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IV. Grundprinzipien für die Bachelor-Ausbildung im Sinne der Neuen Aufklärung

»Für mehr und mehr Menschen wird die Hochschulbildung immer wichtiger. Doch trotz dieser wachsenden Bedeutung und der steigenden Studierendenzahlen wird kaum über das Curriculum geredet. Welche Erfahrungen Studierende während ihres Studiums sammeln sollten, wird kaum thematisiert. Aus welchen Elementen sich ihre Kurse zusammensetzen oder wie diese zusammengefügt werden sollten, ist noch weniger Gegenstand einer allgemeinen Debatte. Ja, die Idee eines Curriculums selbst ist praktisch nicht vorhanden.«169

»Obwohl eine Hochschulbildung ohne Curricula unvorstellbar ist, wurde nur sehr wenig über deren Gestaltung oder mögliche Veränderung geschrieben.«170

»Während der allumfassenden Diskussion über Zugang, Erschwinglichkeit oder gar Accountability herrschte in der Öffentlichkeit und Politik fast vollkommenes Schweigen darüber, was die heutigen Bachelor-Absolventen tatsächlich wissen oder können sollten.«171

Die hier aufgeführten Zitate aus amerikanischen Publikationen illustrieren, wie sehr Curriculumsfragen selbst in den USA vernachlässigt wurden. In den meisten Teilen Kontinentaleuropas (die Niederlande und die skandinavischen Länder ausgenommen) und auch im Rest der Welt (z.B. in Israel, Indien, China) existiert eine entsprechende Disziplin nicht einmal. Die Bildungsforschung in diesen Ländern konzentriert sich auf didaktische Fragen und die empirische Bildungsforschung. Überhaupt beschäftigen sich nur wenige engagierte Wissenschaftler mit Hochschulbildung. Die Curriculumsforschung wird von vielen im Wissenschaftsbereich schlicht nicht als ein ernst zu nehmendes Forschungsgebiet verstanden. In einem kürzlich veröffentlichten »Brainstorm« des Chronicle of Higher Education schreibt Michael Ruse: »Ich kann mir keinen schnelleren Weg zum Rauswurf vorstellen, als wenn ein/e junge/r, nicht verbeamtete/r Mitarbeiter/in an einer Forschungsuniversität dem Dekan sagt, er oder sie wolle sich den Sommer über mit der Verbesserung des Curriculums beschäftigen […].«172

Dabei ist das Erstellen von Curricula ein sehr wichtiger Bereich experimenteller, wissenschaftlicher Forschung. Vielerorts müssen Studierende ihren Studiengang bereits zu Beginn ihres Studiums wählen. Hier sind die Curricula oft rein disziplinär ausgerichtet und wollen lediglich spezialisiertes akademisches Wissen und jene Fähigkeiten vermitteln, die für die praktische Tätigkeit oder die Durchführung von Forschungsarbeit auf diesem Gebiet notwendig sind. Die Studienerfahrungen von Bachelor-Studierenden sind folglich je nach Fach – von Unterschieden zwischen den Institutionen abgesehen – völlig unterschiedlich. Zwar ist eine Diversität der Ansätze grundsätzlich begrüßenswert, aber wie wir in Kapitel III deutlich gemacht haben, halten wir eine gemeinsame, über das Fachwissen hinausgehende inhaltliche Studienkomponente für unverzichtbar.

Ein weiterer Missstand ist die globale Einheitlichkeit der disziplinären Curriculumskomponenten. Curricula sollten sich den zweifelsohne vorhandenen lokalen, sozialen, religiösen und institutionellen Unterschieden entsprechend unterscheiden. Lehre aus historischer Perspektive – wie z.B. die Erläuterung der Tatsache, dass Newton die abstrakte Idee eines Zwei-Körper-Problems als Reaktion auf die Religionskriege seiner Zeit formulierte – kann helfen, Studierenden zu verdeutlichen, dass der »Wissenskorpus«, der ihnen vermittelt wird, nicht vom Himmel gefallen ist, sondern das Ergebnis bestimmter lokaler Gegebenheiten darstellt. Diese Form der Lehre ändert nichts an den Theorien oder den Naturgesetzen selbst, aber sie verändert die Sicht der Studierenden auf diese »Wahrheiten«. Alle Gesetze beschreiben die Realität nur näherungsweise, und der als akzeptabel angesehene Grad an Ungenauigkeit ist stets das Ergebnis eines kontextspezifischen Konsenses. Diese Art zu lernen wird es den Studierenden im Laufe ihres Lebens erleichtern, ihr Denken – d.h. ihre eigenen Wissensvorstellungen – flexibel lokalen Gegebenheiten anzupassen. Gleichzeitig ist uns bewusst, dass sehr wohl einige allgemeine Prinzipien und Richtlinien entwickelt werden müssen, die unabhängig von kontextuellen und lokalen Differenzierungen für alle Curricula gelten sollten.

Dabei handelt es sich um ein arbeitsintensives Langzeitprojekt. Man muss experimentieren und jene Prinzipien, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen, global zur Diskussion stellen. Bei der Kontextualisierung dieser Curricula müssen Studierende als vollwertige Partner teilhaben können. Wenn man sich auf universale Prinzipien geeinigt hat, müssen diese wiederum in spezielle, lokale Curricula übersetzt werden. Dafür bedarf es kritischer Wissenschaftler, die auch die entsprechenden Kurse unterrichten und mit ihnen experimentieren. Nachdem solch ein spezifisches Curriculum ausgearbeitet wurde, ist es wichtig, dass die ihm zugrunde liegenden Überlegungen explizit formuliert und veröffentlicht werden.

Ein Curriculum ist also das Resultat der kollektiven Arbeit mehrerer Lehrender. Um es zu erproben, braucht man eine kritische Masse an Professoren, die bereit ist, das Curriculum zu unterrichten und standhaft gegen kritische Stimmen zu verteidigen. Dies geht weit über die rein theoretische Unterstützung bestimmter Ideen hinaus. Es bedeutet, dass Professoren ihr – aus einer Fehlinterpretation akademischer Freiheit entstandenes – Privileg, in der Lehre keinerlei Kontrolle zu unterliegen, aufgeben müssen, um das zu unterrichten, was das Curriculum vorsieht. Sie können also nicht mehr einfach das unterrichten, was ihnen gefällt. Unserer Meinung nach bezeichnet akademische Freiheit nämlich nicht die individuelle Freiheit der Professoren, sondern die Freiheit einer Fakultät, darüber zu befinden, was sie den Studierenden beibringen will. Dies schließt natürlich nicht aus, dass Professoren darüber hinaus Wahlfächer zu ihren Spezialgebieten anbieten, die über das Pensum des Curriculums hinausgehen. Diese können jedoch immer nur einen Zusatz zu einem wohldurchdachten, klaren Leitideen folgenden Curriculum darstellen.

Dabei verstehen wir das Curriculum nicht als starren Kanon. Es ist letztlich bedeutender, klare Lernziele zu formulieren, als auf Dauer festzulegen, was genau unterrichtet wird – der Outcome ist also wichtiger als der Input. So ist es erfrischend, zu sehen, dass der bereits erwähnte LEAP Report (Liberal Education and America’s Promise) von 2007, der von der Association of American Colleges and Universities in Auftrag gegeben wurde, seine Empfehlungen mit dem Begriff »Essential Learning Outcomes«, also »Essenzielle Lernergebnisse«, betitelt.

Wir haben bereits darüber gesprochen, dass heutzutage die Idee vorherrscht, die Hauptaufgabe der Bachelor-Ausbildung bestünde in der Vorbereitung der Studierenden auf den Arbeitsmarkt. Diese Perspektive, oder besser gesagt Wertvorstellung, wurde zu Beginn des Bologna-Prozesses, 1999, dadurch verstärkt, dass die Bildungsminister die sogenannte »Employability«, also die Arbeitsmarkttauglichkeit, als eines der Hauptziele der Bachelor-Ausbildung benannten.

Im Juli 2010 veröffentlichte der Deutsche Wissenschaftsrat seine Empfehlungen für die zukünftige Ausrichtung der Fachhochschulen und stimmte prinzipiell der Idee zu, dass sich die Bachelor-Ausbildung in diesen Institutionen primär auf die Vorbereitung der Studierenden für den Arbeitsmarkt zu konzentrieren habe.173 Anscheinend sind die Fachhochschulen dieser Aufgabe sehr viel besser gewachsen als die Universitäten. Die Formulierung eines allgemeingültigen, klaren Ziels für die Hochschulbildung stellt die Unterscheidung von Fachhochschulen und Universitäten jedoch infrage. Institutionen mögen unterschiedliche Ansätze verfolgen, aber in dem Ziel der Ausbildung engagierter Bürger sollten sie geeint sein.

Obwohl der Bericht nicht auf die notwendige stärkere Verbindung von Theorie und Praxis eingeht, hebt er hervor, dass die Fachhochschulen und Universitäten in der letzten Zeit enger zusammengerückt sind; deshalb wird auch die Gründung gemeinsamer Forschungsprojekte und anderer Kommunikations- und Austauschsplattformen empfohlen.

Außerdem schlägt der Wissenschaftsrat vor, Fachhochschulen eine Rolle bei der Lehrerausbildung spielen zu lassen (momentan findet sie nur an Universitäten in designierten Lehramtsstudiengängen und an Pädagogischen Hochschulen statt). Obwohl dies grundsätzlich zu begrüßen ist, muss sichergestellt werden, dass dies im Kontext einer Neubewertung der Fachhochschulen passiert und nicht als Abwertung der Lehrerausbildung wahrgenommen wird.

Besonders im Bereich der Lehrerausbildung erscheint die Reform der Curricula besonders dringend. Gerade zukünftige Lehrer müssen eine intellektuelle Einstellung entwickeln, die durch ein Bewusstsein dafür geprägt ist, dass die Welt chaotisch und komplex, weder linear noch deterministisch ist und nur kontextabhängig verstanden werden kann. Um den althergebrachten Reduktionismus abzulegen und um Wissen in seinem sozialen und politischen Kontext zu verorten, wäre es sinnvoll, wenn gerade Lehrer versuchten, Theorie und Praxis zusammenzuführen.

Der Wissenschaftsrat ermutigt fürderhin Universitäten, bei der Zulassung von Studierenden mit einem Fachhochschul-Bachelor-Abschluss zu einem Masterstudium flexibel zu sein, und fordert sogar dazu auf, dass Universitäten und Fachhochschulen gemeinsame Doktorandenprogramme gründen. All dies erscheint uns durchaus erstrebenswert, gesetzt den Fall, dass die Bachelor-Curricula entsprechend der hier vorgeschlagenen Grundsätze reformiert werden.

IV.1. Das »Curriculum Reform Manifesto« – Leitideen für umfassende curriculare Reformen

Im akademischen Jahr 2009/ 2010 trat am Wissenschaftskolleg zu Berlin eine Gruppe von Wissenschaftlern zusammen, um Grundprinzipien für curriculare Reformen zu diskutieren, die als Richtlinie für die Universität des 21. Jahrhunderts dienen könnten. Dabei entstand ein Manifest zur Curriculumsreform, das elf wichtige Stichpunkte formuliert. Diese Punkte bilden das Fundament einer Restrukturierung der Bachelor-Curricula unserer Zeit. Um eine möglichst globale Diskussion anzustoßen, wurde das Dokument im Internet veröffentlicht.174 Einige dieser elf Punkte möchten wir zitieren und mehr oder weniger detailliert kommentieren.

Als zentrale Forderungen gelten: Während der Fachunterricht in disziplinären Einführungskursen erfolgt, müssen diese durch interdisziplinäre Seminare zu komplexen Problemen aus der Lebenswirklichkeit ergänzt werden. Nachdem seit Hunderten von Jahren weltweit an Universitäten mit Curricula experimentiert wurde, lässt sich vor allem eine Schlussfolgerung ziehen: Wir müssen die Disziplinen auf eine systematische, gründliche und methodologisch vielseitige Weise unterrichten, unabhängig davon, worin diese disziplinäre Ausbildung zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehen mag. Dieser Ansatz gilt trotz des stetigen Wandels der Disziplinen und obwohl immer wieder neue Fachrichtungen begründet werden oder alte aussterben.

Der scheinbar offensichtliche Gedanke, den Unterricht von Disziplinen vollständig durch eine problemorientierte Lehre zu ersetzen – der in unterschiedlichen Formen alle 50 Jahre wiederauftaucht –, führt stets zum gleichen unbefriedigenden Resultat: dem Versuch, der mühsamen Arbeit zu entgehen, die die Durchdringung und Überprüfung der Grundlagen einer Disziplin bedeuten.

Im Laufe der Zeit entstehen immer wieder neue Disziplinen, die auf neue intellektuelle Konstellationen reagieren. Zu Beginn ihrer Entwicklung ergeben diese sich häufig aus Problemen oder dringlichen Fragen der Lebenswirklichkeit. Anschließend wohnt den Disziplinen jedoch die Tendenz inne, sich irgendwann nur noch mit sich selbst zu beschäftigen. Der Begriff »Disziplin« deutet bereits darauf hin, dass es nicht primär um den freien, unbelasteten und offenen Ideenaustausch geht. Zur Lösung konkreter Probleme aus der Lebenswirklichkeit müssen jedoch meist die Disziplingrenzen überschritten werden, da sie die Ansätze und Forschungsergebnisse diverser Fachrichtungen zusammenbringen.

Deshalb ist es einerseits nötig, Disziplinen gründlich zu unterrichten, andererseits ist es ebenso notwendig, ihre intellektuellen Grenzen aufzuzeigen. Wir müssen Disziplinen so unterrichten, dass die Studierenden auf interdisziplinäre Herausforderungen vorbereitet werden.

Es hängt vor allem von ihren Erfahrungen im Bachelor-Studium ab, ob Experten es später als einfach oder schwierig empfinden, in interdisziplinären Teams zusammenzuarbeiten. Wenn sie bereits im Zuge ihrer Bachelor-Ausbildung in interdisziplinärem Denken geschult wurden, wird es ihnen keine Schwierigkeiten bereiten, über die Disziplinen hinweg mit Kollegen zu arbeiten.

Grundlagenseminare in allen Disziplinen haben die Tendenz, die Theorie über die Praxis zu stellen und streng disziplinäre Methode(n) entsprechend der jeweils vorherrschenden Theorie zu lehren. Doch das Lehren einer Theorie, ohne die Praxis einer Disziplin einzubeziehen, gleicht einer fruchtlosen Trockenübung. Nicht nur die Diskussion von konkreten Problemen wird so vermieden, sondern auch die Tatsache ignoriert, dass keine Disziplin ausschließlich auf einer einzigen Allzweckmethode beruht.

Methoden sind problemspezifisch, selbst wenn sie als typisch für eine bestimmte Disziplin gelten. An dieser Stelle fällt einem unwillkürlich Einstein ein, der sagte, dass er stets die Methode anwandte, die er für die Lösung eines Problems als relevant erachtete, unabhängig davon, wo (also in welcher Disziplin) er diese Methode vorfand. Hans Weiler, ein international anerkannter Experte für Hochschulfragen, der ebenfalls Mitglied unserer Gruppe am Wissenschaftskolleg war, bemerkte hierzu, ein Hauptfach sollte nicht hinsichtlich eines bestimmten Berufs oder Karrierewegs gewählt werden, sondern als Labor zur Erprobung unterschiedlicher wissenschaftlicher Methoden dienen, die das Verständnis komplexer Probleme befördern.

Disziplinen müssen folglich so unterrichtet werden, dass die Studierenden möglichst viele Methoden kennenlernen und die Fähigkeit entwickeln, Methoden den jeweiligen Problemen anzupassen. Das ist die eigentliche Bedeutung des viel zitierten Ausspruchs, dass es wichtiger ist, das Lernen zu erlernen, als bloßes Faktenwissen anzusammeln.

Ein interessanter Vorschlag zur Verknüpfung von Theorie und Praxis findet sich in Stephen Greenblatts Bericht zur Lehre in den künstlerischen Fächern an der Harvard University. Der Bericht wurde auf Veranlassung der Präsidentin Drew Faust verfasst, und seine Kernthese lautet, dass Theorie, Metatheorie und Praxis in einem Curriculum verbunden werden müssen. Dies ist ein vielversprechendes Modell, das auf unterschiedliche theoretische Wissensfelder mit praktischen Implikationen angewandt werden kann. Die heute übliche strikte Trennung von Theorie und Praxis ist schlicht inakzeptabel.

Zusammenfassend: Studierende sollten durch die Konfrontation mit Problemen aus der Lebenswirklichkeit in interdisziplinärem Denken mariniert werden. Dabei sollen sie sich deren praktischer als auch theoretischer Dimension bewusst werden, die Notwendigkeit, die Methode auf das jeweilige Problem abzustimmen, verstehen lernen und erkennen, dass alle Disziplinen ihre Grenzen haben.

Wissen muss dabei in seinen sozialen, kulturellen und politischen Kontexten vermittelt werden. Dabei sollten nicht bloß die faktischen Inhalte eines Fachs unterrichtet werden, sondern auch die Herausforderungen, die offenen Fragen und Ungewissheiten jeder Disziplin hervorgehoben werden.

IV.2. Zum theoretischen Hintergrund des Curriculumsreform-Manifests

An dieser Stelle ist es hilfreich, sich an die in der Wissenschaftsphilosophie vor einigen Jahrzehnten etablierte Unterscheidung zwischen dem »Wissenskorpus« und den »Wissensvorstellungen« zu erinnern: »Die Vorstellung von Wissen ist die sozial determinierte Perspektive auf Wissen (und nicht etwa unser Verständnis der Natur oder der Gesellschaft). […] Die Wissensvorstellung beschreibt a) die Quellen des Wissens; b) die Legitimation des Wissens; c) das Publikum oder die Öffentlichkeit von Wissen; d) seine Verortung innerhalb des sakral/ säkularen Kontinuums; e) die Verortung einiger seiner Aspekte auf einer Zeitachse; f) den Grad an allgemeinem Bewusstsein; g) die Verbindung zu vorherrschenden Normen, Werten, Ideologien […].«175

Wissensvorstellungen sind ein integraler Bestandteil jeder Disziplin und sollten parallel zum jeweiligen Wissenskorpus studiert werden. Es ist dabei wichtig, zwischen Kontextualisierung und Relativierung zu unterscheiden. Ideen im Kontext zu betrachten, bedeutet nicht, dass der Wissenskorpus sich ändert – oder dass alles, was denkbar, auch möglich ist –, sondern dass die Interpretationen von experimentellen oder theoretischen Ergebnissen und die Bewertung der Wichtigkeit von Problemen und der Relevanz von Forschungsergebnissen stets von den jeweiligen Wissensvorstellungen abhängen. Entscheidend ist, dass Wissensvorstellungen niemals abgeschlossen, sicher oder absolut sind. Man sollte stets daran denken, dass die Fragestellungen innerhalb einer Disziplin sich entsprechend den sich wandelnden Wissensvorstellungen verändern und verlagern. Die Tendenz, Disziplinen so zu unterrichten, als seien die bestehenden Erkenntnisse ewige Wahrheiten, ist einer der schädlichsten Aspekte der universitären Lehre, so wie sie praktiziert wird.

»Man muss ein Bewusstsein für die großen Probleme der Menschheit schaffen und zeigen, dass keine Disziplin allein in der Lage ist, eines dieser Probleme adäquat zu lösen.«176 Außerdem sollten Studierende sich »mit der Komplexität und Unüberschaubarkeit der Welt auseinandersetzen«. Dies betrifft explizit alle Wissenschaftsbereiche.

Die beiden Dimensionen des Konzepts »engagierter Bürger« (die moralisch/ soziale und die kognitive) haben wir bereits in der Einleitung erklärt und in Kapitel II und III ausführlich besprochen. Dort haben wir ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Entstehung neuer Disziplinen von den Universitäten befördert werden sollte, um den genannten Problemen zu begegnen. Auf die in diesem Zusammenhang besonders wichtigen Punkte gehen wir in Kapitel VI noch einmal im Detail ein.

Von besonderer Bedeutung ist es etwa, Studierende mit nicht linearen Phänomenen auf allen Wissensgebieten vertraut zu machen, denn die meisten Phänomene, denen wir in der Realität begegnen, sind nicht linear. Sie können weder durch Kausalitäten beschrieben werden, noch sind sie vorhersehbar oder mathematisch mittels einfacher Differentialgleichungen zu fassen. In linearen Systemen entspricht das Ganze der Summe seiner Teile. Doch wenn das Ganze mehr darstellt als die Summe der Teile, dann ist der mathematische Ausdruck für einen solchen Zustand eine nicht lineare Gleichung (deren Graph keine gerade Linie, sondern eine Kurve darstellt).177

Trotzdem lehren wir in unseren konventionellen Bachelor-Curricula sowohl in den Natur- als auch in den Sozial- und Geisteswissenschaften praktisch ausschließlich lineares Denken, mit der Begründung, dass andere Phänomene zu komplex seien, da die Studierenden erst in ihrem Master- oder Doktorandenstudium die Techniken erlernen, derer es Bedarf, um angemessen mit ihnen umzugehen.

Die Bedeutung dieser Vermeidung nicht linearer Probleme liegt auf der Hand. Ein Beispiel: Die meisten Experten sind sich darin einig, dass es eine von Menschen ausgelöste »globale Erwärmung« gibt. Worauf sich Experten und Politiker jedoch nicht einigen können, ist, welches Ausmaß diese Erwärmung annehmen und wann sie außer Kontrolle geraten wird. Um eine Vorhersage zu treffen, müsste man alle relevanten Parameter berücksichtigen und in einem Modell vereinigen. Aufgrund der zahlreichen Parameter ist das offensichtlich unmöglich. Wissenschaftler wählen deshalb einen Teil der relevanten Parameter aus und konstruieren ein Modell, das ein mögliches Ergebnis ihres Zusammenwirkens vorhersagt. Jede Auswahl an Parametern, also jedes einzelne Modell, führt zu einer anderen Vorhersage dieses in klassischer Weise nicht linearen Phänomens. Die unmittelbar aus Nichtlinearität erwachsende Ungewissheit und die sich daraus ergebenden unterschiedlichen politischen Forderungen werden jedoch häufig auf versteckte Interessen, Lobbyismus und andere Arten der Korruption zurückgeführt. Nur selten geben Forscher oder Politiker zu, dass die Wissenschaft auf viele Fragen schlicht keine definitive Antworten bereithält und wir gezwungen sind zu tun, was plausibel erscheint, auch wenn wir keinen Beweis im mathematischen Sinne zur Begründung anführen können.

Es muss unser Anspruch sein, dass die Studierenden, die Bürger von morgen, nicht nur über ein grundlegendes Verständnis der mühseligen Regierungs- und Verwaltungsprozesse eines demokratischen Staates verfügen, sondern auch das kognitive Verständnis entwickeln, das es ihnen ermöglicht, zu beurteilen, wie bestimmte Informationen, Argumente und Behauptungen einzuschätzen sind. Ein grundlegendes Verständnis nicht linearer Phänomene ist eine wichtige Voraussetzung dafür, dass Bürger wohlüberlegte Entscheidungen treffen (seien dies Konsumentscheidungen oder Wahlentscheidungen).

Die Frage, wie man allen Studierenden nicht lineares Denken vermitteln kann, ist nicht einfach zu beantworten. Einige schlagen vor, Theorien wie die Chaos- oder Komplexitätstheorie von Beginn des Bachelor-Studiums an zu unterrichten. Andere debattieren darüber, ob dies überhaupt Theorien sind. Wieder andere nennen sie »die Wissenschaften des 21. Jahrhunderts«.178 In der Populärliteratur gibt es exzellente Bücher, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen und die als Ausgangsmaterial für Einführungskurse auf Bachelor-Niveau oder als Gesprächsgrundlage für kleine Gruppen von Studierenden und Lehrenden oder aber als Aufgabenstoff für eigenständige Arbeiten von Studierenden unter sich dienen könnten.179

An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass all diese »neuen« Wissenschaften und Konzepte wie nicht lineare Dynamik, Chaos-, Komplexitäts- oder Netzwerktheorie bereits Ende des 19. Jahrhunderts in Arbeiten von Wissenschaftlern wie Henri Poincaré, Ludwig Boltzmann, Willard Gibbs und später Claude Shannon und John von Neumann entstanden. Tatsächlich neu sind die Verbreitung und Relevanz dieser Theorien sowie der Erfolg der Bemühungen, zu zeigen, dass ihre Konzepte und ihre mathematischen Formulierungen für viele Probleme in den Natur- und Sozialwissenschaften identisch sind. Historisch ist es zwar äußerst bedeutsam, ob all dies wirklich neu ist oder ob es z.B. unter Physikern bereits seit langer Zeit bekannt war, doch für die Curriculumsreform, die wir vorschlagen, ist dies unerheblich – denn Erstsemester lernen weder die Chaostheorie noch die Theorien von Boltzmann und Poincaré.

In den Gruppendiskussionen über Phänomene aus der Lebenswirklichkeit, die die streng disziplinären Einführungskurse vom ersten Semester an begleiten sollen, sollte auch die Auseinandersetzung mit nicht linearem Denken erfolgen und geübt werden. Man könnte alle möglichen Dinge zur Illustration heranziehen: gesellschaftliche Probleme wie Wasserknappheit, Energieversorgung, Sicherheit oder aber spezifische Phänomene wie die Zusammensetzung der Erdatmosphäre, Luft- und Wasserturbulenzen, Bevölkerungsfluktuationen, Oszillationen im menschlichen Gehirn oder im Herz, psychische Krankheiten, politische Revolutionen, wirtschaftliches Ungleichgewicht oder auch verschiedene Formen von »Emergenz«.

Letztgenannter Begriff bedarf einiger erklärender Worte: Weitestgehend beruht die klassische Wissenschaft auf der Annahme, dass Systeme über die Teile, aus denen sie hervorgehen, verstanden werden können; man meinte, Systeme in ihre Teile zerlegen und sie aus ihnen rekonstruieren zu können. Anders formuliert glaubte man, dass das Ganze die Summe seiner Teile sei. In den Naturwissenschaften wurden alle möglichen Körper bis hin zu Atomen, Nuklei, Elektronen und später Quarks analysiert. Lebende Systeme wurden auf Zellen, die DNA und einzelne Moleküle reduziert, um das Leben zu verstehen. Doch bereits nach kurzer Zeit entdeckte man neue, »emergente« Qualitäten. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.

Auch die klassische Annahme, dass alle Phänomene in mathematischen Ausdrücken fixiert werden können, die wiederum auf noch basalere Formeln reduzierbar sind, bis man schließlich – in Steven Weinbergs Worten – eine finale Theorie aufstellen kann, ist nicht universal gültig. Stattdessen müssen wir unsere Suche neu beginnen entsprechend Philip W. Andersons Ansatz, dass es gut möglich ist, dass jede Organisationsebene ihre eigenen fundamentalen Gesetze hat, die nicht aufeinander reduzierbar oder austauschbar sind.

Die Allgemeine Relativitätstheorie z.B. beschäftigt sich mit sehr Großem (außerhalb jedes menschlichen Maßstabs oder Erfahrungshorizonts), also beispielsweise mit Galaxien oder Universen, die Quantenmechanik mit sehr Kleinem (weit jenseits der menschlichen Wahrnehmung), beispielsweise subatomaren Teilchen. Die Chaos- bzw. Komplexitätstheorie beschäftigt sich mit Objekten innerhalb des menschlichen Erfahrungshorizonts, mit dem, was wir das »echte Leben« nennen.

Die klassische Wissenschaft betrachtete die natürliche Welt im Sinne des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik, laut dem alles Natürliche eine ideale Unordnung anstrebt; das Leben, also das wichtigste Phänomen jeder Ordnung, blieb im Sinne der Newton/ Laplace-Theorie unerklärt. Die naturwissenschaftliche Ausbildung im Bachelor-Curriculum muss dieses Problem ansprechen. Ähnlich verhält es sich in den Wirtschaftswissenschaften. So mathematisch ausgeklügelt die neoklassische Theorie sein mag – sie basiert (im Kern) noch immer auf der in der Realität nicht zu beobachtenden Annahme, dass der Mensch rational ist und Märkte ein Gleichgewicht anstreben. Die jüngste Finanzkrise hat uns einmal mehr gezeigt hat, dass diese Annahme alles andere als trivial ist.

Nach unserem Verständnis der Bachelor-Curricula ist es unerlässlich, dass solch komplexe Thematiken bereits im ersten Studienjahr thematisiert werden. Studierende aller Disziplinen sollten sich mit derartigen Fragen auseinandersetzen, unabhängig davon, ob sie vorhaben, für ein Unternehmen oder den Staat zu arbeiten, sich selbstständig zu machen oder als Forscher oder Lehrer tätig zu werden.

IV.3. Ein neues, umfassenderes Verständnis akademischer Allgemeinbildung

Ein Verständnis derartiger Phänomene muss, ebenso wie quantitative Fähigkeiten, Teil eines neuen Verständnisses akademischer Allgemeinbildung im 21. Jahrhundert werden, unabhängig davon, ob jemand sich im Beruf oder in der Forschung mit diesen Dingen auseinandersetzt. Dies ist ein hehres Ziel, und wir sind uns bewusst, dass derartige Forderungen in einer Gesellschaft, in der ca. 20 Prozent der Bevölkerung kaum lesen und schreiben können, wie abgehobene Träumerei erscheinen mögen. Es geht uns jedoch auch gar nicht darum, alle Studierenden zu Universalgelehrten machen zu wollen. Es ist nicht notwendig, dass alle Studierenden die großen Herausforderungen vollends durchdringen oder eigene Lösungsansätze ersinnen. Wir sind jedoch der Meinung, dass die Tatsache, dass sie sich überhaupt mit ihnen auseinandersetzen, ein anderes Bewusstsein schaffen wird. Es geht darum, sie auf diese Probleme aufmerksam zu machen, sodass sie sich in der Folge eine eigene mal mehr, mal weniger wohlinformierte Meinung bilden. Hier mögen manche die Frage stellen, was es denn bringen solle, wenn die Studierenden sich allerlei Halbwissen aneignen, das sie sicher nicht in die Lage versetzt, qualifizierte Entscheidungen in Bezug auf hochkomplexe Probleme zu treffen. Als Pragmatisten und Demokraten möchten wir diesem Einwand entgegnen, dass es keine Nichtentscheidungen gibt und alle Studierenden, sowohl durch ihre politischen Wahl- als auch durch ihre (Medien-)Konsumentscheidungen, praktisch täglich zu all diesen Fragen Stellung beziehen. Um es mit einem Bonmot William James’ auszudrücken: »Wenn du eine Entscheidung treffen musst und du triffst sie nicht, ist das auch eine Entscheidung.« Daher sind wir der Meinung, dass es besser ist, wenn Studierende zumindest etwas Zeit während ihres Studiums darauf verwenden, sich über diese Fragen Gedanken zu machen, als wenn diese in ihrem Studium überhaupt nicht vorkommen – nicht zuletzt, da dies ja auch einen Ausdruck gesellschaftlicher Prioritäten darstellt und somit ein Signal sendet, das wir für nicht vertretbar halten. Wir glauben, dass Studierende, die sich parallel zu ihrem Fachstudium mit Seminaren zu Problemen aus der Lebenswirklichkeit auseinandergesetzt haben, im Schnitt bessere (auch moralischere) Entscheidungen treffen werden, als wenn sie sich überhaupt nicht mit jenen Fragen auseinandersetzen, die uns alle qua unserer Menschlichkeit etwas angehen. Diese Seminare mögen die Studierenden nicht in die Lage versetzen, die Probleme der Menschheit zu lösen, aber vielleicht tragen sie ja dazu bei, den Mut zur Veränderung und den Willen zum Handeln in den Studierenden zu wecken, ohne die auch allwissende Experten nicht in der Lage sein werden, die komplexen Probleme globalen Ausmaßes zu lösen.

An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass auch die Forderung nach allgemeiner Schulbildung, als Martin Luther sie im 16. Jahrhundert erstmals erhob, allseits Ablehnung erfuhr und schlicht nicht ernst genommen wurde. Vielen erschien diese weder nötig noch wünschenswert. Die Tatsache, dass diese Sichtweise heutzutage überwunden ist, macht uns Mut, dass auch unsere Vorstellung von Hochschulbildung als Allgemeinbildung eines Tages zur Realität werden wird.

IV.4. Wie die Neue Aufklärung ihren Weg in die Curricula findet

An dieser Stelle ein umfassendes Bachelor-Curriculum zu skizzieren, das den oben genannten Leitlinien folgt, sich mit der Lebenswirklichkeit und mit nicht linearen Problemen auseinandersetzt und ein historisch-evolutionäres Verständnis von Wissen vermittelt, dies können wir hier nicht leisten. Deshalb beschränken wir uns auf einige Beispiele, die erläutern, wie diese Ideen auch Eingang in die Lehre in den Disziplinen finden können.

Die Newton’schen Formeln funktionieren offenbar gut zur Verortung riesiger, weit entfernter Himmelskörper. Doch je näher wir an unsere täglichen Lebenserfahrungen herantreten, desto weniger deterministisch werden unsere Vorhersagen; die Laufbahn von Sternen und Kometen kann berechnet werden, doch Wolken und Winde stellen uns noch immer vor Rätsel. Einer der ersten Forscher der Chaostheorie drückte dies so aus: »Jedes physische System, das sich nicht periodisch verhält, ist unberechenbar.«180 Deshalb können wir das Wetter auch nicht weiter als ein paar Tage voraussagen.

Philip W. Andersons eben erwähnter berühmter Artikel More is Different, vermutlich eine der besten Stellungnahmen gegen den Reduktionismus, kann interessante Diskussionen anregen.181 Seine Überlegungen bereiteten den Weg zu völlig neuen Ansätzen bei der Erforschung der Natur und des Lebens. Auch Stuart A. Kauffmans jüngstes Buch gegen den Reduktionismus in den Sozialwissenschaften könnte gut als Lektüre hinzugezogen werden.182

In den Natur- und Ingenieurswissenschaften lernen Studierende, Differentialgleichungen zu lösen, »die die Realität als Kontinuum repräsentieren, das sich reibungslos von Ort zu Ort und von Zeit zu Zeit verändert«, wie ein Experte es ausdrückte. Studierende werden jedoch kaum damit konfrontiert, dass die meisten Differentialgleichungen in der Realität überhaupt nicht gelöst werden können.

In der Physik eignen sich das Phänomen der Turbulenz und die Phasenübergänge (flüssig zu gasförmig; unmagnetisch zu magnetisch) zur Illustration der beschriebenen Ideen. Beides sollte am Anfang des Studiums so unmathematisch wie möglich erklärt werden. Gleiches gilt für Attraktoren. Oszillatoren werden üblicherweise vorgestellt, nicht lineare Oszillatoren hingegen nur selten erwähnt. Unserer Ansicht nach sollten auch sie schon in Einführungskursen Erwähnung finden.

Bachelor-Studierenden sollte schon im ersten Studienjahr der Umgang mit nicht linearen Gleichungen anhand lebensnaher Beispiele erläutert werden. Außerdem sollten die unterschiedlichen Definitionen von Komplexität und Selbstorganisation, die die Disziplinen anbieten, unter Berücksichtigung der Gründe für diese Unterschiede besprochen werden.

In den Sozialwissenschaften ließe sich die ganze Bandbreite der Möglichkeiten anhand einer Gegenüberstellung der klassischen und neuen Wirtschaftslehre – des Denkens von Adam Smith, John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter bis zu Brian Arthur, Amartya Sen, Herbert Simon oder (jüngeren Datums) Joseph Stiglitz und Edmund Phelps – illustrieren. Die Stabilität des Marktes oder die Idee, dass alle Märkte stets zu einem Gleichgewicht tendieren, sind Annahmen, deren Zulässigkeit vor dem Hintergrund ihrer augenfälligen Falschheit diskutiert werden sollte.183

Studierende sollten lernen, dass ihre Umwelt durch Netzwerke strukturiert ist, die überall anzutreffen sind: in der Natur, in der Gesellschaft, der Wirtschaft und der Ideengeschichte. Wie entstehen Netzwerke, was macht sie aus, und wie entwickeln sie sich weiter? In der Soziologie könnte man die Studierenden etwa mit Mark Granovetters klassischem Werk The Strength of Weak Ties184 bekannt machen. Hier wird ihnen bereits gezeigt, dass die Gesellschaft durch eng verbundene Cluster strukturiert ist und wie alles mit allem zusammenhängt. Selbstorganisation und der Synchronisationsdrang der Natur können anhand mannigfacher Beispiele erklärt werden. Die »Normalverteilung« (Gauß-Kurve), das Potenzgesetz, skalierte und unskalierte Verteilungen können als Beispiele dienen.

Auf allen Gebieten des Curriculums sollte ein breiter, evolutionärer Denkansatz vermittelt werden. Wir sind davon überzeugt, dass die Evolution in ihren vier Dimensionen – genetisch, epigenetisch, behavioristisch und symbolisch – als implizites Wissen zu einem integralen Bestandteil unseres Denkens geworden ist. In den letzten Jahrzehnten ist das sowohl auf formaler als auch auf informeller Ebene offensichtlich geworden. Formale Beispiele für das Erstarken einer evolutionären Perspektive sind neue Wissenschaftsfelder wie evolutionäre Wirtschaftslehre, evolutionäre Psychologie, evolutionäre Immunologie oder evolutionäre Medizin.185 Auf inoffizieller Ebene ist es innerhalb aller Disziplinen zu einem Allgemeinplatz geworden, dass die Validität von Theorien, Konzepten und Interpretationen (selbst von Experimenten) zeitabhängig ist. Deshalb denken wir, dass das systematische Studium eines evolutionären Ansatzes zum integralen Bestandteil des Curriculums sowohl in den Natur- und Sozialwissenschaften als auch in den Geisteswissenschaften werden sollte. Vielleicht muss eine jeweils angepasste Version des Unterrichts für Biologiestudierende, für Studierende anderer Naturwissenschaften, für Studierende der Sozial- und Geisteswissenschaften, der Medizin und der nicht medizinischen Fächer erstellt werden. Nichtsdestotrotz sollte ein Einführungskurs mit Beispielen zur »Evolution in ihren vier Dimensionen« Teil jedes Curriculums werden oder als Konzept Eingang in die disziplinäre Lehre finden.186 Der parallele Unterricht von Evolutionstheorie und Seminaren zu nicht linearem Denken wird Fragen der Komplexität aufwerfen. Dabei sollte betont werden, dass die Zunahme von Komplexität im Zuge der Evolution weder unausweichlich noch universell ist.187

Diese Auswahl an Punkten, die der Illustration nicht linearen Denkens dienen könnten, ist natürlich weder systematisch noch erschöpfend. Selbstverständlich könnte diese etwas beliebig daherkommende Liste noch endlos verlängert werden, entscheidend aber ist etwas anderes: Worum es uns letztlich geht, ist, dass den Studierenden deutlich gemacht werden soll, dass wissenschaftliche Dogmen mit Skepsis zu betrachten sind.

Man bräuchte die Hilfe und Expertise der besten Wissenschaftler auf den jeweiligen Gebieten, um aus den diversen Elementen ein kohärentes Ganzes zu schmieden. In erster Linie ist jedoch entscheidend, dass die universitäre Welt begreift, dass die Art des Denkens, die hier gefördert werden soll, also interdisziplinäres, nicht lineares Denken, essenziell für ein Verständnis unserer komplexen und chaotischen Welt ist.

Unserem Ansatz steht die Sorge vieler Wissenschaftler im Wege, dass die vorläufige oder oberflächliche Konfrontation mit all diesen schwierigen Konzepten und Theorien zur Kultivierung halb garer Ideen führen könnte. Doch dadurch, dass diese Inhalte parallel zu den rigorosen, methodisch »sauberen« und technisch anspruchsvollen Einführungskursen in den Disziplinen gelehrt werden, sollte eine angemessene Balance zwischen traditioneller wissenschaftlicher Ausbildung und der Entwicklung eines Verständnisses realer Probleme ähnlich dem Wissen, das man aus wissenschaftlicher Populärliteratur zieht, gewährleistet sein.

Ein zusätzlicher Nutzen der Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen besteht darin, dass Studierende so ihre Neugier befriedigen können, mit der sie normalerweise an eine Universität kommen. Das ist nicht nur wichtig, weil es dazu beitragen mag, dass weniger von ihnen ihr Studium aus Langeweile oder aufgrund eines Gefühls mangelnder Relevanz abbrechen. Man sollte auch daran denken, dass die meisten Studierenden die Universität sonst nach ihrem Bachelor-Abschluss in dem Glauben verlassen, die reduktionistischen intellektuellen Werkzeuge, mit denen man sie ausgestattet hat, würden ihnen ein ausreichendes Verständnis der Welt ermöglichen. In diesem Fall würde ein Studium eher einer disziplinären Indoktrinierung denn einer Erziehung zum freien Denken gleichkommen. Nicht zuletzt hätte die von uns vorgeschlagene Reform zur Folge, dass Studierende unterschiedlicher Wissenschaftszweige – unabhängig davon, ob sie ein geistes-, natur- oder sozialwissenschaftliches Fach studieren – öfter miteinander reden und voneinander lernen würden, sodass es ihnen wahrscheinlich auch im späteren Leben leichter fiele, die Arbeit der jeweils anderen zu verstehen, zumindest aber zu respektieren.

Das in der disziplinären Ausbildung vermittelte Wissen muss historisch verortet, seine Entstehung, Verfeinerung und Nutzung kritisch untersucht werden. Die Lehrenden müssen darauf hinweisen, dass jede Kultur eigene Traditionen und Wege hat, Wissen zu interpretieren. Wissen darf weder statisch noch als Bestandteil eines einzigen, »richtigen« Kanons dargestellt werden.

Dieses Grundprinzip kann leicht als Forderung verstanden werden, verbindliche Kurse in Wissenschaftsphilosophie oder vergleichender Kulturwissenschaft anzubieten. Selbstverständlich wäre es ideal, wenn zu jedem Kurs in den Natur- oder Sozialwissenschaften einige Bücher, die den jeweiligen geistesgeschichtlichen Hintergrund beleuchten, zur Pflichtlektüre erklärt würden.188

Die kulturellen Unterschiede zwischen den verschiedenen Schulen der Sozial- und Geisteswissenschaften sind ebenso gut dokumentiert wie die Differenzen bei der Interpretation naturwissenschaftlicher Resultate in Amerika, Europa, China oder Indien.189 Auch dies sollte in den fachspezifischen Kursen thematisiert werden.

Alle Studierenden sollten ein Verständnis für die grundlegenden Strukturen der Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften entwickeln. Lehrende sollten die Verbindungen zwischen diesen unterschiedlichen Wissenstraditionen hervorheben und illustrieren.

Ein Curriculum, das allen Studierenden eine umfassende Allgemeinbildung vermitteln möchte, unabhängig davon, welchen Beruf sie wählen werden, muss entsprechend der Formulierung des LEAP Reports von ihnen fordern, sich ein grundlegendes »Wissen über menschliche Kulturen und die physische und natürliche Welt« anzueignen.

Die Richtlinien, die im oben erwähnten Manifest niedergelegt wurden, sollten dabei auf alle Curricula (sowohl die Elemente der Allgemeinbildung als auch die der disziplinären Ausbildung) angewandt werden. Dabei ist unser Verständnis von Allgemeinbildung sehr weit gefasst; es handelt sich nicht um ein Patentrezept, sondern ein breites Spektrum ökonomischen, statistischen, sozialen, technologischen, kulturellen, naturwissenschaftlichen, medizinischen und politischen Wissens, das es stets aufs Neue zu hinterfragen gilt.

Im Manifest wird zudem darauf hingewiesen, dass die Implikationen der modernen Kommunikations- und Informationstechnologien und ihre Konsequenzen für die Universität als Organisation ernsthaft zu bedenken sind. Wir werden dieses Thema im Rahmen von Kapitel X gesondert besprechen. An dieser Stelle sei nur gesagt, dass die neuen Technologien den Unterschied zwischen den Begriffen »Information« und »Wissen« noch deutlicher hervorheben werden. »Informationen« sind das unbearbeitete Rohmaterial, also Daten und Fakten, auf die zukünftig jeder, zu jeder Zeit und von jedem Ort aus wird zugreifen können. Viele Studierende, die an die Universität kommen, sind heute bereits in der Lage, sich binnen Minuten Zugang zu einer Vielzahl an Informationen zu verschaffen. Frontalvorlesungen, die leider oft noch immer vor allem der Informationsvermittlung dienen, werden somit zunehmend überflüssig werden. Professoren sollten ihre wertvolle Zeit lieber darauf verwenden, online oder in Kleingruppen mit den Studierenden zu diskutieren und ihnen zu vermitteln, wie man Informationen kritisch verarbeitet und sich Wissen aneignet. Die Architektur der Universitäten wird dies zukünftig widerspiegeln: Vorlesungssäle werden nur noch für größere Veranstaltungen gebraucht werden. Stattdessen werden viel mehr kleine Räume, die sich für Gruppenarbeit, für Tutorien, für Diskussionen und freiwillige Übungen eignen, gebraucht. In einem neuen Buch von Douglas Thomas und John Seely Brown wird dieser Punkt besonders hervorgehoben.190 Ihre Beispiele für eine neue Lernkultur entsprechen unserem Konzept, Probleme aus der Lebenswirklichkeit in kleinen Gruppen von Studierenden zu diskutieren oder unter Anleitung eines Mentors durchspielen zu lassen.191

All dies sind nur grobe Richtlinien, die sicherlich auch anders formuliert werden könnten. Es gibt Tausende verschiedene Arten, sie in funktionierende Curricula zu übersetzen. Die Beschäftigung mit der Frage, wie genau diese aussehen sollten, wird für die Zukunft der Universitäten im 21. Jahrhundert von zentraler Bedeutung sein.

Lee Shulman hebt hierzu hervor: »Die Bologna-Reform berührt besonders die strukturellen und politischen Aspekte der europäischen Hochschulbildung. Die verbleibenden Fragen, die sehr viel schwieriger zu lösen sind, betreffen epistemische, curriculare, substanzielle und pädagogische Inhalte.«192 Um diese Fragen möglichst adäquat zu beantworten, darf nicht nur die Art des jeweils zu vermittelnden Wissens eine Rolle spielen – das den Mittelpunkt der Curriculumserstellung bildet –, berücksichtigt werden müssen auch die gesellschaftlichen Forderungen und Erwartungen sowie die Identität der Studierenden.

IV.5. Zur Geschichte der Debatte um curriculare Reformen

Wie bereits erwähnt, sind Curricula leider kein besonders gut erforschtes Gebiet. Unter der umfangreichen Literatur zur Hochschulbildung finden sich nur wenige Publikationen, die sich mit ihnen befassen. Doch einige relevante Bücher sollten an dieser Stelle erwähnt werden. Eines von ihnen stammt von W. B. Carnochan.193 Es wurde aus der Perspektive eines wahren Humanisten geschrieben – Carnochan ist Professor der Geisteswissenschaften und war sechs Jahre lang Direktor des Stanford Humanities Center. In Übereinstimmung mit einigen anderen Autoren besteht seine wichtigste Erkenntnis darin, dass er die Diskussion der Aufgaben und Zwecke der Hochschullehre und der Frage, welche Curricula sich aus den gemeinsam beschlossenen Zielen ergeben sollten, zu einem der bedeutendsten Anliegen der Universität erklärt. Die intellektuelle Krise der heutigen Universität, die bei Weitem nicht nur die Liberal Arts betrifft (es sei denn, man zählt auch die Lehre in den Natur-, Geistes- und Technikwissenschaften zu den selbigen), ergibt sich aus der Vernachlässigung, wenn nicht gar Eliminierung einer gemeinsamen Diskussion über Inhalte, Schwerpunkte und ihre Bedeutung.

England und die USA waren zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts eine Art Schlachtfeld für curriculare Konflikte und Debatten. Mittlerweile ist es auf diesem Schlachtfeld sehr ruhig geworden. Während derartige Ruhe in anderen Bereichen zu begrüßen wäre, halten wir es für höchst bedauerlich, ja gar gefährlich, dass unsere Gesellschaften, sowohl auf politischer Ebene als auch »vor Ort« innerhalb der Universitäten, aufgehört haben, über Prioritäten, Ziele und somit auch über die Inhalte der Curricula selbst – jenseits des Mantras der »Employability« – zu diskutieren. Carnochans These ist, dass heute mehr denn je eine historische und konzeptuelle Analyse nötig wäre, um ein klareres Zielbewusstsein zu entwickeln und Antworten auf die lokalen Bedürfnisse zu finden, seien diese sozialer, wirtschaftlicher, spiritueller oder rein disziplinärer Natur.

Unsere bisherigen Curricula repräsentieren die Werte der Aufklärung wie Linearität, Universalität, Kontextunabhängigkeit etc. Leider basieren sie auf der Idee, dass junge Menschen Gewissheit benötigen, selbst wenn dies im Grunde bedeutet, dass ihnen in der Lehre irreführende Vorstellungen über die Gewissheit (und Eindeutigkeit) des jeweiligen »Wissenskorpus« vermittelt werden. Wie in der Einleitung erwähnt, halten wir dies für falsch: Junge Leute brauchen physische und emotionale Gewissheit, nicht kognitive Gewissheit. Wir können es ihnen zumuten, mit der Erkenntnis umzugehen, dass die Wissenschaft viele Fragen nicht beantworten kann und dass in vielen Fragen keine Einigkeit herrscht.

Die Debatten über die Curricula in den USA und Europa im 19. und 20. Jahrhundert waren bestimmt durch den Gegensatz zwischen »der Antike« und »der Moderne«. Dieser Gegensatz war auch prägend für die berühmte Debatte zwischen Kardinal Newman und Matthew Arnold im England des 19. Jahrhunderts.194 Es waren die Ideen dieser Hüter der klassischen Bildung, auf die Harvard-Präsident Eliot und seine Gegner zurückblickten, als sie sich über die Einführung von studentischer Wahlfreiheit stritten. Zur Bewältigung der Herausforderungen, vor denen die Gesellschaft und somit die Universitäten heute stehen, muss man sowohl zurück als auch nach vorn schauen, denn sie alle ergeben sich aus bestimmten historischen Entwicklungen, deren Analyse und Kenntnis normalerweise die Suche nach Lösungen erleichtert.

Während die Debatte zwischen Newman und Arnold noch im Gange war, wurden ständig neue Ansätze entworfen: Survey Courses; die komplett freie Fächerwahl (wie Präsident Eliot sie vertrat und wie sie in Brown noch immer praktiziert wird); das Kerncurriculum; das Wahlpflichtcurriculum und der Ansatz, allein »große Werke« zu unterrichten (wie ihn Robert Maynard Hutchins am College der University of Chicago einführte).

Hutchins wollte durch die Lehre mittels eines festen Kanons der bedeutendsten Werke der Menschheitsgeschichte (zumeist Schriften älterer Männer aus dem euroatlantischen Raum) »die Metaphysik wiederbeleben und ihr erneut einen Platz in der Hochschulbildung sichern«195; Ziel war es dabei, das Curriculum unabhängig vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu machen. Sein weniger bekannter Gegner, Harry D. Gideonse, war der Überzeugung, dass die Hochschulbildung in einer Demokratie im Kontext der jeweiligen Gesellschaft zu verorten sei.

Das 1945 unter der Führung von Präsident Conant erschienene Redbook der Harvard University (General Education in a Free Society) und die 1968 publizierte Study of Education der Stanford University »erfanden«, so Carnochan, »das Rad neu, da diese Beziehungen bereits seit langer Zeit studiert und beschrieben worden waren«.196 In den 1980er Jahren schließlich brachen dann die amerikanischen »Kulturkriege« aus, die hauptsächlich von der Stanford University ausgingen.

Es gibt zahlreiche interessante und lohnende Programme an vielen amerikanischen Universitäten und Colleges, die oft auf jahrzehntelange Erfahrung mit der Vermittlung von Allgemeinbildung zurückblicken können. Vor Kurzem etwa publizierte nach Harvard auch Stanford einen Bericht über die Reform des Undergraduate Curriculum. Diese periodischen Überarbeitungen sind wichtig, da uns bereits das Nachdenken über solche Themen weiterbringt; trotzdem entsprechen die reformierten Curricula und Experimente, die aus solchen Beratungen von Expertenkomitees resultieren, üblicherweise nicht den Forderungen, die in unserem Manifest aufgestellt wurden.

Seit langer Zeit halten Universitäten ihre jeweiligen sozialen, religiösen und kulturellen Kontexte für weitgehend irrelevant, die Curricula der führenden Forschungsuniversitäten sind mittlerweile mit all ihren Defiziten globalisiert worden,197