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Graf de Villiers de l'Isle Adam

Grausame Geschichten

Deutsch von Maria Ewers

Das Recht der Vergangenheit.

Es war am 21. Januar 1871, als Paris, bedrängt von dem ungewöhnlich strengen Winter, entkräftet durch den Hunger und ermattet durch die blinden, stets zurückgeschlagenen Ausfälle und den ewigen Anblick der schier uneinnehmbaren Stellungen, von denen aus der Feind ungestraft seine Bomben warf, endlich mit fieberzitternder, blutender Hand die weiße Flagge hißte, die den Kanonendonner sofort verstummen machte. Von einem Hügel aus beobachtete der Kanzler der deutschen Verbündeten die Hauptstadt. Als er plötzlich durch den eiskalten Nebel und den Rauch die Fahne bemerkte, stieß er rauh den Feldstecher ineinander, wandte sich zu dem Großherzog von Mecklenburg-Schwerin, der neben ihm stand, und sagte:

» Das Tier ist tot

Der Gesandte der Regierung der nationalen Verteidigung, Jules Favre, war durch die deutschen Vorposten gekommen. Von einer militärischen Eskorte geleitet, überall mit lärmendem Zuruf empfangen, war er durch die Linien bis zum Hauptquartier der deutschen Armee gelangt. Man erinnerte sich wohl noch jener Zusammenkunft im Schloß von Ferrières in dem von Schutt und Trümmern erfüllten Saale, wo er früher schon eine erste Annäherung versucht hatte.

Heute trafen sich die Bevollmächtigten der beiden feindlichen Nationen in einem düstern Königssaale, in dem trotz des brennenden Feuers eine eisige Kälte herrschte.

Favre saß nachdenklich vor dem Tische und ertappte sich während der Unterredung dabei, daß er schweigend den Grafen von Bismarck-Schönhausen beobachtete, der hoch aufgerichtet vor ihm stand.

Die kolossale Gestalt des Paladins des Deutschen Reiches, der Generalsuniform trug, warf ihren Schatten auf den Fußboden des zerstörten Saales. Die Spitze seines stählernen, von dem weißen Roßhaarschweif umwallten Helmes funkelte im Lichte des Kaminfeuers. An der Rechten trug er den schweren Siegelring mit dem 700 Jahre alten Wappen der Stiftsamtmänner des Bistums Halberstadt, die später zu Baronen ernannt wurden, das Treff-Kleeblatt der Bistum-Mark mit der alten Devise: » In trinitate robur«.

Sein Militärmantel war über einen Stuhl geworfen, und der Widerschein seines weinroten Aufschlages ließ den alten Schmiß auf seiner Wange blutrot erglühen. Er trug lange Stahlsporen mit feingeputzten Kettchen, gegen die ab und zu sein langer Schleppsäbel mit leise klirrendem Klang anstieß.

Hoch auf richtete er sein stolzes Bulldoggenhaupt, der Wächterhund des deutschen Hauses, dessen Schlüssel ›Straßburg‹ er soeben zurückgefordert hatte. Die ganze Persönlichkeit dieses eiskalten Mannes schien eine Verkörperung seines Wahlspruches: »Niemals genug!« zu sein.

Die Faust auf den Tisch gestützt, sah er, ohne auf den Gesandten vor sich zu achten, durch den bleifarbenen Nebel in die Weite hinaus, als wolle er dort seinen eisernen, mächtigen Willen die Flügel ausbreiten sehen, so wie der schwarze Adler seines Banners das tat.

Er hatte gesprochen. Und durch seine Rede klang es von Übergabe der Armee und der Festungen, von ungeheuren Kriegsentschädigungen, von der Abtretung zweier Provinzen – – –

Und im Namen der Menschlichkeit hatte dann der republikanische Minister Appell an die Großmut des Siegers erhoben, dieses Siegers, der nur zu wohl sich erinnerte, wie Ludwig XIV. den Rhein überschritt und auf deutschem Boden von Sieg zu Sieg eilte – wie Napoleon Preußen beinahe von der europäischen Karte gestrichen hatte; dieses Siegers, der an Lützen und Hanau, an das ausgeplünderte Berlin und an Jena dachte.

Fernes Grollen der Artillerie, dem Echo des Donners vergleichbar, übertönte die Stimme des Parlamentärs, dem es plötzlich jäh ins Gedächtnis kam, daß heute ja der Jahrestag des Morgens sei, an dem der König von Frankreich vom Schafott herab an die Großmut seines Volkes appellierte, bis Trommelwirbel das Geräusch seiner Stimme übertönte. Unwillkürlich zitterte Favre über dieses seltsame Zusammentreffen, an das bisher sicher niemand gedacht hatte.

Die Geschichte aber sollte den 21. Januar 1871 als denjenigen Tag bezeichnen, an dem Frankreich kapitulierte und seinen Degen senkte.

Und als ob das Schicksal noch einmal in grausamer Ironie die Zahl des Tages, an dem der Königsmord sich vollzogen, wiederholen wollte, erhielt der französische Gesandte auf seine Frage, wieviel Tage Waffenstillstand bewilligt würden, die feste Antwort des Reichskanzlers:

»Einundzwanzig, nicht einen mehr.«

Der Vertreter Frankreichs mit dem Arbeiternamen, dessen Herz von heißer Liebe für sein Vaterland erfüllt war, und der mit eingefallenen Wangen und ernstem Antlitz im Namen des Volkes das Wort führte, senkte zitternd das Haupt. Zwei Tränen – so rein wie die, welche ein Kind beim Anblick seiner sterbenden Mutter vergießen würde, drängten sich aus seinen Augen und rollten langsam bis zu den Winkeln seines fest zusammengepreßten Mundes. Denn wenn es etwas gibt, was das Herz auch des skeptischsten Franzosen erbeben macht, so ist es, wenn der Stolz des Fremden sein Vaterland verletzt.


Der Abend brach an, die ersten Sterne funkelten.

Nachdem die Herren einen eiskalten Gruß mit einander gewechselt, blieb der Vertreter Frankreichs allein in dem denkwürdigen Saale zurück. Er versank in tiefes Grübeln. Und da geschah es, daß eine Erinnerung in ihm erwachte, die ihm das zufällige Übereinstimmen der Daten, das er schon vorher bemerkt hatte, ganz außerordentlich erscheinen ließ.


Es war die Erinnerung an eine seltsame Geschichte, an eine Art moderner Legende, die durch verschiedene Zeugen und Umstände glaubwürdig gemacht wurde, und in die er selbst auf eine ganz merkwürdige Art hineingezogen worden war.

An irgend einem Tage des Jahres 1833 war ein Unglücklicher, unbekannten Ursprungs, den man aus einer kleinen Stadt der Provinz Sachsen ausgewiesen hatte, nach Paris gekommen. Er konnte sich nur ganz mangelhaft in der französischen Sprache ausdrücken; abgemagert, verfallen, ohne Obdach und ohne Geldmittel, hatte er den Mut, zu erklären, er sei der Sohn des Mannes, dessen königliches Haupt am 21. Januar 1793 auf der Place de la Concorde unter dem Beile des französischen Volkes fiel.

Er sagte, daß man die Leiche irgend eines Unbekannten untergeschoben und für die des Thronfolgers ausgegeben habe, daß aber, dank der treuen Ergebenheit zweier Edlen, der Dauphin von Frankreich tatsächlich aus den Mauern des ›Temple‹ gerettet worden, und daß er selbst dieser königliche Flüchtling sei. Nach tausend widrigen Zufällen, nach Krankheit und tiefstem Elend sei er nun endlich zurückgekehrt, um seine Identität zu beweisen. Dieser Mann, der in › seiner‹ Hauptstadt nichts fand als ein elendes Lager – aus Mitleid, den man nicht als einen Wahnsinnigen, sondern als Lügner und Betrüger betrachtete, beanspruchte als rechtmäßiger Erbe die Krone von Frankreich! Niedergebeugt, weil die öffentliche Meinung ihn fast allgemein verurteilte, weil er nirgends angehört, überall zurückgestoßen wurde, verließ dieser Mann im Jahre 1845 Frankreich, um traurig und einsam in Delft in Holland zu sterben.

Wer das Trauerspiel des Lebens dieses Unglücklichen kannte, dem war es, als sei er einer jener Ausgestoßenen, denen das Schicksal zugerufen: »Ich will dein Antlitz mit meinen ehernen Fausten zerschlagen, so daß deine eigne Mutter dich nicht wieder erkennen soll.«

Das Merkwürdigste an der ganzen Geschichte aber war die Tatsache, daß die Regierung der Niederlande mit der ausdrücklichen Zustimmung König Wilhelm II. plötzlich diesen rätselhaften Fremden mit königlichen Ehren bestatten ließ und offiziell die Erlaubnis gab, daß man folgende Inschrift auf sein Grab setzte:

»Hier ruht Karl Ludwig von Bourbon, Herzog der Normandie, Sohn des Königs Ludwig XVI. und der Marie Antoinette von Oesterreich, König von Frankreich, der XVII. seines Namens.«

Was hatte das zu bedeuten? Dieses Begräbnis, das die ganze Welt und die Geschichte der Lüge zieh, vollzog sich in aller Stille in Holland wie ein düsterer Traum, den man am besten vergißt.

Diese unerwünschte Parteinahme des Auslandes konnte nur das berechtigte Mißtrauen noch verstärken; man fluchte über diese unerhörte Anklage.

Wie sich die Angelegenheit nun immer verhalten mochte: der geheimnisvolle, verbannte und kummerbeladene Mann hatte eines Tages den damals schon sehr berühmten Advokaten, der heute Friedensvermittler des besiegten Frankreichs war, besucht. Der rätselhafte Prätendent hatte den Rat des republikanischen Redners in Anspruch genommen und ihm die Vertretung seiner Sache übergeben. Und wie durch ein Wunder war die anfängliche Gleichgültigkeit, ja die fast feindselige Stimmung des künftigen Volkstribunen bei der Durchsicht der ihm vorgelegten Dokumente und Papiere gewichen und hatte einem tiefen Interesse Platz gemacht. Erschüttert, tief ergriffen und – ob mit Recht oder Unrecht, was tut's? – vollständig von dem Rechtsansprüche seines Klienten überzeugt, hatte Jules Favre die Sache desselben vertreten; er hat sie 30 Jahre lang geführt und mit ganzer Energie und vollster Überzeugung dafür gekämpft. Und von Jahr zu Jahr waren seine Beziehungen zu dem Geächteten inniger geworden, so daß, als eines Tages der Verteidiger seinen seltsamen Klienten in England besuchte, dieser, der sein nahes Ende wohl ahnte, ihm als Zeichen seiner Freundschaft und Dankbarkeit einen alten, mit Lilien geschmückten Ring schenkte, über dessen Ursprung er nichts weiteres sagte.

Es war ein goldener Siegelring. Auf einem großen Opale, der einen rubinartigen Glanz hatte, war ursprünglich das Wappen der Bourbonen, drei goldene Lilien auf azurblauem Felde, eingraviert.

Damit aber der Republikaner ohne Skrupel dies Pfand der Freundschaft tragen könne, hatte der Geber so viel wie möglich das königliche Wappen verwischen lassen. Das Bild der Bellona, die den Bögen spannt, verdeckte die ursprüngliche Gravierung.

Wie nun die Biographen berichten, hatte dieser nebelhafte Kronprätendent von Zeit zu Zeit Visionen, ja, er glaubte göttliche Eingebungen zu empfangen. Ganz besonders aber soll er mit einem ungewöhnlichen Ahnungsvermögen für kommende Dinge begabt gewesen sein.

Mit seltsamer Betonung und das Auge tief in das des Freundes versenkend, sprach er, als er an jenem Abende Abschied von ihm nahm, folgende merkwürdigen Worte:

»Herr Favre, Sie sehen auf diesem Opal die Bellona wie eine Statue auf einem Leichensteine. Sie erklärt – – – was sie verhüllt! Im Namen Ludwigs XVI. und eines ganzen Geschlechts von Königen, deren verzweifelte Erbschaft Sie verteidigt haben, tragen Sie diesen Ring! Mögen die beleidigten Manen meiner Vorfahren diesen Stein mit ihrem Geiste durchleuchten! Er soll Ihr Talisman sein und eines Tages in einer verhängnisvollen Stunde Zeugnis ablegen von ihrer unsichtbaren Gegenwart!«

Favre hat oft erklärt, daß er damals kaum Wert auf diese Worte gelegt, vielmehr geglaubt habe, der Prätendent habe sie in einer durch die lange, schwere Leidenszeit nur zu erklärlichen Aufregung gesprochen. Sie seien ihm damals ganz unverständlich gewesen. Er habe aber dem Wunsche gerne Folge geleistet und den Ring an den Ringfinger der rechten Hand gesteckt.

Von jenem Abende an hat Jules Favre den Ring Ludwigs XVII. getragen. Mit einer ihm selbst ganz rätselhaften Sorgfalt hat er stets darauf geachtet, daß er den Ring niemals verlor oder auch nur ablegte. Er erschien ihm fast wie eins jener eisernen Kettchen, welche die Ritter sich um den Arm schmieden ließen, um sie bis zum Tode zu tragen als ein Zeugnis des Schwures, mit dem sie sich der Verteidigung irgend einer Sache weihten.

Verfolgte die Vorsehung einen geheimnisvollen Zweck damit, daß sie ihm die seltsame Gewohnheit auferlegte, sich niemals von der geheimnisvollen königlichen Reliquie zu trennen?

Mußte gerade er, der erklärte Republikaner, dieses Zeichen an seiner Hand tragen, ohne zu wissen, wohin es ihn einmal führen sollte?

Er beunruhigte sich nicht darüber.

Aber wenn es einer versuchte, in seiner Gegenwart über den deutschen Namen seines toten Dauphins zu spotten, dann wurde er sehr nachdenklich! »Naundorf – Frohsdorf,« sprach er leise vor sich hin – –

Heute war dieser Bürgeradvokat der Repräsentant Frankreichs. Um das fertig zu bringen, hatte Deutschland mehr als hundertfünzigtausend Franzosen mit ihren Kanonen, Waffen und Fahnen, mit ihren Offizieren und Marschällen, mit dem Kaiser, ja mit der Hauptstadt selbst gefangen nehmen müssen! – Und das war kein Traum!

In diesem öden Saale nun, in dem Favre soeben die ersten Friedensbedingungen mit Bismarck durchberaten hatte, überfiel ihn die Erinnerung jener seltsamen Geschichte.

Tieftraurig saß er sinnend da, und ohne sich dessen bewußt zu sein, fiel plötzlich sein Blick auf den Ring an seinem Finger. Da schien der durchsichtige Opal auf einmal von einem hellen Lichte durchleuchtet zu sein, und ganz deutlich sah er unter dem Bilde der rächenden Bellona die drei Lilien des bourbonischen Wappens, die Jahrhunderte lang auf dem Schild des heiligen Ludwig gestrahlt hatten.


Acht Tage später, nachdem die Friedensbedingungen von seinen Ministerkollegen angenommen waren, begab sich Jules Favre mit allen Vollmachten ausgerüstet nach Versailles, um endgültig den Waffenstillstand zu unterzeichnen, der die Übergabe der Stadt zur Folge hatte.

Die Beratung war beendet. Herr von Bismarck und Herr Jules Favre hatten den Vertrag nochmals durchgelesen und fügten zum Schluß noch den Artikel 15 hinzu, dessen Wortlaut folgender ist:

»Artikel 15. Zur Beglaubigung dieses haben die Unterzeichneten ihre Namensunterschrift hierunter gesetzt und mit ihrem Siegel die vorliegenden Verträge besiegelt.

Geschehen zu Versailles, 28. Januar 1871.

Gezeichnet: Jules Favre. Bismarck.«

Nachdem Herr von Bismarck sein Staatssiegel aufgedrückt, bat er Jules Favre um dieselbe Formalität, um den Vertrag rechtsgültig zu machen, der jetzt in Berlin im Kaiserlichen Archiv liegt.

Herr Jules Favre erklärte, daß er über all den Sorgen des Tages vergessen habe, das Petschaft der Französischen Republik mitzubringen, er wolle es sofort aus Paris holen lassen.

»Das würde eine ganz unnütze Verzögerung verursachen,« meinte Bismarck, »Ihr Siegelring wird uns vollständig genügen.«

Und als ob er gewußt hätte, was er damit tat, deutete der eiserne Kanzler langsam auf den Ring, den der Unbekannte unserm Gesandten geschenkt hatte.

Bei dieser unerwarteten Aufforderung erinnerte sich Jules Favre ganz deutlich der prophetischen Worte, die der Prätendent bei Übergabe des Ringes ihm gesagt hatte. Ein Schauer durchrieselte ihn, und wie von einem plötzlichen Schwindel erfaßt, starrte er den undurchdringlichen Kanzler an.

In diesem Augenblicke war die Stille so groß, daß man in den benachbarten Sälen das kurze Aufstoßen der Morseapparate vernahm, die die große Neuigkeit durch Deutschland und die ganze Welt verbreiteten. Man vernahm das Schnauben der Lokomotiven, die schon die ersten Truppenzüge nach der Grenze zurückbeförderten. – – –

Jules Favre starrte wieder auf den Ring –!

Ihm schien es plötzlich, als seien die Geister der Könige von Frankreich in diesem alten Saale gegenwärtig als Zeugen des Gottesurteils, das sich hier vollstreckte. Von einer höheren, zwingenden Macht getrieben, wagte er es nicht, die Aufforderung des Feindes abzulehnen.

Es war, als zöge der Ring seine Hand mit geheimnisvoller Macht zu dem Vertrage.

Ernst verneigte er sich.

»Sie haben recht!« sagte er. Und unten auf die Seite des Blattes, das seinem Vaterlande so viel Blut, zwei herrliche Provinzen, die brennende Hauptstadt und eine ungeheure Kriegsentschädigung gekostet hatte – – auf den roten Siegellack, der noch brannte und dessen Feuer die goldenen Lilien des Ringes an der Hand des Republikaners deutlich erkennen machte – drückte Jules Favre tief erbleichend das geheimnisvolle Siegel ein, auf dem unter der Figur der alten, rätselhaften Kriegsgöttin in dieser verhängnisvollen Stunde plötzlich, gegen seinen Willen, das Königshaus von Frankreich seine Gegenwart bekundete.

Akedysseril.

An einem Abend in längst vergangenen Tagen lag Benares, die heilige Stadt, veilchenfarben auf dem Grund eines golddurchleuchteten Nebels. Auf den westlich gelegenen Höhenzügen bewegten sich die bläulichen, von der Abendsonne vergoldeten Umrisse der großen Dattelwälder über den Tälern von Habad. An den gegenüberliegenden Abhängen unterschied man in der Dämmerung geheimnisvolle Paläste, dazwischen Rosenhaine, in denen Tausende von Blütenkelchen sich in der leichten Brise bewegten. Da stiegen Springbrunnen auf, deren Wasserstrahlen wie Schneeflocken zurückfielen.

Mitten in der Vorstadt Secrolis erhob sich der Wischnutempel, dessen mächtige Säulengänge die Stadt beherrschten. Seine reich mit Gold verzierten Tore warfen den Schein des Abendrots zurück. Der Tempel war von den hundertsechsundneunzig weißmarmornen Heiligtümern der Devas umgeben; ihre Stufen umspülten die Wellen des Ganges, während die getriebene Arbeit ihrer Zinnen sich in den purpurglühenden, langsam dahinziehenden Wolken verlor.

Das strahlende Wasser schlummerte unter den heiligen Ufermauern. In der Ferne tauchten lichtschimmernde Segel auf, und längs des herrlichen Flusses erstreckte sich das Bild der Stadt in unregelmäßiger orientalischer Schönheit. Alleen erhoben sich terrassenförmig eine über die andere; zahllose Häuser mit weißen Kuppeln und viele Monumente zeichneten sich in der Abendstimmung ab, man sah bis zu den Vierteln der Parsen hinüber, wo die Pyramide von Siwas Boten Wissikhor wie in feuriger Lohe zu glühen schien. Ganz in der Ferne sah man die kreisförmige Allee der Brunnen, die unendlichen Kasernen der Soldaten, die Bazare des Handelsviertels und endlich die Türme der Citadellen, die schon unter der Herrschaft des Wiswamithra erbaut waren.

Am äußersten Horizont unterschied man seltsame, formlose Götzenbilder, die aus den felsigen Spitzen der Berge von Habad herausgehauen in eherner Unbeweglichkeit dort thronen. Viele dieser Steinbilder hielten in der weit über den schwindelnden Abgrund ausgestreckten Hand eine Lotosblume; ihr starres, unbewegliches Dasein schien den ganzen Raum zu erfüllen und wie ein Alp auf den Lebenden zu lasten.

An diesem Abende jedoch herrschte in Benares eine festliche Aufregung, die einen seltsamen Gegensatz zu der feierlichen Stille bildete, welche sonst abends über der Stadt ruhte. Die Straßen, die öffentlichen Plätze, die Alleen, die Vorhöfe, die sandigen Abhänge der beiden Ufer waren von einer freudig bewegten Menge erfüllt, denn die Wächter des heiligen Turmes hatten soeben mit ihren bronzenen Schlägern ein Zeichen auf ihren Gongs gegeben, das wie Donnergeräusch über die Stadt rollte. Dieses Signal verkündete die Rückkehr von Akedysseril, der jungen Königin, der Besiegerin der beiden Könige von Agra – der schlanken Witwe mit der schneeigen Haut und den funkelnden Augen, der Herrscherin, deren golddurchwirktes Gewand noch vom Trauerschleier umhüllt war und die bei der Belagerung von Elephanta durch ihren Heldenmut das ganze Heer mit Begeisterung entflammt hatte.


Akedysseril war die Tochter eines Hirten, Gwalior. Als das junge Mädchen an einem Herbstnachmittage in einem Tale in der Umgegend von Benares ihre Füße in dem Wasser einer Quelle badete, hatten gütige Dämonen ihr einen Auerochsenjäger entgegengeführt; es war Sinjab, der Thronfolger und Sohn Seürs, des Gütigen, der zu jener Zeit über das ungeheure Gebiet von Habad herrschte. Kaum hatte er sie gesehen, als das schöne und zu großen Dingen erkorene Mädchen alle Träume des jungen Fürsten erfüllte und eine tiefe Liebe zu ihr in seinem Herzen erweckte. Als er sie ein zweites Mal sah, entflammten die Sinne Sinjabs so mächtig, daß er Akedysseril zu seiner einzigen und rechtmäßigen Gemahlin erhob. So geschah es, daß die Tochter des Hirten die Hirtin und Führerin der Völker wurde.

Indessen schon kurze Zeit nach dieser wunderbaren Verbindung starb der Prinz, den auch Akedysseril auf das zärtlichste geliebt hatte. Der König wurde über diesen Verlust von solcher Verzweiflung ergriffen, daß man in kurzer Zeit in Benares zum zweiten Male das Bellen der Hunde Jamas, des todverkündenden Gottes, hörte; bald mußte man auch dem alten Fürsten ein Grab herrichten.

Von Rechtswegen hätte die Thronfolge Seürs nun auf Sedjnur, den jungen Bruder Sinjabs, übergehen müssen. Er war kaum dem Knabenalter entwachsen und stand unter der Vormundschaft Akedysserils.

Während der raschen Tage ihres aufsteigenden Glückes, ja noch während Sinjab lebte, hatte die Tochter Gwaliors, deren Geist in die Zukunft zu sehen schien, sich als kecke Verächterin fremden Rechtes erwiesen; sie kannte nur das Recht der Gewalt, des Mutes und der Liebe. Sie hatte durch weise Verleihung von Würden und von Geld sich am Hofe, in der Armee, in der Hauptstadt, im Rate der Beziere, in den Provinzen, sowie unter den Anführern der Brahminen eine Machtstellung zu schaffen gewußt, die sich von Stunde zu Stunde mehr festigte. Sie mißtraute dem jungen Thronfolger, obwohl ihr der Charakter desselben ganz unbekannt war, denn Seür hatte den jungen Sedjnur weit fort zu den Weisen Nepals gebracht, damit er von diesen erzogen würde. Als nun der hohe Rat sich anschickte, den Prinzen heimzurufen, beschloß Akedysseril, sich im voraus aller Widerwärtigkeiten zu entledigen, die die Laune des neuen Herrschers ihr möglicherweise auferlegen konnte. Sie faßte den Plan, den Prinzen gefangenzunehmen, und beschloß, trotz ihres sehr anfechtbaren Rechtes, selbst die königliche Gewalt zu übernehmen.

Während der Nacht der großen Trauerfeier schickte sie, in deren Auge kein Schlummer kam, eine Abteilung von Sowaris, deren Treue sie erprobt hatte, dem Prinzen Sedjnur entgegen.

Der Prinz wurde umringt und ohne weiteres mit seinem Gefolge gefangen genommen, desgleichen die junge Prinzessin Yelka, die Tochter des Königs von Sogdiana, seine geliebte Braut, die mit nur ganz kleinem Geleite dem Prinzen entgegengekommen war.

Die Gefangennahme geschah gerade in dem Augenblicke, als die beiden jungen und für einander bestimmten Menschen sich zum ersten Male bei hellem Mondschein auf der Landstraße trafen. Von dieser Stunde an lebten die königlichen Kinder als Gefangene Akedysserils in zwei einander gegenüberliegenden Palästen, zwischen denen der Ganges floß. Tag und Nacht wurden sie von einer ernsten, schweigenden Wache beobachtet.