1 Siehe »Neue Physik oder Irrtum«, ein Artikel von Marlene Weiss in der FAZ am 12.11.2008, der den wissenschaftlich-kriminalistischen Plot des vorliegenden Krimis wesentlich inspirierte.

2 Siehe »A lighter Higgs makes particle hunt harder«, Eric Hand in Nature News am 13.03.2009, oder »Jagd nach dem Higgs-Boson – Das Gottesteilchen zeigt erste Konturen«, Holger Dambeck, Spiegel-Online am 28.07.2010, oder «Fermilab Physicists Don’t See Higgs, Argue They Should Keep Looking«, in Science am 30.07.2010.

3 Siehe »Neuer Exot im Teilchenzoo«, Robert Gast in der FAZ am 29.06.2011 zu einer Entdeckung am Forschungszentrum Jülich, oder »Hinweise auf neue Naturkraft nicht bestätigt«, Christopher Schrader in der SZ am 14.06.2011, oder »Verschnupft«, FAZ-Artikel am 06.08.2011.

4 Siehe »Fehlverhalten in der Wissenschaft – Eine wissenschaftssoziologische Ursachenanalyse« von Lutz Bornmann in Forschung (Politik – Strategie – Management), UniversitätsVerlagWebler, Ausgabe 4/2008.


Teilchenbeschleunigung, Abschluss der Nikola-Rührmann-Trilogie, ist wie seine Vorgänger eine Momentaufnahme, die den multidimensionalen Charakter der Hafenstadt Hamburg einfängt – manifestiert in der Figur der Physikerin Dr. Nikola Rührmann. Zahlenfixiert und zitierwütig wie eh und je stapft und stolpert die bindungsscheue und doch an Freunden reiche Einzelgängerin durch ihre Stadt, die sich wie sie verändert hat.

Für mich reflektiert die Stimmung Hamburgs genau den Geist der Zeit, was diese Krimi-Chronik besonders reizvoll macht: Im ersten Roman Freitags isst man Fisch schillert ein Hamburg des Lebensfrühlings. Nichts ist festgelegt, es wimmelt von Konzepten und Ideen, deren Beständigkeit heiter unklar bleibt. Es ist das Ende der 1980er, und die »Szene« (Uni, Kneipen, Autonome, Musiker), in die Nik eintaucht, brodelt vor Ideologien und Einmischlust. Im zweiten Roman Kein Durchkommen, der eine Dekade später spielt, zeigt nicht nur das den Plot prägende Wetter mehr Grautöne. Kurz vor dem Millennium hat der Einfluss der Medien stark zugenommen. Nik und ihre Freunde sind mit Weichenstellen befasst – Arbeit, Forschung, Kinder –, während der Puls der Stadt mechanischer schlägt; Kunst, Musik und Drogen sind härter, fieberhafter geworden. Und nun, wiederum zehn Jahre später, kommt eine illusionslose Nikola zurück in ein strengeres, kälter glitzerndes Hamburg. Der Siegeszug von PR- und Dienstleistungsgesellschaft hat sich fortgesetzt, Jobs sind ein rares Gut, Wissenschaft und Forschung stehen unter Erfolgsdruck. Die prestigeträchtige Suche nach einer »Physik jenseits des Standardmodells« verschafft Nik einen Auftrag am renommierten Deutschen Elektronen-Synchrotron DESY – nur leider nicht als Physikerin, sondern als Schnüfflerin und Frau fürs Grobe. Also begibt sie sich mit Vollgas auf sozialen und kriminalistischen Kollisionskurs, getreu dem Motto: Je schneller sich ein Teilchen bewegt, desto länger ist seine Halbwertszeit …

Else Laudan

Ann-Monika Pleitgen, Managerin, Ehefrau und Co-Autorin des Schauspielers Ulrich Pleitgen, schrieb schon als Kind leidenschaftlich gern. Ihr Sohn, der Physiker Dr. Ilja Bohnet, arbeitete bis 2012 am Deutschen Elektronen-Synchrotron (DESY), inzwischen ist er zur Dachorganisation von DESY in die Geschäftsstelle der Helmholtz-Gemeinschaft deutscher Forschungszentren gewechselt. Beim Schreiben des Kriminalromans Freitags isst man Fisch (nominiert für den GLAUSER 2010 als bestes Debüt) entdeckten Mutter und Sohn ihre Autorenteam-Fähigkeiten und schufen die eigenwillige Protagonistin Nikola Rührmann.

BOHNET PLEITGEN

TEILCHEN
BESCHLEUNIGUNG

Ariadne Krimi 1191
Argument Verlag

Ariadne Krimis
Herausgegeben von Else Laudan
www.ariadnekrimis.de

Bohnet Pleitgen bei Ariadne:

Freitags isst man Fisch (Ariadne Kriminalroman 1177)

Kein Durchkommen (Ariadne Kriminalroman 1183)

Teilchenbeschleunigung (Ariadne Kriminalroman 1191)

Deutsche Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

© Argument Verlag 2012

Glashüttenstraße 28, 20357 Hamburg

Telefon 040/4018000 – Fax 040/40180020

www.argument.de

Umschlaggestaltung: Martin Grundmann

Fotomotiv: © enzo9110 – Fotolia.com

Lektorat: Else Laudan und Iris Konopik

Satz: Iris Konopik

ISBN 9783867549325

Erste Auflage 2012

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013

Für Folker, Ida und Jan

Dieses Buch ist frei erfunden. Selbstverständlich würde das echte DESY niemals einen derart zwielichtigen Sonderauftrag vergeben.

Cover

Anmerkung

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

Prolog

Die Ankunft

Das Vorstellungsgespräch

DESY

Flurfunk

Mahlzeit

Hotel Royal

Die Rotarier

Geister und Teilchen

Nacht mit Hindernissen

Bürogeflüster

Im Rathaus ist guter Rat teuer

Informanten

Sirenen und Fanfaren

Der Hehler

Sprung ins Nass

Blankenese am Morgen

Blutspuren

Sondierungsgespräche

Der Kontrollraum

Hotelmenagerie

Der Leuchtturm

Die Evaluation

Die Villa

Der Tunnel

Closed Session at High Noon

Schlussakkord

Epilog

Ceci n’est pas une pipe – noch ein Nachwort

Danksagung

Fußnoten

Je begreiflicher uns das Universum wird, umso sinnloser erscheint es auch. Doch wenn die Früchte unserer Forschung uns keinen Trost spenden, finden wir zumindest eine gewisse Ermutigung in der Forschung selbst. Die Menschen sind nicht bereit, sich von Erzählungen über Götter und Riesen trösten zu lassen, und sie sind nicht bereit, ihren Gedanken dort, wo sie über die Dinge des täglichen Lebens hinausgehen, eine Grenze zu ziehen. Damit nicht zufrieden, bauen sie Teleskope, Satelliten und Beschleuniger, verbringen sie endlose Stunden am Schreibtisch, um die Bedeutung der von ihnen gewonnenen Daten zu entschlüsseln. Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen tragischen Hauch von Würde.

Steven Weinberg
Teilchenphysiker und Nobelpreisträger

Danksagung

Wir danken unseren Ariadne-Mädels für fünf Jahre tolle Zusammenarbeit! Unser herzliches Dankeschön gilt dabei insbesondere unserer Verlegerin Else Laudan, die alle Ariadne-Fäden stets geschickt zusammenhielt und uns kritisch, ideenreich, enthusiastisch und liebevoll im kriminologisch-literarischen Schaffensprozess begleitet hat, ebenso wie Dr. Iris Konopik, deren Lektorat legendär ist (kein Typo ist vor ihr sicher, keine Wortwiederholung oder Redundanz wird übersehen), ferner Dörte Graul, die unablässig für uns und den Verlag arrangiert, agiert und agitiert, danke, liebe Dörte, und schließlich Martin Grundmann, dem Quoten-Mann, der zuverlässig und beständig die Zahlen im Hintergrund summiert (besser könnte das Nikola auch nicht). Ein engagierter Verlag, ein engagiertes Team!

Ferner danken wir Dr. Reinhard Brinkmann und Dr. Frank Lehner für die sachkundige Prüfung des vorliegenden Stoffes und Franziska Roeder für die professionelle erste Probelesung. Dr. Brinkmann, Direktor bei DESY für den Maschinen-Bereich und leidenschaftlicher Jazz-Pianist, nahm es übrigens grummelnd hin, dass der Kriminalfall auf einem zwielichtigen Sonderauftrag eines fiktiven DESY-Direktoriums basiert, »obwohl wir einen solchen Auftrag in Wirklichkeit niemals vergeben würden, aber fein«. Dagegen wehrte er sich vehement gegen die Beschreibung, »dass ein Bassist musizierend auf der Bühne verbleibt, wenn der Pianist bereits von selbiger abgetreten ist, nein, Ilja, so was gibt es nun wirklich nicht«.

Bedanken möchten wir uns sehr herzlich bei Dr. Doris Bohnet, nicht nur für die stoische Ruhe, mit der sie die durch die Schreibarbeit dahinschmelzende Freizeit ihres Ehemannes betrachtete (Gleiches gilt im Übrigen auch für Ulrich Pleitgen, Stiefvater und Ehemann von Bohnet Pleitgen, in dieser Doppelfunktion quasi doppelt bestraft), sondern auch für den wesentlichen Input, den Doris bei der Erarbeitung des Exposés zur Teilchenbeschleunigung geliefert hat. Ohne sie wäre der Roman, wäre die Roman-Trilogie in dieser Form nicht entstanden, vielen Dank, liebe Doris!

Zu guter Letzt bedanken wir uns bei Ida (2) und Jan (8). Ohne Euch wären die Bücher zwar schneller geschrieben worden, wir hätten aber weniger Spaß gehabt.

Die Evaluation

Donnerstag, der 13. August, 6:59 Uhr

Ein Klingeln reißt mich aus dem Schlaf. Wo ist das Telefon? Ich taste nach dem Hörer. »Ja«, flüstere ich kraftlos und wälze mich auf den Rücken.

»Frau Rührmann. Hermann Mann am Apparat.«

Schlagartig sitze ich aufrecht im Bett. »Guten Morgen, Herr Direktor«, sage ich brav und hasse mich dafür.

Wünsch ihm doch gleich ein Wohlgeruhtzuhaben, tritt Edu biestig nach.

Hermann Mann fährt dazwischen: »Hab ich Sie etwa geweckt?«

»Nein, nein«, stottere ich. »Ich komme gerade aus der Dusche.«

»Und ich komme gleich zur Sache: Frau Rührmann, ich benötige dringend, ich wiederhole, dringend die Ergebnisse von Dietmar Schäfer.« Er macht eine Pause, aus der ich seine Verzweiflung heraushören kann. »Haben Sie inzwischen Kontakt zu ihm aufgenommen? Oder noch besser, haben Sie seine Analyse der ADONIS-Messungen …«, wieder eine beklemmende Pause, »organisiert?«

Hau endlich auf den Tisch!, ruft Edu.Zeig ihm, was für ein Kerl du bist, ming Mädsche!

Ich hüstele, um das Belegte aus der Stimme zu kriegen. »Ja, ich stehe mit Schäfer in Kontakt.«

Dat klingt jetzt aber so, als würde er bei dir im Bett liegen, raunt Edu. Da liegt doch nur Walther.

Um Gottes willen, die Pistole. Geladen und entsichert im Bett.

»Der Laptop, auf dem sich seine Analyse befindet«, sage ich und drehe mich weg von Walther, um mich auf das Gespräch zu konzentrieren, »wurde gestohlen.«

»Was?«, schreit Mann mit kippender Stimme.

»Von Zero. Dem Azubi, der vorgestern ums Leben gekommen ist.«

»Woher wissen Sie das?«

»Zero hat im Auftrag von Mike Cardy gehandelt.«

»Mike Cardy?«

»Der Doktorand von Erik Hässler und Bärbel Bolz.«

»Wollen Sie etwa sagen, dass die werte Frau Kollegin …«, stammelt Hermann Mann.

»Ich will gar nichts sagen. Ich glaube aber nicht, dass Bolz oder Hässler hinter dem Diebstahl stecken, nur leider können wir Mike Cardy in der Sache nicht mehr befragen.«

»Warum nicht?«

»Weil er tot ist.«

Am anderen Ende bleibt es still.

»Cardy wurde gestern im Hamburger Hafen gefunden«, fahre ich mit meiner Gruselgeschichte fort, »aber die Polizei hat ihn noch nicht identifizieren können.«

»Woher wissen Sie dann …« Ein furchtbarer Verdacht scheint sich bei ihm zusammenzubrauen.

»Es ist nicht so, wie Sie gerade denken, Herr Direktor. Ich habe Mike Cardy nicht umgebracht.« Zwischenzeitlich war ich anderer Meinung, aber das muss ich ihm ja nicht auf die Nase binden.

Hermann Mann atmet tief durch.

»Vergessen wir für den Augenblick Mike Cardy. Wir haben später noch Zeit genug, Trauerarbeit zu leisten«, sage ich.

»Was schlagen Sie vor?«, fragt er, und ich spüre eine gewisse Anerkennung in der Frage. »Wie Sie wissen, beginnt heute die Evaluation.«

»Ich weiß, die Gutachter sind gestern im Hotel eingetroffen«, sage ich und sehe sie vor mir, die vier Gutachter und Monsignore Rossi an ihrer Spitze. »Professor Schäfer hat mir mitgeteilt, dass er seinen Laptop gestern Abend zurückkaufen wollte. Womöglich ist er längst wieder im Besitz seiner Datenanalyse.«

»Dann schnappen Sie sich den Mann!«, sagt Hermann Mann, und neue Zuversicht schwingt in seiner Stimme.

Donnerstag, der 13. August, 9:01 Uhr

Der Hörsaal ist bis zum letzten Platz gefüllt. Unzählige über die Schultern geworfene Pullover weisen die Mehrzahl der Träger als Teilchenphysiker aus. Die Atmosphäre wirkt festlich-gespannt, alle wissen, dass wesentliche Weichenstellungen des Labors vom Ablauf der nächsten anderthalb Tage abhängen. Unter den Zuhörern sitzen in vorderster Reihe auch einige Wissenschaftsjournalisten, zu erkennen an ihren Aufnahmegeräten. Ist das hinten rechts nicht sogar Ole von FSK? Unglaublich. Muss ich später klären.

Am Pult steht Forschungsdirektor Hermann Mann und wartet konzentriert, bis auch der letzte Zuhörer Platz genommen hat und Ruhe eingekehrt ist. Bräunliche Ringe umschatten seine klugen Augen. In der ersten Reihe links außen sitzen die fünf Gutachter, Monsignore Rossi in ihrer Mitte. Daneben Petra Landau. Sibylle wartet mit einem Funkmikrofon für die Zuschauerfragen am Rand des Podiums. Hermann Mann hat kurzfristig um ihre Hilfe gebeten, weil Dorothea, sehr überraschend, wie er in meinem Büro kurz anmerkte, nicht am Arbeitsplatz erschienen ist.

Überraschend, wiederholt Edu das entscheidende Element in diesem Satz und grübelt wie ich über ihr unvermutetes Fernbleiben. So überraschend wie das Verschwinden von Sönke? Sollten sich Sönke und Dorothea mit dem Laptop und Schäfers Datenanalyse abgesetzt haben?

Hermann Mann pocht gegen das Mikrofon, dass es aus den Lautsprechern hallt, hüstelt leise und beginnt: »A great welcome to our colleagues from all over the world, who will try to evaluate the complex question whether DORIS should run further on or not.« Das Auditorium applaudiert. Hermann Mann begrüßt namentlich der Reihe nach die fünf Gutachter, die mir dank Sibylles sorgfältiger Zusammenstellung bestens vertraut sind. Die Gutachter lächeln verhalten.

Dann stellt Hermann Mann die Agenda vor. Demzufolge werden im Laufe des heutigen Tages die aktuellen ADONIS-Ergebnisse präsentiert. Unter den Sprechern tritt neben Bärbel Bolz auch Erik Hässler auf. Auch der Name von Professor Dietmar Schäfer findet sich auf der Agenda, allerdings steht in Klammern daneben »represented by G. Schmidt«. Schäfers Fernbleiben von der Veranstaltung ist sicher ein schlimmer Affront, sehr viel problematischer als das überraschende Fehlen von Dorothea Weber. Für heute Nachmittag ist eine erste Diskussionsrunde mit den Wissenschaftlern und Gutachtern vorgesehen. Morgen früh soll im Anschluss an eine Closed Session eine Laborbesichtigung stattfinden. Der Ablaufplan dafür wird kurz an die Leinwand geworfen. Preliminary steht darüber.

Den Einleitungsvortrag hält Forschungsdirektor Hermann Mann höchstpersönlich. In der zielstrebigen, couragierten Art des Dozenten höre ich ihn Sätze formulieren, die man fast sehen kann und die niemand in Frage stellen würde: »DORIS has been a solid player in particle business«, leitet er ein, »it made, so far, no big, unexpected discoveries, but it’s played an important role within the high-energy physics community.« Er macht eine seiner bedeutungsvollen Pausen und lässt den Blick durch den Raum schweifen. »But recent discoveries could lead to some fundamental changes.«

Zustimmendes Raunen geht durch den Hörsaal. »Die Geisterteilchen sind gute Kandidaten für einen Nobelpreis«, tuschelt jemand hinter mir. »Aber die ADONIS-Kollaboration ist ziemlich groß. Wer könnte den Preis denn bekommen?«

Der allgemeinverständlichen Einleitung Hermann Manns folgen die Vorträge der Experten und Gruppenmitglieder von ADONIS. Danach hat Bärbel Bolz ihren Auftritt. In ihrem roten, mit goldenen Pailletten besetzten Kleid ist sie völlig overdressed, doch da sie es zur Feier des Tages trägt, sieht man es ihr nach. Sie beginnt ihren Vortrag mit asthmatischen Hustenstößen, spricht dann von Up-, Down-, Anti-Bottom-Quarks, Neutrinos, B-Mesonen und anderen exotischen Teilchen. Und schließlich vom Higgs-Boson. Immer wieder vom Higgs-Boson. Ihr Englisch hat einen starken deutschen Akzent. Ich komme inhaltlich kaum mit. Eigentlich gar nicht.

Dat beruhigt mich, ming Mädsche, dat ich nich der Einzige bin, der nix kapiert, flüstert Edu.

Am Ende ihres Vortrages erklärt Bärbel Bolz, dass es noch zusätzliche Raumdimensionen geben müsse, dass die Gesamtenergie des Universums am Ende vielleicht nicht null sei wie bisher angenommen und alles Sein der Welt nur eine Schwankung im eigentlichen Nichtseienden. Mit dem Satz: »This is what fascinates students and researchers about physics and drives them to go into this field«, schließt sie ihre Ausführungen. Das Auditorium spendet ihr den verdienten Beifall. Zwei, drei Fragen aus dem Publikum, die Frau Bolz souverän beantwortet, woraufhin sie sich auf ihren Stuhl setzt und zufrieden seufzt. Der Stuhl seufzt auch. Sie zieht ihr Taschentuch heraus und wischt sich damit den Nacken.

Nun tritt Erik Hässler auf. Er trägt einen dunklen Anzug mit grauen Streifen, dazu ein blütenweißes Hemd und einen grauen Seidenschlips und unterscheidet sich nicht nur durch sein elegantes Aussehen von seinen Kollegen. Sibylle hilft ihm beim Aufsetzen des Headsets. Oder ist es umgekehrt? Sie wirkt auffällig nervös.

»Physics at the smallest scales and at the largest scales are intimately connected with each other«, leitet er seinen Vortrag, noch während Sibylle an ihm rumzupft, in Anspielung auf die Experimente ADONIS und ARIADNE ein. Er dankt ihr mit einem charmanten Lächeln und blickt verzaubernd ins Publikum. Was für ein verdammt hübscher Kerl, denke ich, diese ebenmäßige Nase, die klare Stirn, dazu die rauchgrauen Augen und das dichte, kastanienbraune Haar. Erik beginnt seinen Talk zunächst mit der Beschreibung der Grundlagen des Standardmodells, er charakterisiert die zwölf bekannten Elementarteilchen, also die sechs Quarks und sechs Leptonen, referiert »briefly«, wie er ankündigt, die bekannten Wechselwirkungen: die starke, die schwache und die elektromagnetische, die in Form von Quantenfeldtheorien mit dem Standardmodell in sich konsistent beschrieben werden können, und erwähnt der Form halber auch die vergleichsweise sehr schwache Gravitation. Seine Ausführungen untermalt er mit knappen, eleganten Gesten und versäumt es nicht, seinen andächtig lauschenden Zuhörern hin und wieder ein gewinnendes Lächeln zu schenken. Mit der wohldosierten Mischung aus weltmännischer Gelassenheit und selbstverständlicher Bescheidenheit blickt Hässler ins Publikum und fragt, wie sich die Masse der Elementarteilchen erklären lässt, ohne dass fundamentale Symmetrien der Natur gebrochen werden, schließlich, was Masse als physikalisches Phänomen überhaupt darstellt. Das Publikum ist zu diesem Zeitpunkt bereits fest davon überzeugt, dass Hässler die Antworten auf diese Fragen längst weiß, so klug und fesselnd versteht er zu reden. Er umfasst sein Rednerpult mit beiden Händen, lehnt sich lässig nach vorn und macht eine bedeutsame Pause, bevor er die aus seiner Sicht entscheidenden Fragen stellt, die seine Forschung motivieren: »Is there a Higgs boson? Or more than one? What is dark matter? Can it be produced in the laboratory? And last but not least, did we already measure the corresponding phenomena at DORIS?«

Anschließend beschreibt Hässler das ADONIS-Experiment und die aktuellen sensationellen Messungen im Detail. Zur Untermauerung zeigt er Grafiken und Diagramme, garniert mit Formeln und mathematischen Herleitungen. Ich muss daran denken, dass Ludwig Wittgenstein mal gesagt hat, die Grenzen der Sprache setzen die Grenzen der Welt. Die Teilchenphysiker benutzen zur Beschreibung der Realität die Sprache der Mathematik. Die Teilchen verstecken sich hinter den Buckeln von Statistiken und Wechselwirkungsquerschnitten. Diese Formelsprache agiert außerhalb der Grenzen der normalen Sprache, was es Fachfremden ziemlich schwer macht, Diskussionen unter Wissenschaftlern zu folgen, geschweige denn mitsprechen zu können.

Stimmt, ich bin längst draußen, mault Edu.

Zum Abschluss zitiert Hässler einen Brief des berühmten Wolfgang Pauli an den nicht weniger bekannten Robert Oppenheimer: »I got an invitation to a physics meeting in Rochester«, liest Hässler theatralisch die Sätze vor, die Pauli in den 1950ern an seinen Kollegen schrieb. »It may be a nice occasion to see the colleagues and to hear the last news on experiments, although I am rather sceptical regarding the theory.«

Pauli bezog sich in seinem Brief auf eine Konferenz in Rochester, mit der unter Physikern die Geburtsstunde der Hochenergiephysik verbunden wird. Damals trafen sich Wissenschaftler aus der Feldtheorie, der Höhenstrahlenphysik und aus Experimenten an großen Teilchenbeschleunigern. Die Konferenz sollte sich als so überaus erfolgreich erweisen, dass man nachfolgende Konferenzen der Hochenergiephysik als Rochester-Konferenzen bezeichnete, auch wenn sie längst nicht mehr am ursprünglichen Tagungsort stattfanden.

»Let us make a new Rochester!«, ruft Erik Hässler strahlend ins Publikum und breitet die Arme aus wie ein Messias. »Sixty years later. Let’s organize at DESY a New Rochester Conference 2010!«

»Auf diese Idee konnten nur Sie kommen, Erik«, höre ich Bärbel Bolz begeistert rufen. Einzelne Physiker im Hörsaal stehen auf und applaudieren. Beeindruckt nickt Monsignore Rossi seinen Gutachterkollegen zu und blickt dann nach hinten in Hässlers lautstark jubelnde Zuhörerschaft. Mehr und mehr Gäste erheben sich von ihren Sitzen und klatschen. Der Kerl bekommt tatsächlich Standing Ovations.

Hermann Mann wartet taktvoll das Abklingen des stürmischen Applauses ab und betritt dann das Podium. Unter seinen klugen Augen liegen nach wie vor tiefe Schatten. Er entschuldigt Dietmar Schäfers Abwesenheit mit »exceptional circumstances«, und Petra Landau, die ganz in meiner Nähe sitzt, bringt es trotz ihres festgefrorenen Dauerlächelns fertig, bekümmert dreinzuschauen. Der Professor bittet Gernot Schmidt in Vertretung für Dietmar Schäfer ans Rednerpult.

Schmidts Vortrag ist ein Totalausfall. »In principle …«, nuschelt er im schauerlichsten Englisch. Während er sich vor Verlegenheit windet, hat sein Vortrag weder Höhen noch Tiefen, selbst die Andeutung einer Bewertung der jüngsten Messungen der Geisterteilchen bleibt letztlich aus. So abrupt, wie Schmidt seinen Vortrag begonnen hat, beendet er ihn. Das Publikum klatscht verhalten, als sei es dankbar, nur so kurz malträtiert worden zu sein.

»I assume that we need a break, right?«, kündigt Hermann Mann die Kaffeepause im Hörsaalfoyer an.

Die Zuhörer stehen von ihren Sitzen auf und drängen zu den Ausgängen. Mein Blick fällt wieder auf Petra Landau, die mich energisch zu sich heranwinkt.

»Frau Rührmann«, fragt sie, nachdem sie mich hintergründig lächelnd begrüßt hat, »haben Sie Neuigkeiten von Dietmar Schäfer?« Ihr schwarzrotes Kleid erinnert mich in Form und Farbe an die Fahrwassertonnen auf der Elbe.

»Keine Neuigkeiten seit gestern Abend«, sage ich reserviert.

»Wir brauchen unbedingt Schäfers Ergebnisse!«, zischt Petra Landau kaum hörbar, aber eindringlich. »Wo ist er bloß?«

»Er war heute Morgen nicht im Hotel.«

»Wenn er nicht im Hotel war und jetzt nicht am DESY ist, dann kann er nur bei sich zu Hause sein«, entfährt es ihr voll Ungeduld. »Sie fahren unverzüglich hin und zerren ihn hierher.« Sie schaut in mein versteinertes Gesicht und knipst schnell ihr Lächeln wieder an. »Tot oder lebendig, Frau Rührmann, haben Sie das verstanden?«

Die Villa

Donnerstag, der 13. August, 14:12 Uhr

Am Wandsbeker Markt steige ich aus der U-Bahn. Die Keramikverkleidung der Wände in dieser Station besteht aus einer Komposition verschiedenartiger Vierecke, die sich zu einem gleichmäßigen Muster verbinden. Ob sich die Mosaiksteine in meiner Geschichte am Ende genauso schön zusammenfügen? Welches Bild ergeben die Puzzleteile bei meinem Sonderauftrag, wenn sie richtig verbunden sind?

Eine Rolltreppe bringt mich an die Oberfläche eines rechteckigen Platzes, groß wie ein Fußballfeld, der von einem dichten Straßengeflecht umgeben ist. Auf seiner Südseite steht das Wandsbeker Rathaus, ein schwerfälliger Putzbau in straffer Pfeilerordnung aus der Zwischenkriegszeit, schräg gegenüber eine evangelische Nachkriegskirche, deren Stahlbetonturm den auffälligsten Orientierungspunkt bietet. Ich laufe die angrenzende Schlossstraße runter und an einem parkähnlichen Gelände entlang, das von einer Bahnlinie durchquert wird und Wandsbek von Marienthal trennt. Im Sandwich der Arbeiterviertel Wandsbek, Horn und Hamm gehört Marienthal zur gehobenen Wohngegend im sonst vom roten Nachkriegsklinker dominierten Hamburger Osten.

In der Behrensstraße finde ich meine Villa. Ich meine natürlich die von Professor Schäfer. Sie steht inmitten eines reizvollen Ensembles von landhausartigen, freistehenden Einfamilienhäusern der späten Kaiserzeit. Eingeschossige Gebäude mit ausgebauten Mansardendächern und gepflegten Gärten. Der Vorgarten von Schäfers Haus ist völlig verkrautet. Rosenstöcke mit welken Blüten ersticken unter wild rankenden Schlingpflanzen, zwischen den Gehplatten schießt das Gras empor.

Dat müsste dein Hauswirt sehen, wat würd der weinen, flüstert Edu.

Eine kurze Treppe führt zur Eingangstür, das Holzgeländer ist stark verwittert. Vor den Fenstern hängen graue Gardinen. Vorsichtig steige ich über einen Amselflügel, der auf dem Treppenabsatz liegt wie ein Stofffetzen.

Auf dem Namensschild der Messingklingel steht in verblichenen Lettern Professor Schäfer. Die Klingel gibt einen scheppernden Ton von sich, als ich auf den Knopf drücke. Nichts passiert. Keiner rührt sich. Es bleibt still hinter der Eingangstür.

Wenn Katelbach kommt, lacht Edu. Aber er kommt nicht.

Der Professor ist also nicht zu Hause, was am frühen Nachmittag eines Werktags ganz normal ist. Aber am DESY ist er auch nicht. Und im Hotel ebenso wenig, da habe ich vorhin zur Sicherheit angerufen. Wo mag er sich aufhalten?

Die Haustür ist natürlich abgeschlossen. Bleibt mir nur der Rückzug? Dass ich nicht lache. Dieser Schäfer geht mir dermaßen auf die Nerven mit seiner Geheimnistuerei.

Ich springe von den Treppenstufen runter in den Vorgarten. Kein Mensch weit und breit, keine neugierigen Nachbarn, niemand da. Ein schmaler, gepflasterter Weg führt um das Haus herum in den verwilderten Garten. Die rückwärtige Fassade ist eingerüstet. Unter dem Baugerüst stehen Farbtöpfe, Eimer, Farbroller und Pinsel. Eine Leiter lehnt an dem Mauervorsprung. Die Sanierungsarbeiten scheinen aber noch nicht richtig begonnen zu haben. Oder sie wurden abrupt abgebrochen. Fast sieht es so aus, als hätten die Maler übereilt alles stehen und liegen lassen und das Weite gesucht. Ich schirme meine Augen mit den Händen ab und spähe durch das Fenster der Gartentür.

»Was meinst du, Edu, das Haus hat bestimmt keine Alarmanlage, oder?«, frage ich, winkle den Arm an und schlage mit dem Ellenbogen die Scheibe ein. Das Klirren schreckt nicht mal die Vögel auf. Ich greife durch die zerbrochene Scheibe, ertaste einen Riegel und öffne die Tür.

Muffiger Geruch schlägt mir entgegen. Ich brauche ein paar Sekunden, um mich in der dämmrigen Umgebung zurechtzufinden.

Auf dem gefliesten Boden stapeln sich Dokumente, Pappschachteln und Kisten. Und unzählige Bücher, in der Mehrzahl offenbar naturwissenschaftliche Werke: Advanced Technology and Particle Physics. Microwave Engineering. Feynman-Graphen und Eichtheorien für Experimentalphysiker. Physics of High Energy Accelerators.

Von der vergilbten Raufasertapete grinst mich die Maske eines Dämons an. Mit einem unbehaglichen Gefühl wende ich mich von dem mit Goldlack bemalten japanischen Kunstwerk ab.

Ein leichter Durchzug weht durch den Raum. Irgendwo muss ein weiteres Fenster offen stehen. Die verstaubten Spinnennetze voller Insektenleichen wiegen sich im Windhauch.

Ich betrete Schäfers Wohnraum, der wie eingemottet wirkt im fahlen Tageslicht, das durch die staubigen Gardinen nur schwach eindringt. Es herrscht das gleiche Chaos wie in seinem DESY-Büro. Auf dem Wohnzimmertisch, in den Regalen und auf dem Holzfußboden türmen sich Bücher, Zeitschriften und Manuskripte. Der Mann hat augenscheinlich das Messie-Syndrom. Das Zimmer im Hotel Royal muss in seiner Kargheit und Aufgeräumtheit ein Albtraum für ihn sein.

Im Flur steige ich über weitere Bücherstapel. Ich werfe einen Blick in sein Schlafzimmer. Die Hälfte des Doppelbetts ist belagert von Pappkartons, Obstkisten, Schubladen, Papierstapeln, Folien, Zeitungen und Büchern, womit die Frage nach Schäfers etwaigen partnerschaftlichen Beziehungen beantwortet wäre. Auf der freien Seite des Bettes ist die Decke nachlässig zurückgeschlagen, als wäre der Professor gerade erst aufgestanden. Ich horche mit angehaltenem Atem. Nicht, dass er gleich von der Toilette zurückkommt. Aber alles nur Einbildung. Ich bin alleine in dieser Rumpelkammer.

Hilflos blicke ich mich um. Ob ich in diesem Chaos einen Hinweis auf seine jüngste Arbeit finde? An der Wand hängt eine kleine Tontafel, wie ich sie aus der Grundschule kenne. Schäfer hat ein paar Formeln darauf geschrieben. Griechische Buchstabenkombinationen, Integrale und Differenziale. Ich verstehe kein Wort, genauso gut könnten dort Hieroglyphen stehen, aber nach der Weltformel sieht das nicht aus.

Irgendwie lässt mich Schäfer ein ums andere Mal frustriert zurück. »Du wirst nicht verhindern können, dass wir uns noch begegnen. Ich komme wieder«, läute ich lautstark mein Rückzugsmanöver ein. Keine Antwort. Friedhofsruhe. Die Stille des Hauses verschluckt alles.

Im Korridor hängt ein Bild des surrealistischen Malers René Magritte. Es zeigt das Profil einer Pfeife und darunter den Schriftzug »Ceci n’est pas une pipe«. Im ersten Moment denke ich, dass es ein Original ist, und im zweiten, dass ich es mitnehmen könnte, und im dritten, dass Schäfer es echt verdient hätte, wenn ich ihm seinen Magritte stehlen würde. Dann sehe ich zu meinem Bedauern, dass es nur eine Kopie ist. Schade, denke ich und will mich schon abwenden, da fällt mir die Schaufel auf, die an der Wand lehnt. Es ist nicht so, dass sie angesichts des allgemeinen Durcheinanders an dieser Stelle deplatziert wirkt. Auch überrascht mich nicht, dass Schäfer Gartenwerkzeug besitzt. Was mir an der Schaufel auffällt, ist der rotbraune Lehm, der an ihr klebt. Der wirkt sozusagen frisch. Ich reibe etwas davon zwischen meinen Fingern. Tatsächlich. Feucht und klebrig. Die Schaufel lehnt direkt neben einer schmalen Holztür. Dahinter führt eine Treppe in den Keller. Ein spröder Bakelit-Schalter lässt die Deckenleuchte angehen. Ich steige die unebenen Steinstufen runter und komme in eine Waschküche.

Angenehm kühl hier unten. Außerdem wirkt es aufgeräumter als oben. Vor einer Waschmaschine und einem Trockner steht ein Wäschekorb. Alles normal so weit. Oder nicht?

Irgendwas zieht mich in den zweiten Kellerraum hinter der Brandschutztür. Das Herz klopft mir bis zum Hals. Ich ziehe Walther aus der Innentasche meiner Jeansjacke. »Hallo, Herr Professor?«, rufe ich – als würde Schäfer sich im Keller verstecken, wie albern.

Die Brandschutztür ist nur angelehnt, dahinter liegt der Heizungsraum. Es riecht nach Öl. Ich taste nach dem Lichtschalter. Eine nackte Glühbirne leuchtet auf. In der Mitte des Raumes steht ein großer schwarzer Tank in einer Betonwanne. Die Heizungsanlage. Daneben hat sich jemand am Estrich zu schaffen gemacht und eine Grube gegraben.

Feuchtbrauner Lehm, der sich in der dunklen Ecke des Raumes zu einem kleinen Berg auftürmt. Vorsichtig nähere ich mich der Grube, zu der der Aushub gehört. Walther voran, ich hinterher. Da liegt der Aluminiumkoffer. Und darunter: Dorothea Weber.

Der Tunnel

Donnerstag, der 13. August, 17:47 Uhr

Der Cursor auf meinem Monitor blinkt mich an. Ich starre auf den Entwurf der E-Mail, ringe mit jedem Wort, weil ich über das Unfassbare, das mir durch den Kopf geht, nicht schreiben darf.

Dorothea ist tot. Erschlagen, erstochen, keine Ahnung, was genau passiert ist. Ich war nicht in der Lage, sie mir näher anzugucken. Jedenfalls ist sie tot. So tot wie Zero, Kasper und Mike Cardy. Ein ganzer Fuhrpark an Leichen ist inzwischen bei meinem Sonderauftrag zusammengekommen. Ich habe niemanden, mit dem ich darüber sprechen kann.

Der Ventilator pustet mir sanft in den Nacken. Die rauschende Berührung hat etwas Tröstliches. Die Flure auf meinem Stockwerk sind menschenleer, alle sind drüben im Hörsaal, wo die Evaluation auf Hochtouren läuft. Sibylle ist auch noch nicht zurück. Die Wissenschaftler diskutieren über Gott und die Welt. Über das Universum. Besser gesagt, über seine ersten Sekundenbruchteile, ganz, ganz, ganz kurz nach dem Urknall. Und sie stellen sich die Frage, ob die DORIS-Anlage zum Ablauf dieser ersten Sekundenbruchteile nach dem Urknall noch ein paar spannende Einsichten liefern könnte. Mich dagegen beschäftigt, wer vierzehn Milliarden Jahre nach dem Big Bang für diese ungeheuerlichen Verbrechen verantwortlich ist.

Unter dem Schreibtisch steht der Aluminiumkoffer. Angedengelt, zerbeult und zerkratzt. Am Haltegriff hängt das Gegenstück zu meiner Handschelle. Der Koffer und ich, wir gehören inzwischen zusammen, denke ich mit einem Schuss Galgenhumor und blicke auf meine Fessel am Handgelenk.

Warum habe ich in die Grube nach dem Koffer gegriffen wie nach einem herrlichen und überaus kostbaren Stück? Wie Frodo nach dem Ring. Der Koffer war übrigens leer. Jemand hat die Schnappverschlüsse aufgebrochen. Sehr wahrscheinlich der Mörder des Hehlers. Oder war es erst Dorothea Weber? Vielleicht ganz am Schluss des Dramas Dietmar Schäfer, weil er seinen Schlüssel nicht mehr hatte?

Das Genie Dietmar Schäfer, mit der Weltformel unterm Arm auf dem Weg ins Ausland? Ich habe eine furchtbare Ahnung. Wenn sich das Schreckliche überhaupt noch steigern lässt. Ich überwinde mich und schreibe ihm schließlich folgende Nachricht:

Warum so höflich, ming Liebschen?, fragt Edu. Geh endlich zur Polizei, die machen eine Ringfahndung. Hinter schwedische Gardinen mit dem Verbrecher.

»Nein«, flüstere ich. »Mein Eindruck ist, dass Schäfer in dieser Geschichte eine ganz besondere Rolle spielt. Ich muss erst herausfinden, was das für eine ist.«

»Nikola!«, ruft Sibylle erleichtert an der Tür. »Du bist zurück!«

Ich stehe vom Stuhl auf und umarme sie, als wäre ich von einer sehr langen Reise heimgekehrt.

»Alles in Ordnung?«, fragt Sibylle, als ich sie endlich wieder loslasse.

»Ja, jetzt geht’s wieder. Sorry, Helferlein, ich brauchte das gerade.«

»Du bist schneeweiß im Gesicht.« Sie blickt mich besorgt an.

»Dorothea Weber ist tot«, komme ich ohne Umschweife zur Sache.

»Was?«

»Kein Wort! Zu niemandem! Verstanden?«

Sibylle fährt sich über die trockenen Lippen. »Verstanden!«

»Dorothea liegt im Keller von Schäfers Stadthausvilla in Marienthal.«

»Meinst du, dass Schäfer …?« Auch Sibylles Gesichtsfarbe wechselt ins Weiße.

»Sieht so aus. Ich wette, er hat sich bei der Evaluation bisher nicht blicken lassen.«

Sibylle schüttelt bestätigend den Kopf.

»Das habe ich mir gedacht.«

Da geht das Telefon. Das charakteristisch-lange Ringeln eines laborinternen Anrufs. 5426 steht auf der Anzeige. Sibylle und ich wechseln Blicke.

»Wer könnte das sein?«, frage ich.

»Der Anruf kommt auf jeden Fall vom Laborgelände. Soll ich abheben?«

»Ich mach schon.« Ich stelle das Gerät auf laut, nehme ab und melde mich mit einem knappen »Ja?«.

»Frau Rührmann!« Es ist Schäfers Bariton. Mein Herz beginnt wie verrückt zu pumpen.

»Ja?«, wiederhole ich und versuche mich zu fassen.

»Von welcher entsetzlichen Entdeckung sprechen Sie?«

»Dorothea Weber«, sage ich tonlos.

»Frau Rührmann! Bitte glauben Sie mir«, bricht es aus Schäfer heraus, »ich bin unschuldig!« Er klingt gehetzt und verzweifelt. »Das gilt erst recht für die Mitarbeiter des Labors. Das Forschungszentrum hat nichts mit dem Tod von …«, er stockt, »nichts damit zu tun.« Es scheint, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Ich warte beklommen ab. Dann fasst sich Schäfer und sagt: »Bitte tun Sie nichts Unüberlegtes!«

»Was meinen Sie?«

»Wenn Sie jetzt zur Polizei gehen oder zum Forschungsdirektor, steht die Zukunft des DESY auf dem Spiel. Glauben Sie mir, es ist alles ganz anders, als Sie denken.«

»Was glauben Sie denn, was ich denke, Herr Schäfer?«

»Warten Sie das Evaluationsergebnis ab. Anschließend werde ich mich stellen«, sagt er, ohne auf meine Frage einzugehen.

»Warum sollte ich das tun?«, frage ich noch, aber da hat er schon aufgelegt.

Sibylle und ich starren uns atemlos an.

»Was sagst du dazu, Sibylle?«

»Die Stimme hörte sich komisch gepresst an.«

»Nur allzu verständlich. Es dürfte selbst Schäfer schwerfallen, angesichts des Todes von Dorothea Weber die Contenance zu wahren.«

»Angesichts des Todes von Dorothea …« Sibylle zittert wie Espenlaub. Ich nehme sie in die Arme.

»Das Ganze geht weit über deine Kräfte, mein Helferlein. Über meine übrigens auch. Aber wir müssen das Zittern auf später verschieben und jetzt einen klaren Kopf behalten. Der Anruf kam aus dem Labor. Können wir herausbekommen, von wo genau er angerufen hat?«

»Sekunde!« Sibylle läuft mit fliegendem Zopf rüber in ihr Büro, einen Moment später kommt sie mit einem DESY-Telefonbuch zurück. Es dauert nicht lange, und wir haben die 5426 und die dazugehörige Gebäude- und Raumnummer gefunden.

Name Gruppe Geb/Raum Durchwahl Mobil Fax
--- M 03/U3 5426 --- ---

»03/U3 steht für Gebäude 3, Untergeschoss, dritter Gang.«

»Woher weißt du das?«

»Das haben sie uns so bei der DESY-Führung erklärt. Hier ist der Gang.« Sie zeigt ihn mir auf dem Lageplan. »Und etwa da an der Wand hängt das Telefon, von dem aus dich Schäfer angerufen hat.«

»Ein öffentlich zugängliches Telefon im Untergeschoss der DORIS-Experimentierhalle?«, frage ich hellwach.

»Wahrscheinlich. Davon gibt es bei DESY viele. Dieses hier dürfte sich in der Nähe der Zugangstüren vom DORIS-Beschleunigertunnel befinden.«

»Okay, dann mach ich mich jetzt auf zum Gebäude 3. Schäfer kann noch nicht weit sein. Du hältst an meinem Telefon die Stellung, damit ich dich zur Not jederzeit vom Handy aus anrufen kann«, sage ich und greife zur Jeansjacke. Sibylle reißt erschrocken die Augen auf. »Nur keine Panik, wenn ich mich nicht gleich melde. Walther beschützt mich.« Ich klopfe gegen die Innentasche meiner Jacke.

»Walther? Ein Talisman?«

»Hmm, ja, so kann man sagen. Solltest du in einer Stunde noch nichts von mir gehört haben, dann informierst du Hermann Mann oder Petra Landau.« Ich schaue auf die Uhr. »Jetzt haben wir 18:04 Uhr. Erst ab 19 Uhr Alarm schlagen, verstanden?«

»Verstanden!«, wiederholt sie tapfer.

»Also bis gleich«, sage ich und sprinte mit dem Plan in der Hand los.

Donnerstag, der 13. August, 18:08 Uhr

Atemlos erreiche ich die DORIS-Experimentierhalle. Ein Surren hängt im Raum, als würden Schwärme von Bienen umherfliegen, angestachelt von dem kurzen Hämmern der Klystron-Module. Aber kein Lebewesen weit und breit, das Einzige, was sich bewegt, sind die Umluftventilatoren an der Decke. Neonlampen tauchen die Halle in ein steriles Licht. Angesichts der öden Betonwand vor mir ist kaum vorstellbar, dass ganz im Verborgenen, hinter unzähligen Stapelsteinen versteckt, Protonen und Antiprotonen im DORIS-Tunnel mit nahezu Lichtgeschwindigkeit durch ein Strahlrohr fliegen und im ADONIS-Experiment im Milliardstelsekundentakt aufeinanderknallen.

Auf der anderen Hallenseite befindet sich das Treppenhaus. Von dort geht es in das unterirdische Gangsystem von DORIS. Vor dem Eingang steht eine Telefonbox. Der Apparat hat die Anschlussnummer 5413. Auch das Treppenhaus ist in das keimfreie Licht der Neonleuchten getaucht. Hier wirkt das eigenartig verdüsternd. Dagegen ist eine Tiefgarage ein Ort pittoresker architektonischer Verspieltheit. Ich steige die Betonstufen runter und horche, aber ein panischer Schäfer kommt mir nicht entgegen.

Vom Untergeschoss gehen vier dunkle Gänge ab, in jede Himmelsrichtung einer. Ich fühle mich ein bisschen wie auf der Reise ins Innerste der Welt. Welcher der Gänge führt mich nun zum Telefonanschluss 5426, ich habe die Orientierung verloren. Eine beklemmende Atmosphäre geht von den Räumen aus. Es riecht nach Beton, Staub und Maschinenöl. Ich studiere ausgiebig den Lageplan, schließlich entscheide ich mich willkürlich für einen der Gänge, und tatsächlich, auf einem kleinen Plastikschild an der Wand steht U3. Bingo!

Ich horche wieder in die Stille hinein. War da was? Nein, nichts, also gehe ich weiter. Parallel zu dem schmalen, rechtwinkligen Gang verlaufen Kabeltrassen und Rohrleitungen, im Abstand von zehn Metern hängen Neonleuchten an der niedrigen Decke. Es sieht aus wie im Maschinenraum eines alten U-Boots, nur dass die Wände hier aus grauem Beton sind. Ich passiere eine gelbe Gittertür, die nach rechts führt, vermutlich einer der vielen Zugänge zum DORIS-Tunnel. Das Interlock-Schild leuchtet grellgelb und abschreckend. Nach ein paar Metern bleibe ich abrupt stehen. War da nicht ein Geräusch? Diesmal hab ich es mir bestimmt nicht eingebildet. Ich öffne die Jeansjacke. Ich will Walther nicht sofort hervorholen, aber wenn’s drauf ankommt, muss es schnell gehen. Ich halte den Atem an. Aber es ist nichts zu hören außer dem fernen Surren und Hämmern aus der DORIS-Experimentierhalle. Vielleicht ist das eine Falle, denke ich plötzlich. Was ist, wenn mich Schäfer in eine Falle locken will?

Ich krame nach meinem Handy. Wie auch immer, ich sollte ein Lebenszeichen von mir geben, damit Sibylle sich nicht zu sehr ängstigt. Und ich mich auch nicht. Zwecklos, wie ich schnell merken muss. Hier unten bekomme ich keinen Empfang. Das Labyrinth ist zu gut abgeschirmt. Wenn das Teil ist von Schäfers Plan? Ich laufe weiter neben den Kabeltrassen entlang. Walther steckt griffbereit. Nach fünfzig Metern macht der Gang einen Knick. Und nach weiteren fünfzig Metern wieder einen. Und auch hier rechts in der Wand eine gelbe Gittertür, die über ein Labyrinth mit dem DORIS-Tunnel verbunden ist. Himmel, wo in aller Welt führt mich dieser Weg hin? Der Gang verläuft wahrscheinlich mehr oder weniger parallel zum DORIS-Tunnel. Ein paar Schritte weiter hängt eine Telefonbox an der Wand. Genau wie Sibylle gesagt hat. Ich schaue auf die altertümliche Wählscheibe und lese 5426. Bingo zwo! Von hier aus hat mich Schäfer also eben angerufen. Wo aber ist er abgeblieben?, frage ich mich. Er hätte mir im Tunnel doch entgegenkommen müssen. Oder zumindest in der Halle oben. Habe ich ihn etwa verpasst? Ich greife nach dem Telefonhörer und wähle meine Büronummer.

»Reinold am Apparat«, meldet sich Sibylle aufgeregt.

»Ich bin’s, Nikolaus.«

»Ach, da bin ich ja erleichtert. Alles in Ordnung? Hast du ihn getroffen?«

»El condor pasa. Kein Schäfer unter dieser Nummer.«

»Im Büro hat er sich auch nicht wieder gemeldet.«