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Walther Sallaberger

DAS
GILGAMESCH-EPOS

Mythos, Werk und Tradition

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag C.H.Beck

 


 

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Zum Buch

Walther Sallaberger stellt mit dem Gilgamesch-Epos ein Hauptwerk der Weltliteratur vor, das von den Grundfragen des menschlichen Daseins handelt. In einer allgemeinverständlichen Einführung erläutert er den Mythos des Königs Gilgamesch von Uruk und bietet vor dem Hintergrund der Traditionen zu Gilgamesch, die sich über zweieinhalb Jahrtausende verfolgen lassen, einen anregenden Überblick über Geistesgeschichte, Literatur und Kultur Mesopotamiens.

Über den Autor

Walther Sallaberger lehrt als Professor für Assyriologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Inhalt

Vorwort

1. Die jungbabylonische ‹Serie von Gilgamesch›: Inhaltsangabe

2. Die Welt des Gilgamesch-Epos

Mesopotamien, Keilschrift, Sumerisch und Akkadisch: einige Grundbegriffe

Stadt: Zivilisation und Machtzentrum

Steppe: Wildnis und Reinheit

Bergländer: Zedernholz und andere Schätze

Kosmos

Götterwelt

Kult: Opfer und Orakel

3. König Gilgamesch: Sage und Geschichte

Gilgamesch im Epos

Der Name Gilgamesch

König Gilgamesch: Die Sumerische Königsliste und die historische Tradition

Historischer Gilgamesch oder sagenhafter König?

Die ‹Kulturheroen›: Gilgamesch, Enmerkar und Lugalbanda

Gilgamesch, Vorbild der Könige

Der Gott und Totenherrscher Gilgamesch

4. Sumerische und akkadische Gilgamesch-Erzählungen

Die sumerischen Epen über Gilgamesch: der König und Held

Das altbabylonische Gilgamesch-Epos: der Mensch

Das jungbabylonische Gilgamesch-Epos: der Weise (Vereinheitlichung, Erweiterung, Umdeutung)

Die Gilgamesch-Tradition des jungbabylonischen Epos in Stichworten

5. Autoren, Kopisten und Schreiberschulen: Die Tradition von Literatur

Die Anfänge von Schrift und Literatur in Sumer

Sänger am Königshof der Dritten Dynastie von Ur

Die Tradition sumerischer Literatur in der altbabylonischen ‹Schule›

Das Wunder der Geburt der altbabylonischen Literatur

Die Verbreitung der Keilschriftliteratur im Vorderen Orient in der Späten Bronzezeit

Ein Literaturkanon wird geschaffen: das 11. Jahrhundert

Die Bibliothek Assurbanipals in Ninive und die Tradition im ersten Jahrtausend

6. Die literarische Gestaltung

Epos, Sage, Weisheit: Zur Einordnung des Textes

Vers oder Zeile als Grundeinheit

Erzähler und Hörer

Wiederholungen

Versatzstücke

Bildersprache

7. Der Mensch im Gilgamesch-Epos

Der junge Mann

Enkidu, der Freund

Das Ende im Tod und das Weiterleben im Namen

Bestattung und Totengedenken

8. Wirkung und Nachleben

Wirkung im Alten Orient

Reflexe in der Bibel – und bei Homer?

Wiederentdeckung und Rezeption in der Neuzeit

Zeittafel

Bibliografische Hinweise

Register

Hinweise zum Gebrauch

Die Textsiglen folgen George (2003); zu den Kürzeln der Gilgamesch-Texte s.S. 80–82. Bibliografische Angaben s.S. 126.

I 1 usw.

Zitate des jungbabylonischen Gilgamesch-Textes nach Tafel und Zeile nach George (2003); dort SB I 1 usw.

( )

Erläuternde Zusätze in der Übersetzung

[ ]

Text nicht erhalten, zum Teil konnte nach Parallelen oder frei ergänzt werden

Kursivtext in Übersetzungen deutet an, dass die Übersetzung sehr unsicher ist (wegen der Ergänzung fehlenden Textes oder wegen grammatikalischer oder lexikalischer Probleme).

Außer in akkadischen und sumerischen Zitaten ist die Umschrift der Namen der deutschen Orthografie angeglichen, es steht einzig h statt ch am Wortanfang, also Humbaba/Huwawa statt Chumbaba/Chuwawa wie bei Maul (2005), Utuhengal statt Utuchengal, Atrahasis usw.

Alle Daten (außer in bibliografischen Angaben und der Wissenschaftsgeschichte) verstehen sich als «v. Chr.»

Die Daten folgen für die Zeit vor 1500 v. Chr. der sogenannten ‹Mittleren Chronologie› (Hammurapi 1792–1750).

Vorwort

Das Gilgamesch-Epos ist der weitaus bekannteste Text aus dem Alten Orient, und diese Bedeutung hat es mit vollem Recht erlangt. Kein anderer Stoff wurde dort so intensiv und so lange bearbeitet: Ein Jahrtausend nach den ersten sumerischen Epen entstand wohl im 11. Jahrhundert v. Chr. die kanonische jungbabylonische Fassung, die wir heute als das Gilgamesch-Epos bezeichnen, ein Werk, das in Mesopotamien ein weiteres Jahrtausend tradiert wurde. Allein dem Umfang nach übertrifft das Gilgamesch-Epos alle anderen babylonischen Literaturwerke, es ragt aufgrund seiner literarischen Dichte und Qualität heraus. Auch das Thema ist einzigartig: Der Held Gilgamesch sucht die Grenzen seines Daseins zu erkunden und sie zu sprengen, den Tod zu überwinden. Das Gilgamesch-Epos ist die einzige große babylonische Erzählung, die den Menschen und sein Wesen in den Mittelpunkt stellt: Es geht um seine Erfahrungen, sein Leiden und das Wissen um den Tod, um die Rolle des Menschen in der Gesellschaft. So berührt dieser alte Text über den Menschen jeden, auch den heutigen Menschen.

Als Stefan von der Lahr vom Beck-Verlag anfragte, das Gilgamesch-Epos in der Serie über große Werke der Weltliteratur vorzustellen, bin ich dem gerne nachgekommen, eröffnete sich doch so die Möglichkeit, anhand des größten Textes eine Einführung in die Literatur und die Geistesgeschichte Mesopotamiens zu bieten, die vom frühen dritten Jahrtausend bis ins späte 2. Jahrhundert v. Chr. reicht. In den historischen Einführungen muss dieses Thema aber immer zu kurz kommen. Ziel dieses Buches ist es eher, Grundzüge und Eigenheiten der altorientalischen Schriftkultur darzustellen, nicht aber eine textimmanente Deutung des Gilgamesch-Epos zu erarbeiten oder ausführlich Fragen der Forschung zu diskutieren. Man sollte den Band lesen können, ohne eine Bearbeitung des Gilgamesch-Epos neben sich liegen zu haben.

Wie jeder Beitrag zu Gilgamesch ist auch dieser der exemplarischen Edition der akkadischen Gilgamesch-Texte von A. R. George (2003) verpflichtet, der über die philologische Bearbeitung hinaus viele Themen in den Kommentaren und Einführungen behandelt. Auch aus der umfangreichen Literatur zu Gilgamesch hätte noch sehr viel mehr präsentiert werden können, doch mussten aufgrund der gebotenen Konzentration auf die Grundlagen oft selbst Andeutungen entfallen. Es ist zu hoffen, dass so der Einstieg in die Gilgamesch-Diskussion und die faszinierende Welt des altorientalischen Schrifttums erleichtert wird.

Die vorliegende Einführung beruht wesentlich auf Vorträgen, Vorlesungen und Seminaren zur akkadischen und sumerischen Literatur und zu Gilgamesch in München, Venedig und Verona. Die Erfahrungen in der Lehre bestimmten auch die Perspektive und die Auswahl der behandelten Themen. Für eine kritische Lektüre des Manuskripts und ihre Hinweise bin ich Anne Löhnert, Stefan M. Maul, Martin Sexl, Michael Streck und Sandra Zerbin, für die verlegerische Betreuung Stefan von der Lahr zu Dank verpflichtet.

Prägend für die Begegnung mit Gilgamesch waren die Vorlesung und die Seminare zu diesem Thema von Dietz Otto Edzard (1930–2004) in München. Mit Gewinn konnte ich auch die Manuskripte aus seinem Nachlass durchsehen. Durch sein Beispiel lehrte er seine Schüler, unvoreingenommen auf vertraute Texte zu blicken und dem nur scheinbar Selbstverständlichen nachzugehen. Seinem Andenken sei als bescheidenes Zeichen des Dankes dieses Buch gewidmet.

Die 2. Auflage ist in Details aktualisiert und korrigiert.

1. Die jungbabylonische ‹Serie von Gilgamesch›: Inhaltsangabe

Die Überlieferung von Gilgamesch beginnt im dritten Jahrtausend. Aber in seiner letzten und am besten erhaltenen Fassung ist das Gilgamesch-Epos mit dem Autor Sin-leqi-unninni verbunden, der wohl um das 11. Jahrhundert den alten Text überarbeitete. Er bediente sich der Literatursprache Mesopotamiens, des sogenannten ‹Jungbabylonischen› (englisch Standard Babylonian). Sein Text wurde zum verbindlichen, ‹kanonischen› Text und praktisch unverändert ein Jahrtausend lang in Mesopotamien gelesen und kopiert. Die wichtigsten Manuskripte bilden nach wie vor Tontafeln aus der Palastbibliothek von Assurbanipal (668–627?) in Ninive. Man spricht deshalb nach der Sprache von der ‹jungbabylonischen›, nach der Texttradition von der ‹kanonischen› Fassung, nach dem Hauptfundort von der ‹ninivitischen› Fassung und nach dem Umfang vom ‹Zwölftafelepos› (oder ‹Elftafelepos›).

Die zugrunde liegende Handlung ist rasch wiedergegeben: Gilgamesch, der sagenhafte König von Uruk, unterdrückt sein Volk, woraufhin die Götter Enkidu als Gegenspieler erschaffen. Enkidu kommt aus der Steppe in die Stadt; er und Gilgamesch werden unzertrennliche Freunde. Gemeinsam wagen sie die Fahrt in den Zedernwald, wo sie dessen dämonischen Wächter Humbaba erschlagen. Zurück in Uruk erlegen sie den von der beleidigten Göttin Ischtar gesandten Himmelsstier. Doch Enkidu muss sterben. Angesichts der Unausweichlichkeit des Todes bricht Gilgamesch auf, das ewige Leben zu suchen. Er gelangt ans Ende der Welt zu Utnapischti, der ihm von der Sintflut berichtet. Erfüllt mit dem Wissen um den Platz des Menschen im Kosmos kehrt Gilgamesch nach Uruk zurück.

Die große Erzählung von Gilgamesch umfasst elf Tafeln; sie ist mit der Bezeichnung ‹Gilgamesch-Epos› gemeint. Um die Serie von Gilgamesch abzuschließen, wurde daran als zwölfte Tafel die Übersetzung einer sumerischen Gilgamesch-Erzählung angehängt. Die Schreiber Mesopotamiens folgten der vorgegebenen Einteilung in ‹Tafeln›, die mit der Gliederung eines Textes in Bücher, Kapitel oder Gesänge zu vergleichen ist. In der folgenden Inhaltsangabe werden den Tafeln zur besseren Orientierung moderne Titel beigegeben, einige Zeilen am Anfang und Ende sind jeweils wörtlich zitiert.

Tafel I: Die Protagonisten:
Gilgamesch in Uruk und Enkidu in der Steppe

I 1

Der die Tiefe sah, das Fundament des Landes,

I 2

der [die Wege] kennt, alles erfahren hat,

I 3

Gilgamesch, der die Tiefe sah, das Fundament des Landes,

I 4

der [die Wege] kennt, alles erfahren hat, …

Gilgamesch, der Weise, der alles gesehen hat, hat seine «Mühsal» in einer «Steleninschrift» festgehalten (I 10), er hat die Stadt Uruk und ihre Mauer erbaut. Der Leser wird aufgefordert, diese Mauer zu besteigen: «Steig hinauf auf die Mauer von Uruk, geh herum!» (I 18), um dort die Inschrift zu lesen (I 27f.). Gilgamesch, der Starke, der König von göttlicher Herkunft, wird gepriesen (I 29–62). Die Erzählung beginnt damit, dass Gilgamesch die Bewohner von Uruk unterdrückt und die Frauen der Stadt die Götter um Hilfe anrufen (I 63–78). Auf Anordnung des Himmelsgottes Anu erschafft die Muttergöttin aus Ton einen Widerpart: Enkidu, der in der Steppe mit den Tieren aufwächst (I 79–110). Ein Jäger beobachtet ihn voller Angst an der Wasserstelle und erzählt seinem Vater von dem wilden Gesellen, der die Tiere vor den Fallen beschützt (I 111–133). Der Vater rät ihm, nach Uruk zu Gilgamesch zu gehen, damit ihm dieser die Dirne Schamchat («die Üppige») gebe, die Enkidu seinen Tieren entfremde (I 134–145). Der Jäger geht nach Uruk, berichtet Gilgamesch das Gesehene, und dieser vertraut ihm Schamchat an (I 146–166). An der Wasserstelle instruiert der Jäger Schamchat, die sich, wie ihr geheißen, vor Enkidu entblößt (I 167–193). Sechs Tage und sieben Nächte verbringt Enkidu mit Schamchat. Als er sich erhebt, fliehen die Tiere vor ihm (I 194–202). Die Dirne fordert ihn auf, nach Uruk zu kommen, wo Gilgamesch herrscht, und Enkidu stellt sich auf einen Kampf ein (I 203–214). Schamchat preist Uruk und den Götterliebling Gilgamesch (I 215–243). Er habe schon von Enkidu geträumt: Als «Brocken des Himmels» und als Axt habe er ihn gesehen; seine Mutter Ninsun habe den Traum gedeutet und Gilgamesch freue sich auf den «Freund» (I 244–298).

I 299

[Nachdem] Schamchat die Träume Gilgameschs dem Enkidu erzählt hatte,

I 300

gaben sie einander der Liebe hin.

Tafel II: Die Ankunft von Enkidu

II 1

Enkidu saß vor ihr […] (Lücke von etwa 25 Zeilen)

Schamchat und Enkidu gelangen zu den Hirten, wo Enkidu menschliche Nahrung, Brot und Bier, kennenlernt (II 36–51). Er beschützt die Herden, bis ein Hochzeitsgast eintrifft (II 59–64, dann Textlücke); nur in der altbabylonischen Fassung ist dessen Rede überliefert, dass Gilgamesch das Recht in Anspruch nehme, mit der Braut die erste Nacht zu verbringen. In Uruk kommt es zum Ringkampf zwischen Enkidu und Gilgamesch (II 100–115, dann wenige Reste). Wie dem altbabylonischen Text zu entnehmen ist, schließen die beiden Freundschaft. Gilgamesch stellt Enkidu seiner Mutter Ninsun vor; doch als dessen Herkunft aus der Steppe zur Sprache kommt, beginnt er zu weinen (II 162–169, Lücke, 174–181). Gilgamesch tröstet den Freund, und hier fällt zum ersten Mal der Name Humbaba (II 182–201, dann Textlücke). Enkidu kennt Humbaba, den dämonischen Wächter des Zedernwaldes, aus seiner Zeit in der Steppe, und er warnt Gilgamesch. Der will davon aber nichts wissen (II 216–242, danach wenige Reste). Gilgamesch berichtet den Männern von Uruk vom Zug gegen Humbaba, der mit einem prächtigen Fest schließen soll (II 260–271). Von Enkidu informiert warnen die Ältesten erneut vor den Gefahren Humbabas (II 272–301). Gilgameschs Reaktion ist nicht mehr erhalten, ebenso nicht die Schlusszeilen, die die Rede der Leute von Uruk einleiten.

Tafel III: Vorbereitungen für den Zug zum Zedernwald

III 1

«[Nähert euch wohlbehalten dem Hafen von Uruk!]

III 2

Vertraue nie, Gilgamesch, auf die Fülle deiner Kräfte!»

So beginnen die Ratschläge wohl der Alten von Uruk, die Gilgamesch dem Schutz von Enkidu anbefehlen (III 1–12). Gilgamesch informiert seine Mutter Ninsun, die in einem langen Gebet den Sonnengott Schamasch um Hilfe anfleht (III 13–119). Sie nimmt Enkidu als ihren Sohn an, er wird so Bruder von Gilgamesch (III 120–135, dann Textlücke). Gilgamesch beteuert seine Entschlossenheit, den gefährlichen Zug zu wagen (nach Textlücke III 202–211). Die Heerführer und die Männer unterstellen Gilgamesch dem Schutz von Enkidu mit den vom Beginn der Tafel bekannten Worten (III 212–227). Enkidus Rede ist nicht mehr erhalten (III 228–231, Schluss fehlt).

Tafel IV: Der Zug zum Zedernwald

IV 1

Bei zwanzig Meilen verzehrten sie die Wegzehrung,

IV 2

bei dreißig Meilen hielten sie Nachtruhe.

IV 3

Fünfzig Meilen gingen sie den ganzen Tag,

IV 4

den Weg von anderthalb Monaten am dritten Tag. Sie näherten sich dem Libanon-Gebirge.

Fünfmal wird mit diesen Worten der Fortschritt der Reise beschrieben. Allabendlich graben sie einen Brunnen, und Gilgamesch bittet um einen Traum. Erschreckt fährt er in der Nacht hoch und schildert Enkidu seine Traumgesichte: einen stürzenden Berg im ersten, ein todbringendes Unwetter im dritten Traum; die anderen drei Träume sind in dieser Fassung nicht erhalten. Enkidu weiß die furchterregenden Zeichen zu deuten und so Gilgamesch zu beruhigen: Nach großer Gefahr wird Humbaba besiegt werden (IV 1– ca. 190). Plötzlich ruft der Sonnengott Schamasch den Helden zu, dass «er» ungeschützt außerhalb des Waldes sei (IV 194–198). Der Verlauf dieser ersten Begegnung mit Humbaba lässt sich aufgrund von Textlücken noch nicht rekonstruieren. Doch vor allem Enkidu ist zutiefst erschrocken, und nun ist es Gilgamesch, der ihm Mut zuspricht (IV 211–248).

IV 249

[Das] ferne […] erreichten die beiden.

IV 250

[Sie beendeten] ihre Worte, sie standen da.

Tafel V: Humbaba

V 1

Sie standen da, … das Gebiet des Waldes,

V 2

mal blickten sie da auf der Zeder Höhe,

V 3 mal

blickten sie da auf des Waldes Eingang;

V 4

wo Humbaba umherging, befand sich eine Trittspur.

Die beiden Helden betrachten den Wald mit den Spuren Humbabas (V 1–11, danach wenige Reste). Humbaba beschimpft Enkidu, der als Wesen der Wildnis Gilgamesch hergeführt habe (V 85–94). Gilgamesch wirkt verängstigt, doch Enkidu feuert ihn an (V 95–107, zehn Zeilen fehlen). Der heftige Kampf, bei dem die Helden in größte Gefahr geraten, wird dadurch entschieden, dass dreizehn von Schamasch geschickte Winde Humbaba festhalten. Flehentlich bittet er Gilgamesch um sein Leben und bietet ihm die Gefolgschaft an (V 118–158, folgt Textlücke). Als er aber Enkidu beleidigt, fordert dieser den raschen Tod des Dämons «bevor es der erste (Gott), Enlil, hört» (V 185; V 175–191, große Lücke). Humbaba gelingt es weiterhin, sich bei Gilgamesch gegen den ungestümen Enkidu zu verteidigen, doch sind seine Argumente nicht mehr erhalten (V 229–246). Mit seinen letzten Worten verflucht er noch Enkidu, dann erschlagen ihn die Helden (V 255–269, Lücke bis V 288). Sie fällen eine mächtige Zeder, um daraus eine Tür für den Tempel Enlils zu verfertigen. Auf einem Floß fahren sie zurück den Euphrat hinab:

V 301

Enkidu fuhr [auf dem Floß …],

V 302

doch Gilgamesch […] das Haupt von Humbaba […].

Tafel VI: Ischtar und der Himmelsstier

VI 1

Er wusch sich die Haare, putzte seine Ausrüstung,

VI 2

schüttelte seinen Haarschopf über seinen Rücken.

VI 3

Er legte das Schmutzige ab und zog sich dann sauber an,

VI 4

schlüpfte in die Gewänder, sich mit einer Binde gürtend,

VI 5

er, Gilgamesch, setzte sich die Krone auf.

Ischtar, die Stadtgöttin von Uruk und die Göttin der Liebe, erblickt den prächtigen Helden und bietet ihm die Heirat an (VI 6–21). Doch Gilgamesch traut dem Angebot nicht; er bezichtigt die Göttin ihrer Treulosigkeit und zählt ihr die von ihr verstoßenen früheren Liebhaber auf (VI 22–79). Wutentbrannt erbittet die Göttin von ihrem Vater Anu den Himmelsstier, um Gilgamesch zu zerschmettern, und entkräftet sogar den Vorbehalt, dass nicht genügend Futter bereitliege (VI 80–114). Der riesenhafte Stier wütet auf der Erde, doch Enkidu gelingt es, die Bestie am Schwanz festzuhalten, so dass Gilgamesch ihm den Todesstoß versetzen kann (VI 115–146). Dem Gott Schamasch opfern sie das Herz des Tieres; Enkidu aber schleudert noch drohend Ischtar die Hüfte nach. Gilgamesch stiftet die riesenhaften Hörner als prächtige Ölgefäße seinem Gott Lugalbanda (VI 147–166). Endlich kann nun das große Fest in Uruk zu Ehren von Gilgamesch gefeiert werden (VI 167–178). Doch in derselben Nacht kündigt sich das Unheil an:

VI 180

Es hatten sich hingelegt die Männer, die auf dem Nachtlager ruhten,

VI 181

es hatte sich auch Enkidu hingelegt, wobei er einen Traum erblickte.

VI 182

Enkidu erhob sich den Traum zu eröffnen,

VI 183

er sprach zu seinem Freund:

Tafel VII: Enkidu am Sterbebett

VII 1

«Mein Freund, warum beraten sich die großen Götter?»

Der Verlauf der Götterversammlung, in der Enkidus Tod bestimmt wird, ist nicht erhalten. Auf seinem Totenbett liegend verflucht Enkidu die Tür aus Zedernholz, die er Enlil geweiht hatte (VII 37–64). Gilgamesch versucht ihn zu trösten, doch Enkidu weiß, dass das Geschick nicht geändert werden kann (VII 65–89). Anderntags wendet sich Enkidu erst an Schamasch, dann verflucht er den Jäger und die Dirne, die ihn aus der Wildnis weggelockt hatten (VII 90–131). Schamasch greift ein und erinnert daran, dass die Dirne ihn zum Menschen gemacht habe und ihn Gilgamesch als Freund gewinnen ließ (VII 132–147). So wünscht Enkidu ihr nun ein gutes Geschick, das ihr die reichen Geschenke der Männer beschere (VII 148–161). Mit einem Mal erlangt Enkidu Klarheit und er gibt seinen letzten Traum wieder, eine Vision seines Todes und seines Eintritts in die Unterwelt (VII 162–210, Fortsetzung nicht erhalten). Vom zwölftägigen Todeskampf sind nur Reste erhalten (VII 251–267, Schluss fehlt).

Tafel VIII: Totenklage und Bestattung Enkidus

VIII 1

Als ein wenig des Morgens aufleuchtete,

VIII 2

weinte Gilgamesch um seinen Freund:

Gilgamesch wendet sich an die Wildnis und ihre Lebewesen, die Menschen, dann verkündet er seine Klage: sein Freund, seine Stütze, «die Axt an meiner Seite, meines Armes Zuversicht» (VIII 46), der, der Heldentaten mit ihm vollbracht hat, ist nicht mehr da (VIII 1–64). Gilgamesch beauftragt die Handwerker, eine Statue zu verfertigen, und legt den Toten auf eine Bahre (VIII 65–91). Aus seiner Schatzkammer sucht er Gaben für seinen Freund (VIII 92–133). Die für die Götter der Unterwelt bestimmten prächtigen Gaben werden Stück für Stück präsentiert (VIII 134–203, dann Textlücke). Für das Grab wird der Fluss aufgestaut (VIII 208–219, Schluss nicht erhalten).

Tafel IX: Die Reise ans Ende der Welt

IX 1

Gilgamesch – um Enkidu, seinen Freund,

IX 2

weinte er damals bitterlich und lief durch die Steppe.

IX 3

«Ich werde sterben und bin ich dann nicht wie Enkidu?

IX 4

Trübsal ist dann eingekehrt in mein Gemüt.

IX 5

Ich fürchtete den Tod und nun werde ich durch die Steppe laufen

IX 6

bis hin zu Utnapischti, dem Sohn des Ubar-Tutu. (…)»

Der Tod des Freundes bringt Gilgamesch dazu, das ewige Leben zu suchen (IX 1–24, dann Textlücke). Am «Zwillingsberg» erreicht er ein Paar von Skorpionmenschen, dämonischen Wächtern des Wegs der Sonne (IX 37–59, 75–90, 125–135 erhalten). Gilgamesch bewältigt den von den Skorpionmenschen vorausgesagten Weg von zwölf Meilen oder Doppelstunden durch den Tunnel in völliger Finsternis (IX 136–170). Dann erreicht er den Ort der Sonne, einen Garten von Edelsteinen (IX 171–176 und Reste 184–194).

IX 195

Gilgamesch, […] als er umherging,

IX 196

da hob sie [ihren Kopf], um ihn zu betrachten.

Tafel X: Die Wasser des Todes

X 1

Schiduri war eine Brauerin, die unten am Meere wohnte,

X 2

sie wohnte da und […]

Schiduri beobachtet den abgekämpften Gilgamesch, der sich ihrer Hütte nähert, und verschanzt sich (X 1–28). Gilgamesch eröffnet ihr Anlass und Ziel seiner Reise (X 29–77). Schiduris Meinung nach ist es unmöglich, die Wasser des Todes zu überqueren, einzig der Sonnengott und der Schiffer Utnapischtis namens Urschanabi vermögen dies (X 78–91). Gilgamesch eilt an den Meeresstrand und zerschlägt die «Steinernen», die sonst die Überfahrt ermöglichen (X 92–108). Dem Schiffer Urschanabi berichtet er von Anlass und Ziel seiner Reise (X 109–154). Urschanabi beauftragt Gilgamesch, als Ersatz für die zerschlagenen «Steinernen» dreihundert lange Stakstangen herzustellen (X 155–168). Mit Hilfe der nur einmal zu benützenden Stangen kommen sie über die Wasser des Todes, doch für das letzte Stück muss Gilgamesch sein Gewand als Segel benutzen (X 169–183). Vom Ufer aus beobachtet Utnapischti das ungewöhnliche Gefährt (X 184–203). Gilgamesch begrüßt Utnapischti ehrerbietig und nennt auf dessen Frage Anlass und Ziel seiner Reise (X 204–264). Der weise Utnapischti belehrt Gilgamesch: Als König habe er sich der Verpflichtung seines Amtes zu stellen, das ihn über den einfachen Mann erhebe; die Abschnitte des Lebens kommen zu ihrer Zeit, auch der Tod, den die Götter festgesetzt haben (X 266–320):

X 321

Sie legten den Tod und das Leben fest,

X 322

gaben aber des Todes Zeitpunkt nicht bekannt!

Tafel XI: Die Erzählung von der Sintflut und Rückkehr nach Uruk

XI 1

Gilgamesch sprach zu ihm, zum fernen Utnapischti:

XI 2

«Ich betrachte dich, Utnapischti,

XI 3

doch deine Gestalt ist nicht anders, wie ich bist du. (…)»