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Doris Dörrie

Für immer
und ewig

Eine Art Reigen

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Erstausgabe erschien 1991

im Diogenes Verlag

Umschlagillustration: Henri Matisse,

›Les plumes blanches‹, 1919

Copyright © 2013 ProLitteris, Zürich,

Succession Matisse, Paris

Foto: Copyright © 1996 The Minneapolis

Institute of Art

 

 

Für Helge

 

 

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 22572 3 (18. Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60087 2

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Inhalt

Neunzehnhundertachtundsechzig  [7]

Unglück will Gesellschaft  [24]

»Are you experienced?«  [37]

Orfeo  [50]

Prügel  [85]

Winnetous rechter Fuß  [99]

Fotografieren 15 Dollar  [121]

Rote Rosen  [132]

Tuba Teppich-Kur  [150]

Kaufrausch  [164]

Frauen allein in Hotelzimmern  [170]

Sonntag nachmittag  [184]

Die Handtasche  [196]

Geheimnisse  [209]

»Reality«  [232]

Für immer und ewig  [250]

Der Mann im Supermarkt  [268]

Tausendgüldenkraut  [284]

[7] Neunzehnhundertachtundsechzig

Im Frühjahr 1968 begann ich zu Gott zu beten, er möge mir endlich einen Busen wachsen lassen. Ich hatte noch überhaupt keinen und meine Tischnachbarin Antonia den größten in der Klasse. Er war so riesig, daß sie ihn vor sich auf den Tisch legen konnte. Heimlich nannte ich Antonia »das trojanische Pferd«, nicht nur, weil sie so groß und schwer war und ihre Beine aussahen wie Säulen, sondern weil ich nie das Gefühl loswurde, daß sie etwas vor mir verbarg. Ich erzählte ihr immer alles und sie mir fast nichts. Um ein Haar hätte ich ihr sogar anvertraut, daß ich jeden Abend Gott um einen großen, dicken, schönen Busen wie den ihren anflehte.

Aber es war nicht nur ihr Busen, den ich an ihr bewunderte, sondern die Unverfrorenheit, mit der sie ihren ganzen Körper zur Schau stellte. Trotz ihrer dicken Beine trug sie den kürzesten Minirock der ganzen Schule. Wenn sie sich bückte, sah man ihre Unterhose. Das war ihr anscheinend egal. Sie tat überhaupt so, als sei ihr ziemlich alles egal. Ich wußte, daß das nicht stimmte. Sie war eitel, gab es aber nicht zu. Zum Beispiel schminkte sie sich jeden Tag, gab es aber nie zu, und nur wenn man ganz scharf hinsah, konnte man feine braune Striche über ihren Augen entdecken. Es sah wirklich ganz natürlich aus, man mußte [8] Antonia schon so penibel studieren wie ich, um sicher zu sein, daß es Schminke war. Sie hatte dicke, halblange schwarze Haare, die sie wie einen Vorhang nach vorne warf und hinter dem sie sich versteckte, wenn sie verärgert war, einen kleinen Schmollmund und grüne Katzenaugen in einem großen, flächigen, sehr weißen Gesicht. Insgesamt war sie irgendwie beunruhigend; ein seltsames Flackern ging von ihr aus. Erst sehr viel später wußte ich, wie man das nannte: Sie war sexy. Und darum beneidete ich sie am meisten, weil ich wußte, daß ich das niemals sein würde, auch mit Busen nicht.

Nur ein einziges Mal sah ich vorm Sportunterricht im Umkleideraum Antonias Brüste nackt. Sie behielt sonst immer ihren BH an, aber dieses eine Mal zog sie ihn aus unerfindlichen Gründen aus und drehte sich gleich darauf zur Wand. Aber da hatte ich sie schon erblickt. Sie waren schneeweiß und sahen bedrohlich prall aus, wie zwei Luftballons kurz vorm Platzen. Ich erschrak vor ihnen und war mir plötzlich nicht mehr ganz so sicher, ob ich auch welche haben wollte. Zumindest nicht so große. Antonia trug als einzige in der Klasse die BH-Größe 80 C, betonte aber immer wieder, daß sie aus politischen Gründen am liebsten gar keinen Büstenhalter tragen würde, wenn nur ihr Busen kleiner wäre. Das war natürlich die reine Angabe, denn sie zwängte ihn in enge Rippenpullover und streckte ihn, wenn sie sich in der Klasse meldete, so weit heraus, daß er von der Seite ein richtiges Dreieck bildete. Jeden Tag sah ich dieses straff gespannte Dreieck neben mir und haßte meinen dürren Körper, der so platt war wie ein Bügelbrett.

[9] Weil ich jedoch ein schlechtes Gewissen hatte, Gott jeden Abend um einen Busen zu bitten, wo doch Kinder in Biafra verhungerten und es Krieg gab in Vietnam, wollte ich es damit wieder gutmachen, daß ich sieben Aschenbecher für einen Schulbazar für Biafra töpferte und mit Antonia zu einer Vietnamdemonstration ging. Antonia ließ mich in der Menschenmenge sofort im Stich und boxte sich vor in die erste Reihe, um sich dort bei einem Spartakisten mit langen blonden Haaren und Pickeln einzuhaken, den sie schrecklich süß fand. Wie man jemals einen Menschen mit Pickeln süß finden konnte, war mir unbegreiflich, denn ich litt unter meinen Pickeln fast noch mehr als unter meinem nicht vorhandenen Busen, haßte sie mit aller Inbrunst. Mehr noch als meine kleine Schwester Charlotte.

Der schlimmste von allen wuchs immer an derselben Stelle, auf meiner Nase, wie der Höcker eines Dromedars. Und wenn er endlich verschwunden war und ich selig aufatmete, kündigte er sich ein paar Tage später mit einem leisen, kaum spürbaren Kribbeln von neuem an, und ich begann ihn zu fürchten wie ein lebendiges Wesen. Ich fühlte ihn beim Sprechen, beim Lachen, er war immer gegenwärtig. Ich konnte mit keinem Jungen auch nur ein einziges Wort reden, wenn ich dabei fühlte, wie der Pickel wie eine rote Glühbirne leuchtete, mein ganzes Gesicht verunstaltete, prickelte und pochte und wuchs, so daß ich nur noch darauf wartete, daß man mit dem Finger auf mich zeigte und rief: »Guck mal, die da! Die mit dem Pickel!« Antonia hatte nie Pickel. Ihre Haut war so weiß und glatt wie ein Teller. Aber dafür hatte sie einen ziemlich [10] auffälligen Schnurrbart. Warum sie dagegen nichts unternahm, verstand ich nicht. Aber vielleicht wußte sie gar nicht, daß sie einen hatte. Als ihre Freundin fühlte ich mich eigentlich verpflichtet, sie auf diesen Schönheitsmakel hinzuweisen, aber ich war mir nicht sicher, ob wir wirklich Freundinnen waren. Mit ihrem großen Busen und ihrer ganzen Art schien sie schon zu der Welt der Erwachsenen zu gehören, und ich fühlte mich oft wie ein kleiner dummer Hund, der mit heraushängender Zunge hinter ihr herlief und sie nie würde einholen können.

Ich war daher geschmeichelt, als sie zu mir kam, um mich zu einer Party bei der dicken Inge abzuholen, einer reinen Mädchenparty, zu der man sich, wie ich dachte, nicht großartig aufbretzeln mußte. Als ich jedoch Antonia öffnete, verschlug es mir den Atem. Sie trug einen giftgrünen Minirock, goldene Pumps und einen knallengen rosa Rippenpulli über ihrem großen Busen. Sie sah aus wie ein aufgeblasenes Gummitier. Entsetzlich und aufregend zugleich. Ich verstand nicht, warum sie überhaupt keine Komplexe hatte. Vielleicht grübelte ich einfach zuviel über die Dinge. Sie ließ sich auf mein Bett fallen.

»Ich werde jetzt Mitglied bei den Trotzkisten«, sagte sie großspurig, »man wird vier Wochen lang getestet, und wenn das politische Bewußtsein stimmt, wird man aufgenommen.« Ich wußte, warum sie zu den Trotzkisten wollte, aber ich hütete mich, sie darauf anzusprechen. Seit ein paar Wochen stand jeden Tag ein großer dunkelhaariger Typ vor unserer Schule und verteilte trotzkistische Flugblätter.

[11] »Und? Stimmt dein politisches Bewußtsein?« fragte ich Antonia.

»Ich weiß nicht so genau«, antwortete sie, »ich glaube, ich sollte nicht erwähnen, daß wir zwei Autos haben.« Sie starrte nachdenklich an die Decke, dann richtete sie sich auf und sah mich an.

»Übrigens, Fanny, du kriegst einen Pickel auf der Nase.«

»Das ist kein Pickel«, sagte ich, »ich habe mich an der Tür gestoßen.« Ich haßte Antonia.

Aber dann nahm sie meine Hand, als wir die Straße entlangliefen, um die Straßenbahn noch zu erwischen, sie hielt sie ganz fest und ließ sie nicht mehr los, auch als wir uns auf die letzten zwei Plätze fallen ließen und eine alte Frau, die nach uns einstieg, uns böse anfunkelte und wollte, daß wir ihr einen Platz frei machten.

»Wir sind schwanger«, sagte Antonia zu ihr und drückte meine Hand. Die alte Frau und die Leute um sie herum glotzten uns an wie die Karpfen, und ich liebte und bewunderte Antonia mehr als jeden anderen Menschen. Inge wohnte ein ganzes Stück hinter der Endstation; nach und nach stiegen alle Leute aus, und schließlich waren wir ganz allein, als Antonia ihre Handtasche aufklappte und ein altes, abgewetztes Brillenetui herausholte. Sie sah mich bedeutungsvoll an, bevor sie es öffnete. Auf blauem Samt lag darin ein seltsames, weißes Plastikhäutchen. Sie holte es heraus und ließ es zwischen Daumen- und Zeigefinger hin- und herbaumeln. Ich wußte sofort, was das war, obwohl ich nie zuvor eins gesehen hatte.

[12] »Wo hast du das her?« flüsterte ich, obwohl uns keiner hören konnte. »Gefunden«, flüsterte sie zurück. Wo gefunden? wollte ich sie fragen, aber dann bekam ich Angst, daß sie vielleicht viel mehr darüber wußte als ich, und daß sie mir dadurch so sehr überlegen wäre, daß unsere Freundschaft daran zerbrechen könnte. Ich tippte es vorsichtig mit dem Finger an, es fühlte sich kalt und unangenehm an, und ich zuckte zurück, als hätte ich eine Schlange berührt.

»Es ist zum Angstkriegen«, sagte ich.

»Ja«, sagte Antonia ernst und packte es wieder in das Brillenetui. Wir schwiegen, bis wir bei Inge angekommen waren.

Acht Mädchen aus unserer Klasse standen in rotes Licht getaucht im Partykeller von Inges Eltern herum, die extra ins Kino gegangen waren, damit wir allein sein konnten. Wir setzten uns auf die Sofas und warteten auf irgend etwas, von dem keiner wußte, was es denn sein sollte. Wir tauschten Klatsch aus, redeten über die Hausaufgaben, die Lehrer. Dazu tranken wir Limonade und aßen Krapfen, bis uns schlecht war, und hörten Musik. Es war langweilig und gemütlich.

Eine Flasche Eierlikör und eine Flasche Kräuterschnaps machten die Runde. Davon wurde uns noch schlechter, und unser Lachen wurde lauter. Wir fingen an zu tanzen. Erst schnell, bis wir aus der Puste waren, dann legte Inge langsame Platten auf. Etwas unentschlossen standen wir herum, dann suchte sich jeder einen Partner, und wir tanzten Blues. Ich tanzte mit Antonia. Sie stieß mir ihren [13] großen Busen vor die Brust, so daß ich kaum meine Arme um ihren Hals legen konnte. Ich stellte mir vor, ich tanzte mit dem »blauen Mantel«. Das war der einzige Name, den ich für ihn hatte. Keiner kannte ihn, keiner wußte, wie er hieß. Er kam jeden Morgen auf meinem Schulweg auf einem Mofa an mir vorbei. Ich nannte ihn den »blauen Mantel«, weil er immer einen dunkelblauen alten Armeemantel mit Schulterstücken trug. Einmal hatte er vor mir angehalten, um mich über den Zebrastreifen zu lassen, und ich hatte sein Gesicht gesehen. Seitdem versuchte ich jeden Morgen, ihn so abzupassen, daß er wieder vor mir bremsen mußte, um mich über die Straße gehen zu lassen, aber es war mir bisher nie wieder gelungen. Entweder war ich zu früh am Zebrastreifen oder zu spät. Ich sah ihn immer vorbeifahren, ohne daß er mich auch nur im geringsten bemerkte, und mein Herz tobte in meiner Brust. Ich hatte Antonia von ihm erzählt, ich erzählte ihr ja immer alles, und sie begrüßte mich jeden Tag mit der Frage: »He, Fanny, was macht der ›blaue Mantel‹?« Ich behauptete, er habe mich schon angelächelt, drehe im Fahren den Kopf nach mir, manchmal winke er mir zu.

Jeden Abend, nach meinem Gebet um einen Busen stellte ich mir vor, wie er mich von der Schule abholen und ich auf sein Mofa steigen würde. Ich sah uns beide von hinten, wie wir zusammen davonfuhren, und das letzte, was ich von uns erblickte, bevor wir um eine Ecke bogen und verschwanden, war, wie ich meine Arme um seinen Bauch schlang.

Ich drückte mich ein bißchen enger an Antonia, und sie [14] legte ihren Kopf auf meine Schulter. Sie dachte an ihren Trotzkisten, da hätte ich wetten können.

Wir tranken noch ein bißchen Eierlikör, und dann kam Inge die Kellertreppe hinunter, die Arme voller Unterwäsche. Rote und schwarze BHs, Korsagen, Strapse, Négligés, Spitzenjäckchen und jede Menge winziger Schlüpfer. Das hätte ich Inges Mutter, einer grauen und strengen Frau, niemals zugetraut. Ich wußte, was meine Mutter dazu sagen würde. Nuttig würde sie all das finden, so wie Hosen mit Stöckelschuhen, grellroten Lippenstift, die Farben Lila, Rosa und Hellgrün. Aufgeregt befühlten wir die Wäsche und hielten sie uns kichernd vor. Ich glaube, es war Antonia, die die Idee hatte, daß Biggi, Gabriele, Anita und ich die Männer spielen und sie selbst, Inge, Claudia und Trixie die Unterwäsche anziehen sollten. Das ergab Sinn: die vier, die sie anziehen durften, hatten alle einen Busen, die anderen hatten keinen. Neidisch hockten wir Busenlosen auf der Couch und warteten, während die anderen sich im Badezimmer umzogen. Wir sprachen kein einziges Wort miteinander. Ich fragte mich, ob sie auch jeden Abend beteten.

Als die anderen in der Unterwäsche wiederkamen, waren sie völlig verwandelt. Sie sahen plötzlich sehr erwachsen aus in den schwarzen Büstenhaltern und roten Strapsen, in den engen Korsagen und durchbrochenen Bodystockings, sie bewegten sich anders, sie lächelten wissend, und sie taten so, als kennten sie uns nicht mehr. In dem roten Licht schimmerte ihre Haut geheimnisvoll, wir alle hielten den Atem an. Schüchtern standen wir, die wir [15] die Männer spielten sollten, herum, bis Antonia in Straps und Spitzenbüstenhalter sich Biggi griff und sich an sie schmiegte, als seien sie ein Paar. Sie lachte uns aufmunternd zu. Zögernd machten wir es ihr nach. Die dicke Inge kam in roter Spitzenunterwäsche auf mich zu und warf sich an mich. Ich erschrak vor ihrem weichen Fleisch.

»Na, du Süßer«, sagte sie zu mir und kicherte. Sie wedelte mit ihrem Cape aus roter Spitze und entblößte ihren Busen, der in einem seltsamen BH, vorne offen, lag. Ich hatte keine Ahnung, wozu das gut sein sollte.

»Wie findest du das?« fragte mich Inge mit rauchiger Stimme.

»Was soll das sein?« fragte ich zurück.

»Mensch, Fanny«, sagte Inge ungeduldig, »du bist jetzt ein Mann und findest das toll, kapiert?« Sie nahm meine Hand und legte sie sich auf den Busen. Ich war erstaunt, wie weich und wabbelig er war. Ich hatte ihn mir viel härter vorgestellt, so wie eine Melone, oder einen Ball. Zögernd tastete ich auf ihm herum und kam mir ein bißchen albern vor. Ich beobachtete, wie es die anderen machten, ich sah, wie Gabriele mit Trixie, die eine schwarze Lacklederkorsage trug, wild knutschte, Anita Claudia im hautengen Bodystocking mitten auf den Mund küßte und Biggi und Antonia aneinanderklebten wie zwei Briefmarken. Dazu lief der Song »Je t’aime, moi non plus«, der im Radio verboten war. Jane Birkin und Serge Gainsbourg stöhnten, daß es einem ganz komisch den Rücken runterlief, und irgendwann begriff auch ich, daß man anscheinend man selbst und gleichzeitig jemand anders sein konnte. Man brauchte nur die Augen zu schließen und auf [16] die Musik zu hören, und während ich Inges Busen knetete, wie sie mir befohlen hatte, träumte ich davon, selbst von dem »blauen Mantel« gestreichelt zu werden, es war mein Busen, den ich berührte, und nicht Inges. Er küßte mich und nicht ich Inge. Inge war nicht mehr Inge, sondern nur noch Haut und Busen und Fleisch. Mir wurde ganz warm und schwindlig. Ich vergaß alles um mich herum, selbst meinen Pickel, und ich sehnte mich ganz schrecklich nach etwas, wovon ich nicht wußte, was es genau war. Immer wieder spielten wie »Je t’aime, moi non plus«. »Entre mes reins«, hauchte Jane Birkin, »maintenant, viens.« »Les reins«, hatten wir alle im Wörterbuch nachgesehen, hieß »die Lenden«. Lenden, wie Lendensteak? Es ergab nicht viel Sinn. Wir wechselten die Partner, ich tanzte mit Antonia. Ihr Busen fühlte sich besser an als Inges, er war fester, nicht so wabbelig, aber trotzdem noch erstaunlich weich. So einen, genau so einen möchte ich auch, dachte ich. Wir küßten uns, richtige Zungenküsse probierten wir aneinander aus und wußten dabei, daß sie in Wirklichkeit dem Trotzkisten galten und dem »blauen Mantel«. Einmal machte ich probehalber beim Küssen die Augen auf, aber da wurde es mir gleich schrecklich peinlich. Ich konnte auch nicht in Worten an das denken, was ich tat, ohne rot zu werden: Fanny küßt Antonia und streichelt ihren Busen.

Aber wenn ich die Worte vergaß, mich auf die Musik und den »blauen Mantel« konzentrierte, war es das Schönste, was ich je erlebt hatte, und ich wünschte, es würde nie enden. Später, als wir alle erschöpft auf den Sofas lagen und wieder die wurden, die wir wirklich waren, war mir [17] plötzlich zum Heulen zumute. Ich fühlte den Pickel auf meiner Nase jucken. Wir tranken noch den Rest Eierlikör aus, dann schaltete Inge das weiße Deckenlicht ein. In dem hellen Licht sahen die Mädchen in der Unterwäsche plötzlich verkleidet und häßlich aus. Stumm standen wir herum und fühlten uns unwohl. Inge sammelte die Wäsche wieder ein und trug sie zurück ins Schlafzimmer ihrer Mutter. Wir gingen schweigend auseinander.

Claudia fuhr mit Antonia und mir in der Straßenbahn zurück. Wir sahen uns nicht an, und sie stieg an ihrer Station aus, ohne sich noch einmal nach uns umzudrehen. Ich sah durchs Fenster, wie sie im blauen Straßenlicht nach Hause lief, und ich konnte sie mir nicht mehr in schwarzer Unterwäsche vorstellen. Niemals. Antonia übernachtete bei mir, weil ihr Nachhauseweg durch die Parkanlagen nachts zu gefährlich war und ihre Eltern mit ihren zwei Autos sie niemals irgendwo abholten. Meine Mutter legte für Antonia eine Matratze neben mein Bett.

»War’s schön auf eurer Party?« fragte sie. Wir nickten nur stumm. Ich hatte Angst, sie könnte uns etwas anmerken. Am liebsten hätte ich mich in ihre Arme geworfen wie ein kleines Kind. Ich wollte wieder zuhause sein wie früher, allein mit meiner Mutter. Ich fürchtete mich plötzlich vor Antonia. Meine Mutter strich die Laken glatt und ging aus dem Zimmer, ohne mich in den Arm zu nehmen und zu küssen wie sonst, was ich eigentlich nicht besonders mochte, aber heute abend vermißte ich es. Sie wünschte uns eine gute Nacht und schloß die Tür.

[18] Antonia und ich standen steif im Zimmer herum, und ich spürte, wie die Luft zwischen uns vibrierte. Es war ein unangenehmes Gefühl, so ähnlich, wie wenn man versehentlich an einen elektrischen Weidezaun gerät. Ich löschte das Licht, und wir zogen uns im Dunkeln aus. Ich war verwirrt und hätte gern mit ihr über die Party geredet, aber ich wußte nicht, wie ich es anstellen sollte. Ich hörte sie atmen. Vielleicht schlief sie schon. Vielleicht lauschte sie aber auch auf meinen Atem wie ich auf den ihren.

»Daß Inges Mutter so was anzieht…« sagte sie plötzlich. Wir prusteten beide los, als hätten wir unter Wasser zu lange die Luft angehalten und würden jetzt erst wieder an die Oberfläche tauchen. Wir kreischten vor Lachen. Später holte ich eine Kerze aus dem Schrank und zündete sie an. Wir krochen zusammen unter eine Decke, und alles war wieder friedlich und gemütlich wie früher. Nie mehr wollte ich an die Party denken, nie mehr.

»Willst du es noch mal sehen?« fragte Antonia plötzlich. Nein, ich wollte es nie, nie wieder sehen. Ich wollte auch nie wieder darüber reden, weil die Verwirrung, die all das in mir anrichtete, so unangenehm war wie ein Splitter in der Haut. Ich wollte, daß alles so blieb, wie es war. Aber Antonia holte, ohne meine Antwort abzuwarten, das Brillenetui aus ihrer Tasche, öffnete es und hielt mir das Plastikhäutchen im Kerzenschein unter die Nase. Dann ließ sie es über meinen Arm gleiten.

»Iiiiii!« schrie sie lachend und quiekte wie ein Ferkel, »stell dir mal vor, das fühlt sich dann so an, wenn man es macht!«

»Meinst du wirklich?« fragte ich.

[19] Sie zuckte die Achseln. »Ich fürchte mich ein bißchen davor, du nicht?« sagte sie leise. Sie wußte wohl doch nicht mehr darüber als ich. Mein Herz machte einen kleinen Freudensprung. Wir rutschten enger aneinander.

»Ich bin schrecklich unglücklich, daß ich so platt bin wie eine Flunder. Ich wünschte, ich hätte einen Busen wie du«, gestand ich ihr.

»Ach«, sagte sie, »so toll ist das auch nicht. Dauernd ist er einem im Weg. Und die Jungen glotzen mich immer so blöde an.« Meine beste Freundin, dachte ich, meine allerbeste Freundin, dachte ich glücklich.

»Zuhause nennen sie mich Tönnchen«, erzählte Antonia zögernd weiter, »du mußt schwören, daß du es keinem Menschen verrätst.« Ich nickte, aber so sehr ich mir auch auf die Lippen biß, ich konnte nicht verhindern, daß ich anfing zu grinsen. Sie nannten sie Tönnchen! In den Augen ihrer Familie war Antonia also nicht großbusig und sexy, sondern einfach nur eine dicke, fette Tonne! Durch meine flache Brust wehte plötzlich ein frischer Wind, und ich spürte, wie ich ganz tief durchatmete. Sie nennen sie Tönnchen! jubilierte ich stumm.

»Mein Vater kneift mich in die Rippen und sagt Toni, das Tönnchen zu mir«, erzählte Antonia mit zitternder Stimme, »mein Bruder singt es von morgens bis abends, Antonia, das Tönnchen, Antonia, das Tönnchen. Wenn meine Mutter es ihm verbietet, zeigt er auf jede Mülltonne, und dann weiß ich, jetzt denkt er es wieder: Tönnchen.« Ich konnte es nicht lassen.

»Tönnchen«, wiederholte ich und tat so, als sei ich empört. Sie heulte auf wie ein Hund, dem man auf die [20] Pfoten getreten hat. »Hör auf«, sagte sie, und es klang wirklich gequält. Es war ein wunderbares Gefühl, zu wissen, wie ich Antonia verletzen konnte. Es machte mich ganz leicht und fröhlich. Ich konnte nichts dafür, es rutschte mir einfach heraus.

»Tönnchen«, sagte ich leise.

»Fanny! Hör sofort auf!« sagte sie scharf und packte mich am Arm.

»Ja, ja, ich hab’s ja begriffen, ich soll nicht mehr Tönnchen zu dir sagen.«

»Das machst du jetzt mit Absicht«, sagte sie.

»Was?« fragte ich unschuldig.

»Daß du es einfach wiederholst.«

»Ich habe doch nur gesagt, daß ich begriffen habe, daß ich nicht mehr Tönnchen…«

»Hör sofort damit auf!« schrie sie. »Wenn du es noch ein einziges Mal sagst, stehe ich auf und gehe nach Hause.« Ich glaubte ihr kein Wort, aber ich war still. Sie blies die Kerze aus und drehte sich um.

»Gute Nacht«, sagte sie beleidigt.

»Gute Nacht«, sagte ich und formte tonlos das Wort »Tönnchen« mit den Lippen. Wieder und wieder. Und irgendwann kam es aus meinem Mund und segelte quer durch den Raum. Ich konnte wirklich nichts dafür, es hatte sich selbständig gemacht. Einige Sekunden lang geschah überhaupt nichts. Dann hörte ich, wie Antonia sich aufrichtete und die Bettdecke zurückschlug. Sie stand auf, stapfte zum Lichtschalter, und während ich noch die Hände vors Gesicht hielt, weil die Lampe mich blendete, zog sie sich bereits an. Ich kicherte fassungslos. »Hör auf [21] mit dem Quatsch!« sagte ich. Sie sah mich nicht an, sprach kein einziges Wort. Entschlossen zog sie sich ihren rosa Rippenpulli über, schlüpfte in ihren Minirock und ihre Pumps. Ich glaubte immer noch nicht daran. Sie griff nach ihrer Handtasche und stolzierte auf die Tür zu. Ich wühlte mich aus den Laken und versuchte sie festzuhalten, aber sie schüttelte mich ab und tastete sich den dunklen Flur entlang zur Treppe. Ich sah Licht unter der Schlafzimmertür meiner Eltern. Ich wünschte fast, meine Mutter möge herauskommen und uns eine Szene machen. Aber nichts geschah.

»Du kannst doch jetzt nicht durch den Park gehen!« flüsterte ich.

»Und wie ich das kann«, sagte sie.

»Ich entschuldige mich, okay?« Ich legte ihr meine Hand auf die Schulter. Sie sah mich zweifelnd an. Ihr rosa Pulli leuchtete im Dunkeln. Über dem Busen beulten sich die Strickrippen zu den Seiten hin aus. Sie sah nicht dick aus, aber so voluminös. Ich wußte, daß ich es wieder sagen würde. Es brannte mir auf der Zunge. »Tönnchen«, dachte ich.

»Ich entschuldige mich«, sagte ich. Sie schwieg.

»Ich entschuldige mich, daß ich zu dir Tönnchen gesagt habe«, sagte ich boshaft. Da machte sie die Haustür auf und lief durch den Garten zur Straße. Ich sah ihr durchs Küchenfenster noch lange nach. Immer, wenn sie unter einer Straßenlaterne hindurchging, leuchtete ihr Pullover rosa auf. Je weiter sie sich entfernte, um so mehr vermißte ich sie. Als ich schließlich den Flur entlang zurückging zu meinem Zimmer, hörte ich meine Eltern im Schlafzimmer [22] leise miteinander reden. Ich hätte so gern die Tür geöffnet und wie früher jammernd gesagt: »Ich kann nicht schlafen.« Mein Vater hätte mir ein Zuckerwasser gemacht und meine Mutter mich wieder zurück ins Bett gebracht und mir mit ihrer kühlen Hand über die Stirn gestrichen. Warum ging das alles jetzt nicht mehr? Ich war der einsamste Mensch auf der Welt. Ich bewunderte Antonia für ihren starken Willen, ihre so erwachsen wirkende Entschlossenheit. Niemals wäre ich wieder aufgestanden und nachts durch den Park nach Hause gegangen, das wußte ich. Dazu war ich zu faul und zu feige. Man konnte mich beleidigen, mich verletzen, mich dazu bringen, einen Jungen zu spielen und mit Mädchen zu knutschen, ich wehrte mich nicht. Plötzlich sah ich mich, wie ich wirklich war. Häßlich und dumm und bedeutungslos. Niemals würde ich einen Busen bekommen, niemals würden die Pickel auf meiner Nase verschwinden. Niemals würde der »blaue Mantel« mir zulächeln. Unglücklich wälzte ich mich im Bett hin und her und stieß dabei an etwas Hartes. Es war Antonias Brillenetui. Ich dachte an seinen Inhalt, und plötzlich mußte ich weinen. Niemals, so kam es mir vor, würde ich teilhaben können an der aufregenden, furchterregenden Welt der Männer und Frauen.

Ich behielt das Etui, und Antonia fragte nie mehr danach. Wir sprachen nach dieser Nacht kaum noch miteinander. Antonia verliebte sich in einen Anarchisten und trug von da an einen schwarzgefärbten Parka, unter dem ihr Busen fast völlig verschwand. Ich erfuhr nie, wie der »blaue Mantel« wirklich hieß. Als es Sommer wurde, legte er [23] seinen blauen Mantel ab, und was darunter zum Vorschein kam, fand ich nicht mehr attraktiv.

Vier Jahre später, an einem Sonntagnachmittag im Winter 1972, der besonders langweilig und völlig lautlos war, weil sich wegen des Sonntagfahrverbots infolge der Ölkrise kein einziges Auto auf der Straße befand, räumte ich mein Zimmer auf und fand das Brillenetui wieder. Als ich es öffnete, lag darin nur noch ein zusammengeschnurrter Plastikkrümel. Zu der Zeit hatte ich auch endlich einen Busen. Er war zwar nicht so groß wie Antonias, ich trug nur BH-Größe 75 B und nicht 80 C, aber er gefiel mir. Statt um einen Busen betete ich nun um einen Mann, einen richtigen Mann, um ihn damit zu erfreuen.

[24] Unglück will Gesellschaft

»Ja, die Kette mit den großen grünen und roten Steinen«, sagte das Mädchen leise und sah zu Boden.

Ich beneide sie um ihren Busen, dachte die Juwelierin, was für ein Busen! Die Juwelierin ging lautlos über den grünsamtenen Fußboden zur Schaufenstervitrine und nahm vorsichtig die Kette mit den großen Turmalinen heraus. Sie legte sie auf eine schwarze Unterlage. Die Turmaline glänzten wie frisch aufgeschnittene Wassermelonenstücke, von dunkelgrün über hellgrün an den Rändern, bis zu pink und karmesinrot in der Mitte.

»Turmaline in dieser Farbe sind äußerst selten«, sagte die Juwelierin und strich mit dem Zeigefinger über die Steine. Sie fühlten sich angenehm kühl und glatt an.

»Ich bewundere die Kette schon seit Wochen im Fenster«, sagte das Mädchen, streckte die Finger nach den Steinen aus und berührte sie vorsichtig.

Die Juwelierin verschränkte die Arme. Sie musterte das Mädchen von der Seite und addierte im Geist die Preise der Kleider, die es trug: Das klassische Yves-Saint-Laurent-Kostümchen in Dunkelblau für rund viertausend DM, die lila Wildlederschuhe für zwölfhundert – das wußte die Juwelierin genau, weil sie erst neulich genau diese Schuhe in einem Laden in der Hand gehabt und wegen des [25] wahnwitzigen Preises voller Bedauern ins Regal zurückgestellt hatte –, die alte Lederjacke, die das Mädchen über dem Arm trug, war wahrscheinlich auch nicht gerade billig gewesen, die Zeiten, wo man so ein Stück günstig auf dem Flohmarkt ergattern konnte, waren längst vorbei. So um die sechs-, siebentausend Mark hatte das junge Ding am Leib. Woher haben diese Kinder so viel Geld? dachte die Juwelierin erbost.

»Möchten Sie die Kette einmal umlegen?« fragte sie das Mädchen. Das Mädchen sah sie zweifelnd an.

»Ich weiß nicht«, sagte es, »wenn ich sie anprobiere, will ich sie vielleicht unbedingt haben.«

»Das kann passieren«, sagte die Juwelierin, hielt die Kette hoch, ließ sie leicht hin- und herschwingen und wartete ab. Sie schwiegen. Das Mädchen starrte die Kette an, die Juwelierin sah aus dem Fenster und beobachtete, wie der Buchhändler von gegenüber Kisten mit reduzierten Taschenbüchern auf die Straße vor sein Geschäft stellte. Er trug ein rotweiß kariertes Hemd und sehr enge, ausgewaschene Jeans. Er hat bestimmt einen hübschen Schwanz, dachte die Juwelierin und lächelte ein bißchen. Das Mädchen streichelte die Turmaline.

»Darf ich vielleicht doch mal…?« Die Juwelierin hob die schweren, dunklen Haare des Mädchens im Nacken an und legte ihm die Kette um. Das Mädchen roch nach Eau Sauvage. Die Erinnerung an dieses Parfüm und ihren Exmann Jochen traf die Juwelierin wie eine Bombe. Sie wich zurück und hätte fast die Glaskonsole umgerissen. Das Mädchen drehte sich neugierig zu ihr um. Die Turmaline ließen seine Augen leuchten.

[26] »Eau Sauvage, nicht?« sagte die Juwelierin.

»Nein«, sagte das Mädchen gleichgültig, »Halston.«

Blödsinn, natürlich ist es Eau Sauvage, dachte die Juwelierin, natürlich, du dumme Gans. Das Mädchen drehte sich vor dem Spiegel. Es hielt seine dichten, schwarzen Haare im Nacken zusammen, dann türmte es sie auf dem Kopf, ließ sie wieder fallen, schüttelte sie, strich sie sich aus dem Gesicht.

Sie kann sich nicht entscheiden, dachte die Juwelierin ungeduldig, sie weiß nicht, was sie will.

»Mein Freund möchte mir gern etwas schenken«, sagte das Mädchen zu seinem Spiegelbild.

Aha, dachte die Juwelierin, und du willst, daß er dir die Kette schenkt. Das Mädchen atmete tief ein. Sein Busen hob sich und die Kette zitterte.

Wie frage ich sie, dachte das Mädchen, wie soll ich sie bloß fragen? Sie sieht so streng und unnachgiebig aus.

Die Juwelierin sah wieder aus dem Fenster. Der Buchhändler rückte seine Kisten in eine Reihe, dann drehte er sich um sah vage in die Richtung des kleinen Juweliergeschäfts. Hat die kleine Goldschmiedin eigentlich einen Kerl? dachte er. Ganz frisch ist die ja auch nicht mehr.

Ich könnte ihn heute nachmittag auf ein Glas Wein herüberbitten, dachte die Juwelierin.

»Bringen Sie Ihren Freund doch einfach einmal mit«, sagte sie zu dem Mädchen. Das Mädchen wandte sich vom Spiegel ab und ging ein paar Schritte auf und ab. Sie kann sich gut bewegen, dachte die Juwelierin, sehr selbstbewußt. Woher nimmt sie das? Warum sind diese jungen Küken so verdammt selbstbewußt?

[27] Sie wischte ein paar Staubkörnchen von der Glasplatte der Vitrine. Ich lebe gern allein, dachte sie trotzig, ich lebe sehr gern allein.

Das Mädchen starrte auf den Sonnenstreifen auf dem grünen Teppichboden. Aus dem Augenwinkel heraus beobachtete sie die Juwelierin, die sich jetzt über die Glasplatte beugte, sie anhauchte und mit dem Zipfel ihres Ärmels die Fingerabdrücke des Mädchens wegputzte. Ich traue mich nicht, dachte das Mädchen. Sie sieht so verbittert und geschieden aus, sie sagt bestimmt nein. Warum fragt sie nicht endlich nach dem Preis, dachte die Juwelierin. Meine Lieblingskette. Eigentlich will ich sie gar nicht verkaufen. Sie ist in meiner glücklichsten Zeit mit Jochen entstanden. Ich werde einen viel zu hohen Preis nennen. Ich muß etwas verkaufen. Den ganzen Monat habe ich erst 5000 DM Umsatz gemacht. Jochen würde vor Schadenfreude platzen, wenn ich den Laden wieder aufgeben müßte. Sein Laden, mein Laden. Jetzt ist es mein Laden. Mein, mein, mein. Alles meins. Ich könnte ein bißchen Salbei verbrennen und den Laden von Jochens Verwünschungen reinigen. Schade, daß ich an so etwas nicht glaube. Kein Mann wird sich trauen, mir Schmuck zu schenken. Bekommen Blumenhändlerinnen von ihren Verehrern auch nie Blumen?

»Die Kette steht Ihnen besonders gut«, sagte sie zu dem Mädchen. Es reagierte kaum. Sie ist Komplimente gehöhnt, dachte die Juwelierin. Ich werde ihr die verdammte Kette verkaufen.

»Schmuck sucht seinen Besitzer«, sagte sie lächelnd, »nicht andersherum. Diese Kette hat auf Sie gewartet. [28] Viele Kundinnen wollten sie schon haben, weil die Steine wirklich außergewöhnlich schön sind, aber für die einen war die Kette zu schwer, man muß groß sein, um sie tragen zu können, für die anderen zu teuer.«

»Glauben Sie wirklich?« Das Mädchen sah sie ernst an.

»Was?«

»Daß Schmuck seinen Besitzer sucht.«

»Ja, ganz bestimmt«, sagte die Juwelierin und blickte an dem Mädchen vorbei. Der Buchhändler stand vor seiner Markise und studierte den aufreißenden Himmel. Wenn sie die Kette kauft, lade ich ihn heute nachmittag ein. dachte die Juwelierin.

»Wieviel soll sie denn kosten?« fragte das Mädchen.

»Fünftausend«, sagte die Juwelierin leichthin. Ein Schatten flog über das Gesicht des Mädchens. Wie sagt sie’s ihrem Freund? dachte die Juwelierin schadenfroh. Soviel wird er für die kleine Gans nicht ausgeben wollen. Außer er steht sehr tief in ihrer Schuld. Vielleicht verspricht er ihr seit Jahren, sich scheiden zu lassen. Das Übliche. Ich versorge die Lügner und Ehebrecher mit Trostpreisen für ihre Geliebten und Ehefrauen. Ausgerechnet ich.

»Mein Freund…« sagte das Mädchen, verstummte dann und räusperte sich. Die Juwelierin half ihr nicht weiter, sah sie nur unbewegt an. Die ist stur wie ein Bock, dachte das Mädchen wütend.

»Mein Freund«, fing das Mädchen wieder an, »verdient nicht besonders viel Geld.« Es machte eine Pause. »Zur Zeit«, fügte es dann hinzu und sah die Juwelierin [29] konzentriert an. Dann nimm die Kette ab, Mädchen, dachte die Juwelierin, und geh mit ihm zu Karstadt in die Schmuckabteilung.

»Ich würde die Kette selbst bezahlen«, fuhr das Mädchen fort, »jetzt gleich. Aber ich würde sie nicht mitnehmen. Wenn Sie die Kette dann vielleicht wieder ins Fenster legen würden… so als wäre sie unverkauft…«

»Ich verstehe nicht«, sagte die Juwelierin kühl. Das Mädchen sprach jetzt schneller, ein rosa Schimmer überzog seinen Hals.

»Vielleicht könnten Sie ein Preisschild an die Kette machen und so etwa achthundert Mark draufschreiben, oder achthundertfünfzig, das klingt besser.«

»Achthundert Mark für diese Kette?« Das Mädchen trat unruhig von einem Fuß auf den andern.

»Mein Freund versteht nichts von Schmuck. Gar nichts. Er würde den Preis glauben. Und achthundertfünfzig findet er wahrscheinlich auch noch viel zuviel.«

»Ach ja?« Die Juwelierin lachte. Es sollte belustigt klingen, entrutschte ihr aber und klang gehässig.

»Er ist sehr stark gegen den Materialismus eingestellt«, sagte das Mädchen entschuldigend. Weil er kein Geld hat, dachte die Juwelierin.

»Wissen Sie, er verachtet Geld«, redete das Mädchen weiter, »aber er leidet sehr darunter, daß ich mehr verdiene als er.«

»Und jetzt will er Ihnen etwas schenken, und ich soll die Kette billiger machen, damit er glaubt, er kann sie sich leisten«, sagte die Juwelierin.

»Ja«, sagte das Mädchen und sah unglücklich aus.

[30] »Und was sage ich all den anderen Kunden, die die Kette dann auch für achthundert kaufen wollen?« Das Mädchen seufzte. Beide schwiegen. Es war ganz still im Laden. Die Juwelierin verlagerte ihr Gewicht von einem Bein aufs andere, ihr Knie knackte laut. Drüben ging der Buchhändler zurück in seinen Laden. Ich werde ihn doch nicht einladen, dachte die Juwelierin, ich habe keine Lust auf die ganzen Höflichkeiten und Peinlichkeiten für das bißchen banalen Sex.

»Das habe ich nicht bedacht«, sagte das Mädchen.

»Was?« fragte die Juwelierin.

»Daß dann natürlich jeder denken wird, die Kette kostet wirklich achthundert.« Das Mädchen sah jetzt aus wie ein Schulmädchen, das gerügt wird, weil es abgeschrieben hat.

»Kommen Sie doch einfach mit ihm zusammen her, dann wird sich schon irgendwas machen lassen«, sagte die Juwelierin auf einmal gnädig gestimmt.

»Nein«, sagte das Mädchen entschieden, »er muß allein kommen. Ich will, daß er das Gefühl hat, mich zu überraschen.« Du armes Huhn, dachte die Juwelierin, du glaubst noch, man könne die Liebe mit Tricks am Leben erhalten.

»Ich werde heute abend mit ihm zufällig an Ihrem Geschäft Vorbeigehen und ganz zufällig die Kette im Schaufenster entdecken. Wenn jetzt das Preisschild über achthundert oder achthundertfünfzig Mark an der Kette wäre, könnte er sehen, daß die Kette zwar teuer ist, aber daß er sie sich leisten könnte. Und dann würde er vielleicht morgen wiederkommen, um sie zu kaufen. Wenn er nicht kommt, können Sie das Schild gleich wieder wegnehmen.« Die Juwelierin wünschte plötzlich, das Mädchen möge [31] verschwinden. Sie wollte nicht in seine Spiele verwickelt werden, sie sehnte sich nach ihrer Werkbank, der Stille, dem Sonnenstreifen auf dem Teppich. Laßt mich doch alle in Ruhe, dachte sie.

»Bitte«, sagte das Mädchen und legte den Kopf schief.

»Bitte«, wiederholte es und wackelte dazu komisch mit den Beinen. Als die Juwelierin nichts sagte, nahm es die Kette ab und legte sie vorsichtig auf den Glastisch. Es strich mit dem Finger über jeden Turmalin einzeln, dann richtete es sich plötzlich auf und wandte sich zum Gehen.

»Man muß den Männern auch noch dabei helfen, daß sie sich wie richtige Männer fühlen, was?« sagte die Juwelierin. Das Mädchen drehte sich mit einem Ruck um und strahlte sie an. Nachdem es einen Scheck über viertausendzweihundert Mark ausgefüllt hatte, zog das Mädchen eine Postkarte aus seiner Handtasche und legte sie auf den Glastisch neben die Kette.

»Damit Sie ihn erkennen, wenn er nach der Kette fragt: so sieht mein Freund aus«, sagte es stolz. Die Juwelierin hatte das Bild auf der Postkarte schon irgendwo einmal gesehen, ein junger Mann mit einer roten Kappe auf den langen, dunklen Haaren hielt eine große, goldene Münze in der Hand. Sie drehte die Postkarte um. Bildnis eines Unbekannten mit Medaille…, las sie, Botticelli, 1474?

»Hat Ihr Freund auch ständig eine Münze in der Hand?« fragte sie. »Bei seiner Einstellung gegen den Materialismus…« Das Mädchen reagierte nicht im mindesten beleidigt. Es grinste vergnügt. »Auf keinem Foto sieht er Wirklich so aus, wie ich ihn kenne. Nur auf diesem Bild von Botticelli. Seltsam, nicht?« Das Mädchen küßte die [32] Postkarte und steckte sie wieder ein. Es streckte der Juwelierin die Hand entgegen.

»Drücken Sie mir die Daumen, daß er anbeißt«, sagte das Mädchen. Die Juwelierin nickte schwach. Das balinesische Tempelglöckchen an der Tür klingelte. Das Mädchen war verschwunden.

Die Juwelierin nahm die Kette vom Tisch und stand unschlüssig eine Weile da, dann legte sie sich den Schmuck um und betrachtete sich im Spiegel. Mir steht sie nicht so gut wie ihr, dachte sie. Aber die kriegt auch noch ihr Fett ab. Noch ein paar Jahre, drei, vier, vielleicht fünf, da hilft ihr auch ihr hübsches Gesicht nichts und ihre großen Titten. Sie strich ihren Rock glatt und steckte die Bluse im Rücken in den Bund. Sie richtete sich auf, so daß die Bluse sich über ihren Brüsten spannte und die Kette sich bewegte. Sie ist so gut wie verkauft, dachte sie, ich sollte mir was gönnen. Sie schaltete die Alarmanlage ein, schloß ihr Geschäft ab und ging über die Straße.

Eine Kuhglocke schepperte, als sie den Buchladen betrat. Der Buchhändler saß hinter einem Schreibtisch voller Müll und blätterte in Katalogen. Er sah auf und lächelte. Sie nickte ihm zu und befühlte gleichzeitig nervös die Turmaline um ihren Hals.

»Na«, sagte er und stand auf, »wie geht das Geschäft?« Er kam auf sie zu. Sie zuckte lächelnd die Achseln. Sie standen voreinander und sahen sich an. Sie senkte den Blick.

»Jetzt ist doch noch die Sonne rausgekommen«, sagte er.

[33] »Ja«, sagte sie und sah auf seine Hose. Er könnte etwas über die Kette sagen, dachte sie. Warum bemerkt er die Kette nicht?

»Am liebsten würde ich schließen und den Nachmittag blau machen«, sagte er. Vielleicht brauche ich nur ein bißchen Sex, dachte sie. Wenn ich jetzt den richtigen Satz sage, rollt er sofort seine Markise ein und geht mit mir etwas trinken. Und dann reden wir und reden, bis wir endlich betrunken genug sind, um uns anzufassen.

»Ob die Biergärten schon offen sind?« sagte er. Na also, dachte sie. Aber ich möchte vorher duschen, ich schäme mich sonst.

»Man sollte sich öfter dazu durchringen, spontan zu sein«, sagte er und lachte ein bißchen.

»Ja«, sagte sie. Sie sahen sich an, und dann drehten sie beide die Köpfe und starrten sehnsüchtig aus dem Fenster in einen blauen Himmel. Staubkörnchen flirrten in der Sonne. Sie merkten, wie die Zeit verging, aber keiner sagte ein Wort, und plötzlich war ihre Chance vertan, sie spürten es beide. »Womit kann ich dienen?« fragte er ironisch, und sein Rückzug war besiegelt. Warum habe ich nichts gesagt, warum habe ich mein Maul nicht aufgekriegt, dachte die Juwelierin und wandte sich enttäuscht von ihm ab.

»Ein Geburtstagsgeschenk für meine Nichte«, sagte sie, »sie interessiert sich für Afrika.« Er zeigte ihr zuerst die Bücher von Tania Blixen, und dann ein bebildertes Buch ihres Hausangestellten Kamante über seine Zeit mit der Schriftstellerin auf ihrer Farm am Mount Kenia.

Ganz dicht stand der Buchhändler neben der Juwelierin [34] und hielt das geöffnete Buch. Er roch nach Kaffee und Zigaretten, nach Staub und After Shave. Die Juwelierin mochte seinen Geruch. Er blätterte die Seiten um, ein Foto zeigte fünf Afrikanerinnen, von oben bis unten behängt mit Ketten. Sie trugen sonst nichts, nur lange, lange Perlenschnüre, die um ihre Körper gewickelt waren.

»Diese Damen wären doch die richtigen Kundinnen für Sie, was?« sagte der Buchhändler lächelnd zu der Juwelierin.

»Für mich schon«, sagte sie, »aber ich glaube, die lesen nur selten ein gutes Buch.«

»Das unterscheidet sie allerdings kaum von unseren Mitbürgern«, seufzte er und blätterte langsam weiter. Unter der farbigen Zeichnung eines Leoparden stand in krakeligen Buchstaben: »Unglück will Gesellschaft.«

Es schien der Juwelierin, als rücke der Buchhändler ein wenig näher an sie heran. Beide hielten den Atem an.

»Was soll das heißen – Unglück will Gesellschaft?« fragte sie leise. Er zuckte die Schultern. Sie sahen in das Buch. Warum redet sie nicht weiter, dachte der Buchhändler. Warum tut er nichts, dachte die Juwelierin.

Der Buchhändler klappte das Buch zu. Die Juwelierin kaufte es. Er gab ihr das Wechselgeld heraus und berührte dabei leicht ihre Hand. Sie zog sie schnell zurück und ging zur Tür. Er überholte sie und hielt ihr die Tür auf.

»Das ist eine wunderschöne Kette«, sagte er, »ein Werk von Ihnen?« Sie nickte.

»Die dürfen Sie niemals verkaufen«, sagte er, »die paßt zu Ihnen wie Ihre Augen.«

[35] Abends schrieb die Juwelierin auf ein kleines Preisschild die Zahl 800 und befestigte es an der Kette. Sie legte die Kette vorsichtig ins Fenster, so daß das Preisschild zu lesen war, dann schaltete sie die Spots ein und richtete einen direkt auf die Kette. Die Turmaline leuchteten auf wie kleine bunte Glühbirnen. Sie versteckte sich hinter dem Vorhang zu ihrer kleinen Teeküche, bis der Buchhändler sein Geschäft abgeschlossen hatte und gegangen war. Sie freute sich auf ihre kleine Wohnung, auf ihre Katze Minka und das butterzarte Kalbsschnitzel, das sie im Kühlschrank hatte.