Autorenvita:

Gina Mayer

© Sibylle Pietrek

Gina Mayer wurde 1965 in Ellwangen geboren. Sie studierte in Düsseldorf Grafik-Design und machte sich danach als Werbetexterin selbstständig. Nach der Geburt ihrer beiden Kinder begann sie Bücher zu schreiben. Seit 2006 hat sie eine Vielzahl historischer und zeitgeschichtlicher Romane für Jugendliche und Erwachsene veröffentlicht. Gina Mayer ist verheiratet und lebt mit ihrer Familie in Düsseldorf.

www.ginamayer.de

Joseph von Eichendorff
»Aus dem Leben eines Taugenichts«

Das hört Friedrich, obwohl er nicht verstehen kann, was sie sagen. Nun werden die Stimmen überlagert vom Knall zugeworfener Türen und wehklagenden, bittenden Rufen der Mutter und von draußen her hört er das Klappern der Fensterläden, die unter der Gewalt des auf- und abschwellenden Sturmes heftig gegen die Hauswand schlagen.

Es ist eine kalte, stürmische Septembernacht im Jahr 1911, in der Friedrich Weckerlin plötzlich mitten aus unruhigen Träumen und seinem bisherigen Leben gerissen wird. Er hat sich am frühen Abend in das Bett seines Vaters vergraben. Dessen Bild steht mit einem schwarzen Trauerflor geschmückt auf dem Nachttisch der Mutter. Es zeigt ein lächelndes Gesicht mit aufgezwirbeltem schwarzem Schnurrbart und ungebärdigen dunklen Locken, die in die breite Stirn fallen.

»Wie ein Zigeuner«, hat die Mutter immer gesagt und dabei zärtlich Vaters Haare zurückgestrichen. »Zigeunerblut, ihr habt Zigeunerblut und der Fritz sieht jetzt schon genauso aus wie du.«

Vor einer Woche ist der Vater gestorben und Friedrich kann noch schwach seinen Duft riechen, wenn er den Kopf in die Kissen wühlt; den Duft nach Zigarren und parfümierter Pomade. Außer dem Schmerz um seinen Tod aber hat der Vater Sorgen hinterlassen, viele Sorgen! Der heitere, lebensfrohe Mann ist hochverschuldet gestorben. Eine Zigarrenfabrik hatte er gegründet – »war übermütig geworden«, wie die Leute im Dorf sagen; denn der Maurermeister Friedrich Weckerlin ist ein angesehener Mann gewesen, ein wohlhabender dazu. Zwei Gesellen hat er gehabt und einen Lehrbuben, die Geschäfte sind nicht schlecht gegangen in diesen Jahren des Kaiserreichs. Aber er hat noch höher hinausgewollt, immer höher, hat die Fabrik gegründet und ist nun hochverschuldet gestorben. Auch bei seinem Tod ist nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, haben sich die Leute auf dem Kirchhof zugeraunt. Viel zu viel getrunken hat er in der letzten Zeit, hat die Sorgen vergessen wollen und eines Nachts ist er auf dem Nachhauseweg vom Wirtshaus in den Fluss gefallen. Ein paar Arbeiter haben ihn am nächsten Morgen aus der behäbig fließenden Enz herausgezogen. Unter den gellenden Schreien seiner Frau hat man ihn auf das Bett gelegt, in dem jetzt sein Ältester immer wieder verzweifelt nach Schlaf sucht, den Kopf in die Kissen wühlt und die Erinnerung an den Vater beschwört.

Und heute ist es eingetreten, das Schlimme, von dem die Mutter manchmal flüsternd gesprochen hat, wenn sie abends mit Friedrich am Küchentisch saß. Die Gläubiger sind gekommen und holen alles.

Plötzlich öffnet sich der Lichtspalt auf dem Fußboden, es wird hell, schwere Stiefel poltern auf den Dielenbrettern, harte Hände fassen nach Friedrich und zerren ihn aus dem Bett. Zitternd fährt der Junge in die Kleider, packt den kleinen Bruder, den dreijährigen Wilhelm, der sich heulend an die Mutter klammert. Sie lehnt schmal und erschöpft am Türrahmen und drückt Friedrich eine Tasche in die Hand, in die sie etwas Leibwäsche und Geschirr geworfen hat, misstrauisch beobachtet von den schwarz gekleideten Herren mit den steifen Kragen und den goldenen Uhrketten. Die jagen sie jetzt fort aus dem großen, stattlichen Haus in der Herrengasse.

»Wo sollen wir denn hin?«, ruft die Mutter noch, aber die hohe Eingangstür wird schon zugeschlagen. Die Mutter hastet hinüber zur Kirche mit der kleinen Emma auf dem Arm. Friedrich tappt tränenblind hinterher, in der einen Hand die Tasche, an der anderen den heulenden Wilhelm, der sich schreiend widersetzt. Verzweifelt pocht die Mutter an die Tür zum Pfarrhaus, aber der Herr Pfarrer liegt wohl in tiefem Schlaf, die Tür bleibt verschlossen.

In der Zwischenzeit stehen vor den Häusern Menschen, die die Flucht der Weckerlins beobachten. Bald findet sich eine gaffende Horde zusammen, die sich um die weinende Frau schart. Auf einmal teilt sich die Menge, der Wachtmeister kommt und führt die Weckerlins hinüber zum Lindenplatz, wo sich die Mutter erschöpft gegen den riesigen Baum lehnt, der dem Platz seinen Namen gegeben hat. Er sage dem Bürgermeister Bescheid, erklärt der Wachtmeister, und sie sollen hier auf ihn warten. Friedrich zittert vor Kälte. Sie ducken sich unter den Baum und Friedrich versucht mit ein paar herumliegenden dürren Ästen ein kleines Feuerchen zu entfachen. Sie kauern sich drum herum, um sich vor dem beißenden Wind und den hämischen Blicken zu schützen.

Die Menge, die sich um sie schart, wird größer, aber es regt sich keine Hand, um den Weckerlins zu helfen, kein Mund öffnet sich, um zu sagen: »Ihr könnt mit zu mir kommen.« Immer tiefer ducken sich Friedrich und die Mutter um das kümmerliche Feuer, nur die kleine Emma liegt selig schlummernd in einer Schublade, die die Mutter noch herausgerissen hat, um die darin liegende Wäsche zu retten. Nach einer Weile traut sich Friedrich verstohlen den Blick zu heben. Wo ist denn der Wachtmeister? Irgendetwas muss doch jetzt geschehen.

Boshafte, wölfische Blicke begegnen seinem, aber plötzlich fällt ihm einer aus der Menge auf, der ihm direkt gegenübersteht und ihn unverwandt anstarrt. Dieser Blick gehört einem Jungen, den er flüchtig aus der Schule kennt. Er muss so alt sein wie er selbst, denn er geht in dieselbe Klasse, sitzt aber ganz vorne, in den ersten Bänken, wo die Dummen sitzen und die Armen. Er kommt aus der Stadtmühle, dem verrufensten Haus im Dorf, dem letzten Quartier für die Verlorenen, mit denen niemand etwas zu tun haben will. Unentwegt starrt er Friedrich an, mit merkwürdig hellen Augen, die sich förmlich an Friedrich festsaugen. Plötzlich dreht sich der Junge um und rennt los und Friedrich ist fast erleichtert, diesem drängenden Blick entkommen zu sein. Aber nur wenige Minuten vergehen, dann kommt der seltsame Junge zurück. Er hat eine graue Decke unter den Arm geklemmt und zögernd, ganz langsam, nähert er sich den Weckerlins. Dann geht alles ganz schnell. Auf einmal spürt Friedrich, wie ihm diese Decke über die Schultern gelegt wird. Es ist eine schnelle, abrupte und dennoch fast zärtliche Geste. Die Decke ist alt, sie riecht nach Urin und säuerlichem Schweiß, trotzdem zieht Friedrich sie fest an sich, denn sie wärmt ihn und er spürt unentwegt den forschenden Blick des Jungen mit den hellen Augen auf sich, einen Blick, der ihn zu durchbohren scheint. Aber er spürt auch, dass in all diesem Elend etwas ganz Besonderes geschehen ist. Ihm ist, als würde ihn dieser Blick nicht mehr loslassen, sein ganzes Leben lang.

1

Anna drückt die Nase fest gegen die Fensterscheibe, immer wieder, bis ein unregelmäßiger kleiner Fettfleck auf der Scheibe zu sehen ist. So hat sie es immer als kleines Mädchen gemacht, bis die Mutter jedes Mal wütend rief: »Anna, was machst du da? Lass den Unfug!« Mamas Stimme! Sie wird sie nie wieder hören. Schnell dreht Anna sich um. Das Wohnzimmer ist in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Was für ein Hohn, denkt sie. Die Sonne scheint und Mama liegt begraben unter der dunklen Erde. Wieder spürt sie tief unten in der Kehle das Brennen der Tränen, die sie niederkämpft, den ganzen langen Tag schon. Bloß nicht heulen, denkt sie, nicht heulen, sonst kann ich nicht mehr aufhören. Vielleicht hätte sie doch mitgehen sollen, mit Mamas Freunden, die jetzt in ihrer Lieblingskneipe schräg gegenüber in der Prenzlauer Straße zusammensitzen.

»Willst du wirklich nicht mitkommen?«, hat Pia, Mamas beste Freundin, immer wieder gefragt. »Es ist nicht gut für dich, alleine rumzuhocken.«

Aber Anna hat immer wieder entschieden den Kopf geschüttelt.

»Nee, lass mal. Ich will alleine sein. Das müsst ihr doch verstehen.«

Sie hat verstanden oder es zumindest vorgegeben. Wahrscheinlich sind Pia und die anderen sogar froh, sich nicht mit einer vor Kummer erstarrten Neunzehnjährigen abgeben zu müssen. Was soll man auch sagen … So können sie sich langsam einen antrinken, das Entsetzen darüber wegspülen, dass es eine von ihnen getroffen hat, jetzt schon – »ach, der verfluchte Krebs« –, und sie können sentimental werden und alten Erinnerungen nachhängen.

Es sind schon freundliche Menschen, findet Anna, aber seltsam unbehaust und ruhelos, so als seien sie gar nicht richtig angekommen im Leben. Fast alle sind geschieden und jeder macht irgendetwas, was er eigentlich ursprünglich gar nicht tun wollte. So wie Mama, die Lehrerin geworden ist und doch eigentlich immer von einer Karriere als Journalistin geträumt hat. Oder Pitt, der ein Antiquitätengeschäft hat, in dem nie jemand etwas kauft, oder Pia mit ihrem komischen Service für Kindergeburtstage. Und alle machen immer noch den Eindruck, als sei alles nur vorübergehend, dabei ist ihr Leben doch schon fast vorbei. So jedenfalls kommt es Anna vor.

Von unten dringen die Geräusche aus der Pizzeria herauf. Gianni zieht die Rollläden hoch, um fünf Uhr öffnet er. Sicher würde es gleich klingeln und er würde mit einer Pizza oder einer Extraportion Rigatoni Napoli vor der Tür stehen.

»Du musst essen, mia figlia, sonst macht sich deine Mama Sorgen da oben.« Anna muss unwillkürlich lächeln. Der gute Gianni, er hat vorhin so geweint auf dem Friedhof. Aber essen kann sie jetzt bestimmt nichts. Sie muss etwas tun, irgendetwas, um nicht verrückt zu werden. Ziellos streift sie im Zimmer herum.

Plötzlich, ohne recht zu wissen warum, hockt sie vor der alten, dunkel gebeizten Kommode, die mit den komischen Löwenklauen-Füßchen, und wühlt in den Fächern. Ganz hinten sind die Fotoalben, die ganz alten, die ihr Mama manchmal gezeigt hat, als sie noch ein Kind war. Später wurden sie in die hinterste Ecke verbannt. Mama konnte und wollte sie scheinbar nicht mehr sehen.

»Lass, Kind, ich möchte nicht daran erinnert werden, es war keine schöne Zeit.« Aber Anna hat sie oft heimlich angeschaut, wenn Mama nicht zu Hause war. Letztlich konnte sie wenig anfangen mit diesen alten Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen die Personen so unnatürlich und steif posierten. Trotzdem übten die Fotografien immer einen eigentümlichen Zauber auf sie aus. Das kleine Mädchen da, das erkennt sie sofort, das war Mama, und der schlanke, fast hagere Mann ist Mutters Großvater gewesen.

»Dein Uropa«, hat ihr Mama damals erklärt, und als Anna später mehr von ihm wissen wollte, hat sie unwillig das Album zugeklappt und kurz und bestimmt gesagt: »Er war ein komischer Mensch! Ein Spinner, haben die Leute gesagt, hat sich selber und anderen das Leben schwer gemacht. Deine Geburt hat er noch erlebt und sich sehr darüber gefreut. Vier Jahre später ist er gestorben. Schau –« Und sie hat ihr eines der neueren Bilder gezeigt, diesmal ein Farbfoto. Es zeigt diesen Mann, den Urgroßvater. Er hält ein schreiendes Baby auf dem Arm und schaut es seltsam entrückt und fast verklärt an. Anna hätte so gern mehr über diesen Urgroßvater gewusst. Warum ist er ein Spinner gewesen? Und was heißt das: »Sich und anderen das Leben schwer gemacht«?

Und wer sind die anderen auf den Fotos? Die hübsche Frau beispielsweise mit den dunklen Augen, die immer so traurig aussieht? Es gibt noch eine andere, viel ältere, die ihr sehr ähnlich ist, die aber ein ganz altes und eingefallenes Gesicht hat. Auf vielen Bildern ist auch eine junge Frau abgebildet, von der Anna weiß, dass sie ihre Großmutter war, die ebenfalls Anna hieß. Sie sei früh gestorben, hat Mama einmal erzählt, und auch dass Anna ihr sehr ähnlich sehe. Es gibt noch einen Jungen auf einigen wenigen Fotos, den Anna ganz besonders mag. Er ist so hübsch mit seinen dunklen Locken und lächelt immer so freundlich in die Kamera. Seine Augen sind ebenfalls ganz traurig, aber er lacht voller Zuversicht. Anna hat nie ein Bild von ihm als Erwachsenem gefunden.

Allerdings ist sie damals auch noch auf etwas anderes gestoßen, etwas, das ihr Mama auch nie erklärt hat. In eines der Alben ist ganz hinten ein Zeitungsausschnitt gesteckt worden. Er ist ganz vergilbt und die Kanten, an denen er zusammengefaltet gewesen ist, sind brüchig, sodass man dort die Buchstaben nicht mehr erkennen kann. Die Rede ist von einem »der erfolgreichsten Geschäftsmänner im süddeutschen Raum« und dabei steht auch ein Name: Friedrich Weckerlin. Dieser Friedrich Weckerlin ist auch abgebildet und Anna hat das Foto immer wieder interessiert betrachtet. Irgendwie erinnert sie der Mann an den Jungen mit den traurigen Augen und dem hoffnungsfrohen Lachen. Aber als sie die Mutter gefragt hat, warum der Zeitungsausschnitt in einem ihrer Fotoalben steckte und was es mit diesem Friedrich Weckerlin auf sich hatte, hat ihr Mama das Blatt jedes Mal schnell aus der Hand genommen und es wieder ganz hinten in das Album gelegt.

»Ach das«, hat sie gesagt, als handle es sich um eine Sache und keine Person, und hat dabei eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Dann hat sie das Album entschieden zugeklappt und nur dies geheimnisvolle »Ach das« ist zurückgeblieben und mit ihm Annas viele Fragen, die nie beantwortet worden sind.

Viel später, beim letzten längeren Krankenhausaufenthalt der Mutter, hat Anna wieder angefangen Fragen zu stellen, als hätte sie geahnt, dass ihr die Zeit davonläuft.

»Komisch, dass es praktisch keine Männer in unserem Leben gibt«, hat sie einmal herausfordernd zu ihrer Mutter gesagt und Marie Helmbrecht, bleich und ausgezehrt vom Krebs und von ständigem Husten geschüttelt, denn die Metastasen hatten sich bereits in der Lunge festgesetzt, hat sich mühsam aufgerichtet und ihre Tochter angeschaut. »Die gibt es schon, aber sie spielen keine Rolle in unserem Leben.«

Daran muss Anna denken, als sie auf dem Boden sitzend und den Kopf gegen die alte Kommode gelehnt die Platanen betrachtet, die vor den hohen Bogenfenstern ihre grün überhauchten Arme ausstrecken. Nein, Mama, da hast du nicht recht gehabt. Sie seufzt. Für mich spielen sie eine Rolle. Du hast nichts von der Vergangenheit wissen wollen, vor allem nicht, als du die letzten zwei Jahre so verzweifelt um eine Zukunft gekämpft hast. Als dich der Krebs aufgefressen hat, die Krake, die dich erstickt hat. Du hast all deine Kraft für dieses Ungeheuer gebraucht und wolltest dich nicht erinnern. Aber es ist umsonst gewesen und jetzt hast du mich allein gelassen mit all meinen Fragen und ich hab nur diese Fotos mit den Gesichtern, die mir nichts sagen.

Wieder und wieder schluckt Anna die Tränen hinunter. Ich muss es doch auch wegen des Erbes wissen … Das Erbe, also das alte Häuschen dort irgendwo im Schwarzwald, das vom Urgroßvater stammt … So viele Jahre steht es schon leer, aber pünktlich zu Weihnachten ist immer ein Brief nach Berlin gekommen: Krakelige, schiefe Buchstaben auf billigem Papier und die Mutter hat jedes Mal unwillig den Kopf geschüttelt.

»Wie immer Post von der alten Gretl. Was sie mit dem Haus machen sollen, der Holzwurm sei drin! Meinetwegen. Soll doch die alte Hütte eines Tages zusammenfallen. Meinen Fuß setz ich nie wieder da hinein!«

»Warum denn nicht?«, hat Anna damals gefragt. Schließlich sei sie doch darin aufgewachsen.

»Eben«, hat Mama geantwortet. »Und das war schlimm genug, immer der Gestank nach Pisse und Bohnerwachs. Pisse, weil wir ein Plumpsklo hatten, kannst du dir das vorstellen? Nein, Anna, das sind keine schönen Erinnerungen.«

Von unten hört Anna Gianni fluchen und das Geklapper von Töpfen und Pfannen. Plötzlich befällt sie die Angst. Eine mächtige, würgende Angst.

Ich bin allein, denkt sie. Ich bin ganz allein. »Mutterseelenallein«, im wahrsten Sinn des Wortes! Ich, Anna Helmbrecht – Schule geschmissen nach der zwölften Klasse und vom Leben keine Ahnung. Meine Welt besteht bis jetzt aus einem zwanzig Quadratmeter großen, weiß gestrichenen Zimmer, aus hallenden Krankenhausfluren, bangem Hoffen und schließlich dem unendlichen Warten auf das Ende, auf Mamas Tod.

Ihr kommt es in diesem Moment so vor, als sei nun auch für sie alles zu Ende. Wie soll das Leben weitergehen? Was ist das überhaupt: Leben? Und wie soll ich wissen, wie es weitergeht, wenn ich nicht einmal den Anfang von allem kenne? Ein seltsames Gefühl, so in der Luft zu hängen, denkt sie, wie ein einzelner, loser Faden, bei dem man nicht erkennen kann, wozu er eigentlich gehört. Was bin ich jetzt? Halbwaise nennt man das, glaube ich. Waise – das klingt nach Einsamkeit und Entbehrung. Wenigstens die Wohnung gehört mir. Das hat Mama immer gesagt: dass die Wohnung abbezahlt ist und mir gehört. Halbwaise, nur halb, denn einen Vater habe ich ja noch! Einen Vater, den ich nie richtig kennengelernt habe und der mit seiner neuen Familie im fernen Australien hockt. Er schreibt mir nette Briefe, ich müsste ihn unbedingt besuchen kommen, steht da immer wieder drin. Aber was soll ich da? Ich wäre doch bloß ein Gast, gehöre da nicht hin. Und drüben in der Kneipe, bei Pia und den anderen? Die sitzen jetzt da und träumen ihre alten Träume. Wo gehöre ich denn hin? Bloß noch zu den Bildern da drüben in den vergilbten Alben. Ja, zu den Toten, da gehöre ich hin.

Ihr Blick fällt auf etwas, das zusammengeknüllt auf der Armlehne des Sofas liegt. Es ist eine kleine gehäkelte Mütze. Zu Dutzenden hat sie diese Mützen gehäkelt, in allen Farben, für Mama, die nach den vielen Chemotherapien alle Haare verloren hat. Diese hier ist ganz bunt, in allen Farben des Regenbogens. »Mein Narrenkäppchen« hat Mama sie einmal lachend genannt und plötzlich muss Anna weinen. Sie kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, die jetzt sturzbachartig kommen. Und neben all dem Schmerz und dem Gefühl des Verlorenseins ist ein Gedanke in ihr, der immer stärker wird: Ich will wissen, wer all diese Gesichter sind, ich will wissen, zu wem ich gehöre!

Buchinfo:

Inge aus Deutschland und Wanda aus Polen: die eine wohlbehütet und unerfahren, die andere entwurzelt und auf sich gestellt. Der Weg, der vor ihnen liegt, ist ungewiss, und füreinander empfinden sie Hass und Verachtung. Doch sie ahnen, dass sie nur gemeinsam überleben können.

Die Zukunft ist jetzt das Einzige, was zählt.

Ein Roman, in dem Gräben überwunden werden und das Menschliche siegt!

BANKAU, SCHLESIEN*

September 1939

Die beiden Männer standen auf der anderen Seite des Gebüschs. Inge konnte sie nicht sehen, sie hörte nur ihre Stimmen.

Der eine von ihnen war ihr Lehrer. Die andere Stimme kannte sie nicht. »Was sagen Sie dazu?«, fragte der Fremde in einem leisen, drängenden Ton, als erkundigte er sich nach einer Sache von größter Wichtigkeit.

Es war der 14. September 1939. Vor zwei Wochen hatte der Krieg begonnen. Am Vortag hatte ein Wagen voll Freiwilliger Bankau verlassen. Junge Männer in Uniform, die jubelnd ihre Mützen in die Luft warfen.

Inge war dreizehn Jahre alt. Sie hatte noch niemals einen Krieg miterlebt. Sie hatte überhaupt noch nichts erlebt. Sie hatte alles noch vor sich.

Sie hörte, wie ihr Lehrer antwortete, aber sie konnte nicht verstehen, was er sagte.

Sie verstand nur den Fremden. Was er jetzt sagte, würde sie nie mehr vergessen.

»Herr Lehrer«, sagte der Fremde, »wenn dieser Krieg hier vorüber ist, dann werden wir unsere Heimat verlassen müssen.«

Inge bekam ihren Ball zu fassen, packte ihn mit beiden Händen und rannte zurück zu den anderen.

Es war ein milder Spätsommertag. Inge trug zum letzten Mal in diesem Jahr eine Bluse mit kurzen Ärmeln. Sie spürte die samtige Wärme der Sonnenstrahlen auf ihren Unterarmen.

Sie warf den roten Ball hoch in den blauen Himmel.

»Es gilt!«, schrie sie laut.

Plötzlich war ihr kalt.

HOHENAU

Oktober 1944

Die Stimme aus dem Volksempfänger* knackte und schnarrte. Hin und wieder störte ein helles Pfeifen den Empfang. Herr Baken und die anderen Männer hockten im Halbkreis vor dem Radioapparat, die Rücken gebeugt, die Köpfe gesenkt. Sie lauschten, als spräche Jesus Christus persönlich zu ihnen.

Es war jedoch nicht Jesus, sondern der Reichsminister Doktor Goebbels*. Er überbrachte den Männern die neuesten Nachrichten von der Front.

»Mit größter Beharrlichkeit und mit größtem Fanatismus werden wir den Sieg erringen«, schrie Goebbels. »Wir werden siegen! Heil Hitler!« Damit war die Übertragung beendet.

Inges Vater schaltete den Volksempfänger aus.

»Kein Wort über den Frontverlauf«, rief Herr Olenik aufgeregt. »Man erfährt gar nicht, wo sie jetzt stehen. Vielleicht sind sie schon ganz nahe.«

Inge saß ein wenig abseits von der Gruppe auf dem Diwan*. Sie hielt ihr Buch auf dem Schoß, aber sie tat nur so, als ob sie las. Die Männer sprachen viel zu laut, als dass sie sich hätte konzentrieren können.

Herr Olenik, Herr von Post, Herr Direktor Klose, Herr von Tschoschwitz, Herr von der Stein und Herr Baken, Inges Vater – das waren die Übriggebliebenen, wie sie sich selbst nannten. Olenik, der Gastwirt, war nicht eingezogen worden, weil er im letzten Krieg sein Bein verloren hatte. Der Schuldirektor Klose war auf dem rechten Auge blind. Die anderen Männer waren Gutsbesitzer und damit unabkömmlich. Nur ihre Knechte, die Verwaltungskräfte und Stallburschen hatte man nach Polen, Russland und in die Tschechoslowakei geschickt. Im Gegenzug hatte man polnische, russische und tschechoslowakische Fremdarbeiter nach Schlesien gebracht, die jetzt die Arbeit verrichteten.

Sonst trafen sich die Übriggebliebenen immer zum Stammtisch in Oleniks Goldener Glocke. Aber heute waren sie auf Gut Hohenau zusammengekommen.

»Wie kommst du denn auf einen solchen Blödsinn«, entgegnete Herr von der Stein jetzt. »Die Front ist in Russland. Es besteht keine Gefahr.«

»Letzte Nacht konnte ich Kanonendonner hören«, meinte Herr Olenik, wobei er seine Stimme senkte, denn in diesen Zeiten war man besser vorsichtig mit dem, was man sagte. Man wurde leicht missverstanden.

»Kanonendonner«, spottete Herr von Post. »Das war dein eigener Magen, der protestiert hat, weil du dein fettes Essen nicht vertragen hast.«

»Ich meine es ernst.«

Inge betrachtete Olenik verstohlen. Sein Kopf war sehr rot. Dicke blaue Adern krochen über seine Schläfen. Er wirkte nicht verängstigt, sondern eher aufgebracht, als ob die anderen den Krieg angefangen und ihn in die Sache hineingezogen hätten.

»Ganz ruhig, Olenik.« Das war ihr Vater. Er sprach mit dem Gastwirt wie mit einem nervösen Pferd.

Aus dem Augenwinkel sah Inge, wie ihr Vater aufstand. Hastig senkte sie ihren Blick wieder auf das Buch. Wilhelm Meisters Lehr- und Wanderjahre von Goethe. Ihre Lehrerin hatte es ihr im September in die Hand gedrückt, als die Schule in Kreuzburg wegen des Kriegs geschlossen worden war. »Nutz die Zeit, in der du zu Hause bist«, hatte sie noch gesagt. »Lies.«

Aber nun war Inge schon seit drei Wochen daheim und bis heute hatte sie weder dieses Buch noch irgendein anderes aufgeschlagen. Und auch jetzt tat sie nur so, als ob sie las. Ihr Vater fiel aber nicht darauf herein.

Sie hörte, wie sich seine Schritte näherten, und obwohl sie nicht aufsah, spürte sie seinen Blick auf ihrem Scheitel wie eine Berührung.

»Die Front ist in Russland«, sagte er. »Seit Wochen schon. Und dort wird sie auch bleiben, so lange, bis wir sie wieder zurückschlagen.«

Inge klappte ihr Buch zu und stand auf. Sie verstand ihren Vater auch ohne Worte. Er wollte, dass sie die Männer allein ließ. Solche Unterhaltungen waren seiner Meinung nach nichts für Kinder.

Vor ein paar Wochen war Albert Bausitz eingezogen worden, mit dem Inge zur Volksschule gegangen war. Albert war gerade einmal sechzehn, zwei Jahre jünger als Inge, und dennoch kämpfte er im Krieg – und sie selbst durfte nicht einmal hören, worüber die Männer redeten.

Sie zog die Tür zum Salon mit einem leisen, aber vorwurfsvollen Knall ins Schloss. Aber kaum dass sie draußen im Flur stand, verflog ihre Wut, genauso schnell wie sie aufgekommen war.

Worüber sollte sie sich auch ärgern? Dass sie nicht mit Albert und dem Rest der Männer in den Krieg ziehen konnte? Nein, bestimmt nicht, das Totschießen und Totgeschossenwerden überließ sie gerne den Männern. Mit dem Krieg wollte Inge nichts zu tun haben. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die Friedensverhandlungen eher heute als morgen begonnen.

Bis zum Abendessen hatte sie noch über eine Stunde Zeit. Genug Zeit für einen Ausritt, beschloss Inge. Es gab nichts Besseres, um auf neue Gedanken zu kommen.

Zu ihrem sechsten Geburtstag hatte ihr Vater ihr ein eigenes Pferd geschenkt. Gustav, ein schweres polnisches Kaltblut, stand immer noch im Pferdestall auf Gut Hohenau. Aber Inge ritt ihn nur noch sehr selten.

Sie bevorzugte Jonny, einen Hannoveraner-Hengst, der eigentlich ihrem Vater gehörte. Jonny war leidenschaftlich, schnell und rassig, er passte viel besser zu ihr als der brave Gustav, fand Inge. Ihre Eltern sahen es allerdings nicht gerne, wenn sie Jonny ritt. Besonders ihre Mutter machte sich schreckliche Sorgen.

Denn Inge war nicht nur eine begeisterte Reiterin, sie war auch eine hervorragende Pianistin. Sie spielte so gut, dass sie sich im nächsten Sommer auf dem Konservatorium in Breslau* bewerben wollte. Es war sehr schwer, dort angenommen zu werden, aber sie würde es schaffen. Vorausgesetzt natürlich, der dumme Krieg war bis zum Sommer endlich beendet, denn zurzeit war auch das Konservatorium geschlossen.

Ihre Mutter sorgte sich aber nicht nur, dass Inge vom Pferd fallen und sich den Arm brechen könnte. »Es ist Krieg«, beschwor sie ihre Tochter immer wieder. »Da kannst du doch nicht einfach ausreiten.« Dabei war die Front weit weg, das hatte ihr Vater den Männern gerade noch erklärt.

Ich würde ja auch ganz verrückt werden, wenn ich auf meine Ausritte verzichten müsste, dachte Inge, als sie den Stall betrat. Früher hatten hier sechzehn Pferde gestanden. Aber vor einem Jahr hatte die Wehrmacht die meisten abtransportiert, nur zwei schwere Ackergäule, den braven Gustav und Jonny hatte man ihnen gelassen – und das auch nur, weil Herr Baken hervorragende Beziehungen zu Kreisleiter* Strunk hatte.

Gustav hob erwartungsvoll den Kopf, als Inge an seinem Verschlag vorbeikam. Im Vorübergehen tätschelte sie seinen Hals. »Heute nicht, Gustav.« Und morgen auch nicht. Armes Pferd.

Die Streu unter Jonnys Hufen war nass und braun von zertretenen Pferdeäpfeln. Früher hätte es so etwas nicht gegeben. Früher hatte ihr Pferdeknecht den Stall jeden Tag ausgemistet, aber nun kämpfte Hans irgendwo vor Warschau, Königsberg oder St. Petersburg, während die Polen Gut Hohenau zerstörten, indem sie einfach alles verkommen ließen. Auf dem Gutshof waren vierzehn Fremdarbeiter* untergebracht, fast so viele, wie sie früher Angestellte gehabt hatten. Aber während früher alles reibungslos gelaufen war, funktionierte heute nichts mehr.

»Das ist die slawische Art«, sagte Ortsgruppenleiter* Stenzel, der für Gut Hohenau zuständig war. Herr Baken konnte Stenzel nicht leiden, weil er ihn für falsch und verschlagen hielt. Dennoch widersprach er ihm nie, auch nicht, wenn Stenzel sagte, dass man Lehrer Hofmeister vergasen sollte, weil er früher den Bolschewisten* das Wort geredet habe. Inges Vater war mit dem Lehrer befreundet, aber er verteidigte ihn nicht vor Stenzel, denn der Ortsgruppenleiter gehörte jetzt zu den Mächtigen, und mit den Mächtigen musste man sich als Gutsbesitzer arrangieren, das war schon immer so gewesen und würde auch immer so bleiben.

Während Inge Jonny aufsattelte, schlug die Stalltür auf. Im hellen Rechteck der Tür zeichnete sich eine hohe, kräftige Gestalt ab. Inge duckte sich unwillkürlich hinter Jonnys Rücken. Dann erkannte sie das Polenmädchen.

Ob sie zum Ausmisten kam? Inge überlegte, ob sie sie fragen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Die Polin würde sie ohnehin nicht verstehen.

Als man sie im Sommer vor einem Jahr nach Hohenau gebracht hatte, hatte Inge versucht, sich mit ihr zu unterhalten. Inge beherrschte ein bisschen Wasserpolnisch*, Hans hatte ihr den schlesisch-polnischen Dialekt beigebracht. Heimlich natürlich, denn Inges Eltern fanden Wasserpolnisch furchtbar gewöhnlich.

Inge hatte sich ein paar Begrüßungsworte zurechtgelegt und war in die Scheune gegangen, in der die Fremdarbeiter untergebracht waren. Die Polin glotzte Inge verständnislos an, während sie ihre kleine Rede vortrug.

»Inge«, sagte Inge schließlich und zeigte auf ihre eigene Brust.

Danach zeigte sie auf die Polin. Das war ja nun nicht schwer zu verstehen, dass sie sich nach ihrem Namen erkundigte.

Die Polin verstand sie aber nicht. Sie hatte eine plumpe Figur, krauses Haar und ihr Gesicht wimmelte von rötlichen Sommersprossen. Wie alt sie wohl sein mochte? Jünger oder sehr viel älter als sie selbst? Diese breiten slawischen Gesichter waren nicht einzuschätzen.

In jedem Fall schien sie nicht die Hellste zu sein. Als Inge ihre Frage wiederholt hatte, hatte sie nur den Kopf geschüttelt. Vielleicht war sie auch verstockt.

Jetzt trat das Polenmädchen gegen einen Futtereimer, der in der Stallgasse stand. Scheppernd fiel er um. Jonny warf den Kopf hoch und wieherte leise. »Schon gut.« Inge griff nach dem Halfter. Der Kopf der Polin schoss in ihre Richtung. Inge lächelte. Die Polin lächelte nicht zurück.

»Komm, Jonny.« Inge zog das Pferd aus dem Verschlag, aber die Stallgasse war durch den Eimer blockiert. Widerwillig stellte die Polin ihn weg. Wieder begegneten sich ihre Blicke, dann wandte das Polenmädchen die Augen ab.

»Danke«, murmelte Inge. Ihr Vater legte großen Wert darauf, dass sie die Fremdarbeiter höflich behandelte. Dabei verstand die Polin sie ja ohnehin nicht.

Die Luft roch nach Winter, obwohl es gerade einmal Anfang Oktober war.

Die Kronen der Buchen flackerten bereits gelbrot und orange, bald würde der Wald in Flammen stehen. Kurz darauf würden die Blätter von den Zweigen fallen und die kahlen Äste von Schnee bedeckt werden.

Im Winter geht der Krieg zu Ende, dachte Inge. Endlich. Der Feind hatte keine Kraft mehr, er schleppte sich nur noch von einer Schlacht zur anderen, das hatte Reichsminister Goebbels vorhin noch in seiner Rundfunkansprache erklärt. Ein strenger Winter würde den geschwächten Armeen den Rest geben. Die Russen*, Amerikaner, Franzosen und Engländer würden kapitulieren.

Deutschland würde siegen.

Spätestens im Sommer wären die Bombenschäden beseitigt, was zerstört war, würde wieder aufgebaut werden. Alles wäre wie früher, nur besser, denn Inge würde im Konservatorium aufgenommen werden und den lieben langen Tag nur noch Klavier spielen. Sie würde heiraten. Ja, dachte Inge, vielleicht würde sie bereits im Sommer heiraten, aus reiner Freude darüber, dass der Krieg vorbei wäre. Allerdings nur, wenn Wolfgang damit einverstanden wäre, dass sie auch als verheiratete Frau ihr Studium beendete.

Ihr Studium. Wie weit das Konservatorium doch entfernt schien in diesen Tagen. Vor über einem Jahr hatten sie Herrn Koschnik, ihren Klavierlehrer, zum Kriegsdienst eingezogen.

»Üben, üben, üben, damit die Finger nicht faul werden«, hatte er Inge noch beschworen. »Der Rest ergibt sich von selbst.«

Am Anfang hatte sie ja auch nicht nachgelassen in ihren Bemühungen. Aber mit der Zeit setzte sie sich immer seltener ans Klavier. Die Sonate in C-Dur von Mozart lag nun schon wochenlang auf dem Flügel in Hohenau, ohne dass Inge nennenswerte Fortschritte in dem Stück gemacht hätte. Wer hätte auch damit gerechnet, dass Herr Koschnik so lange wegbleiben würde.

Inge lehnte sich nach vorn, sodass ihr Oberkörper den Pferderücken berührte. Die seidige, schwarze Mähne streichelte ihr Gesicht. Dieser vertraute, warme Geruch. Alles wird gut, sagte dieser Geruch.

Hinter sich hörte sie das Geräusch eines Motors. Sie lenkte Jonny an den Straßenrand, während sie sich gleichzeitig nach dem Automobil umdrehte.

Es war ein dunkelgrüner Opel.

Wolfgangs Wagen.

Aber Wolfgang war weit weg. Wolfgang war bei seiner Fliegerstaffel in Staaken. Wenn er nicht gerade über Land flog und feindliche Flieger jagte. Sieben Abschüsse hatte er bereits erzielt. Nach dem zehnten bekam man das eiserne Kreuz verliehen.

Nein, Wolfgang konnte nicht hier sein, dachte Inge. Aber im selben Moment sprang er aus dem Wagen. Er trug seine Uniform, die dunkle Jacke mit den hellen Kragenecken. Auf der Schirmmütze der Adler der Luftwaffe mit dem Hakenkreuz in den Krallen. Wie gut er aussah! Inges Herz begann nervös zu trippeln, wie Jonny, wenn ihn etwas erschreckte.

Wolfgang von Brandt. Sie kannte ihn fast ihr ganzes Leben lang. Dennoch zitterte ihre Stimme, wenn sie mit ihm sprach. Seit sie sich erinnern konnte, hatte sie ihn geliebt. Wolfgang hatte sie dagegen erst vor einem Jahr zur Kenntnis genommen, als er auf Fronturlaub auf Tockenhof gewesen war. Kurz danach hatte er sie zum ersten Mal geküsst. Und in seinem letzten Fronturlaub im Juni hatten sie sich dann verlobt. Heimlich, ohne das Wissen ihrer oder seiner Eltern, hatte Wolfgang Inge einen Ring an den Finger gesteckt.

»Du bist jetzt mein«, hatte er gesagt, bevor er sie geküsst hatte.

Danach war er wieder zurück an die Front gefahren. Er war Leutnant, das war ein hoher Rang, dafür dass er erst dreiundzwanzig Jahre alt war. Seit drei Monaten war er außerdem auch Gruppenkommandeur, weil er sich so hervorragend bewährt hatte. Wolfgang kam aus einer Offiziersfamilie, sein Großvater war General a. D. und zwei seiner Onkel waren hoch dekorierte Kriegshelden. Das Kriegerische lag ihm im Blut.

Als der Krieg vor fünf Jahren begonnen hatte, war er gerade achtzehn Jahre alt geworden. Er hatte sich sofort freiwillig gemeldet und war als Offiziersanwärter in die Wehrmacht* aufgenommen worden. »Der Krieg kam zur rechten Zeit«, sagte er immer. »Wenn es keinen Krieg gegeben hätte, dann wäre ich womöglich auf Tockenhof versauert wie mein Vater.«

Denn im Gegensatz zum Großteil seiner Familie war Herold von Brandt, Wolfgangs Vater, nie im Krieg gewesen.

»Großvater hat ihn im Grunde seines Herzens immer ein bisschen verachtet, weil er nicht gedient hat«, hatte Wolfgang Inge einmal anvertraut.

Aber jetzt erfüllte der Enkel die Träume des alten Herrn.

»Wir werden den Feind kurz und klein schlagen«, schrieb Wolfgang Inge von der Front. »Es dauert nicht mehr lange, bis er am Boden ist. Dann kehre ich endlich heim zu dir, mein Kind.«

Mein Kind. Es gefiel Inge nicht, wenn Wolfgang sie so nannte. Mein Herz oder meine Seele schrieb er auch manchmal, das fand sie schon besser.

Sie band alle seine Briefe mit einem rosaroten Seidenband zusammen und bewahrte sie in der untersten Schublade ihrer Schleiflackkommode auf.

Warum hielt sie die Verlobung vor ihren Eltern geheim? Sie wussten natürlich, dass Wolfgang in seinem Urlaub mit Inge ausritt oder sie zum Tanz ausführte. Aber sie glaubten, dass es nur eine lose Verbindung sei. Oder jedenfalls hofften sie es.

»Er ist viel zu alt für dich«, sagte Inges Mutter immer.

»Er hat nur den Krieg im Kopf. Im Frieden ist er zu nichts zu gebrauchen«, meinte ihr Vater.

Er mochte Wolfgang von Brandt nicht. Auch zu Herold von Brandt, Wolfgangs Vater, hatte er nur ein sehr distanziertes Verhältnis. Dabei hatten Herr Baken und Herr von Brandt so vieles gemeinsam – sie waren beide Gutsherren, beide hatten nicht gedient, beide waren nicht eingezogen worden –, dennoch kam Herold von Brandt niemals zum Stammtisch der Übriggebliebenen in die Goldene Glocke. Ihre fehlende Freundschaft hatte etwas mit Politik zu tun, so viel wusste Inge, aber mehr wusste sie nicht, denn sie interessierte sich nicht für Politik.

»Noch drei Jahre, dann bist du volljährig«, sagte Wolfgang. »Dann kannst du tun und lassen, was du willst.« Aber drei Jahre lang wollten sie natürlich nicht warten. Sie würden schon einen Weg finden, früher zu heiraten. Wenn der Krieg endlich einmal vorüber wäre.

»Was tust du hier?«, fragte Inge Wolfgang, während sie von Jonnys Rücken sprang.

»Wie gut, dass ich dich treffe!«, rief Wolfgang. Er legte seine Hände auf ihre Schultern und küsste sie. Sie machte sich los und sah sich erschrocken um.

»Wenn uns jemand sieht!«

»Und wenn schon.«

»Warum bist du nach Hause gekommen?«

»Sie haben mich angerufen. Meine Mutter ist schwer krank. Vielleicht stirbt sie.«

»Du liebe Zeit!« Seit Inge Wolfgang liebte, war seine Mutter krank. Also schon immer. Alle paar Wochen wurde der Pfarrer nach Gut Tockenhof geholt, damit er Frau von Brandt aufs Sterben vorbereitete. Nun war es also wieder einmal so weit. Aber vielleicht starb sie diesmal ja wirklich.

»Warst du schon bei ihr?«

»Nein, ich wollte zuerst zu dir.«

Also nahm er die Nachricht auch nicht ernst. Dennoch war er von der Front zurückgekommen. Vielleicht war es ja die Sehnsucht nach Inge, die ihn hierhergebracht hatte.

»Wie lange wirst du bleiben?«

»Das kommt darauf an. Lange kann ich mich bestimmt nicht aufhalten.«

Inge nickte. Erst jetzt stellte sie fest, dass Wolfgang sein Haar anders trug. Statt nach hinten gekämmt hatte er es nun zur Seite gescheitelt. Die neue Frisur ließ sein Gesicht kantiger erscheinen. Noch männlicher.

Er schien ihren Blick zu spüren. Sein Gesicht näherte sich dem ihren, sein Seitenscheitel berührte ihre Stirn. Er küsste sie, und diesmal erwiderte sie seinen Kuss. Sie spürte seine Zunge an ihren Zähnen. Seine Hände wanderten von ihren Schultern nach vorn, nach unten.

Sie machte sich wieder los.

Er grinste. »Du hast ja recht. Ich muss weiter.«

»Sag deiner Mutter … ach nein, sag ihr lieber nichts …«

Er küsste sie ein letztes Mal, aber diesmal nur auf die Wange.

Sie blickte seinem Automobil nach, bis es im Wald verschwunden war.

Als sie wieder aufsaß, sah sie das Fuhrwerk an der Biegung des Weges. Auf dem Bock saß die Polin, wahrscheinlich wollte sie mit dem Wagen aufs Feld, obwohl es schon reichlich spät war. Ob sie gesehen hatte, wie Wolfgang sie geküsst hatte?

Die Entfernung zwischen ihnen war ziemlich groß. Dennoch hatte Inge den Eindruck, dass die Polin sie anstarrte.

Inge starrte zurück. Die Polin hob die Zügel, der Wagen fuhr auf Inge zu, aber kurz bevor er sie erreicht hatte, bog er an einer Abzweigung ab.

»Sie kann nichts gesehen haben«, murmelte Inge.

Und wenn schon.

KAFFEESATZLEBEN

Wenn Wandas Mutter Kaffee gekocht hatte, hatte sie das Kaffeemehl zusammen mit etwas Zimt und Salz in die Kanne gefüllt und dann das kochende Wasser aufgeschüttet. Dieser Duft, wenn sich das Kaffeearoma mit dem Zimtgeruch vermischte. Swietny. Köstlich.

Hinterher war nur der Satz in der Kanne zurückgeblieben, kalt und schwarz und ohne Duft. Genau wie dieser Kaffeesatz war jetzt Wandas Leben.

Nichts von dem, was einmal gut gewesen war, war noch da. Ihre Mutter war weg, vielleicht sogar tot. Der Kaffee war ausgetrunken. Was blieb, war der bittere Rest.

Wanda schlief in einer Scheune, auf einer dünnen Pferdedecke, darunter feuchtes Streu. Ein Leintuch teilte das Quartier der Männer von dem der Frauen ab. Bevor nachts das Licht gelöscht wurde, sah man die Umrisse der Männer hinter dem weißen Stoff wie ein gespenstisches Schattentheater. Ein paar spielten Karten, andere unterhielten sich, einige rauchten, obwohl das Rauchen in der Scheune streng verboten war. Aber der Gutsherr hatte Besseres zu tun, als abends noch nach den Fremdarbeitern zu schauen. Man ging früh schlafen, der Tag begann im Sommer um fünf Uhr morgens, im Winter um sechs.

Neben Wanda schlief Maria, eine Bäuerin aus der Nähe von Warschau. Maria hatte nur noch neun Zähne im Mund, obwohl sie noch keine fünfzig war. Nachts schnarchte sie fürchterlich. Am Anfang hatte Wanda geglaubt, dass sie neben Maria kein Auge zutun könnte. Aber die harte Feldarbeit erschöpfte sie so, dass sie auch im Stehen eingeschlafen wäre. Sie schlief ohnmächtig, totengleich. Kein Schnarchen, keine Unterhaltung, nicht einmal eine Bombenexplosion hätte sie wecken können. Das schaffte nur Maria, die Wanda morgens bei den Schultern packte und schüttelte, bis sie die Augen aufschlug. Das Erste, was Wanda jeden Morgen sah, war Marias offener Mund mit den neun Zahnstummeln.

Wenn Wanda und Maria sich früher kennengelernt hätten, in dem Dorf bei Warschau, aus dem Maria stammte, oder in Krakau, wo Wanda aufgewachsen war, dann hätten sie sich niemals bei den Vornamen genannt. Wanda hätte Maria mit pani Kolana angeredet und Maria Wanda mit panna Masowiecki. Wenn sie überhaupt miteinander gesprochen hätten. Früher hatten sie in zwei verschiedenen Welten gelebt.

Aber in der Gefangenschaft war alles anders. In der Gefangenschaft verband sich, was getrennt war, und was früher zusammengehörte, trennte sich. In der Gefangenschaft verlor man seinen Besitz, seine Rechte, seine Würde und seinen Nachnamen, weil ihn die Deutschen nicht aussprechen konnten.

»Wie du heißen?«, hatten die Soldaten Wanda damals angebrüllt, als sie sie aufgegriffen hatten.

Wie du heißen. Als ob Wanda nicht fließend Deutsch spräche. Sie hatte es von ihrem Vater gelernt und in der Schule. Sie las Goethe und Kleist auf Deutsch. Ihre Aufsätze hatten ihren Lehrer immer in größte Begeisterung versetzt. »Wenn du nur Deutsch studieren könntest wie dein Vater«, hatte er gesagt.

Das tat sie ja nun auch, gewissermaßen. Seit über einem Jahr lebte Wanda jetzt schon in Deutschland. Sie hörte die Deutschen reden, aber sie gab niemals zu erkennen, dass sie jedes ihrer Worte verstand. Es war gefährlich, wenn man ihnen zeigte, dass man sie verstand.

Der Weg gabelte sich. Nach rechts oder geradeaus? Wanda zog die Zügel an. »Brrr!«

Der Ackergaul vor dem Wagen blieb stehen.

Dann sah Wanda Inge. Inge, die für sie natürlich Fräulein Baken hieß, aber in ihren Gedanken nannte Wanda sie Inge, denn warum sollte nur Wanda ihren Nachnamen verlieren.

Wanda sah Inge, die in ihrem eleganten Reitkostüm mit den eng geschnittenen Hosen einfach bezaubernd aussah. Sie sah den Hannoveraner, das dunkelgrüne Automobil und den jungen Offizier. Jetzt küsste der Offizier Inge, und während er sie küsste, glitten seine Hände von ihren Schultern auf ihre Brüste und im selben Moment machte Inge sich los.

Ob er sie belästigte?

Nein, nun lächelte Inge ihn an.

Sie wechselten noch ein paar Worte, dann strich der Offizier über Inges seidenweiches hellbraunes Haar, küsste sie auf die Wange und fuhr ab.

Inge hat einen Liebhaber, dachte Wanda.

Sie dachte an Marek, aber nur ganz kurz. Doch es reichte, um die Wunde wieder aufzureißen.

Dann merkte sie, dass Inge zu ihr herübersah, und sie hob die Zügel.

Sie lenkte den Gaul nach rechts in einen Waldweg, obwohl ihr im selben Moment einfiel, dass sie eigentlich geradeaus musste.

Sie fuhr so weit, bis sie außer Sichtweite war. Dann hielt sie an und horchte. Als das Geräusch der Hufe verklungen war, wendete sie das Fuhrwerk und lenkte es zurück auf den Hauptweg. Warum war sie nicht einfach an Inge vorbeigefahren? War es etwa Wandas Schuld, dass sie die beiden gesehen hatte? Nun würde sie zu spät auf die Obstwiese kommen, wo sie die Falläpfel abholen sollte, die die Frauen am Nachmittag gesammelt hatten. Wanda ließ ihre Peitsche über den breiten Rücken des Gauls tanzen, das Ende der Schnur berührte ihn leicht an der Seite. Lauf, beeil dich, wir haben genug Zeit verloren.

Widerwillig beschleunigte das Tier seine Schritte.

Wanda konnte mit Pferden umgehen. Früher hatten ihre Eltern sie und ihre Schwester Barbara immer zu ihrem Onkel nach Kozlyca geschickt. Sie verdienten sich ein paar Groschen, indem sie ihm bei der Ernte halfen. Damals hatte Wanda gelernt, die Pferde anzuspannen und ein Fuhrwerk zu lenken. Heute kam ihr das zugute, viel mehr als alle deutschen Bücher, die sie gelesen, und alle deutschen Aufsätze, die sie geschrieben hatte.

Nur weil sie ein Pferdefuhrwerk lenken konnte, hatte der Gutsverwalter von Gut Hohenau sie damals ausgewählt. Als sie mitbekommen hatte, dass er einen Pferdeknecht suchte, hatte sie ihren Mut zusammengenommen und war vor ihn hingetreten. »Ich verstehe etwas von Pferden«, hatte sie erklärt.

Denn sie wollte auf keinen Fall in die Fabrik, seit sie von den Frauen im Durchgangslager gehört hatte, wie schlecht man dort behandelt wurde. Am allerbesten hatten es die Mädchen, die als Dienstmädchen unterkamen, hatten die Frauen erzählt. Aber in der Landwirtschaft ging es einem immerhin noch besser als in den Fabriken.

»Du bist ja ein Mädchen«, hatte der Verwalter entgegnet. Wie abfällig er sie dabei gemustert hatte.

»Ich bin stark«, hatte Wanda gesagt.

Und das war sie.

Obwohl sie damals erst siebzehn war, war sie groß und kräftig wie ein Mann. Schon auf der Volksschule hatte es keiner der Jungen gewagt, sich mit ihr anzulegen. An Ausdauer und Stärke konnte es Wanda mit jedem aufnehmen. Das hatte der Gutsverwalter wohl erkannt, denn er hatte sich für sie entschieden. Auf diese Weise war sie nach Hohenau gekommen.

Die Luft war kühl und feucht. Weißer Nebel hing in den Kronen der Bäume. Der Pferderücken dampfte, der warme Dunst zog nach oben zu Wanda auf den Kutschbock.

Sie hatte es gut getroffen. Sie arbeitete auf dem Feld und im Pferdestall anstatt in einer lauten, staubigen Fabrik. Herr Baken gab seinen Fremdarbeitern genug zu essen, er ließ sie sonntags in die Kirche, wenn einer krank wurde, holte er den Arzt. Vor dem letzten Winter hatte er den Dachstuhl der Scheune erneuern und isolieren lassen, damit es nachts nicht so zog. Es ging ihnen gut.

»Es ist genau wie früher«, sagte Staroj, der schon vor dem Krieg als Fremdarbeiter in Schlesien gearbeitet hatte. Nur dass er damals freiwillig gekommen war und viel Geld verdient hatte, und jetzt bekam er nur noch einen Hungerlohn.

Aber er hatte recht. Sie konnten sich nicht beklagen. Auf Gut Tockenhof, dessen Ländereien unmittelbar an die von Hohenau angrenzten, wurden die Fremdarbeiter sehr viel schlechter behandelt. Wanda wusste das, weil sie selbst einmal an das Nachbargut ausgeliehen worden war. Auf Tockenhof mussten die Gefangenen bis abends um neun arbeiten, nach der Feldarbeit wurden Gerätschaften repariert, Strümpfe gestopft, Beeren eingekocht. Man arbeitete, bis man umfiel, und danach stand man wieder auf und arbeitete weiter.

Es geht uns gut, sagte sich Wanda immer wieder. Dennoch war es ein erbärmliches Kaffeesatzdasein. Und das würde es immer bleiben.

Als Wanda die Obstwiese endlich erreichte, brach die Abendsonne durch die Baumwipfel. Ihre Strahlen tauchten alles in ein goldenes Licht, die rot-gelben Äpfel in den großen Weidenkörben, die verschlissenen Kleider und Kopftücher der Frauen und die rautenförmigen Abzeichen, die auf ihren rechten Brusttaschen aufgenäht waren. Ein schwarzes P auf gelbem Grund. P wie Pole.

»To byl najwyższy czas!«, sagte Dobromila und blinzelte in die Sonne. Das wurde aber auch Zeit. Sie saß, an einen Baumstamm gelehnt, auf einem alten Sack. Unter ihrem dunkelblauen Kittel ragten ihre geschwollenen Beine hervor. Die anderen drei Frauen hatten sich ebenfalls auf Säcken niedergelassen. Maria und Halina spielten Karten. Keine von ihnen wirkte wirklich ungeduldig. Als Fremdarbeiter wusste man jede Pause zu genießen, die sich einem bot.

»Wo sind die anderen?«, fragte Wanda.

»Kowalski ist mit ihnen zurück auf den Hof«, sagte Halina. Martin Kowalski war einer der beiden deutschen Vorarbeiter, der die Fremdarbeiter beaufsichtigte. »Wo warst du?«

»Ich hab mich im Wald verfahren«, log Wanda. Warum erzählte sie den anderen nicht, dass sie Inge mit dem Offizier beobachtet hatte? Wollte sie Inge schützen? Aber wovor – und vor allem – warum?

»Als ob du die Strecke zum ersten Mal fährst.« Halina erhob sich und hievte den ersten vollen Korb hinten auf den Wagen. Auch die anderen drei Frauen standen jetzt auf und griffen zu den Körben.

»Du nicht«, sagte Dobromila zu Zofia. »Du setzt dich auf die Decke da.«

Sie sagte es in einem strengen, harten Ton, so als habe Zofia etwas falsch gemacht.

Zofia setzte sich widerspruchslos auf die Wolldecke neben den vollen Apfelkörben und begann zu weinen.

»Zoschka! Nicht doch!« Jetzt ließ Halina sich neben ihr nieder und tätschelte Zofia den Rücken, worauf diese nur noch lauter weinte.

»Was hat sie denn?«, fragte Wanda. Ihr war schon seit Längerem aufgefallen, das sich Zofia komisch verhielt. Auch neulich bei der Rübenernte war sie plötzlich in Tränen ausgebrochen.

»Lass sie. Es ist nichts. Sie wird sich wieder beruhigen«, entgegnete Dobromila, die so etwas wie die Wortführerin der Frauen war. Sie hatte früher einen Lebensmittelladen in Lodz gehabt, bevor die Deutschen sie bei einer Razzia aufgegriffen und verschleppt hatten.

Wanda nahm die Apfelkörbe an, die ihr die Frauen reichten, und reihte sie auf der Ladefläche auf. Die Äpfel rochen süßlich, einige hatten bereits zu gären begonnen.

Die anderen Frauen wussten genau, was mit Zofia los war. Warum erzählten sie ihr nichts? Trauten sie ihr nicht?

Egal, dachte Wanda. Was interessiert es mich.

Aber es interessierte sie doch.

»Sie ist in der Hoffnung«, flüsterte ihr Maria zu, als sie Wanda kurz darauf ihren vollen Apfelkorb entgegenstemmte. »Das ist los.«