Peter Spork

Der zweite Code

EPIGENETIK oder: Wie wir unser Erbgut steuern können

Inhaltsverzeichnis

Widmung

VORWORT

Revolution!

EINLEITUNG: Das Gedächtnis der Zellen

Ungeahnte Macht

Der zweite Code

KAPITEL 1: Von der Genetik zur Epigenetik: Warum Gene Schalter brauchen

Das Buch des Lebens

Wie die Molekularbiologie auf dem Mond landete

Ernüchterung und neuer Aufbruch

Wie viele Gene hat der Mensch?

Warum Mensch und Schimpanse so verschieden sind

Die neue Freiheit

Methylgruppen: Riegel in der DNA

Der Histon-Code: Verpackungskunst mit Schwänzen

Die RNA-Welt

KAPITEL 2: Der Einfluss der Umwelt: Warum wir Macht über unser Erbgut haben

Metamorphose

Gelée Royale und seine Wirkung

Täler in der Lebenslandschaft

Jede Zelle weiß, woher sie kommt

Die Epigenom-Manipulatoren

Biologie des Schicksals

Warum Zwillinge sich auseinanderleben

KAPITEL 3: Die Entstehung der Persönlichkeit: Was den Charakter stark macht

Wenn Ratten ihre Kinder nicht lecken

Stresskrankheiten und warum nicht jeder sie bekommt

Warum die Liebe zählt

Selbstmord als Programm?

Traumata und ihre Folgen

Warum Psychotherapie wirkt

Wie das Epigenom beim Lernen hilft

Hunger und Sucht

Autismus, FAS, Schizophrenie: Fehler im zweiten Code?

KAPITEL 4: Epigenetik der Gesundheit: Vorsorge beginnt im Mutterleib

Eine Scheidung verkürzt das Leben

Wir sind, was unsere Mutter gegessen hat

Das tödliche Quartett

Warum die einen krank macht, was andere gesund hält

Warum wir immer dicker werden

Welches Essen gesund ist

Soja, Kurkuma, Grüner Tee: Die epigenetische Diät

Hände weg von Plastikflaschen

KAPITEL 5: Langlebigkeit als biologisches Programm: Rezepte für ein hohes Alter

Das Geheimnis der Superalten

Die Inseln der Hundertjährigen

Altern als chronische Entzündung

Von Telomeren und Telomerase

Dauerstress macht alt

Lebensverlängernder Rotwein und die Sirtuine

Magerkost und Sport halten jung

KAPITEL 6: Die besondere Verantwortung: Wir vererben nicht nur unsere Gene

Ein Dogma wankt

Pflanzen: Die Meister der Epigenetik

Unfruchtbare Mäuse und Fruchtfliegen mit roten Augen

Die Gesundheit der Enkel liegt auch in Opas Hand

Rauchen schadet Ihrem ungezeugten Kind!

Darwins Irrtum – Lamarcks Comeback?

Imprinting: Kampf der Geschlechter

Sind künstliche Befruchtungen ein Risiko?

KAPITEL 7: Das Epigenomprojekt: Biomedizin auf dem Weg ins 21. Jahrhundert

Von Berlin ins Zentrum einer Revolution

190 Millionen Dollar für eine Riesenaufgabe

Die Epigenetik verändert die Krebsforschung

Früherkennung und individualisierte Therapie

Die neuen Hoffnungsträger

Den zweiten Code verändern: Die Medizin der Zukunft?

Schlusswort

Wie wir unser Erbgut steuern können

Anhang

Literatur

Bildnachweis

Dank

Personenregister

Sachregister

 

Für meine Eltern und Großeltern,

die mir weitaus mehr mitgaben als das Genom

und seine Schalter.

VORWORT

Revolution!

Wenn wir Menschen Computer wären, dann bildeten unsere Gene die Hardware. Aber natürlich müsste es auch eine Software geben – und die entschlüsseln seit ein paar Jahren die Epigenetiker. Sie erforschen Elemente an unserem Erbgut, die es programmieren, die ihm sagen, welches Gen benutzt werden soll und welches nicht.

So wie die Software entscheidet, ob wir einen Computer für Text- oder Graphikverarbeitung, Tabellenkalkulation oder zum Spielen benutzen können, so verdanken es unsere Zellen ihrer epigenetischen Programmierung, ob sie beispielsweise zum Denken, Verdauen, zur Hormonproduktion oder Bekämpfung von Krankheiten dienen. Und wer in der Lage ist, diese Software gezielt umzuprogrammieren, der kann das unerhörte Potenzial, das in den Genen steckt, besonders gut ausschöpfen.

 

Die Worte «Revolution» oder «revolutionär» werden an vielen Stellen dieses Buches auftauchen. Viel zu oft, werden manche kritisieren. Immer noch zu selten, werden andere erwidern. Als Wissenschaftsautor und Biologe kann ich nur versichern, dass ich diese Begriffe sonst eher sparsam einsetze. Im Zusammenhang mit der Epigenetik drängen sie sich allerdings ständig auf. Denn der neue Forschungszweig verspricht unser aller Leben und das unserer Kinder und Kindeskinder umzukrempeln.

Die Epigenetik hilft den Forschern dabei, völlig neue Wirkstoffe und Therapien zu entwickeln. Sie lehrt uns, wie wir unsere Gene mit Hilfe des Lebensstils ein Stück weit selber steuern können. Sie erklärt uns, wie sich Teile unseres Charakters gebildet haben und wie wir mit unseren Gewohnheiten die Persönlichkeit unserer Kinder beeinflussen. Sie zeigt, wieso eine gesunde Lebensweise unser Leben verlängert – und das unserer Nachfahren obendrein. Und sie verändert ein paar grundlegende Auffassungen der Vererbungslehre.

Krankheitsvorsorge, Krebsforschung, Pädagogik, Psychologie, Psychiatrie, Alternsforschung, Evolutionsbiologie: All diese Felder profitieren vom neuen Teilgebiet der Genetik, erhalten kräftige Impulse. Das wird man doch schon mal eine Revolution nennen dürfen. (Internetseite zum Buch: www.der-zweite-code.de)

EINLEITUNG

Das Gedächtnis der Zellen

Ungeahnte Macht

Was haben Sie heute gefrühstückt? Fahren Sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit? Haben Sie sich in den letzten Tagen mal so richtig Zeit für sich selbst genommen und Stress abgebaut? Wann haben Sie Ihrem Kind zuletzt über den Kopf gestreichelt und es aufgemuntert?

Warum ich solche Fragen stelle? Sie berühren Themen, um die es in diesem Buch gehen wird. Denn fast alles, was wir Menschen tun und was andere mit uns tun, wirkt sich auf unsere Zellen aus. Es hinterlässt Spuren im molekularbiologischen Fundament unseres Körpers. Eine neue Wissenschaft kann jetzt sogar zeigen, dass solche Spuren, wenn sie nur nachhaltig und stark genug sind, das innerste Wesen unserer Zellen beeinflussen: das Erbgut.

 

«Wir haben eine ungeahnte Macht über unsere Gene und die unserer Kinder», sagt Randy Jirtle, Biologe an der Duke University in Durham, USA. In bemerkenswerten Experimenten bestimmt er Gesundheit und Aussehen genetisch gleicher Mäuse allein dadurch, was er ihren Müttern während der Schwangerschaft zu fressen gibt: Enthält die Nahrung spezielle Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel, werden die Jungen schlank, gesund und braun. Fehlen diese Zusätze werden sie fett, krankheitsanfällig und gelb.

Ihre Gene bleiben von diesen Einflüssen unberührt. Irgendetwas anderes als der bloße Text des Erbguts muss sich bei den Mäusen wandeln, während sie noch im Mutterleib sind. Irgendetwas, das sie für den Rest ihres Lebens prägt, das beispielsweise darüber entscheidet, ob sie im Alter verkalkte Herzkranzgefäße bekommen oder nicht.

Forscher aus aller Welt haben die rätselhaften Ursachen des Phänomens inzwischen gefunden. Mit ihnen beschäftigt sich die neue Wissenschaft, von der dieses Buch handeln soll: die Epigenetik. Neun von zehn Menschen, die man auf der Straße anspricht, haben davon noch nie etwas gehört. Epigenetik heißt so viel wie «Über-» oder «Nebengenetik». Sie beschäftigt sich mit den Epigenomen, die sich über – manche sagen auch nach, neben oder auf – den Genomen unserer Zellen befinden.

Das Genom ist die Gesamtheit aller Gene, die im Erbgut versteckt sind. Das wiederum besteht aus einer schier endlos erscheinenden Abfolge von nur vier verschiedenen chemischen Bestandteilen. Sie sind die Buchstaben des genetischen Textes und bilden einen Code, den die Zellen wie Baupläne lesen und in die zahlreichen Proteine übersetzen können, aus denen sich ein Lebewesen zusammensetzt.

Dass wir Menschen so verschieden sind, weil sich einige unserer Gene minimal unterscheiden, und dass sich Geschwister ähneln, weil sie viele identische Gene von ihren Eltern geerbt haben, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wäre der Gentext nämlich allein entscheidend, müssten wir untereinander viel ähnlicher sein. Selbst Schimpansen wären fast wie wir.

Auch ein anderes Phänomen lässt sich mit dem genetischen Code allein nicht erklären: Warum kann unser Körper verschiedene Typen von Zellen bilden, obwohl sie alle identische Genome haben? Warum gibt es Nerven-, Haar-, Leber- und viele andere Zellen? Wie kann es sein, dass in den Zellkernen meines Muskelgewebes exakt das gleiche Erbgut steckt wie zum Beispiel in der Darmschleimhaut oder der Schilddrüse?

Hier kommt die Epigenetik ins Spiel. Sie erforscht die Strukturen, die jeder Zelle eine Identität verleihen und in ihrer Gesamtheit deren Epigenom bilden. Es sorgt dafür, dass die Zelle nicht nur die Baupläne für alle möglichen Proteine speichert, sondern auch die Anweisungen, welche dieser Baupläne zum Einsatz kommen sollen. Und diese Anweisungen können die Zellen – wenn sie sich teilen – gemeinsam mit dem Gentext an ihre Tochterzellen weitergeben.

Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher Zeit aktiv ist und welches nicht. Dabei programmiert es sogar, ob eine Zelle schnell oder langsam altert, ob sie empfindlich oder abgestumpft auf äußere Reize reagiert, zu Krankheiten neigt oder ihre Aufgabe möglichst lange erfüllen kann.

Die Werkzeuge des Epigenoms sind sogenannte epigenetische Schalter. Sie lagern sich gezielt an bestimmte Stellen des Erbguts an und entscheiden, welche ihrer Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht. So liefert das Epigenom die Grammatik, die dem Text des Lebens eine Struktur verleiht. Es ist die Software, die den Zellen hilft, die Hardware – also ihren Gencode – richtig einzusetzen. Denn es herrschte Chaos, läse eine Zelle alle ihre Gene gleichzeitig ab und produzierte sie all die vielen Proteine, deren Baupläne sie gespeichert hat, zugleich.

Per biologischer Definition beschäftigt sich die Epigenetik mit all jenen molekularbiologischen Informationen, die Zellen speichern und an ihre Tochterzellen weitergeben, die aber nicht im Erbgut enthalten sind.

«Wie bitte?», werden Sie jetzt fragen. «Das habe ich in der Schule ganz anders gelernt. Zellen geben doch nur ihr Erbgut weiter. Sonst nichts.» Falsch! Seit wenigen Jahren sind die Biologen überzeugt, dass unser Schulwissen korrigiert werden muss. Wenn Zellen sich teilen, vererben sie auch das epigenetische Programm.

Dass es Epigenome geben muss, hätte man sich eigentlich schon lange denken können. Und viele Forscher haben es sich Anfang des vergangen Jahrhunderts auch gedacht. Der Begriff Epigenetik wird deshalb unter Genetikern schon seit fast 70 Jahren gebraucht. Doch erst jetzt, da die Forscher den menschlichen Gencode in einem riesigen, fünf Jahrzehnte währenden Kraftakt komplett entschlüsselt haben, öffnet sich der Blick der Wissenschaft wieder neu für alte Ideen. Nun gerät zum Beispiel die Frage in den Blickpunkt, wieso im Herz nur noch Herzzellen wachsen, sich aus einer Stammzelle aber viele verschiedene Zelltypen entwickeln können.

Doch was die Epigenetik aus dem Elfenbeinturm der Grundlagenforschung holt, ist ein anderes Phänomen: Die Epigenschalter sind flexibel. Sie reagieren auf Umwelteinflüsse. Deshalb können Erziehung, Liebe, Nahrung, Stress, Hormone, Hunger, Erlebnisse im Mutterleib, Vergiftungen, Psychotherapie, Nikotin, außergewöhnliche Belastungen, Traumata, Klima, Folter, Sport und vieles mehr unsere Zellen umprogrammieren.

Solche Faktoren können die Biochemie der Zelle umkrempeln und lassen dennoch den genetischen Code vollkommen unangetastet. In dieser Erkenntnis steckt eine riesige Chance, die Moshe Szyf, israelischer Epigenetiker von der Universität in Montreal, Kanada, so formuliert: «Wenn die Umwelt eine Rolle bei der Veränderung unserer Epigenome spielt, dann können wir eine Brücke zwischen biologischen und sozialen Prozessen schlagen. Und das ändert unsere Sicht des Lebens total.» Denn die Epigenetik erklärt, wieso die Außenwelt unseren Körper und Geist dauerhaft verändern kann.

Und je jünger wir sind, desto offener scheinen unsere Zellen auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Randy Jirtles Mäuse sind noch im Mutterleib, wenn die Nahrung ein paar ihrer Gene für den Rest ihres Lebens abschaltet und ihre Fellfarbe und Krankheitsanfälligkeit manipuliert.

Die Hinweise häufen sich, dass bei uns Menschen genau die gleichen Prozesse ablaufen. Vor allem wird endlich klar, warum es den Charakter von Kindern so nachhaltig prägt, welche emotionalen Erfahrungen sie und ihre Eltern kurz vor und nach der Geburt machen, so dass zum Beispiel manche Menschen eher zu Depressionen und Angsterkrankungen neigen als andere. Die Epigenetik legt außerdem nahe, dass es sich oft schon vor der Geburt entscheidet, ob wir eines Tages Krebs, Diabetes, starkes Übergewicht, eine Suchterkrankung oder eine Herz-Kreislauf-Krankheit bekommen. Und sie kann erklären, warum manchen Menschen eine ungesunde Lebensweise weniger ausmacht als anderen.

 

Was die Forscher bisher herausgefunden haben, klingt sensationell: Indem wir die Programmierung des Genoms mehr oder weniger bewusst verändern, können wir unsere Physiologie – unseren Körper und Geist – dauerhaft beeinflussen. Und wir haben eine riesige Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen. Denn manche Entscheidung, die wir teils schon lange vor ihrer Geburt treffen, verändert ihre Persönlichkeit, ihre Gesundheit, ihre Lebenserwartung.

Rudolf Jaenisch vom weltberühmten Whitehead Institute in Boston, USA, deutscher Pionier der Gentechnik und Stammzellforschung sowie seit vielen Jahren Nobelpreiskandidat, verriet mir: «Das Jahrzehnt der Genetik ist schon lange vorbei. Wir befinden uns jetzt mitten im Jahrzehnt der Epigenetik. In diesem Feld passieren derzeit die wichtigsten und aufregendsten Dinge der Molekularbiologie.»

Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Denken in der Biologie, an der Schwelle zur «postgenomischen Gesellschaft», weiß auch Thomas Jenuwein, Leiter der Arbeitsgruppe für Epigenetik am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg im Breisgau. Denn der neue Zweig der Genetik liefert das lange gesuchte Bindeglied zwischen der Umwelt und den Genen. Er macht die nurture-versus-nature-Diskussion, die das Fach seit hundert Jahren antreibt, endlich hinfällig: Die Frage, welche Eigenschaften wir von unseren Vorfahren geerbt und welche wir durch Erziehung, Kultur und die Interaktion mit unserer Umwelt erworben haben, stellt sich in dieser Form nicht mehr. Beide Seiten sind keine Gegensätze, sie ergänzen sich. Die Umwelt beeinflusst das Erbe und umgekehrt.

«Das Epigenom ist die Sprache, in der das Genom mit der Umwelt kommuniziert», sagt Rudolf Jaenisch. Und er ergänzt, was die Epigenetik so spannend mache, sei ihre Komplexität: «Die Genome Ihrer Zellen sind alle gleich. Kennen Sie eines, kennen Sie alle. Aber jeder Mensch hat zigtausend verschiedene Epigenome.» Ist diese Vielfalt erst erforscht, werden sich ungeahnte Möglichkeiten für neue Forschungsansätze und Therapien ergeben.

Letztlich wird die Epigenetik sogar erreichen, was ihre scheinbar übermächtige Mutter, die Genetik, aus eigener Kraft nicht schaffen konnte: die biomedizinische Revolution des 21. Jahrhunderts zu vollenden.

Der zweite Code

Die wichtigste Botschaft dieses Buches lautet: Fühlen Sie sich nicht als Marionetten Ihrer Gene. Vertrauen Sie darauf, dass Sie Ihre Konstitution, Ihren Stoffwechsel, Ihre Persönlichkeit ändern können. Anders als die Bio-Fatalisten es in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder behauptet haben, ist unser Leben nicht bis ins Kleinste vom Erbgut vorbestimmt. Zwar gibt es ein biologisches Schicksal, ein genetisches Programm, das Körper und Geist im Griff hat, das mit festlegt, ob wir krankheitsresistent, dick, langlebig, krebsanfällig, umständlich, liebevoll, suchtgefährdet oder besonders schlau sind, doch haben wir dieses Schicksal ein gehöriges Stück weit selbst in der Hand.

Ändern Sie Ihren Lebensstil – und Sie nehmen biochemische Weichenstellungen vor, die Ihnen und vielleicht sogar Ihren zukünftigen Kindern und Kindeskindern für den Rest Ihrer Zeit auf Erden unauffällig, aber stetig helfen werden. Über die Epigenome prägen die Einflüsse aus der Umwelt und die Folgen des eigenen Handelns manchmal Jahrzehnte im Voraus, was sich bei uns und unseren Nachkommen in Körper und Geist abspielt.

 

Gleich mehrere Disziplinen machen dank der Epigenetik riesige Fortschritte, zum Beispiel die Forschung an Stammzellen und gegen Krebs.

Besonders spannend ist auch der Einfluss der Epigenetik auf die Alternsforschung. Denn das große Geheimnis der Superalten scheint sich nicht zuletzt in den Epigenomen ihrer Zellen zu verstecken. Die molekularbiologischen Schalter beeinflussen sogenannte Lebensverlängerungsprogramme, die es bei fast allen Organismen gibt, von der Hefe bis zum Menschen. Diese Programme halten – wenn sie denn eingeschaltet sind – einige von uns offensichtlich bis ins höchste Alter gesund und fit.

Auch die Psychologie profitiert: Die Epigenetiker finden nämlich heraus, was den Charakter von Menschen prägt, was die einen zu ängstlichen, schwachen oder gar aggressiven «Persönchen» macht, die anderen zu ausgeglichenen, ruhigen, bindungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten. Die neue Wissenschaft beantwortet interessante Fragen: Welche Rolle spielen die ersten Lebensjahre und die Zeit im Mutterleib für die Ausprägung des Gehirns, und was können Eltern tun, damit sich ihre Kinder optimal entwickeln? Was verändert eine Psychotherapie im Denkorgan von Menschen, die beispielsweise eine Depression oder eine Posttraumatische Belastungsstörung haben?

Die Flexibilität der Epigenome erklärt sogar, warum das Lebensumfeld bereits vor der Geburt und in den ersten Lebensjahren die Krankheitsanfälligkeit im Alter entscheidend beeinflusst. Und auch die Evolutionstheorie muss dank der neuen Disziplin an einer wichtigen Stelle umgeschrieben werden. Denn es ist mittlerweile unbestritten, dass, anders als der große Darwin es lehrte, epigenetisch gespeicherte Umwelteinflüsse manchmal doch vererbbar sind.

 

Der Molekularbiologe Renato Paro bringt die Faszination an der Epigenetik auf den Punkt: «Zellen können sich dank ihres Epigenoms erinnern», sagt der Professor mit hellem Blick und breitem Lächeln, als ich ihn in seinem brandneuen Basler Institut besuche.

Die Ausstattung der Räume ist vom Feinsten. Offenbar hat auch die Eidgenössische Technische Hochschule Zürich, zu der das Institut gehört, die Bedeutung der neuen Forschungsrichtung verstanden: Das Epigenom verleiht den Zellen ein Gedächtnis – und wenn wir einst durchschauen, wie dieses Gedächtnis funktioniert und es gezielt kontrollieren können, dann halten wir ein unerhört potentes biologisches, pharmazeutisches, diagnostisches, psychologisches und präventivmedizinisches Werkzeug in unseren Händen.

Wäre nicht schon längst entschieden gewesen, dass ich über die biologische Informationsspeicherung jenseits der Gene schreibe, so hätte mich die Begeisterung der beteiligten Forscher, mit denen ich mich in den Monaten meiner intensivsten Recherche unterhielt, garantiert überzeugt. Nachdem die Genetik mit der Entschlüsselung des menschlichen Erbguts schon vor Jahren ihren vorerst letzten Höhepunkt erreicht hat und bislang nur wenig von dem halten konnte, was sie damals versprach, macht sich nun eine neue Generation von Biologen daran, die hochkomplexen Mechanismen der Genkontrolle zu erforschen.

Diese Mechanismen entscheiden letztlich über das Schicksal einer jeden Zelle und damit über den biologischen Weg des gesamten Organismus. Der Freiburger Wissenschaftsautor und Professor für Psychosomatik Joachim Bauer hat diese Erkenntnis vor einigen Jahren in seinem Bestseller «Das Gedächtnis des Körpers» als einer der Ersten trefflich beschrieben. Seine damals noch recht umstrittene These «Das Geheimnis der Gesundheit liegt, was die große Mehrheit aller Krankheiten betrifft, nicht im Text der Gene, sondern in der Regulation ihrer Aktivität» würden inzwischen die meisten Experten unterschreiben.

 

Der Titel dieses Buchs, «Der zweite Code», gibt also die Kernaussage der Epigenetik wieder: Der erste Code, die Buchstabenfolge der Gene, dominiert nicht alles. Es gibt noch ein weiteres biologisches Informationssystem. Ihm verdankt jede unserer Zellen, dass sie weiß, woher sie kommt, was sie erlebt und wohin sie geht.

Der genetische Code sagt einem Körper, welche Biomoleküle er überhaupt bauen kann; der zweite, der epigenetische Code sagt ihm, wann und wo er welches von den prinzipiell möglichen Biomolekülen tatsächlich bauen soll. Der zweite Code verankert wichtige Information an und im Erbgut, wirkt dabei allerdings auf einer anderen Zeitskala als der erste. Epigenetische Informationen wandeln sich binnen Jahren und Jahrzehnten, reagieren dynamisch auf Veränderungen der Umwelt. Die klassische genetische Evolution à la Darwin braucht für Veränderungen Jahrtausende.

Viele dieser Einsichten fußen zwar auf Experimenten mit Hefepilzen, Pflanzen, Fliegen oder Nagetieren. Doch die meisten Forscher sind von der Übertragbarkeit der Resultate auf den Menschen überzeugt. Teilweise ist diese Übertragung sogar schon gelungen. Und eine Reihe bislang rätselhafter Beobachtungen lassen sich mit Hilfe der Epigenetik endlich erklären. Zudem handelt es sich um grundlegende Prozesse, die in Zellen ablaufen – also auf einer Ebene, auf der wir uns von den Tieren nicht sonderlich unterscheiden.

Mit diesem Buch möchte ich vor allem drei Ziele erreichen: Ich will erklären, was Epigenome sind und wie sie funktionieren. Ich möchte die vielen herausragenden Erkenntnisse präsentieren, die die Epigenetiker bis heute gewonnen haben. Vor allem aber möchte ich die Folgen hervorheben, die diese Einsichten für uns Menschen und unseren Lebensstil haben, möchte Tipps geben, was wir vielleicht schon heute besser machen können, um die Macht, die uns der zweite Code über unser Erbgut verleiht, sinnvoll zu nutzen.

Dabei berufe ich mich ausschließlich auf Aussagen und Prognosen anerkannter Wissenschaftler. So steigt die Chance, dass ein möglichst großer Teil von dem, was in diesem Buch steht, auch noch in ein paar Jahrzehnten Gültigkeit hat.

Um nicht missverstanden zu werden: Zwar dürften sich manche Aussagen im Lichte neuerer Forschung als falsch herausstellen, die Epigenetik an sich wird unser Leben aber schon bald tiefgreifend verändern. Gesundheitspolitiker werden Programme entwickeln, die werdende Eltern psychologisch, finanziell und ernährungswissenschaftlich unterstützen, damit ihre Kinder ein langes, gesundes Leben haben. Wer raucht, wird sich noch mehr als heute rechtfertigen müssen, weil er neben der eigenen Gesundheit auch das Wohlergehen seiner ungeborenen Kinder und Enkel gefährdet. Und manche Chemikalien, die derzeit weit verbreitet sind, werden verboten sein, weil sie die Epigenome unserer Zellen verändern.

Es wird aber auch neue Medikamente geben, die effektiv gegen Krebs, Depressionen und viele andere Leiden helfen, indem sie eine falsche epigenetische Programmierung rückgängig machen. Die Stammzelltherapie wird endlich zur Anwendung kommen, weil es Forschern gelungen sein wird, den epigenetischen Code einzelner Zellen umzuprogrammieren. So werden dank der Epigenetik eines Tages viele Menschen genesen, die heute als unheilbar krank gelten.

Im Jahr 2006 gab es bereits den ersten Medizinnobelpreis für eine Entdeckung aus der Epigenetik. Das Nobelkomitee zeichnete die US-Forscher Andrew Fire und Craig Mello für ihre Arbeiten zur sogenannten RNA-Interferenz aus. Dahinter versteckt sich eines von drei Werkzeugen, mit denen Zellen ihr epigenetisches Gedächtnis bilden. Ich bin überzeugt, dass die Erforschung des zweiten Codes noch mehr bahnbrechende Erkenntnisse zutage fördern wird.

Gut möglich, dass einer der vielen Forscher, die ich in diesem Buch zitiere, die ich in ihren Labors besucht oder mit denen ich mich am Rande von Kongressen unterhalten habe, eines Tages ebenfalls den Nobelpreis bekommt.

Gönnen würde ich es allen.

KAPITEL 1

Von der Genetik zur Epigenetik: Warum Gene Schalter brauchen

Das Buch des Lebens

William Jefferson – genannt Bill – Clinton ist noch für ein paar Monate amtierender Präsident der USA, als er einen feierlichen Raum im Weißen Haus betritt. Bedächtig schreitet er ans Rednerpult, zieht seine zusammengepressten Lippen in die Breite, wie er es immer tut, wenn es wichtig wird, und verkündet den zahlreichen internationalen Gästen und Medienvertretern sowie den staunenden Fernsehzuschauern: «Heute trifft sich hier im East Room die Welt mit uns, um eine ganz besondere Karte zu enthüllen.» Es handele sich «ohne jeden Zweifel um die wichtigste, wunderbarste Karte, die die Menschheit je erschaffen hat».

Es ist der 26. Juni 2000. Clinton ist nicht allein. Zwei Helden stehen neben ihm, begnadete Molekularbiologen alle beide: rechts Francis Collins von den US-amerikanischen National Institutes of Health, Sprecher des aus öffentlichen Geldern finanzierten internationalen Humangenomprojekts; links Craig Venter von der privaten Firma Celera Genomics. Die Teams der beiden hatten sich in den vorangegangenen zehn Jahren einen erbitterten Wettkampf geliefert. Es ging um nichts Geringeres als darum, die biologische Essenz des Menschen zu entschlüsseln – dachte man zumindest.

In diesem Moment hat Craig Venters mit viel Ehrgeiz und unerschöpflichen privaten Geldern vorwärtsgetriebenes Team die Nase deutlich vorn, doch die Kontrahenten haben sich für den öffentlichkeitswirksamen Event zusammengerauft. Gemeinsam präsentieren sie, was sie die «Arbeitsversion» der menschlichen Genomkarte nennen: Auf ihren Graphiken sind 97 Prozent der Buchstaben des menschlichen Gencodes eingetragen. Das «Buch des Lebens», so Clinton und die Forscher, wurde endlich lesbar.

Historischer Moment. US-Präsident Bill Clinton stellt am 26. Juni 2000 mit Craig Venter, Direktor von Celera Genomics (links), und Francis Collins, Sprecher des Humangenomprojekts (rechts), auf einer Pressekonferenz im Weißen Haus die Rohfassung des menschlichen Gencodes vor.

Via Satellit kommentieren Genetiker in Paris, London, Peking, Tokio und Berlin die Resultate. Auch der britische Regierungschef Tony Blair ist zugeschaltet. Die beiden Politiker eilen von einem verbalen Höhepunkt zum nächsten: Die Genkarte sei ungleich wichtiger als die Landkarte Amerikas, die sein Amtsvorgänger Thomas Jefferson im gleichen Raum vor 200 Jahren präsentiert hat, sagt Clinton. Und dann gratuliert er Blair, denn die Lebenserwartung seines kürzlich geborenen Sohnes sei soeben schlagartig um 25 Jahre gestiegen. Die häufigsten Volkskrankheiten wie Krebs, Parkinson, Alzheimer oder Diabetes wären mit Hilfe der neuen Daten in absehbarer Zeit heilbar.

 

Die Euphorie scheint berechtigt. Denn die Forscher können nun endlich fast vollständig den 3,3 Milliarden Buchstaben umfassenden Text lesen, den die Sprossen der spiralförmig ineinandergewundenen Leiter der Erbsubstanz eines Menschen bilden. Diese Leiter ist die berühmteste Doppelhelix der Welt, die sogenannte Desoxyribonukleinsäure, kurz DNS genannt und besser bekannt unter ihrer englischen Abkürzung DNA. Die gesamte Erbsubstanz eines Menschen ist auf 46 DNA-Moleküle – die sogenannten Chromosomen – verteilt. 22 Chromosomen kommen doppelt vor. Frauen besitzen zudem noch zwei sogenannte X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Pro Paar stammt ein Chromosom vom Vater und eines von der Mutter.

Die gigantisch langen, aber nur rund ein Dutzend Atome dünnen DNA-Riesenmoleküle winden sich durch den Kern einer jeden Zelle. Das Geheimnis ihrer Vererbbarkeit steckt in ihrer besonderen Form, die leicht zu reproduzieren ist: Wenn sich eine Zelle teilt, um Tochterzellen zu bilden, öffnet sie ihre Doppelhelizes wie Reißverschlüsse in der Mitte der Sprossen. Dann ersetzt sie den jeweils fehlenden Leiter-Strang, so dass aus einer DNA zwei identische Tochtermoleküle werden. Jede der Tochterzellen erbt dann eines dieser Moleküle und damit das vollständige Erbgut ihrer Mutterzelle.

Damit sich Menschen fortpflanzen können, bilden sie zunächst Ei- oder Samenzellen, in denen jedes Chromosom eines Typs nur einmal vorkommt. Der Zufall entscheidet darüber, ob ein Gen vom zukünftigen Großvater oder von der werdenden Großmutter stammt. Deshalb unterscheiden sich Geschwister genetisch gesehen voneinander, sofern sie keine eineiigen Zwillinge sind. Und deshalb entscheidet der Zufall über das Geschlecht: Erben wir vom Vater das X-Chromosom, werden wir weiblich, erhalten wir das Y-Chromosom, werden wir männlich.

Bei der Befruchtung verschmelzen Samen- und Eizelle schließlich miteinander, und die neue Zelle hat wieder einen vollständigen Satz von 46 Chromosomen. Diese erste, winzig kleine Lebenseinheit enthält damit nahezu alle Informationen, die sie für ihre biologische Entwicklung und spätere Lebensfähigkeit braucht. Aus ihr entsteht über viele Jahre hinweg und nach einem hochkomplexen, größtenteils ebenfalls in der DNA gespeicherten Programm ein neuer erwachsener Mensch mit seinen ganz eigenen, im persönlichen Buch des Lebens gespeicherten Eigenschaften.

Wie die Molekularbiologie auf dem Mond landete

Wenn ein Mensch sein Erbgut vererbt, gibt er also jene in den DNAs gespeicherten Texte weiter, die einen Großteil der Beschaffenheit und Eigenschaften seines Lebens ausmachen. Dieser Umstand erklärt, warum die Genforscher Collins und Venter im Juni 2000 eine so große Aufmerksamkeit erregten. Sie waren die Ersten, die einen fast vollständigen menschlichen Gentext gelesen hatten – einen Text, der nur aus vier verschiedenen Buchstaben besteht: A, C, T und G.

Die Buchstaben stehen für die Basen Adenin, Cytosin, Thymin und Guanin, die immer paarweise die Sprossen der leiterförmigen DNA bilden. In ihrer Abfolge versteckt sich letztlich der Bauplan allen Lebens. Denn sie codiert die Struktur der zahllosen verschiedenen Proteine eines menschlichen Organismus.

Jeder Zellbestandteil, jedes Enzym, jeder Botenstoff, jedes dazu passende Empfängermolekül ist im Grunde ein spezielles Protein. Und jede dieser Substanzen wird anhand eines nur ihm zugehörigen Stückchens DNA von jeder unserer Zellen auf immer gleiche Art zusammengebaut. Die genetisch fixierten Unterschiede zwischen Menschen – etwa verschiedene Farben der Augen oder Haare – haben ihre Ursache in kleinen Abweichungen dieser DNA-Codes. Denn diese Abweichungen sind verantwortlich dafür, dass die Zellen des einen Menschen manche Proteine ein kleines bisschen anders konstruieren als die Zellen des anderen. Und andere Proteine zu besitzen bedeutet immer auch, ein wenig anders zu sein.

Chemisch gesehen sind Proteine – auch Eiweiße genannt – lange Ketten aus hintereinander aufgefädelten, relativ einfachen Biomolekülen, sogenannten Aminosäuren. Davon gibt es nur 20 verschiedene. Weil die aber zu beliebigen Mustern aneinandergereiht werden können und daraus ganz unterschiedlich lange Ketten entstehen, weil sich zudem auch mehrere Ketten zusammenballen können, gibt es unvorstellbar viele mögliche Eiweiße.

Das «Perlenmuster» des Proteins sorgt meist ganz von allein dafür, dass sich das Molekül nach seinem Zusammenbau zu einer bestimmten Form faltet. So kann es die ihm zugewiesene Aufgabe im lebenden System erfüllen. Je nach Bedarf lagert eine Zelle zudem andere Stoffe in und um die Proteine ein, etwa Mineralien, die einen Panzer, Zähne oder Knochen härter machen. Theoretisch hat die Natur also unendlich viele Bausteine zur Verfügung, aus denen sie ja auch unendlich viele Farben und Formen zaubert.

Jede Zelle baut in einem Prozess namens Proteinbiosynthese exakt die Proteine zusammen, die sie braucht. Ihr Gencode sagt ihr dabei, in welcher Reihenfolge sie die Aminosäuren aneinanderreihen soll. Weil der Code aber nur vier Buchstaben besitzt, mit denen er 20 Aminosäuren kennzeichnen muss, wendet die Natur einen Trick an: Erst ein Dreierpack von DNA-Buchstaben sagt der Zelle, welche «Perle» sie als Nächstes auf die «Eiweißkette» aufzufädeln hat. ACT heißt zum Beispiel Aminosäure Nummer eins, GGC Aminosäure Nummer zwei und CTG Aminosäure Nummer drei. ACTCTGCTGACTGGC heißt dann: «Das Protein, das du baust, enthält zuerst Aminosäure Nummer eins, dann zwei Mal Nummer drei, dann wieder die eins und schließlich die zwei.»

Proteinbiosynthese. Im Zellkern helfen Enzyme, den DNA-Code eines Gens auf eine sogenannte Boten-RNA (mRNA) zu übertragen. Diese wird noch etwas umgebaut und zurechtgestutzt, verlässt dann den Zellkern und bindet an ein Ribosom genanntes Protein, wo nach ihrer Anleitung das neue Protein (Polypeptid) zusammengesetzt wird. Jede Aminosäuren-Art wird von einer auf sie spezialisierten Transport-RNA herbeigeschafft, die nur dann an die Boten-RNA binden und damit ihre Aminosäure an die wachsende Aminosäurenkette anbauen kann, wenn der passende Basencode auf der Boten-RNA auftaucht. So ist garantiert, dass die Zelle ein bestimmtes Gen immer in identische Proteine übersetzt.

Ein Gen ist letztlich das Stückchen DNA-Text, das den Code für ein einzelnes Protein enthält. Üblicherweise gehört dazu noch eine Start- und eine Endsequenz, damit die Biomoleküle, die den Gencode ablesen und in eine Bauanleitung übersetzen, wissen, wo sie anfangen und aufhören sollen.

Zudem kann die Zelle ihre Gene gezielt an- und ausschalten. Denn nur wenn ein Gen tatsächlich abgelesen und in ein Protein übersetzt wird, ist es auch aktiv. Dafür gibt es auf der DNA spezielle Kontrollregionen, die ein oder mehrere nahegelegene Erbgutstücke blockieren oder zum Ablesen freigeben können, je nachdem ob bestimmte Botenstoffe an sie andocken oder nicht. Diese Stellen heißen Promotoren. Die Botenstoffe heißen Transkriptionsfaktoren.

Niemals sind alle Gene einer Zelle zugleich angeschaltet. Stattdessen übersetzt jede Zelle immer nur einen bestimmten Satz ihrer Gene in Proteine. Dieser Satz heißt Genexpressions- oder Genaktivitätsmuster. Er entscheidet, wie die Zelle aussieht und was sie gerade tut. Allerdings wirkt das Kommando der Promotoren nie auf Dauer. Verschwindet ein Transkriptionsfaktor, endet auch sein Einfluss.

Mit diesem System kann die Zelle erstaunlich rasch auf neue Anforderungen reagieren. Sie kann damit sogar sehr genau regulieren, welche Gene sie gerade ablesen will und welche nicht. Denn auch die Transkriptionsfaktoren sind selbstverständlich Proteine, deren Gene die Zelle an- oder ausschalten kann. Letztlich ist diese Genregulation unfassbar kompliziert. In jeder Zelle existiert nämlich ein hochdynamisches Beziehungsgeflecht aus vielen, sich in ihrem Einfluss gegenseitig verstärkenden oder hemmenden Proteinen. Das aktuelle Genaktivitätsmuster einer Zelle – ihr vorübergehender Zustand – ist die Konsequenz dieses unüberschaubaren Zusammenspiels.

Den Mechanismen der Genregulation verdanken die Zellen also ihre lebensnotwendige Flexibilität. Sie versetzen sie in die Lage, mit ihrer Außenwelt zu kommunizieren. Und das ermöglicht wiederum Körper und Geist, sich auf Umweltveränderungen einzustellen. Allerdings können Zellen auf diesem Weg kaum langfristig speichern, welche ihrer Gene prinzipiell aktivierbar sind und welche nicht. Sie können bestimmte Zustände oder Eigenschaften damit nicht dauerhaft «einfrieren». Das System der Promotoren verleiht ihnen weder ein Gedächtnis noch eine Identität.

Dafür sorgen jene biochemischen Strukturen, mit denen sich dieses Buch beschäftigt: die Epigenome. Auch sie steuern die Genregulation, schalten Gene also an und aus. Auch sie können dies als Reaktion auf Botenstoffe und andere Signale tun. Aber ihr Einfluss auf das Genaktivitätsmuster einer Zelle bleibt auch dann noch bestehen, wenn der ursprüngliche Auslöser, der sie an eine bestimmte Stelle des Erbguts gelotst oder von einer anderen entfernt hat, schon lange verschwunden ist.

 

Die Gene sowie ihre Kontrollregionen sind überall in der DNA verstreut. Kein Wunder, dass im Jahr 2000 die Begeisterung grenzenlos war: Wer den DNA-Text kennt, kennt zumindest theoretisch auch schon alle Proteine des Körpers und ihre Baupläne, kennt das ganze Puzzle, aus dem sich das Leben zusammensetzt.

Nicht nur Clinton, Venter, Collins und Blair waren überzeugt: Das Genom enthält all die bislang verborgenen Geheimnisse der menschlichen Existenz, Informationen über Wachstum und Alterung, Krankheit und Gesundheit, Individualität und Gemeinsamkeit, Körper und Geist. Sie zu ergründen schien endlich im Bereich des Möglichen.

Auch die Mehrheit der Beobachter glaubte in diesem Moment, man müsse nur noch eins und eins zusammenzählen, um die Biomedizin zu revolutionieren. Das sei zwar enorm mühsam und sehr zeitraubend, letztlich habe sich die Tür zur Zukunft aber schlagartig aufgetan. Mit etwas Fleißarbeit und raffinierter Technik habe man das Leben schon bald bis ins Kleinste durchschaut. Dann sollte die Analyse selbst komplexer, bislang unheilbarer Krankheiten kein Problem mehr sein, so die Optimisten. Und dann hielte man sicher schnell die ersten Vertreter einer neuen Generation von hochwirksamen und nebenwirkungsarmen Medikamenten in Händen.

Nicht wenige Journalisten – und ich muss zugeben, ich war einer von ihnen – verglichen diesen Tag mit dem 20. Juli 1969: Sie nannten ihn die «Mondlandung der Biologie». Neil Armstrongs erste Schritte auf dem Mond waren der Höhepunkt des Apollo-Programms und das Sinnbild für die vermeintliche Allmacht von Physik und Technik. Es war der Erfolg des ehrgeizigsten Wissenschaftsprojekts des letzten Jahrhunderts.

Gerade deshalb macht der Vergleich Sinn: Vermutlich war das Humangenomprojekt, das die Forscher im Jahr 2003 endgültig abschlossen, nicht weniger aufwendig und mindestens genauso ehrgeizig wie die Reise zum Mond. Auch diese Expedition war nur möglich geworden, weil modernste Technik den Biologen unter die Arme griff. Immer bessere Sequenziermaschinen, schnellere Computer und perfektionierte Software hatten dafür gesorgt, dass die Forscher zuletzt in fünf Minuten so viel Gentext lesen konnten, wie zur Halbzeit des Projekts, im Jahr 1995, in elf Tagen. Den größten Teil ihrer Arbeit hatten die Forscher in den letzten eineinhalb Jahren erledigt. (Im Jahr 2008 reichen ihnen für die gleiche Menge Gentext übrigens Sekunden. Ein komplettes menschliches Genom ist nach acht Wochen sequenziert.)

 

Damals ahnte allerdings kaum jemand, dass sich im Rückblick noch eine weitere Parallele zur Raumfahrt ergeben würde: Die Landung auf dem Mond sollte sich als wenig fruchtbar erweisen, denn auf dem Erdtrabanten gab es in Wahrheit nichts zu holen. Und ganz ähnlich erging es den Biologen: Sie mussten schon bald erkennen, dass sie mit dem bloßen DNA-Code weniger anfangen konnten, als sie sich erhofft hatten. Was nun auf dem Tisch lag, war eben lediglich die Hardware. Die Software hatten sie nicht einmal im Ansatz durchschaut. Heute zeichnet sich ab, dass das Genom bei weitem nicht so statisch und unveränderbar ist wie damals angenommen und dass in ihm viel mehr Informationen stecken als nur die bloße Abfolge der Basen.

Immerhin sind die Resultate, die Clinton, Venter und Collins bei jener historischen Pressekonferenz verkündeten, tatsächlich der Anfang einer atemberaubenden Entwicklung geworden, die uns deutlich mehr beeinflussen wird, als es Armstrongs erste Schritte auf dem Mond je konnten. Denn der 26. Juni 2000 markiert nicht nur den Höhepunkt des «genomischen Zeitalters», sondern zugleich den Beginn der «Postgenomik» und liefert damit auch einen der wichtigsten Impulse für das Gebiet der Epigenetik.

Ernüchterung und neuer Aufbruch

Natürlich ist den Forschern auch schon im Jahr 2000 klar, dass ihre eigentliche Aufgabe erst beginnt. Der Code liegt auf dem Tisch, nun gilt es, ihm einen Sinn zu geben – das Buch nicht nur zu lesen, sondern auch zu verstehen. Bisher haben die Genetiker kaum einzelne Gene im riesigen Text des Erbguts identifiziert. Sie hätten vorerst nur «Katalogwissen» gespeichert, schreibt der deutsche Molekularbiologe Jens Reich. Jetzt gehe es darum «auszutüfteln», welche Funktionen die einzelnen Gene haben und inwieweit sie sich von Mensch zu Mensch und zwischen kranker und gesunder Zelle unterscheiden: «Wir stehen am Anfang und keineswegs am Ende.»

Auch Wolfgang Hartwig meint: «Die Aufklärung der Genfunktionen wird zur Jahrhundertaufgabe.» Er leitet damals die Pharmaforschung des Bayer-Konzerns. «Bislang kennt man gerade 500 sinnvolle Angriffspunkte für Medikamente. Dank des Humangenomprojekts dürften noch einmal 5000 dazukommen.» Alle großen Pharmafirmen haben zu diesem Zeitpunkt schon längst begonnen, in den öffentlich zugänglichen Datenbanken der Genforscher nach medizinisch verwertbaren Informationen zu schürfen, und entwickeln Strategien, diese im Dienst der Menschen und zur Erweiterung ihrer Produktpalette zu nutzen.

Natürlich hoffen die Hersteller auf viele neue Erfolgsmedikamente – und auf das ganz große Geld. Die Wirtschaft befinde sich «im Genrausch», sagt Hartwig. Von den rund 30 000 bekannten Erkrankungen sei derzeit nur ein Drittel behandelbar. Das werde die Genforschung ändern. Allein Bayer werde «im Jahr 2004 zwanzig Entwicklungskandidaten für neue Medikamente präsentieren».

 

Heute sind die Experten kleinlauter. Denn die wenigsten Krankheiten lassen sich allein durch klar definierbare Veränderungen im Erbgut erklären. Die weitaus meisten entstehen nicht einfach deshalb, weil der Körper einzelne Proteine aufgrund einer Mutation der DNA verkehrt zusammenbaut.

Dummerweise ist die Wirklichkeit viel komplizierter. Selbst als die Forscher immer mehr Gene identifizieren und bei einer zunehmenden Zahl auch noch herausbekommen, an welchen Prozessen sie beteiligt sind, finden sie kaum neue Angriffspunkte für Medikamente. Viel zu selten hat ein Gen eine scharf umrissene Aufgabe. Und noch seltener sorgt ein Stottern dieser Funktion dann tatsächlich für ein klar eingrenzbares, bereits bekanntes Krankheitsbild. So lässt der große Pharma-Boom bis heute auf sich warten – und wird vermutlich in dieser Form nie kommen.

Selbst Craig Venter gibt mittlerweile zu: «Im Rückblick waren unsere damaligen Annahmen über die Funktionsweise des Genoms dermaßen naiv, dass es fast schon peinlich ist.» Das Wechselspiel der Gene ist so komplex, dass es niemand allein deshalb versteht, weil er die beteiligten Akteure kennt. Die ersten Aussagen der Genforscher kurz nach ihrer «Mondlandung» muten heute an, als wolle ein unwissendes Kind herausfinden, wie es die Zeit messen kann, indem es die unzähligen, klitzekleinen Einzelteile einer Armbanduhr vor sich auf dem Tisch betrachtet: Zahnrädchen, Schrauben und Federn, allesamt säuberlich, aber zusammenhanglos nebeneinander platziert.

Die Genetiker müssen noch erkunden, welches Gen zu welchem Zeitpunkt und im Zusammenspiel mit welchen anderen Genen welche Aufgabe übernimmt. Fast alle biochemischen Prozesse innerhalb einer Zelle sind über das hochkomplexe Räderwerk der Genregulation miteinander verzahnt.

 

Das ist indes nicht alles: Der Wissenschaftsjournalist Ulrich Bahnsen titelte 2008 in der Zeit treffend vom «Erbgut in Auflösung». Das Genom sei kein stabiler Text. Tatsächlich sind Veränderungen im und um das Genom lebenswichtiger Bestandteil der menschlichen Existenz und nicht etwa ein Krankheitsauslöser, wie man früher dachte. «Jeder Organismus, jeder Mensch, selbst jede Körperzelle ist ein genetisches Universum für sich», schreibt Bahnsen.

Gene können sich zum Beispiel bis zu 16-mal vervielfachen, damit die von ihnen codierten Proteine häufiger produziert werden können. Dabei verändern sich manchmal die Kopien; sie können sich zerstückeln oder ihren Code umkehren und an anderer Stelle im Erbgut wieder neu zusammengebaut einlagern. Als sogenannte Transposons, übertragbare Elemente, sind diese veränderten Gene ein mobiler Bestandteil der DNA, hüpfen herum und spielen mit ihr wie mit einem riesigen Baukastensystem. Das gesamte Genom baut aus funktionierenden Genen immer wieder neue Varianten zusammen, die eines Tages vielleicht etwas nutzen könnten.

Damit sie vorerst aber keinen Schaden anrichten, stellt die Zelle sie stumm – übrigens mit Hilfe eines epigenetischen Tricks, den ich später noch erklären werde. Nach der Meinung vieler moderner Genetiker dienen die übertragbaren Elemente als Vorsorge für schlechte Zeiten. Wenn die Lebensbedingungen sich dramatisch verschlimmern und eine «Antwort» des Genoms nötig wird, kann die Zelle sie nämlich «von der Leine» lassen und aktivieren, sagt der Psychosomatiker und Autor Joachim Bauer.

Hinzu kommt, dass der weitaus größte Teil des Erbguts gar nicht aus Genen besteht. Diesen Rest, in dem sich unter anderem die ruhiggestellten Transposons befinden, betrachteten die Genetiker jahrzehntelang als überflüssigen, informationslosen Ballast. Sie bezeichneten ihn verächtlich als «Junk», also Müll. Doch der Müll scheint gar nicht so überflüssig zu sein. Einige seiner Bestandteile haben sich im Laufe der Jahrmillionen währenden Evolution vom Wurm zum Menschen kaum verändert. Das ist nur denkbar, wenn sie eine bedeutende Aufgabe erfüllen.

Immerhin gibt es inzwischen einige Hinweise darauf, welche Informationen die Müll-DNA speichert und welche Aufgaben sie übernimmt. Auch da hat übrigens die Epigenetik ihre Finger im Spiel.