Claudia Frieser

Der Kirchendieb

Ein Abenteuer aus dem Mittelalter

Mit Illustrationen
von Peter Knorr und Doro Göbel

Deutscher Taschenbuch Verlag

Rache ist süß

»Das hast du nun davon, du eingebildeter Pfeffersack! Dein Benehmen stinkt zum Himmel. Und das soll nun die ganze Welt wissen.« Johanna grinste zufrieden und gab einem kleinen Jungen ein Zeichen. Seine Kleidung war wie die der anderen Kinder viel zu groß und mehrmals geflickt.

»Du bist dran, Lenz!«

Der Junge lächelte schadenfroh, griff nach einem vollen Holzeimer und leerte den stinkenden Inhalt über sein Opfer aus.

Andreas hatte keine Chance, sich zu wehren. Sämtliche Flüche, die er ausstieß, halfen ihm nichts. Claeß und Krischer hatten ihn fest im Griff.

Die anderen Kinder, Jungen und Mädchen im Alter von sieben bis zehn Jahren, die ihm den Fluchtweg aus der schmalen Gasse versperrten, hielten sich angewidert die Nasen zu, als der Schweinemist an Andreas hinunterlief. Dann jubelten sie lautstark.

Johanna sah, wie gut es ihnen tat. Sie alle hatten es nicht einfach. Ihre ausgemergelten Körper und blassen Gesichter waren von Hunger gezeichnet, die Kleidung war schon von vielen anderen vor ihnen getragen worden. Da waren die Anna und ihre jüngere Schwester, das Märtlein, der kleine Lenz, die stumme Agnes und der hinkende Gerch. Claeß, Krischer und Zecke waren die ältesten der Jungen. Sie alle lebten von der Hand in den Mund. Das, was sie und ihre Eltern durch Tagelöhnerarbeiten verdienten, reichte oft nicht aus. Manchmal blieb nur das Betteln vor den Kirchen, um nicht zu verhungern. Sie hatten sich zu einer Bande zusammengeschlossen, um sich gegenseitig vor niederträchtigen Erwachsenen zu beschützen, aber auch vor jenen Gleichaltrigen, wie diesem Andreas und seiner Bande eingebildeter Kaufmannssöhne, die sich selbst Die Gilde nannten. Keine Gelegenheit ließen diese aus, um sie zu beleidigen, zu treten und zu bespucken. Sie selbst nannten sich Weiße Rose. Weiß, weil sie immer redlich bleiben wollten, und Rose, weil sie ebenso wehrhaft waren.

Heute Morgen hatten Johanna und ihre Freunde sich in das Gebiet der »Pfeffersäcke« gewagt. Im Schatten eines schmalen Durchgangs, der von der prachtvollen Straße abzweigte, hatten sie sich auf die Lauer gelegt und gewartet. Gleich um die Ecke wohnte Andreas, deren Anführer. Johanna wusste, dass er früher oder später hier entlangkommen würde, wie jeden Tag außer sonntags. Sein Vater konnte es sich leisten, seinen Sohn auf die feine Lateinschule in diesem Teil der Stadt zu schicken. Der Überfall von Johanna und ihren Freunden kam für Andreas so überraschend, dass er nicht den Hauch einer Chance hatte zu entkommen. Lautlos und unbemerkt hatten sie sich den Jungen gegriffen und in die menschenleere Gasse geschleift.

»Ihr stinkendes Lumpengesindel! Das werdet ihr mir noch büßen!«, brüllte Andreas.

»Das geschieht dir ganz recht, du verzogenes Muttersöhnchen! Wie nennt deine feine Bande uns immer?« Johanna machte eine kurze Pause und tat so, als würde sie angestrengt nachdenken. »Ach ja! Stinkende Straßenköter. Nun, ich kenne nur einen, der hier pestilenzartig stinkt, und das bist du!« Das Mädchen lachte und gab den anderen ein Zeichen, den vor Ekel würgenden Andreas loszulassen.

»Kommt! Hier stinkt es mir zu sehr. Lasst uns gehen!« Lauthals lachend rannten sie davon. Nur kurz drehte sich Johanna um und sah Andreas hinterher, der wild nach den Fliegen schlug, die er im Nu magisch anzog.

Das geschieht ihm recht, dachte Johanna. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit waren Andreas und seine Freunde herablassend und gemein zu ihnen. Erst gestern hatten sie den kleinen Lenz gezwungen, Regenwürmer zu essen. Er hatte vor St. Ursula gesessen und für sich und seine Familie gebettelt. Unter dem Vorwand, ihm etwas zu essen geben zu wollen, lockten Andreas und seine feine Bande den Kleinen in eine Gasse.

»Jetzt musst du nicht mehr hungern«, hatten sie scheinheilig gesagt und ihm daraufhin kichernd die Regenwürmer in den Mund gestopft.

Allein der Gedanke daran machte Johanna wütend. Nur weil sie im Griechenmarktviertel wohnten, hieß dies noch lange nicht, dass man auf ihnen herumtrampeln durfte. Sicher, das Viertel mit seinen umliegenden schmalen und dusteren Gassen war eines der verrufensten Quartiere der Stadt. Nicht nur redliche Arme lebten hier, sondern auch fremde Bettler, die gegen Bezahlung Unterschlupf fanden, ebenso wie Gaukler, Musikanten und Dirnen. Die Gassen zogen vor allem das Diebesgesindel an wie das Licht die Motten. Johanna hätte viel darum gegeben, woanders zu wohnen, aber auf die ehrlichen Leute in ihrem Quartier ließ sie deswegen noch lange nichts kommen. Sie rackerten sich Tag und Nacht ab, nahmen jede noch so schlecht bezahlte Arbeit an, schufteten als Kloakenreiniger, Holzträger oder Karrenschieber, nur um sich und ihre Familie zu ernähren. Sicher, es gab auch andere Kinderbanden, wie die Compagnie. Ihr Anführer, er nannte sich Kapitän, schickte seine Jungs zum Stehlen aus. Ihre Namen wie Der Schwarze, Holzbock (er hatte durch die Pocken ein Auge verloren), Plattnas (benannt nach seiner eingeschlagenen Nase), der Welsche Jacob oder der grindige Milchbart (wegen seiner eitrigen Verkrustungen auf dem Kopf ), all die kannte Johanna bestens. Mit denen gab man sich möglichst nicht ab. Doch wer wollte ihnen ihre Gaunereien verübeln? Leben und leben lassen, sagte ihr Vater immer. Im Unterschied zu den Jungen der Compagnie hatte sie Eltern, die sich um sie kümmerten.

Geschickt bahnte sich Johanna einen Weg durch die vielen Leute, die ihren Besorgungen nachgingen. Hier, in den Gassen Kölns, war sie zu Hause. Jeden Winkel dieser reichen Kaufmannsstadt kannte sie. Wenn man öfter nichts zu tun hat, streift man durch die Gassen und lernt so jeden Stein kennen. Doch wem nutzte das schon? Was hätte Johanna darum gegeben, wie dieser Andreas in eine Schule zu gehen, lesen und schreiben zu lernen, etwas über die große weite Welt außerhalb der schützenden Mauern zu erfahren. Doch das Schulgeld konnten ihre Eltern nicht aufbringen. Der Verdienst des Vaters reichte gerade mal, um von der Hand in den Mund zu leben. Und so war es großes Glück, dass ihre Mutter einen kleinen Nähauftrag bekommen hatte. Das bisschen Geld erlaubte vielleicht, für Notzeiten etwas für die sechsköpfige Familie zur Seite zu legen. Johanna war mit ihren zehn Jahren die Älteste, dann kamen der siebenjährige Gero, der vierjährige Simon und der zwei Jahre alte Anton. Seit gestern nähte ihre Mutter wie eine Besessene. Sie wollte ihre Arbeit gründlich und schnell erledigen, in der Hoffnung, die Kundin für weitere Aufträge zu gewinnen. Blass und ausgezehrt hatte Johannas Mutter heute Morgen unter dem kleinen Kellerfenster gesessen und mit müden Augen gleichmäßige Stiche gemacht.

»Johanna-Kind, ich brauche dich heute noch für Heftarbeiten. Sei also bitte in einer Stunde wieder zurück«, bat sie ihre Tochter.

Die Stunde war jetzt bald um und Mutter wartete vermutlich schon. Dass Johanna helfen musste, störte sie nicht. Immer noch besser, als vor den Kirchen zu sitzen und zu betteln. Sogar ihr drei Jahre jüngerer Bruder, der siebenjährige Gero, ging jeden Morgen mit seinem Vater zur großen Dombaustelle. Manchmal fiel Arbeit für ihn ab und so trug auch er zum Unterhalt der Familie bei. Johanna hatte schon schlechtere Zeiten gesehen, vor allem im Winter. Doch seit der Vater als Tagelöhner für die Kirche arbeitete, konnte die Familie sich sogar die Miete für eine Kellerwohnung einen Monat im Voraus leisten.

Gut gelaunt rannte Johanna durch die engen und schmutzigen Gassen ihres Viertels. Vor allem aus den schmalen Durchgängen zwischen den Häusern stank es schrecklich. Der Inhalt von Nachttöpfen und andere Abfälle türmten sich hier zu kleinen stattlichen Bergen auf. Niemand kam und beseitigte sie. Doch Johanna störte sich nicht daran. Sie kannte es nicht anders. Den Gestank nahm sie gar nicht mehr wahr. Vielmehr fürchtete und verabscheute Johanna die Taugenichtse, die in den Hauseingängen lungerten und auf den Abend warteten, um im Dunkel der Nacht ihren Geschäften nachzugehen. Doch auch die konnten ihr ihre gute Laune nicht verderben. Vor dem Haus, in dem Johanna und ihre Familie wohnten, blieb sie kurz stehen. Es war heruntergekommen, wie all die anderen Häuser in der Nachbarschaft. An manchen Hauswänden schaute das blanke Stroh-Lehm-Gemisch heraus. Die Kuhhäute in den Fenstern waren auch an vielen Stellen löchrig. Manchmal beneidete sie die Familien, die sich eine Kammer in den oberen Stockwerken leisten konnten, doch dann dachte sie an diejenigen, die sich auf den Friedhöfen einen Unterschlupf errichtet hatten. Johanna betrat das Haus, allerdings nicht durch die große Tür, sondern durch die kleinere daneben. Die Tür war so niedrig, dass sich Erwachsene bücken mussten, um sich nicht den Kopf anzustoßen. Zum Glück war Johanna noch ein Kind. Leichtfüßig sprang sie die Treppen in den feuchten, dusteren Keller hinab. Wie sie die Spinnweben hasste, deren Fäden sich immer wieder im Gesicht verfingen. Vor der zweiten Tür blieb sie stehen. Schluchzer waren aus der Wohnung zu hören. Sofort schnürte sich Johannas Brust zusammen. Was war passiert? Mit zitternder Hand öffnete sie die Tür.

Die Wohnung bestand aus nur einem Raum. Drei Betten, eine Truhe mit der wenigen Habe und ein Tisch mit wackeligen Hockern waren das einzige Mobiliar. Auf dem Lehmboden war Heu ausgelegt, um den Geruch zu verbessern. Aber es roch trotzdem feucht und modrig. Sah man genau hin, entdeckte man sogar die Hinterlassenschaften von Mäusen und anderen unwillkommenen Mitbewohnern. Tageslicht drang kaum durch das schmale Fernster unter der niedrigen Decke.

Johannas Blick fiel auf ihre Mutter. Auf ihrem Gesicht lagen die zierlichen Hände, Schluchzer beutelten ihren schmächtigen Körper. Simon und Anton drückten sich ängstlich an sie und weinten ebenfalls. Nur Gero kauerte wie versteinert in der Ecke des Raumes und schwieg. Sein Gesicht war gerötet und vom vielen Weinen verquollen.

»Was ist passiert?«, fragte Johanna entsetzt.

»Oh Johanna-Kind!«, schluchzte ihre Mutter und schaute zu ihr auf. Johanna erschrak bei dem Anblick. »Vater ist verunglückt. Vom Gerüst gefallen.«

Wie gelähmt stand Johanna da. Konnte kaum glauben, was sie hörte. Ihr Blick fiel wieder auf Gero.

»Bist du dabei gewesen? Hast du den Unfall gesehen? Wo ist Vater jetzt?«

Doch ihr Bruder blieb weiter stumm. Nur ein zartes Nicken ließ Johanna wissen, dass Gero alles mit angesehen hatte.

Sie lief zu ihm und nahm ihn in den Arm. Wie eine Mutter ihr kleines Kind wiegte Johanna ihn beruhigend hin und her.

Zwei Wochen waren seit dem Tod des Vaters vergangen. Die Trauer um ihn war der Sorge gewichen, die Familie satt zu bekommen. Gero half weiterhin auf der Dombaustelle aus und Johannas Mutter nähte Tag und Nacht. Doch das Geld reichte einfach nicht aus. Für die drei jüngeren Kinder bekam die Mutter ein Almosen von der Kirche. Doch Johanna war mit ihren zehn Jahren schon alt genug, um für sich selbst zu sorgen.

Soeben hatte Johanna einen wunderschönen, von ihrer Mutter selbst genähten Umhang einer wohlhabenden Kundin gebracht und dafür etwas Geld bekommen. Zufrieden rannte sie nach Hause. Die reiche Bürgersfrau hatte nämlich noch etwas dazugegeben, weil ihr die Arbeit so gut gefallen und sie Mitleid mit der Familie hatte. Und so befand sich in Johannas Beutel mehr Geld als erwartet und ein riesiger Laib Brot. Aufgeregt hüpfte sie die Kellertreppe hinunter und öffnete die Tür.