reihenfolge ein und wird sie nie wieder loslassen.

Für seine täglichen Abzählübungen erobert sich Carl Hinterhof, Stallungen und Garten. Noch bevor ihm die Namen geläufig sind, hat er sie längst alle auf Reihe gebracht. Kartoffelbüsche: 12 + 12 + 12 + 12 + 12 + 12 + 7. Runkelrüben: 12 + 12 + 12 + 3. Astern: 12 + 8. Rotkohlköpfe: 12 + 4. Auch wenn er in der Küche bei der Mutter sitzt, hat er jedes Beet deutlich vor Augen: So, wie es wirklich angelegt ist, und obendrein in seine selbsterfundenen, erd- und unkrautfreien Zwölferreihen übertragen. Da gibt es nur Punkte, perfekte Kreise und gerade Linien. Weder Kartoffelkäfer noch umherschwirrende Kohlweißlinge können ihn hier ablenken. Und deshalb gerät das Zählen in dieser von Schmutz, Lärm und Gestank befreiten Welt auch so wunderbar geschwind. Obwohl die Glocke der Katharinenkirche nach jeder Zwölf wieder mit der Eins beginnt, ahnt er bereits, dass diese Zahl nicht das Ende sein kann. Einmal hört Carl den Vater «achtzehn» sagen. Stiefbruder Georg soll ein Fuder Haselnussgerten mit dem Beil auf 18 Zoll kürzen, damit sie bequem in Fachwerkwände geflochten und mit Lehm bestrichen werden können. Acht und zehn sind zwölf und sechs. Zwölwe-eine, zwölwe-zweie, zwölwe-dreie, zwölwe-viere, zwölwe-fünfe, achtzehn. Eine, zweie, dreie 

Die Zahl der Richtscheite und Schalbretter im Werkzeugschuppen neben dem Schweinestall hat sich den ganzen Winter über nicht geändert. Hier, in diesem lichtlosen Bretterverschlag, riecht es dumpf nach feuchter Erde, so wie Vater, Geselle und Tagelöhner im Sommer auch immer riechen. Die Rückstände des ranzigen Käsewassers in den Eimern aus Fichtenholz verdrängen für ein paar Augenblicke den penetrant modrigen Gestank, der aus dem Schweinestall wabert und wie ein nicht abzuschüttelndes Gespenst ständig über Hof und Garten schwebt. Am nächsten Morgen erkennt der Knirps mit einem flüchtigen Blick, dass der Vater vom ersten Stapel 18 + 2 Gerten weggenommen haben muss. Stumm steht er vor den vielen roten Kugeln im Geäst der niedrigen Schattenmorelle und vor den Johannisbeersträuchern. Hin und wieder nickt er leicht mit dem Kopf: 18 + 18 + 18 + 18 

In dem einzigartigen Netzwerk, das sich gerade in rasanter Geschwindigkeit täglich und stündlich unter seiner Schädeldecke neu knüpft, werden die Zahlen nicht einfach nur als nützliche Symbole der Ordnung geduldet, sondern als wahre Freunde fürs Leben willkommen geheißen. Hier eröffnen sich ihnen großzügig bemessene Spielräume, in denen sie unter kluger Aufsicht ihre Beziehungen zueinander frei entfalten und ungeahnte neue Dimensionen ihrer Existenz erkunden werden.

 

Wann Carl Friedrichs Urgroßvater Hinrich Gooß geboren wurde und wann er starb, ist nirgendwo verzeichnet. Auch seine Herkunft liegt im Dunkeln. 1683 heiratet er in Völkenrode, einem Dorf im Braunschweiger Land, die Witwe Anna Groven [Hän: 5].

Sie ist dort Besitzerin eines Kothofes – ein Bauernhaus ohne Gehöft und bewirtschaftbare Äcker, aber mit einem Garten und einer Koppel. Um zu überleben, ist das Paar vermutlich zu sogenannten Fuß- und Handdiensten gezwungen: Die Eheleute müssen sich also bei einem Bauern oder Gutsherrn als Tagelöhner verdingen. Natürlich werden auch die vier Kinder früh eingespannt. Sie jäten im Sommer das Unkraut auf den Äckern des Gutsherrn, schneiden auf Wiesen und an Feldrainen Grünfutter, hüten die Gänse, gehen im Haushalt und im Garten zur Hand. Um die allgemeine Schulpflicht auf dem Land wird noch gerungen. Die Eltern sind wenig begeistert von den Forderungen der Schulmeister und halten die Kinder, vor allem zur Erntezeit, energisch zum Schwänzen der Schule und zur Feldarbeit an. Und irgendetwas wird immer geerntet zwischen Mai und Oktober. Die in der Schule versäumte Arbeit muss nachmittags nachgeholt werden. Abends wird Flachs gesponnen und gestrickt. Zwölf Jahre nach der Hochzeit ist Anna tot, und Hinrich Gooß heiratet Ilse Geermanns, mit der er in neunjähriger Ehe einen Sohn und drei Töchter zeugt. Katharina Lüetken heißt seine dritte Frau. Sie gebiert in zwölf Jahren drei Söhne und eine Tochter. Die Todesursache von Anna und Ilse ist unbekannt. Doch Entkräftung, Kindbettfieber oder «Auszehrung» – eine bei frühgestorbenen Landfrauen auffallend häufig gebrauchte Formulierung – war damals an der Tagesordnung.

Unter den insgesamt zwölf Geschwistern haben die Söhne aus dritter Ehe nach Hinrichs Tod keinerlei Chance, Erbansprüche auf den Hof in Völkenrode zu stellen. Sie müssen, wie es so roh und herzlos heißt, in die Fremde ziehen. Den jüngsten Sohn Jürgen treibt es mit seiner Frau Katharina Magdalene dann aber doch nicht allzu weit in die Welt hinaus. Nach einer guten Stunde Fußweg melden sie sich am 21. Januar 1739 als Neubürger im Braunschweiger Rathaus an. Ob für ihn überhaupt ein geringer Erbteil herausgesprungen ist oder ob er völlig mittellos in der Hauptstadt des Herzogtums ankommt, bleibt ungewiss. Dem Protokollanten im Rathaus teilt er mit, sich als Tagelöhner Arbeit in der Stadt suchen zu wollen. Ihm wird zur Auflage gemacht, zum nächsten Gerichtstag wieder zu erscheinen und «einen Thaler sowie einen Thaler zum Feuereimer nebst zwanzig Mariengulden Bürgergelder vor sich und seiner Frau sofort baar» [Hän: 7] zu zahlen. Laut Protokoll leistet er bereits zwei Tage später seine Abgaben und ist seitdem fest in Braunschweig ansässig.

Jürgen Gooß schlägt sich als Saisonarbeiter durch, nennt sich Lehmentierer und Gassenschlächter. Lehmentierer arbeiten von Mai bis November als Tagelöhner auf Baustellen. Wenn im Herbst Nässe und Kälte das schnelle Abtrocknen der feuchten Lehmwände verhindern und ein sinnvolles Arbeiten unmöglich wird, beginnt die Saison der Hausschlachter. Nur in der kalten Jahreszeit können die geschlachteten Schweine einen Tag zum Auskühlen an der Hauswand zum Hinterhof hängen. Der Appetit auf Hausmacherwürste ist beispiellos in dieser Stadt, die berühmt ist für ihre Wurstspezialitäten. So scheint auch Carl Friedrichs Großvater sein Auskommen zu finden, wenn er im Winter mit seinen scharfen Messern und flinken Händen zum großzügig entlohnten Hauptdarsteller auf privaten Schlachtfesten wird.

Er scheint auch den gewissen Unternehmergeist zu haben, den es braucht, um im Rahmen seiner bescheidenen Verdienstmöglichkeiten erfolgreich zu sein, denn noch im Oktober desselben Jahres 1739 hält ihn Peter Hoyer, ein entfernter Verwandter, für kreditwürdig genug, ihm sein Haus am Ritterbrunnen zu verkaufen. Es ist ein Häuschen von nur zwei Fensterbreiten, das im Volksmund «Honigkuchenstreife» genannt wird. Den Kaufvertrag unterschreibt er erstmals mit Gauß. Was ihn zu dieser eigenmächtigen Lautverschiebung seines Namens veranlasste und ob er dafür bürokratische Hindernisse aus dem Weg räumen musste, lässt sich nicht mehr ermitteln. Womöglich wollte er mit dem neuen Namen die Spuren seiner bäuerlichen Herkunft verwischen – Gooß bedeutet im niedersächsischen Platt Gans – oder sich von der klanglichen Nähe zu Gosse und Gosche distanzieren. Jedenfalls blickt Emporkömmling Jürgen Gauß jetzt vom Ritterbrunnen aus direkt auf die Parkanlagen des sogenannten Grauen Hofes, wo das Schloss für die Verlegung der herzoglichen Residenz von Wolfenbüttel nach Braunschweig hergerichtet wird. Es wird vereinbart, dass Gauß jährlich 5 Taler und 10 Groschen an Hoyer zahlen soll und nach dessen Tod alleiniger Eigentümer des Hauses sein wird [Hän: 8]. Für den Neu-Braunschweiger erweist sich dieser Vertrag als einträgliches Geschäft, denn nur vierzehn Jahre später verkauft er es für 217 Taler und erwirbt – just in dem Jahr, als Herzog Carl I. Einzug ins frisch renovierte Schloss hält – ein neues Haus am Wendengraben, fünf Minuten Fußweg vom Ritterbrunnen entfernt. Fast die Hälfte des Kaufpreises kann er anzahlen, der Hauptteil wird als Hypothek eingetragen und dem Braunschweiger Bürgermeister Wilmerding höchstpersönlich verpfändet.

Katharina und Jürgen Gauß haben drei Söhne. Eine Tochter stirbt als kleines Kind. In den 21 arbeitsreichen Jahren, die dem unermüdlich Schaffenden noch bleiben, bevor die Auszehrung seinem mühseligen Streben nach Lösung von der Ackerscholle, nach Selbständigkeit, Grundbesitz und bescheidenem Wohlstand am 5. Juli 1774 ein Ende setzt, gelingt es ihm, die Hypothek um fast die Hälfte abzutragen. Ein Vierteljahr vor ihm wird Katharina vom Gallenfieber dahingerafft.

Jürgens ältester Sohn Gebhard Dietrich ist beim Tod des Vaters 30 Jahre alt. Er wurde am 13. Februar 1744 noch im Häuschen am Ritterbrunnen geboren. Das Erlernen eines weniger kräftezehrenden Handwerks kommt für ihn nicht in Frage. Als «Haussohn» bleibt er ein unselbständiger, billiger Gehilfe des Vaters. Offenbar hat er sich dabei jedoch als würdiger Nachfolger der väterlichen Geschäfte empfohlen, hat mit ihm zusammen barfuß in Bottichen Lehm gestampft, mit dem Schlachtmesser umgehen gelernt und sich die geheime Würzmischung für die Gauß’sche Hausmacher-Rotwurst eingeprägt. Im April 1768 heiratet er Dorothea Emerenzia Warnecken. Neun Monate später kommt ihr Sohn Johann Georg Heinrich zur Welt. Doch ein Jahr nach ihrem Schwiegervater stirbt auch Gebhards Frau Dorothea 1775 im Alter von dreißig Jahren an den Folgen der Auszehrung.

Gebhard aber findet schnell eine zweite Dorothea, die als Magd in Braunschweig arbeitet. Schon im April 1776 wird die ein Jahr ältere Dorothea Benze aus dem Dorf Velpke, rund 30 Kilometer nordöstlich von Braunschweig gelegen, seine neue Ehefrau. Sie stammt aus einer Steinhauerfamilie, deren männliche Mitglieder seit vielen Generationen im Steinbruch am Ortsrand ihrer anstrengenden Arbeit nachgehen. Der Velpker Sandstein ist berühmt. Er gehört zu den härtesten in ganz Deutschland und ist bei wohlhabenden Bauherren ein äußerst begehrtes Material für ihre Stadtvillen und Prunkbauten. Der Steinstaub, den Dorotheas Vater bei der Arbeit einatmet, zerstört seine Lungen. Bald spuckt er Blut und Schleim und zeigt alle Anzeichen einer Auszehrung, die von der Lungenschwindsucht ausgelöst und beschleunigt wird. 1748 hat sich Christoph Benze mit knapp 31 Jahren an den Velpker Steinwänden zu Tode geschunden. Da ist Töchterchen Dorothea gerade erst fünf Jahre alt. Sie kann nicht regelmäßig – wenn überhaupt – zur Schule gegangen sein, da sie zweifellos der Mutter zur Hand gehen musste. Als sie 1776 Gebhard Gauß heiratet, kann sie ein wenig lesen, aber schreiben hat sie nie gelernt.

 

Der Wendengraben ist eine großzügig angelegte, breite Straße, die auf das Wendentor im nördlichen Teil der Stadtbefestigung zuläuft. Hinter dem Stadttor beginnt die Hamburger Heerstraße, sodass ein beachtlicher Teil des Fernverkehrs nach und aus Celle, Lüneburg, Hamburg und Lübeck am Gauß’schen Haus vorbeiführt. In der Straßenmitte verläuft ein breiter Wassergraben, der mit der Oker verbunden ist, ein im Harz entspringender Fluss, der vielarmig mitten durch die Stadt fließt und – an den Stadtmauern entlang – zum Bestandteil des Bollwerks wird. Über zwei feste Brücken und ein halbes Dutzend klapprige Stege aus Holzplanken lässt sich der Graben überqueren. Nur so kommt man auf die andere Straßenseite.

Zu den Parzellen am Wendengraben gehören teilweise ansehnliche Stallungen, Höfe und Gärten. Über der noch ungepflasterten Straße biegen sich die Äste von Apfel-, Kirsch- und Zwetschenbäumen. Zwischen zwei Nachbarhäusern vis-à-vis des Gauß’schen Grundstücks führt eine schmale Gasse zu einer riesigen Weide, auf der Kühe und Schafe grasen und Schweine sich suhlen [Mod: 137]. In diese urbane Dorfidylle wird am 30. April 1777 das einzige Kind von Dorothea und Gebhard Dietrich hineingeboren: Johann Carl Friderich Gauß, wie es in der Geburtsurkunde steht.

Das Geschäft des Vaters scheint zu florieren. Er macht sich nicht mehr allein krumm, lässt Angestellte für sich arbeiten. Während die Lehmentierer noch als unorganisierte Saisonarbeiter gelten, genießen die Hausschlachter im wurstverliebten Braunschweig seit langem Gildenstatus. Gebhard findet Zeit, sich umzuhören, und knüpft allmählich auch Kontakte, die über die Geselligkeit der organisierten Hausschlachter hinausreichen. Schließlich fasst er Fuß in der Gilde der «Pipenbrüder», die traditionell für die Wasserleitungen, auch Pipen genannt, in der Stadt zuständig sind. Und Carl Friedrichs Vater wird das Amt eines «Wasserkunstmeisters» in Aussicht gestellt, was vornehmer klingt, als es in Wirklichkeit ist. Gebhard Gauß soll nicht etwa für die Springbrunnen und Wasserspiele im herzoglichen Lustgarten verantwortlich sein, wie der Titel suggerieren könnte, sondern mit der Wartung eines Abschnitts der normalen städtischen Wasserleitungen betraut werden.

 

Ende März 1780, vier Wochen vor Carls drittem Geburtstag, liegt, nur zwei Häuserblocks von der Gauß’schen Hof- und Gartenidylle entfernt, Carl I., Herzog von Braunschweig und Lüneburg, im Sterben. Vor vier Jahren hat ihn ein Schlaganfall niedergestreckt. Rechter Arm und Zunge sind gelähmt. Inzwischen führt sein Sohn, Erbprinz Carl Wilhelm Ferdinand, kommissarisch die Regierungsgeschäfte. Angeblich hat der jämmerliche Zustand des alten Herzogs – so zumindest erzählen es sich die Leute in der Stadt – mit den Heerscharen abgerissener Gestalten zu tun, die im Frühjahr 1776 nach Braunschweig hereinmarschiert kamen: ein bunt zusammengewürfelter Haufen junger Männer [Dro: 153]. Das geschah vier Wochen vor Gebhards und Dorotheas Hochzeit. Auch durch das Wendentor muss ein beträchtlicher Teil dieser Vagabundentruppen von vielen tausend Mann die Stadt betreten haben und an Gebhards Haus vorbei, den Wendengraben entlang, zielstrebig auf das herzogliche Schloss zugeeilt sein. Denn der junge Erbprinz hatte eine verwegene Entscheidung getroffen. Seit vielen Jahren bereits hatte er sich bemüht, das hochverschuldete Herzogshaus zu sanieren. Rigoros streicht er dem vergnügungssüchtigen Vater die mit altfranzösischem Pomp geführte Hofhaltung zusammen. Er will die Finanzverwaltung modernisieren und den drohenden Staatsbankrott verhindern. Doch die jahrhundertelange Verschwendungssucht der Welfenherrscher, Misswirtschaft und die drückende Zinslast der Schulden lassen Carl Wilhelm Ferdinands viele kleine Sparmaßnahmen zur Farce werden. Die Finanzreform droht zu scheitern. Obendrein verlangt das Nachbarland Hannover die sofortige Rückzahlung eines zwanzig Jahre alten Darlehens oder die Abtretung des dafür verpfändeten Fürstentums Blankenburg. Dieses Harzer Filetstück hat Carl I. allerdings schon in einem undurchsichtigen Kreditgeschäft der Berliner Verwandtschaft als Sicherheit überschreiben müssen. Der preußische König, Friedrich der Große, und der Braunschweiger Herzog Carl I. sind miteinander verschwägert. Carls Schwester Elisabeth Christine ist die Ehefrau Friedrichs des Großen, während dessen Schwester, Philippine Charlotte, mit Carl verheiratet ist.

Auf dem Höhepunkt dieser finanziellen Zwangslage, in der das Ansehen des Hauses Braunschweig auf dem Spiel steht, kommt dem Erbprinzen im Herbst 1775 unerwartet eine Verlegenheit des Königs von England zu Hilfe. Georg III. braucht dringend mehr Soldaten, um seine Kolonien in Nordamerika wieder in den Griff zu bekommen. Sie haben sich offen gegen ihn aufgelehnt und kämpfen jetzt um ihre Unabhängigkeit. Am Braunschweiger Hof rennen die englischen Agenten mit ihrem Anliegen offene Türen ein. Der Prinz wittert ein einträgliches Geschäft und lässt sich auf den «Verkauf von Landeskindern nach Amerika» ein, wie empörte zeitgenössische Kritiker den Handel bezeichnen. Neu ist diese Praxis der Soldatenanwerbung in deutschen Kleinfürstentümern nicht – die Untertanen genießen traditionell einen hervorragenden Ruf als universell einsetzbares Kanonenfutter –, dieses Mal aber erregt das Abkommen zwischen London und Braunschweig internationales Aufsehen, weil der Kriegsschauplatz am anderen Ende der Welt liegt. Vater und Sohn geraten über diesen Plan in einen schweren Konflikt. Carl Wilhelm Ferdinand führt zwar die Verhandlungen mit den Abgesandten Georgs III., doch der alte Herzog zögert seine Zustimmung immer wieder hinaus.

Schließlich wird vereinbart, dass Carl Wilhelm Ferdinand für jeden Fußsoldaten 51 Taler und 15 Groschen «Werbegeld» bekommt. Außerdem steht im Vertrag: «Drei Verwundete gelten als ein Toter, und ein Toter wird nach der Rate des Werbegeldes … bezahlt.» Der Finanzminister meldet in einem Brief an seine Ehrwürdige Durchlaucht, wenngleich «verharrend in tiefster Devotion», ernste Bedenken an, die von Weitblick und Scharfsinn zeugen. Er stellt sich gegen den Soldatenverkauf, «da durch selbigen das Land von Unterthanen besonders von jungen Mannschaften und Arbeitern entblösset und dadurch die Biersteuer und BrantweinAcciseCasse einen noch stärkeren Abfall, als bisher, leiden wird» [Zim2: 165]. Und recht hat er ja, der vorausschauende Finanzminister. Denn was sind schon schnelle 50 Taler «Sterbegeld» in der herzöglichen Subsidienkasse für einen Soldaten mit einer amerikanischen Kugel im Kopf, verglichen mit den lebenslang fließenden Steuereinnahmen, die ein im friedlichen Braunschweig werkelnder und wegen Ereignisarmut fleißig dem Alkohol zusprechender Untertan in die BrantweinAcciseCasse fließen ließe?

Von März bis Mai 1776 ziehen also einige tausend Braunschweiger Landeskinder durch die Residenzstadt zum Schloss, um sich equipieren zu lassen, bevor sie den elftägigen Fußmarsch nach Stade antreten, wo sie eingeschifft werden. «Der englische Marineoffizier erklärte, er erinnere sich nicht, in seinem Leben einen solchen Haufen schlecht aussehender Kerle zusammen gesehen zu haben» [Dro: 153]. Und bei diesem Auszug der Truppen trifft den alten Herzog der Schlag. Wegen der damit verbundenen seelischen Erregung, wie Gattin Philippine Charlotte zu ergänzen weiß. Kurz nach Ankunft der Braunschweiger Soldaten auf dem fernen Kriegsschauplatz erklärt die quecksilbrige Truppe aus Freistilpuritanern, Freimaurern und Freischärlern um Thomas Jefferson und George Washington in Philadelphia ihre Unabhängigkeit von Georg III. Und als wäre dieser Akt nicht impertinent genug, statten sie sich selbst, übermütig und anmaßend, wie man sie kennt, mit dem Recht auf Freiheit, Gleichheit und dem Streben nach Glück aus. Nur was, fragt sich der amüsierte europäische Adel angesichts dieser haarsträubenden Neuigkeit aus Pennsylvanien, sollten gewöhnliche Untertanen schon mit privatem Glück anfangen können, wo sie doch zum Arbeiten geboren sind?

Der spektakuläre Soldatenhandel mit England spült dem fast bankrotten Regenten zwischen 1776 und 1786 genügend Geld in die Staatskasse, um das Welfenhaus Braunschweig zu sanieren. Der seit dem Tod von Carl I. im März 1780 auch offiziell regierende Herzog Carl Wilhelm Ferdinand kann sich jetzt gelassener seinem großen persönlichen Anliegen widmen, die Wissenschaft in seinem Kleinstaat nach Kräften zu fördern. Das trifft sich gut und kommt kein Jahr zu spät, denn am Wendengraben, in Sichtweite zum herzoglichen Schloss, bringt sich ein Kind mit ungeheurem Appetit auf das Wissen der Welt gerade im Selbstlehrgang Schreiben und Lesen bei. Es drängt den neun Jahre älteren Stiefbruder Georg, der gerade sein letztes Schuljahr absolviert, ihm beim Erlernen des Buchstabierens zu helfen, und zieht, ganz selbstverständlich und unerbittlich, die ungläubig staunenden Nachbarn, Freunde der Eltern und Verwandte hinzu, vor allem den geliebten Onkel Fritz aus Velpke. Die Erwachsenen lachen nervös über den heiligen Ernst, mit dem der kleine Gauß Fragen zu seinen Schreib- und Entzifferungsübungen stellt. Leider kann ihm ausgerechnet der Mensch, der ihn am meisten liebt, bei seinen vorgezogenen Elementarbildungsübungen nicht helfen. Mutter Dorothea liest Gedrucktes nur mit Mühe, Handschriften gar nicht [Hän: 94]. Und schreiben will sie jetzt auch nicht mehr lernen.

Zu Ostern 1784 wird der siebenjährige Überflieger eingeschult. Der tägliche Weg zur Katharinen-Volksschule ist kurz. Gut hundertfünfzig Meter den Wendengraben entlang Richtung Schloss bis zur Kreuzung Fallersleber Straße, auf der der Verkehr vom und zum großen Osttor der Stadt fließt. Hier gibt es sogar schon die neumodischen Bürgersteige und die ersten Straßenlaternen. Rechts abgebogen, sind es zwischen 75 und 80 Kinderschritte bis zur Katharinenkirche am Hagenmarkt. Direkt der Kirche gegenüber steht das mächtige Opernhaus mit der vornehmen Südfassade aus Sandstein und dem kleinteiligen Fachwerk an der Westseite. Seine besten Tage hat es zur Regierungszeit des Opernaficionados Carls I. gesehen. Der neue Herzog hält den Theaterbetrieb kurz. Über italienische Melodieseligkeiten äußert er sich geringschätzig. Der ernst und reserviert wirkende Landesherr interessiert sich eher für die technische Forschungs- und Entwicklungsarbeit am Collegium Carolinum. Carl Friedrich muss jetzt nur noch den geräumigen Kirchhof überqueren, und schon steht er vor der Schule, in der Direktor Büttner ein strenges Regiment führt: «Es war eine dumpfe, niedrige Schulstube mit einem unebenen ausgelaufenen Fußboden, von der man nach der einen Seite gegen die beiden schlanken gothischen Türme der Catharinen-Kirche, nach der andern gegen Ställe und armselige Hintergebäude hinaus blickte. Hier ging Büttner zwischen etwa hundert Schülern auf und ab, mit der Karwatsche in der Hand …» [Wal: 12]. Sie ist sein Zepter und wichtigstes Erziehungsinstrument zugleich: eine Peitsche aus geflochtenen Lederriemen, deren kurzer Stiel ebenfalls mit Leder überzogen ist, «dergleichen man zum Reiten und Fahren und zur Züchtigung bey Menschen und Thieren gebraucht.» Bei falschen und frechen Antworten setzt es gnadenlos Prügel. Aber auch die Klügeren müssen auf der Hut sein. Denn allzu originelle Gegenreden und Anzeichen von Kreativität könnte Büttner als potenzielle Bedrohung seiner Überlegenheit empfinden.

Die allgemeine Schulpflicht ist im Herzogtum Braunschweig seit 1752 gesetzlich festgeschrieben. Lesen und Religion sind die einzigen Pflichtfächer für Schulanfänger. Jedem Lehrer stehen zwei pädagogische Standardwerke zur Verfügung: Unterricht für die Schulmeister, wie das Buchstabieren und Lesen auch der zartesten Jugend leicht und gründlich beigebracht werden könne und die Einleitung in die Geschichte und Bücher des alten und neuen Testaments [Smi: 37]. Die Eltern der Schüler müssen wöchentlich ein paar Groschen und Pfennige Schulgeld an Büttner persönlich zahlen. Und der wird beim Gang durch die Bankreihen ganz genau im Bilde darüber sein, wessen Eltern wieder einmal oder immer noch bei ihm in der Kreide stehen – ein zusätzlicher Stressfaktor für den armen Mann, dessen Peitschenhand bei solchen existenziellen Reflexionen verständlicherweise ins Zucken geraten kann.

Büttner ist nach landesherrlicher Verfügung zunächst nur verpflichtet, den Kleinen das Buchstabieren beizubringen, um mit ihnen den Katechismus pauken zu können. Also wird Carls extrem aufnahmefähiges Gehirn in den ersten beiden Schuljahren täglich kaum etwas anderes zu tun gehabt haben, als die karg erzählten Geschichten eines archaischen Wüstenvolkes zu verarbeiten, das vor unvorstellbar langer Zeit immer nur auf Wanderschaft gewesen ist und dessen wundertätiger Anführer erstaunlicherweise kein Vorfahr Seiner Durchlaucht, Herzog Carl Wilhelm Ferdinands, gewesen ist. Da gibt es etwa die Geschichte über den Vater, der ohne nachzufragen bereit ist, aus Gehorsam zu einem ewig schlechtgelaunten Gott seinem Sohn mit einem ähnlichen Messer die Kehle durchzuschneiden, wie Carls eigener Vater es im Winter mehrmals die Woche benutzt, um die Schweine zu schlachten. Carl wird Kirchenlieder einstudiert und im fortgeschrittenen Stadium der Lesefähigkeit den obligatorischen Katechismuskurs absolviert haben.

Als wären die Neuerungen im Schulwesen unter Herzog Carl I. nicht schon schwierig genug umzusetzen gewesen – Eltern, die kein Schulgeld zahlen wollen, Großgrundbesitzer mit wenig Bedarf an gebildeten Knechten und eine Geistlichkeit, die bei zu hoher Vernunftentwicklung ihrer Schäfchen den allmählichen Verlust ihres Monopols zur Erfindung und Vergebung von Sünden befürchtet –, soll nun auch noch der hochfliegende Geist von Humanismus und Philanthropie Einzug in die niedrigen Braunschweiger Schulstuben halten. Nach dem Willen Herzog Ferdinands* soll alle «harte und rauhe Zucht» [Smi: 54] der Vergangenheit angehören, statt Latein die deutsche Sprache gepflegt werden und weltliche Bildung nach dem Nützlichkeitsprinzip den Vorzug vor der Christenlehre erhalten. Vor allem aber soll «statt unbedingten Gehorsams sittliche Selbstverantwortung» geübt werden. Sogar über die «Trennung von Kirche und Staat» wird bereits laut nachgedacht. Die Schule als «Werkstatt des heiligen Geistes» soll ein für alle Mal passé sein und endlich den nüchternen Erfordernissen des modernen Merkantilismus genügen.

Ferdinands Liberalisierungsbemühungen der Erziehung kommen während Carls Volksschulzeit kaum über das Stadium der Ankündigung hinaus. Zu groß ist der Widerstand der weltlichen und klerikalen Machteliten. Die Buchstabierlektionen bleiben daher auf Kurs. Sie dienen der Dressur zu Frömmigkeit und Abhängigkeit von Sünde und Vergebung. Am Wendengraben 1550 muss sich indes ein wissbegieriger Junge fragen, ob es eine Sünde ist, den Vater insgeheim für die Ohrfeige oder die Tracht Prügel zu verfluchen, die der ihm für einen vermeintlich sinnlos verbummelten Nachmittag über den Mathematikbüchern verabreicht. Schließlich gibt es in Haus und Hof, Stall und Garten immer etwas zu tun. Du sollst Vater und Mutter ehren. Während die geliebte Mutter alles tut, um ihrem Carl kleine Zeitfenster für die selbständige Fortbildung zu öffnen, besteht der Vater auf der täglichen Mithilfe seines Jüngsten. Stiefbruder Georg geht inzwischen immerhin bei einem Schneidermeister in die Lehre.

Im Frühjahr 1786 beginnt mit der Versetzung in die dritte Klasse endlich auch der Mathematikunterricht – seit Einführung der allgemeinen Schulpflicht die Stunde der bitteren Wahrheit für die Auffassungsgabe eines Durchschnittsschülers. So kündigt denn Büttner auch mit wahrhaftem Stolz ein Programm an, das für die im Schweigen erstarrte Mehrheit wie eine Drohung klingt: sage und schreibe das komplette kleine Einmaleins als großes Fernziel, wobei der Schulmeister offenlässt, was genau er unter Ferne versteht. Der dienstälteste Gauß-Denkmalschützer, Baron Wolfgang Sartorius von Waltershausen, hat in seiner Erinnerungsschrift die Legende überliefert, der Neunjährige habe hier, in der miefigen Schulstube im Zentrum von Braunschweig, das Grundgesetz für Zahlenreihen gefunden und sich als mathematisches Wunderkind erwiesen. Gauß selbst habe diese Geschichte noch in hohem Alter immer wieder gern zum Besten gegeben [Wal: 12]:

 

Ein Tag im Frühling oder zu Beginn des Sommers 1786. Etwa hundert Jungen im Alter zwischen sieben und vierzehn Jahren drängen sich barfuß und in kurzen Hosen in die niedrige Schulstube. Keines der hier versammelten Kinder ahnt, dass es in wenigen Minuten zum Zeugen eines Ereignisses wird, das in die Mathematikgeschichte eingehen wird. Und ihren Mitschüler Carl Friedrich Gauß – ja, den Sohn des Maurers und Hausschlachters um die Ecke am Wendengraben! – unsterblich macht.

Wahrscheinlich ist Büttner an diesem Morgen schlecht gelaunt und will von seiner nichtsnutzigen Meute einfach mal nichts sehen und hören. Die Aufgabe, die er der Korona stellt, lässt jedenfalls Rückschlüsse auf ein gewisses Ruhebedürfnis zu. Die Kinder sollen nämlich alle Zahlen zwischen 1 und 100 zusammenzählen:

1 + 2 = 3; 1 + 2 + 3 = 3 + 3 = 6; 1 + 2 + 3 + 4 = 6 + 4 = 10 

Was zunächst simpel klingt, wird die schlechtausgerüsteten Schüler jedoch in größte Schwierigkeiten stürzen. Und das wird die Bande, so weiß der Lehrer, eine ganze Weile beschäftigt halten. Bei so vielen Additionen am Stück lauert der Fehlerteufel hinter jeder Zwischensumme. Eine kleine Unkonzentriertheit – und schon ist das Malheur passiert. Alle weiteren Schritte zögern das falsche Ergebnis nur noch hinaus.

Nur einer macht das grausame Spiel nicht mit. Während alle anderen schwitzend kritzeln und beim Banknachbarn vergleichen oder abzuluchsen versuchen, schaut ein Drittklässler ein paar Minuten lang aus dem Fenster hoch zur Turmspitze der Katharinenkirche und schreibt dann ungerührt und kalt entschlossen eine einzige vierstellige Zahl auf seine Tafel, fügt seinen Namen hinzu, steht auf und bringt sie nach vorn zu einem großen Tisch. Dort legt er sie – einem alten Brauch gehorchend – selbstbewusst mit der beschrifteten Seite nach unten und ruft, vermutlich nicht ohne Stolz: «Ligget se!» So viel Frechheit verschlägt Büttner dann doch die Sprache. Es ist der Sohn von Lehmmaurer und Hausschlachter Gebhard Gauß. Der stille Junge ist ihm noch nie zuvor aufgefallen, weder in positiver noch in negativer Hinsicht. Aber nicht einmal Büttner selbst, der natürlich das Ergebnis kennt, könnte diese Aufgabe in nur zwei oder drei Minuten bewältigen.

Im Lauf der Unterrichtsstunde wächst der Stapel mit den Tafeln allmählich. Und als Büttner zum Schluss die unterste nach oben kehrt, stehen auf Carls makellos sauberer Tafel nur die vier Ziffern 5050 ohne Schwammspuren und ohne Zwischenrechnungen. Das Ergebnis stimmt, und der Schulmeister ist wie vom Donner gerührt. Er fragt seinen Schüler in einer seltsamen Stimmung aus Faszination, Neugier und Skepsis, wie er das richtige Resultat in so unglaublich kurzer Zeit und vor allem ohne Hilfsmittel gefunden habe. Er könne es doch unmöglich im Kopf … Doch, natürlich im Kopf. Es sei ganz einfach, erklärt das kleine Genie. Er habe nur ein wenig über die Aufgabe nachgedacht, sich dann die Zahlenreihe von 1 bis 100 genau angesehen und bald ein paar bemerkenswerte Übereinstimmungen entdeckt. So sei die Summe der ersten und letzten Zahl 101. Die zweite und vorletzte, nämlich 2 und 99, ergäbe ebenfalls 101. Auch 3 + 98 sowie 4 + 97 summierten sich zu 101. Auf diese Weise gelange man – von außen nach innen vordringend – bis zum letzten Zahlenpaar 50 + 51 in der Mitte der Reihe. So erhielte man fünfzig Paare mit der jeweils gleichen Summe 101. Nun habe er nur noch 50 mit 101 multiplizieren müssen. Was 5050 ergäbe. Eine denkbar einfache Rechnung, die jeder im Kopf lösen könne.*

Bleibt allerdings die Frage, wie Carl seinen Blickwinkel auf die Zahlenreihe so kreativ verändern konnte, dass ihm das Ergebnis anscheinend mühelos in den Schoß fiel. Leonhard Euler, der überragende Mathematiker des 18. Jahrhunderts, hat 1770, also sieben Jahre vor Carls Geburt, genaue Anweisungen dafür veröffentlicht. In einem Lehrbuch zeigt er auf acht Seiten anhand einiger Beispiele den Lösungsweg, wenn auch sein Fachbegriff für Zahlenreihe, nämlich «Arithmetische Progression», etwas einschüchternd klingen mag. An entscheidender Stelle schreibt Euler: «Um nun die Summa der … Progression zu finden … so schreibe man darunter eben diese Progression rückwärts …» [Eul: 264]. Nach dieser Anweisung haben wir also in der ersten Zeile eine abgekürzte Reihe von 1 bis 100 stehen, während in der zweiten Zeile darunter – sozusagen als Hilfslinie – dieselbe Anordnung rückwärts geschrieben ist:

 

Statt, wie üblich, von links nach rechts zu zählen, sieht Carl sich nun nach diesem Schema die senkrechten Spalten an und stößt auf 100 Zahlenpaare mit der jeweiligen Summe von 101. Was 10 100 ergibt. Die zweite Reihe aber ist ja nur eine Hilfslinie. Sie hat nichts mit dem wirklichen Ergebnis zu tun und kann deshalb ignoriert werden. Bleibt also die Hälfte übrig. Und das sind 5050.

Die aus allen Zwischenschritten folgende allgemeine Formel erläutert Euler nun folgendermaßen: «Man multiplicire die Summe des ersten und letzten Gliedes mit der Anzahl der Glieder, so wird die Hälfte dieses Produkts die Summa der ganzen Progression anzeigen» [Eul: 266]. Obwohl Euler die Rechenvorschrift nachweislich vor Gauß publizierte, wird sie noch heute nach dem Neunjährigen benannt, der sie 1786 in Büttners Katharinenschulstube durch selbständiges Denken gefunden haben soll: die «Gauß’sche Summenformel».*

Der amerikanische Wissenschaftspublizist Brian Hayes bringt zur besseren Veranschaulichung den Begriff der «Faltung» ins Spiel. Hier stellt man sich die obere Reihe von 1 bis 100 auf einen Streifen Papier geschrieben vor. In seinem Aufsatz «Gauss’s Day of Reckoning» – Gauss rechnet ab – beschreibt er die tiefere Einsicht des Drittklässlers so: «‹Faltet› man die Zahlenreihe in der Mitte und addiert sie paarweise … ergibt sich jeweils die Summe von 101. Da es 50 dieser Paare gibt, beläuft sich die Gesamtsumme auf 50 x 101» [Hay]. Noch praxisnäher lässt sich die Faltung mit einem Schneidermaßband aus gewachstem Leinen demonstrieren, das zweifarbig bedruckt und beschriftet ist. Falten Sie es beim 50-Zentimeter-Strich, geben Sie dem sich wölbenden Band hinter dem Knick nach beiden Seiten ein paar Zentimeter Spielraum, bis Sie die eine weiße Hälfte des Bandes flach und exakt parallel neben die andere weiße Hälfte auf den Tisch legen können. Platzieren Sie den Anfang des Maßbandes millimetergenau neben die 100-Zentimeter-Markierung. Und schon haben Sie die 50 Paare mit der jeweils gleichen Summe 101 direkt vor Ihren Augen liegen.

Man könnte also meinen, Euler habe 1770 als Erster diese Zahlenreihe ins Spiel gebracht. Aber die nachweisbare Ahnenreihe geht noch rund tausend Jahre tiefer in die Vergangenheit zurück, denn schon zur Zeit Kaiser Karls des Großen war das Problem als Rätsel formuliert worden. In der ältesten bekannten und um das Jahr 800 aufgeschriebenen Sammlung lateinischer Rechenaufgaben mit dem Titel Propositiones Ad Acuendos Iuvenes (Aufgaben zur Schärfung des Geistes der Jünglinge) strapaziert der englische Gelehrte Alkuin, Erzbischof von York und Berater am Hof des Großen Karl, das Vorstellungsvermögen seiner Zeitgenossen mit diesem Bild: «Eine Leiter hat 100 Sprossen. Auf der ersten sitzt eine Taube, auf der zweiten 2 Tauben, auf der dritten 3, auf der vierten 4, auf der fünften 5 usw. bis zur hundertsten Sprosse mit 100 Tauben. Wie viele Tauben sind es?» [Fol1]. Im Lösungsabschnitt führt Alkuin in glasklarem, schnörkellosem Latein genau die Schritte vor, die zur leichten Addition einer arithmetischen Reihe führen. Der Mathematikhistoriker Peter Ullrich hat die Geschichte der Summenformel noch weiter bis ins 2. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurückverfolgt [Ull: 19], als ein «alter Grieche» namens Hypsikles schon dieselbe Entdeckung wie Alkuin, Euler und ein Braunschweiger Drittklässler gemacht haben soll.

Der kleine Carl Friedrich Gauß hat also im streng historischen Sinn keine neue Entdeckung gemacht. Außergewöhnlich ist jedoch dieser sehr frühe Durchbruch zu echter mathematischer Kreativität. Angenommen, es habe 1786 in Braunschweig tatsächlich diese oder eine ähnliche Schulstunde gegeben, dann gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder war Carl seit kurzem bereits im Besitz der Summenformel. Oder aber er war der Lösung zur vereinfachten Berechnung einer Zahlenreihe zumindest auf der Spur und empfand Büttners Aufgabe an diesem Morgen als sportliche Herausforderung, sodass ihm nach einigen Minuten des Nachdenkens der Durchbruch gelang. In der Urversion der Anekdote lässt Wolfgang Sartorius von Waltershausen Carl schon nach wenigen Augenblicken mit seiner Tafel zum Lehrertisch marschieren. Das wäre in der Tat ein Indiz dafür, dass er die Formel schon vor dieser historischen Mathematikstunde abgeleitet haben musste und nun erstmals mit seiner Begabung in aller Öffentlichkeit glänzen konnte.

Und das ist dann wohl auch der wahre Kern der Anekdote: Ein neunjähriges Kind findet durch selbständiges Denken die allgemeingültige Formel für die Summe aller Zahlenreihen. Von diesem Tag an ist Carl das mathematische Wunderkind, dem Lehrer und Professoren eine große Karriere prophezeien. Der amerikanische Mathematiker Eric Temple Bell urteilt: «In der ganzen Geschichte der Mathematik gibt es kein Beispiel von Frühreife, das Gauß auch nur nahekäme» [Bel: 221].