Über Anna Seghers

Netty Reiling wurde 1900 in Mainz geboren. (Den Namen Anna Seghers führte sie als Schriftstellerin ab 1928.) 1920-1924 Studium in Heidelberg und Köln: Kunst- und Kulturgeschichte, Geschichte und Sinologie. Erste Veröffentlichung 1924: »Die Toten auf der Insel Djal«. 1925 Heirat mit dem Ungarn Laszlo Radvanyi. Umzug nach Berlin. Kleist-Preis. Eintritt in die KPD. 1929 Beitritt zum Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1933 Flucht über die Schweiz nach Paris, 1940 in den unbesetzten Teil Frankreichs. 1941 Flucht der Familie auf einem Dampfer von Marseille nach Mexiko. Dort Präsidentin des Heinrich-Heine-Klubs. Mitarbeit an der Zeitschrift »Freies Deutschland«. 1943 schwerer Verkehrsunfall. 1947 Rückkehr nach Berlin. Georg-Büchner-Preis. 1950 Mitglied des Weltfriedensrates. Von 1952 bis 1978 Vorsitzende des Schriftstellerverbandes der DDR. Ehrenbürgerin von Berlin und Mainz. 1978 Ehrenpräsidentin des Schriftstellerverbandes der DDR. 1983 in Berlin gestorben. Romane: Die Gefährten (1932); Der Kopflohn (1933); Der Weg durch den Februar (1935); Die Rettung (1937); Das siebte Kreuz (1942); Transit (1944); Die Toten bleiben jung (1949); Die Entscheidung (1959); Das Vertrauen (1968). Zahlreiche Erzählungen und Essayistik.

Sonja Hilzinger, geboren 1955, studierte Germanistik, Kunstgeschichte und Publizistik. Promotion 1985, Habilitation 1997. Sie ist Privatdozentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Mainz, lebt in Berlin und arbeitet als freie Autorin und Hochschullehrerin. Herausgeberin der zwölfbändigen Werkausgabe Christa Wolfs sowie der Edition »Inge Müller. Daß ich nicht ersticke am Leisesein. Gesammelte Texte« (2002). Zahlreiche Veröffentlichungen, u. a. zum Werk von Anna Seghers: »Das siebte Kreuz« von Anna Seghers. Texte, Daten, Bilder (Hg., 1990), Anna Seghers (2000).

Informationen zum Buch

Menschen auf der Flucht.

Marseille im Sommer 1940: Am Rande Europas versammeln sich die von den Nazis Verfolgten und Bedrohten. Sie hetzen nach Visa, Bescheinigungen und Stempeln, um nach Übersee ins rettende Exil zu entkommen. Im Chaos der Stadt, in den Cafés, auf dem Gang von Behörde zu Behörde kreuzen sich ihre Wege – und für kurze Zeit sind fremde Leben durch Hoffnungen, Träume und Leidenschaften miteinander verbunden.

»Ein zeitaktueller Roman.« Hanjo Kesting, NDR

»›Transit‹ gehört zu den Büchern, die in mein Leben eingreifen, an denen mein Leben weiterschreibt, so dass ich sie alle paar Jahre zur Hand nehmen muss, um zu sehen, was inzwischen mit mir und mit ihnen passiert ist.« Christa Wolf

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Anna Seghers

Transit

Roman

Inhaltsübersicht

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Erstes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Zweites Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Drittes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Viertes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Fünftes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Sechstes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Siebentes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Achtes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

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Kapitel IV

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Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Neuntes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Zehntes Kapitel

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Nachwort

Impressum

Erstes Kapitel

I

Die »Montreal« soll untergegangen sein zwischen Dakar und Martinique. Auf eine Mine gelaufen. Die Schifffahrtsgesellschaft gibt keine Auskunft. Vielleicht ist auch alles nur ein Gerücht. Verglichen mit den Schicksalen anderer Schiffe, die mit ihrer Last von Flüchtlingen durch alle Meere gejagt wurden und nie von Häfen aufgenommen, die man eher auf hoher See verbrennen ließ, als die Anker werfen zu lassen, nur weil die Papiere der Passagiere ein paar Tage vorher abliefen, mit solchen Schiffsschicksalen verglichen ist doch der Untergang dieser »Montreal« in Kriegszeiten für ein Schiff ein natürlicher Tod. Wenn alles nicht wieder nur ein Gerücht ist. Wenn das Schiff nicht inzwischen gekapert wurde oder nach Dakar zurückbeordert. Dann schmoren eben die Passagiere in einem Lager am Rande der Sahara. Vielleicht sind sie auch schon glücklich auf der anderen Seite des Ozeans. – Sie finden das alles ziemlich gleichgültig? Sie langweilen sich? – Ich mich auch. Erlauben Sie mir, Sie einzuladen. Zu einem richtigen Abendessen habe ich leider kein Geld. Zu einem Glas Rosé und einem Stück Pizza. Setzen Sie sich bitte zu mir! Was möchten Sie am liebsten vor sich sehen? Wie man die Pizza bäckt auf dem offenen Feuer? Dann setzen Sie sich neben mich. Den alten Hafen? Dann besser mir gegenüber. Sie können die Sonne untergehen sehen hinter dem Fort Saint-Nicolas. Das wird Sie sicher nicht langweilen.

Die Pizza ist doch ein sonderbares Gebäck. Rund und bunt wie eine Torte. Man erwartet etwas Süßes, da beißt man auf Pfeffer. Man sieht sich das Ding näher an, da merkt man, dass es gar nicht mit Kirschen und Rosinen gespickt ist, sondern mit Paprika und Oliven. Man gewöhnt sich daran. Nur leider verlangen sie jetzt auch hier für die Pizza Brotkarten.

Ich möchte gern wissen, ob die »Montreal« wirklich unterging. Was machen alle die Menschen da drüben, falls sie doch noch ankamen? Ein neues Leben beginnen? Berufe ergreifen? Komitees einrennen? Den Urwald roden? Ja, wenn es sie wirklich da drüben gäbe, die vollkommene Wildnis, die alle und alles verjüngt, dann könnte ich fast bereuen, nicht mitgefahren zu sein. – Ich hatte nämlich durchaus die Möglichkeit mitzufahren. Ich hatte eine bezahlte Karte, ich hatte ein Visum, ich hatte ein Transit. Doch zog ich es plötzlich vor, zu bleiben.

Auf dieser »Montreal« gab es ein Paar, das ich einmal flüchtig gekannt habe. Sie wissen ja selbst, was es auf sich hat mit solchen flüchtigen Bekanntschaften in den Bahnhöfen, in den Warteräumen der Konsulate, auf der Visa-Abteilung der Präfektur. Wie flüchtig ist das Geraschel von ein paar Worten, wie Geldscheine, die man in Eile wechselt. Nur manchmal trifft einen ein einzelner Ausruf, ein Wort, was weiß ich, ein Gesicht. Das geht einem durch und durch, rasch und flüchtig. Man blickt auf, man horcht hin, schon ist man in etwas verwickelt. Ich möchte gern einmal alles erzählen, von Anfang an bis zu Ende. Wenn ich mich nur nicht fürchten müsste, den andern zu langweilen. Haben Sie sie nicht gründlich satt, diese aufregenden Berichte? Sind Sie ihrer nicht vollständig überdrüssig, dieser spannenden Erzählungen von knapp überstandener Todesgefahr, von atemloser Flucht? Ich für mein Teil habe sie alle gründlich satt. Wenn mich heute noch etwas erregt, dann vielleicht der Bericht eines Eisendrehers, wie viel Meter Draht er schon in seinem langen Leben gedreht hat, mit welchen Werkzeugen, oder das runde Licht, an dem ein paar Kinder Schulaufgaben machen.

Geben Sie acht mit dem Rosé! Er trinkt sich, wie er aussieht: wie Himbeersaft. Sie werden unglaublich heiter. Wie leicht ist alles zu tragen. Wie leicht alles auszusprechen. Und dann, wenn Sie aufstehn, zittern Ihnen die Knie. Und Schwermut, ewige Schwermut befällt Sie – bis zum nächsten Rosé. Nur sitzen bleiben dürfen, nur nie mehr in etwas verwickelt werden.

Ich selbst war früher leicht in Sachen verwickelt, über die ich mich heute schäme. Nur ein wenig schäme – sie sind ja vorbei. Ich müsste mich furchtbar schämen, wenn ich die andren langweilte. Ich möchte trotzdem einmal alles von Anfang an erzählen.

II

Ende des Winters geriet ich in ein Arbeitslager in der Nähe von Rouen. Ich geriet in die unansehnlichste Uniform aller Armeen des Weltkrieges: in die des französischen »Prestataires«. Nachts schliefen wir, weil wir Ausländer waren, halb Gefangene, halb Soldaten, hinter Stacheldraht, tags machten wir »Arbeitsdienst«. Wir mussten englische Munitionsschiffe ausladen. Wir wurden furchtbar bombardiert. Die deutschen Flugzeuge kamen so tief, dass ihre Schatten uns streiften. Damals verstand ich, warum man sagt: unter dem Schatten des Todes. Einmal lade ich mit einem Jungen aus, er heißt Fränzchen, sein Gesicht ist so weit von meinem weg wie jetzt Ihres. Es ist sonnig, es rauscht in der Luft. Da hebt das Fränzchen sein Gesicht. Da sticht es schon tief herunter. Sein Gesicht wird schwarz von dem Schatten. Tschuk, es schlägt neben uns ein. Sie kennen das alles genauso gut wie ich selbst. Schließlich hatte auch alles sein Ende. Die Deutschen näherten sich. Was galten jetzt noch die ausgestandenen Schrecken und Leiden? Der Untergang der Welt stand bevor, morgen, heute Nacht, sofort. Denn etwas Ähnliches, glaubten wir alle, sei die Ankunft der Deutschen. In unserem Lager begann der Hexentanz. Manche weinten, manche beteten, mancher versuchte, sich das Leben zu nehmen, manchem gelang es. Manche beschlossen, sich aus dem Staub zu machen, aus dem Staub vor dem Jüngsten Gericht! Aber der Kommandant hatte Maschinengewehre vor das Tor unseres Lagers gepflanzt. Wir stellten ihm ganz umsonst dar, die Deutschen würden uns, ihre aus Deutschland geflohenen Landsleute, alle sofort zusammenknallen. Doch er verstand nur, empfangene Befehle weiterzugeben. Nun wartete er auf Befehle, was mit dem Lager geschehen sollte. Sein Chef war längst selbst getürmt, unser Städtchen war evakuiert, aus den Nachbardörfern waren die Bauern schon geflohen – waren die Deutschen noch zwei Tage, schon zwei Stunden weit? Dabei war unser Kommandant noch nicht einmal der Schlimmste, man muss ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Für ihn war es noch ein echter Krieg, er verstand die ganze Niedertracht nicht, das Ausmaß des Verrats. Schließlich trafen wir mit dem Mann eine Art von unausgesprochener Vereinbarung. Ein Maschinengewehr blieb vor dem Tor, weil der Gegenbefehl nicht gekommen war. Er würde aber vermutlich nicht allzu schlimm hinter uns herknallen, wenn wir über die Mauer kletterten.

Also kletterten wir, ein paar Dutzend Leute, nachts über die Lagermauer. Einer von uns, der Heinz hieß, hatte sein rechtes Bein in Spanien verloren. Nach dem Ende des Bürgerkrieges hatte er lange in südlichen Lagern herumgesessen. Weiß der Teufel, durch welche Verwechslung er, der wirklich für kein Arbeitslager mehr taugte, plötzlich zu uns herauf verschleppt worden war. Diesen Heinz mussten jetzt seine Freunde über die Mauer heben. Sie trugen ihn abwechselnd, weil es furchtbar eilte, in die Nacht, vor den Deutschen her.

Jeder von uns hatte einen besonders triftigen Grund, nicht in die Hände der Deutschen zu fallen. Ich selbst war im Jahre 1937 aus einem deutschen KZ getürmt. War bei Nacht über den Rhein geschwommen. Darauf war ich ein halbes Jahr lang ziemlich stolz gewesen. Nachher kamen andere neuere Sachen über die Welt und über mich. Jetzt, bei der zweiten Flucht, aus dem französischen Lager, dachte ich an die erste Flucht aus dem deutschen. – Fränzchen und ich trabten zusammen. Wie die meisten Menschen in diesen Tagen hatten wir das kindische Ziel, über die Loire zu kommen. Wir vermieden die große Straße, wir liefen über Felder. Wir kamen durch verlassene Dörfer, in denen die ungemolkenen Kühe brüllten. Wir suchten etwas zum Beißen, aber alles war ausgefressen, vom Stachelbeerstrauch bis zur Scheune. Wir wollten trinken, die Wasserleitungen waren durchschnitten. Wir hörten jetzt keine Schüsse mehr, der Dorftrottel, der allein zurückgeblieben war, konnte uns keine Auskunft geben. Da wurde uns beiden bang. Diese Abgestorbenheit war ja beklemmender als die Bombardements auf den Docks. Schließlich stießen wir auf die Pariser Straße. Wir waren wirklich noch längst nicht die Letzten. Aus den nördlichen Dörfern ergoss sich noch immer ein stummer Strom von Flüchtlingen. Erntewagen, hoch wie ein Bauernhaus, mit Möbeln beladen und mit den Geflügelkäfigen, mit den Kindern und mit den Urahnen, mit den Ziegen und Kälbern, Camions mit einem Nonnenkloster, ein kleines Mädchen, das seine Mutter auf einem Karren mitzottelte, Autos, in denen hübsche steife Weiber saßen in ihren geretteten Pelzen, aber die Autos waren von Kühen gezogen, denn es gab keine Tankstellen mehr, Frauen, die sterbende Kinder mitschleppten, sogar tote.

Damals durchfuhr mich zum ersten Mal der Gedanke, warum diese Menschen eigentlich flüchteten. Vor den Deutschen? Die waren ja motorisiert. Vor dem Tod? Der würde sie ohne Zweifel auch unterwegs einholen. Aber dieser Gedanke durchfuhr mich nur eben und nur beim Anblick der Allererbärmlichsten.

Fränzchen sprang irgendwo auf, auch ich fand Platz auf einem Camion. Vor einem Dorf fuhr ein anderer Camion in meinen hinein, und ich musste zu Fuß weiter. Ich verlor das Fränzchen für immer aus den Augen.

Ich schlug mich wieder quer durch die Felder. Ich kam vor ein großes, abseitiges, noch immer bewohntes Bauernhaus. Ich bat um Essen und Trinken, zu meiner großen Verwunderung richtete mir die Frau einen Teller Suppe, Wein und Brot auf dem Gartentisch. Dabei erzählte sie, nach langem Familienzwist hätten auch sie gerade beschlossen, abzuziehen. Alles sei schon gepackt, man brauchte jetzt nur noch aufzuladen.

Während ich aß und trank, surrten die Flieger ziemlich tief. Ich war zu müde, um den Kopf zu heben. Ich hörte auch, ziemlich nah, ein kurzes Maschinengewehrfeuer. Ich konnte mir keineswegs erklären, woher es kam, war auch zu erschöpft, um nachzudenken. Ich dachte nur, dass ich gewiss nachher auf den Camion dieser Leute aufspringen könnte. Man ließ schon den Motor an. Die Frau lief jetzt aufgeregt zwischen Camion und Haus hin und her. Man sah ihr an, wie leid es ihr tat, das schöne Haus zu verlassen. Wie alle Menschen in solchen Fällen packte sie rasch noch alles mögliche unnütze Zeug auf. Sie kam dann an meinen Tisch, zog meinen Teller weg, rief: »Fini!«

Da sehe ich, wie ihr der Mund offen bleibt, sie glotzt über den Gartenzaun, ich drehe mich um, und ich sah, nein, ich hörte, ich weiß nicht, ob ich zuerst gesehen oder gehört oder beides zugleich – wahrscheinlich hatte der angelassene Camion das Geräusch der Motorradfahrer übertönt. Jetzt hielten zwei hinter dem Zaun, jeder hatte zwei Leute im Beisitz, und sie trugen die grüngrauen Uniformen. Einer sagte so laut auf Deutsch, dass ich es hören konnte: »Himmel, Arsch und Zwirn, jetzt ist auch der neue Riemen kaputt!«

Die Deutschen waren schon da! Sie hatten mich überholt. Ich weiß nicht, was ich mir unter der Ankunft der Deutschen vorgestellt hatte: Donner und Erdbeben. Es geschah aber zunächst gar nichts anderes als die Anfahrt von zwei Motorrädern hinter dem Gartenzaun. Die Wirkung war ebenso groß, vielleicht noch größer. Ich saß gelähmt. Mein Hemd war im Nu patschnass. Was ich selbst bei der Flucht aus dem ersten Lager nicht gespürt hatte, selbst beim Ausladen unter den Fliegern nicht, das spürte ich jetzt. Zum ersten Mal in meinem Leben spürte ich Todesangst.

Haben Sie bitte Geduld mit mir! Ich werde bald auf die Hauptsache kommen. Sie verstehen vielleicht. Einmal muss man ja jemand alles der Reihe nach erzählen. Ich kann mir heute selbst nicht mehr erklären, wie ich mich dermaßen fürchtete. Entdeckt zu werden? An die Wand gestellt? Auf den Docks hätte ich ebenso sang- und klanglos verschwinden können. Nach Deutschland zurückgeschickt zu werden? Langsam zu Tode gequält? Das hatte mir auch geblüht, als ich über den Rhein geschwommen war. Ich hatte außerdem immer gern auf der Kante gelebt, war immer daheim, wo es brenzlig roch. Und wie ich nachdachte, vor was ich mich eigentlich maßlos fürchtete, fürchtete ich mich schon etwas weniger.

Ich tat zugleich das Vernünftigste und das Einfältigste: ich blieb sitzen. Ich hatte gerade zwei Löcher in meinen Gürtel bohren wollen, das tat ich jetzt. Der Bauer kam mit leerem Gesicht in den Garten, er sagte zu seiner Frau: »Jetzt können wir also genauso gut bleiben.« – »Natürlich«, sagte die Frau erleichtert, »aber du geh in die Scheune, ich werde mit ihnen fertig, sie werden mich nicht fressen.« – »Mich auch nicht«, sagte der Mann, »ich bin kein Soldat, ich zeig ihnen meinen Klumpfuß.«

Inzwischen war eine ganze Kolonne auf dem Grasplatz hinter dem Zaun vorgefahren. Sie kamen nicht einmal in den Garten. Sie fuhren nach drei Minuten weiter. Zum ersten Mal seit vier Jahren hörte ich wieder deutsche Befehle. Oh, wie sie knarrten! Es hätte nicht viel gefehlt, ich selbst wäre aufgesprungen und hätte strammgestanden. Ich hörte später, dieselbe Motorradkolonne habe die Flüchtlingsstraße abgeschnitten, auf der ich vorhin gekommen war. All die Ordnung, all die Befehle hätten das furchtbarste Durcheinander bewirkt, Blut, Schreie von Müttern, die Auflösung unserer Weltordnung. Doch surrte im Unterton dieser Befehle etwas gemein Klares, niederträchtig Aufrichtiges: Gebt nur nicht an! Wenn eure Welt schon zugrunde gehen muss, wenn ihr sie schon nicht verteidigt habt, wenn ihr schon zulasst, dass man sie auflöst, dann keine Flausen, dann schleunigst, dann überlasst das Kommando uns!

Ich aber wurde plötzlich ganz ruhig. Da sitze ich nun, dachte ich, und die Deutschen ziehen an mir vorbei und besetzen Frankreich. Aber Frankreich war schon oft besetzt – alle haben wieder abziehn müssen. Frankreich war schon oft verkauft und verraten, und auch ihr, meine grüngrauen Jungens, wart schon oft verkauft und verraten. Meine Angst war völlig verflogen, das Hakenkreuz war mir ein Spuk, ich sah die mächtigsten Heere der Welt hinter meinem Gartenzaun aufmarschieren und abziehn, ich sah die frechsten Reiche zerfallen und junge und kühne sich aufrichten, ich sah die Herren der Welt hochkommen und verwesen. Nur ich hatte unermesslich viel Zeit zu leben.

Jedenfalls war jetzt mein Traum zu Ende, über die Loire zu kommen. Ich beschloss, nach Paris zu gehen. Ich kannte dort ein paar ordentliche Leute, falls sie ordentlich geblieben waren.

III

Ich zog nach Paris in fünf Tagesmärschen. Die deutschen Kolonnen fuhren neben mir her. Der Gummi ihrer Reifen war vorzüglich, die jungen Soldaten waren Elite, stark und hübsch, sie hatten kampflos ein Land besetzt, sie waren lustig. Schon lachten einzelne Bauern hinter der Straße – gesät worden war noch auf freiem Boden. Die Glocken läuteten in einem Dorf für ein totes Kind. Es war auf der Straße verblutet. An einer Wegkreuzung stand ein zerbrochener Bauernwagen. Er gehörte vielleicht der Familie des toten Kindes. Die deutschen Soldaten sprangen hinzu, sie flickten die Räder, die Bauern lobten ihre Freundlichkeit. Auf einem Feldstein saß ein Bursche, so alt wie ich, er trug einen Mantel über den Resten von Uniform. Er weinte. Ich klopfte ihm im Vorübergehen auf die Schulter, ich sagte: »Das wird alles vorübergehn.« Er sagte: »Wir hätten den Ort gehalten; die Schweine gaben uns aber nur Munition für eine Stunde. Wir sind ja verraten worden.« Ich sagte: »Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen.«

Ich ging weiter. Ich ging eines Sonntags früh nach Paris hinein. Die Hakenkreuzfahne wehte wirklich auf dem Hôtel de Ville. Sie spielten wirklich vor Notre-Dame den Hohenfriedberger Marsch. Ich wunderte mich und wunderte mich. Ich lief quer durch Paris. Und überall deutsche Autoparks, überall Hakenkreuze, mir war ganz hohl, ich fühlte schon gar kein Gefühl mehr.

Ich grämte mich, dass all der Unfug aus meinem Volk gekommen war, das Unglück über die anderen Völker. Denn dass sie sprachen wie ich, dass sie pfiffen wie ich, daran war kein Zweifel. Als ich nach Clichy hinaufging, wo Binnets wohnten, meine alten Freunde, da fragte ich mich, ob Binnets wohl vernünftig genug seien, um zu begreifen, dass ich zwar ein Mensch dieses Volkes sei, doch immer noch ich. Ich fragte mich, ob sie mich ohne Papiere aufnehmen würden.

Sie nahmen mich auf. Sie waren vernünftig. Wie hatte ich mich doch früher oft über ihre Vernunft geärgert! Ich war der Freund der Yvonne Binnet gewesen, sechs Monate lang vor dem Krieg. Sie war erst siebzehn Jahre alt. Und ich, ich Narr, der ich aus der Heimat entflohen war, entflohen dem ganzen Wust, den üblen Schwaden dicker Gefühle, ich ärgerte mich im Stillen oft über die klare Vernunft der Familie Binnet. Für mein Gefühl sah die ganze Familie das Leben zu vernünftig an. Sie fanden zum Beispiel in ihrer Vernunft, man streike, damit man die nächste Woche ein besseres Stück Fleisch kaufen könnte. Sie fanden sogar, wenn man täglich drei Franc mehr verdiene, dann fühle sich die ganze Familie nicht nur satter, sondern auch stärker und glücklicher. Und Yvonne glaubte in ihrer Vernunft, die Liebe sei dazu da, um uns beiden Spaß zu machen. Mir aber, was ich natürlich verbarg, mir saß es doch zu sehr in den Knochen, dass Liebe manchmal auf Leid reimt, dass man kleine Liedchen pfeifen muss, von Tod, Trennung und Ungemach, dass einen das Glück auch grundlos überfallen kann wie die Trauer, in die es zuweilen unmerklich übergeht.

Jetzt aber erwies sich die klare Vernunft der Familie Binnet für mich als ein Segen. Sie freuten sich, nahmen mich auf. Sie verwechselten mich auch nicht mit den Nazis, weil ich ein Deutscher war. Die alten Binnets waren daheim, auch der jüngste Sohn, der noch nicht Soldat war, und der zweite, der die Uniform rechtzeitig abgelegt hatte, als er sah, wie die Dinge standen. Nur der Mann der Tochter Annette war in deutscher Gefangenschaft. Sie wohnte jetzt mit dem Kind bei den Eltern. Meine Yvonne, erzählten sie mir verlegen, war nach dem Süden evakuiert, wo sie vor einer Woche ihren Vetter geheiratet hatte. Mir machte das aber gar nichts aus. Ich war von Kopf bis Fuß nicht auf Liebe eingestellt.

Die Männer Binnet waren immer daheim, ihre Fabrik war geschlossen. Und ich, ich besaß überhaupt nichts als Zeit. Wir hatten also nichts anderes zu tun, als uns alles zu erklären, von morgens bis abends. Wir waren uns völlig einig darüber, wie sehr der Einmarsch der Deutschen den hiesigen Herren zupasskam. Der alte Binnet verstand Verschiedenes besser als ein Professor von der Sorbonne. Nur über Russland bekamen wir Streit. Die Hälfte der Binnets behauptete, Russland denke bloß an sich selbst, es habe uns im Stich gelassen. Die andere Hälfte der Binnets behauptete, die hiesigen und die deutschen Herren hätten ausgemacht, sie sollten ihr Heer zuerst auf die Russen werfen statt auf den Westen, das eben habe Russland vereitelt. Der alte Binnet sagte, um uns alle zu befrieden, die Wahrheit komme schon mal ans Licht, die Dossiers würden sicher schon mal geöffnet werden, er aber sei dann schon tot.

Bitte verzeihen Sie diese Abschweifung! Wir stehen dicht vor der Hauptsache. Annette, die ältere Tochter Binnets, bekam eine Heimarbeit. Ich hatte nichts Besseres zu tun, ich half ihr das Wäschepaket tragen. Wir fuhren mit der Metro ins Quartier Latin. Wir stiegen Station Odéon aus. Annette ging in ihr Geschäft auf dem Boulevard Saint-Germain. Ich wartete auf einer Bank bei dem Metro-Ausgang Odéon.

Annette ließ lange auf sich warten. Was lag mir schließlich daran? Die Sonne schien auf meine Bank, ich sah den Leuten zu, die die Metro-Treppe hinauf- und herunterstiegen. Zwei alte Zeitungsverkäuferinnen schrien den Paris Soir aus, in ihrem uralten gegenseitigen Hass, der noch wuchs, sobald die eine zwei Sous mehr einnahm, denn wirklich, obwohl sie nebeneinanderstanden, machte nur die eine Geschäfte, während der Packen der andren nie dünner wurde, die schlechte Verkäuferin wandte sich plötzlich gegen die glückliche und beschimpfte sie rasend, ihr ganzes verdorbenes Leben warf sie ihr blitzschnell an den Kopf, dazwischen schrie sie: »Paris Soir!« Zwei deutsche Soldaten kamen herunter und lachten, das verdross mich sehr, als sei die versoffene Schreierin meine französische Pflegemutter. Die Portiersfrauen, die neben mir saßen, erzählten von einer jungen Person, die die ganze Nacht geweint habe, denn sie sei von der Polizei sistiert worden, wie sie mit einem Deutschen gelaufen sei, und ihr eigener Mann sei in Gefangenschaft – die Camions der Flüchtlinge rollten noch immer unaufhörlich über den Boulevard Saint-Germain, dazwischen sausten die kleinen Hakenkreuzautos der deutschen Offiziere. Schon fielen einzelne Blätter aus den Platanen auf uns herunter, denn dieses Jahr wurde alles früh welk, ich aber dachte, wie schwer es mich drückte, dass ich so viel Zeit hatte, ja, schwer ist es, den Krieg als Fremder in einem fremden Volk zu erleben. Da kam das Paulchen daher.

Paulchen Strobel war mit mir im Lager gewesen. Man hatte ihm einmal beim Ausladen auf die Hand getreten. Drei Tage hatte man dann geglaubt, die Hand sei futsch. Er hatte damals geweint. Wirklich, ich habe das gut verstanden. Er hatte gebetet, als es hieß, die Deutschen umzingelten bereits das Lager. Glauben Sie mir, ich habe auch das verstanden. Von solchen Zuständen war er jetzt weit entfernt. Er kam aus der Rue de l’Ancienne Comédie. Ein Kumpan aus dem Lager. Mitten im Hakenkreuz-Paris! Ich rief: »Paul!« Er fuhr zusammen, erkannte mich. Er sah erstaunlich munter aus. Er war gut gekleidet. Wir setzten uns vor das kleine Café auf dem Carrefour de l’Odéon. Ich war froh, ihn wiederzusehen. Er aber war ziemlich zerstreut. Ich hatte bisher in meinem Leben mit Schriftstellern nichts zu tun gehabt. Mich haben die Eltern Monteur werden lassen. Im Lager hatte mir jemand erzählt, der Paul Strobel sei ein Schriftsteller. Wir hatten auf demselben Dock ausgeladen. Die deutschen Flugzeuge waren en pique auf uns heruntergestoßen. Für mich war das Paulchen ein Lagerkumpan, ein etwas komischer Kumpan, ein etwas verrückter Kumpan, aber immer ein Kumpan. Ich hatte seit unserer Flucht nichts Neues erlebt, das Alte war mir noch nicht verraucht, ich war ja auch immer noch halb auf der Flucht, halb versteckt. Er aber, das Paulchen, schien dieses Kapitel abgeschlossen zu haben, ihm schien etwas Neues unterlaufen zu sein, das ihn stärkte, und alles, worin ich noch immer steckte, war für ihn schon Erinnerung. Er sagte: »Ich fahre nächste Woche ins Unbesetzte. Meine Familie wohnt in Cassis bei Marseille. Ich habe ein Danger-Visum für die Vereinigten Staaten.« Ich fragte ihn, was das sei. – Das sei ein Spezialvisum für besonders gefährdete Leute. – »Bist du denn besonders gefährdet?« Ich hatte mit meiner Frage gemeint, ob er denn vielleicht noch auf eine andere, seltsamere Art gefährdet sei als wir alle auf diesem gefährlich gewordenen Erdteil. Er sah mich erstaunt, ein wenig ärgerlich an. Dann sagte er flüsternd: »Ich habe ein Buch gegen Hitler geschrieben, unzählige Artikel. Wenn man mich hier findet – Worüber lachst du?« – Ich hatte gar nicht gelächelt, es war mir auch gar nicht danach; ich dachte an den Heinz, der von den Nazis halb totgeschlagen worden war im Jahre 1935, der dann im deutschen Konzentrationslager gesessen hatte, dann nach Paris geflohen war, nur um nach Spanien zu den Internationalen zu kommen, wo er dann sein Bein verlor, und einbeinig war er weitergeschleppt worden durch alle Konzentrationslager Frankreichs, zuletzt in unseres. Wo war er jetzt? Ich dachte auch an Vögel, die abfliegen können, in Schwärmen, die ganze Erde war unbehaglich, und doch war mir diese Art Leben ganz lieb, ich neidete Paulchen das Ding da nicht, wie hieß es? – »Das Danger-Visum wurde mir auf dem Place de la Concorde in dem amerikanischen Konsulat bestätigt. Die beste Freundin meiner Schwester ist verlobt mit einem Seidenhändler aus Lyon. Der hat mir auch die Post gebracht. Er fährt in seinem Auto zurück, er nimmt mich mit. Er braucht für sein Auto nur eine Gesamterlaubnis mit Angabe der Personenzahl. Auf diese Weise umgeh ich den deutschen Sauf-conduit.«

Ich sah auf seine rechte Hand, auf die man damals getreten hatte. Der Daumen war ein wenig verschrumpelt. Das Paulchen schlug seinen Daumen ein. »Wie bist du denn nach Paris gekommen«, fragte ich. Er erwiderte: »Durch ein Wunder. Wir zogen zu dritt ab, Hermann Achselroth, Ernst Sperber und ich. Den Achselroth kennst du doch sicher? Seine Theaterstücke?« Ich kannte sie nicht, aber ich kannte den Achselroth. Ein ausnehmend schöner Bursche, der besser in eine Offiziersuniform gepasst hätte als in die verdreckten Prestatairesfetzen, die er trug wie ein Landsknecht. Er sei berühmt, versicherte Paul. Sie seien zu dritt bis nach L. gekommen. Sie seien schon ziemlich kaputt gewesen. Sie seien an einen Kreuzweg gekommen. Ein echter Kreuzweg, versicherte Paulchen lächelnd – er gefiel mir jetzt gut, ich war sehr froh, mit ihm zusammenzusitzen, er immer noch lebend, ich immer noch lebend –, ein echter Kreuzweg mit einem verlassenen Gasthaus. Sie hätten sich auf die Treppe gesetzt, da sei ein französisches Militärauto vorgefahren, vollgepfropft mit Heeresgut. Der Chauffeur habe plötzlich alles abgeladen, sie hätten zu dritt zugesehen. Auf einmal sei Achselroth zu dem Chauffeur hinübergegangen, er habe mit ihm geschwätzt, worauf sie kaum achtgegeben hätten. Dann sei dieser Achselroth plötzlich in das Auto geklettert, er sei abgerauscht, er habe ihnen nicht einmal mehr zugewinkt, der Chauffeur aber sei zu Fuß auf dem anderen Arm des Kreuzwegs in das nächste Dorf gegangen. – »Wie viel mag er ihm dafür gegeben haben?«, fragte ich. »Fünftausend? Sechstausend?« – »Du bist verrückt! Sechstausend! Für ein Auto! Noch dazu ein Militärauto! Und dann noch die Ehre des Chauffeurs! Das war doch noch außer dem Autoverkauf. Verlassen im Dienst, das war doch noch Landesverrat! Mindestens sechzehntausend! Wir hatten natürlich keine Ahnung, dass Achselroth so viel Geld in der Tasche hatte. Ich sage dir, keinen Blick hat er uns mehr zugeworfen. Wie furchtbar war das alles, wie gemein.« – »Nicht alles war gemein, nicht alles war furchtbar. Erinnerst du dich an Heinz, den Einbeinigen? Dem haben sie damals über die Mauer geholfen. Sie sind auch immer zusammengeblieben, sicher, sie haben ihn geschleppt, sie schleppten ihn ins Unbesetzte.« – »Sind sie denn entkommen?« – »Das weiß ich nicht.« – »Na, Achselroth, der ist angekommen. Der ist sogar schon auf dem Schiff, unterwegs nach Kuba.« – »Nach Kuba? Achselroth? Warum?« – »Wie kannst du noch warum fragen? Er nahm sich das erste beste Visum, das erste beste Schiff.« – »Wenn er mit euch beiden geteilt hätte, Paulchen, dann hätte er sich ja kein Auto kaufen können.« Die ganze Geschichte belustigte mich durch ihre unnachahmliche Klarheit. »Was hast du denn vor?«, fragte das Paulchen. »Was hast du für Pläne?« Ich musste ihm eingestehen, dass ich mir keine Pläne gemacht hatte, dass mir die Zukunft nebelhaft war. Er fragte mich, ob ich einer Partei angehöre. Ich erwiderte nein, ich sei auch ohne Partei damals in Deutschland ins KZ geraten, weil ich mir auch ohne Partei manche Schweinerei nicht gefallen ließ. Ich sei denn auch aus dem ersten, dem deutschen KZ entflohen, denn wenn schon mal krepiert werden musste, dann doch nicht hinter Stacheldraht. Ich wollte ihm auch erzählen, wie ich damals über den Rhein geschwommen war bei Nacht und Nebel, doch rechtzeitig fiel mir noch ein, wie viel Menschen inzwischen über wie viel Flüsse geschwommen waren. Ich unterdrückte diese Geschichte, um ihn ja nicht zu langweilen.

Ich hatte die Annette Binnet längst allein heimfahren lassen. Ich glaubte, Paul wolle den Abend mit mir verbringen. Er schwieg und musterte mich auf eine Art, aus der ich nicht klug wurde. Er sagte schließlich in verändertem Ton: »Ach, hör doch mal. Du könntest mir einen enormen Gefallen tun. Willst du?« Ich wunderte mich, was er plötzlich von mir verlangen könne. Gewiss, ich war bereit. »Die Freundin meiner Schwester, von der ich vorhin gesprochen habe, dieselbe, die mit dem Seidenhändler verlobt ist, der mich im Auto mitnehmen will, hat zu dem Brief, den sie mir geschickt hat, einen zweiten Brief beigelegt für einen Mann, den ich sehr gut kenne. Die Frau dieses Mannes nämlich hat sie um den Dienst gebeten, die Beförderung der Post nach Paris. Sie schreibt sogar, verzweifelt gebeten.

Der Mann ist hier in Paris geblieben, er konnte nicht mehr rechtzeitig fort, er ist noch immer hier. Du hast doch sicher schon etwas gehört von dem Dichter Weidel?« Ich hatte noch nie etwas von ihm gehört. Das Paulchen versicherte rasch, das schade auch nichts für den Dienst, um den er mich bitte.

Er zeigte auf einmal Unruhe. Er war vielleicht schon die ganze Zeit unruhig gewesen, nur ich hatte nicht darauf achtgegeben. Ich war gespannt, worauf er hinauswollte. Herr Weidel wohne in nächster Nähe, in der Rue de Vaugirard. In dem kleinen Hotel zwischen Rue de Rennes und Boulevard Raspail. Er selbst, das Paulchen, sei heute schon einmal dort gewesen. Man habe ihn aber auf seine Frage, ob der Herr Weidel daheim sei, sehr merkwürdig angesehen. Auch habe sich die Patronin geweigert, den Brief in Empfang zu nehmen. Und andererseits habe sie auf die Frage, ob der Herr denn umgezogen sei, ausweichend geantwortet. Ich möchte doch, sagte das Paulchen zögernd, noch einmal mit diesem Brief hinaufgehen und irgendwie die Adresse ausfindig machen, damit der Brief an den Mann käme. Ob ich wohl bereit sei? Ich musste lachen und sagte: »Wenn das alles ist!« – »Vielleicht ist er von der Gestapo geholt worden?« – »Ich werde das alles schon herausfinden«, sagte ich. Das Paulchen belustigte mich. Ich hatte auf unserm Dock, als wir Schiffe ausluden, kein Zeichen besonderer Angst an ihm wahrgenommen. Wir hatten uns alle gefürchtet, er auch, er hatte in unserer gemeinsamen Furcht nicht mehr Unsinn geredet als wir alle. Er hatte genau wie wir alle geschuftet, denn wenn man sich fürchtet, ist es besser, etwas zu tun, sogar viel zu tun, als den Tod mit Gezuck und Gezappel zu erwarten wie die Küken den Geier. Und diese Betriebsamkeit vor dem Tod hat mit Mut nichts zu tun. Nicht wahr? Obwohl sie manchmal damit verwechselt, in diesem Sinn belohnt wird. Jetzt aber war Paul bestimmt furchtsamer als ich, das dreiviertel leere Paris missfiel ihm, die Hakenkreuzfahne, er sah einen Spitzel in jedem Mann, der ihn streifte. Wahrscheinlich hatte Paulchen früher einmal irgendeinen Erfolg gehabt, er hatte ungeheure Erfolge haben wollen, er konnte es gar nicht aushalten, sich gar nicht ausdenken, dass er jetzt derselbe arme Teufel wie ich war. Er drehte also den Spieß herum und fühlte sich ungeheuer verfolgt. Er glaubte fest, die Gestapo habe nichts zu tun, als vor dem Hotel dieses Weidel auf das Paulchen zu warten.

Ich nahm ihm also den Brief ab. Das Paulchen versicherte noch einmal, der Weidel sei wirklich ein großer Dichter. Er wollte mir damit wohl meine Mission versüßen. Das war in meinem Fall unnötig. Der Weidel hätte auch ein Krawattenhändler sein dürfen. Mir hat es schon immer Spaß gemacht, durcheinandergeratenes Garn zu entwirren, und umgekehrt hat es mir immer Spaß gemacht, ganz glattes Garn durcheinanderzubringen. Das Paulchen bestellte mich auf den nächsten Tag in das Café Capoulade.

Das Hotel in der Rue de Vaugirard, schmal und hoch, war ein Durchschnittshotel. Die Patronin war über den Durchschnitt hübsch. Sie hatte ein zartes, frisches Gesicht und pechschwarzes Haar. Sie trug eine weiße Seidenbluse. Ich fragte ganz ohne Überlegung, ob ein Zimmer frei sei. Sie lächelte, während mich ihre Augen kalt musterten. »So viel Sie wollen.« – »Zuerst etwas anderes«, sagte ich, »Sie haben hier einen Mieter, Herrn Weidel, ist er zufällig daheim?« Ihr Gesicht, ihre Haltung veränderten sich, wie das nur bei Franzosen zu sehen ist: Die höflichste unnachahmliche Gleichmütigkeit schlägt plötzlich, wenn da die Fäden reißen, in rasende Wut um. Sie sagte, ganz heiser vor Wut, aber schon wieder in den geläufigen Redensarten: »Man fragt mich zum zweiten Mal an einem Tag nach diesem Menschen. Der Herr hat sein Domizil gewechselt – wie oft soll ich das noch erklären?« – Ich sagte: »Sie erklären es jedenfalls mir zum ersten Mal. Haben Sie doch die Güte, mir zu sagen, wo der Herr jetzt wohnt.« – »Wie soll ich das wissen«, sagte die Frau. Ich merkte langsam, auch sie hatte Furcht, aber warum? »Sein jetziger Aufenthalt ist mir unbekannt, ich kann Ihnen wirklich nicht mehr sagen.« Den hat am Ende doch die Gestapo geholt, dachte ich. Ich legte meine Hand auf den Arm der Frau. Sie zog ihren Arm nicht weg, sondern sah mich an mit einem Gemisch von Spott und Unruhe. »Ich kenne ja diesen Mann überhaupt nicht«, versicherte ich, »man hat mich gebeten, ihm etwas auszurichten. Das ist alles. Etwas, was für ihn wichtig ist. Ich möchte auch einen Unbekannten nicht nutzlos warten lassen.« Sie sah mich aufmerksam an. Dann führte sie mich in das kleine Zimmer neben dem Eingang. Sie rückte nach einigem Hin und Her mit der Sprache heraus. »Sie können sich gar nicht vorstellen, was dieser Mensch mir für Unannehmlichkeiten bereitet hat. Er kam am 15. gegen Abend, als die Deutschen schon einzogen. Ich hatte mein Hotel nicht geschlossen, ich war geblieben. Im Krieg, hat mein Vater gesagt, geht man nicht weg, sonst wird einem alles versaut und gestohlen. Was soll ich mich auch vor den Deutschen fürchten? Die sind mir lieber als die Roten. Die tippen mir nicht an mein Konto. Herr Weidel kommt also an und zittert. Ich finde es komisch, wenn einer vor seinen eigenen Landsleuten zittert. Ich war aber froh über einen Mieter. Ich war ja damals allein im ganzen Quartier. Doch als ich ihm meinen Anmeldezettel bringe, da bat er mich, ihn nicht anzumelden. Herr Langeron, wie Sie ja wissen, der Herr Polizeipräsident, besteht streng weiter auf Anmeldung aller Fremden, es muss ja auch Ordnung bleiben, nicht wahr?« – »Ich weiß nicht genau«, erwiderte ich, »die Nazisoldaten sind ja auch alle Fremde, Unangemeldete.« – »Nun, dieser Herr Weidel jedenfalls machte Chichi mit seiner Anmeldung. Er habe sein Zimmer in Auteuil nicht aufgegeben, er sei ja auch dort angemeldet. Mir gefiel das gar nicht. Herr Weidel hat schon mal früher bei mir gewohnt mit seiner Frau. Eine schöne Frau, nur hat sie zu wenig auf sich gehalten und öfters geweint. Ich versichere Ihnen, der Mensch hat überall Unannehmlichkeiten gemacht. Ich ließ ihn also in Gottes Namen unangemeldet. ›Nur diese eine Nacht‹, sagte ich. Er zahlte im Voraus. Am nächsten Morgen kommt mir der Mann nicht herunter. Ich will es kurz machen. Ich öffne mit meinem Nachschlüssel. Ich öffne auch den Riegel. Ich habe mir mal so ein Ding anfertigen lassen, womit man Riegel zurückschiebt.« Sie öffnete eine Schublade, zeigte mir das Ding, einen schlau ausgeknobelten Haken. »Der Mensch liegt angekleidet auf seinem Bett, ein Glasröhrchen leer auf dem Nachttisch. Wenn das Röhrchen vorher voll war, dann hat er eine Portion im Bauch gehabt, mit der man alle Katzen unseres Quartiers hätte umbringen können. Nun hab ich ja zum Glück einen guten Bekannten bei der Polizei Saint-Sulpice. Der hat mir die Sache ins Reine gebracht. Wir haben ihn vordatiert angemeldet, den Herrn Weidel. Dann haben wir ihn sterben lassen. Dann wurde er beerdigt. Dieser Mensch hat mir wirklich mehr Verdruss gemacht als der Einmarsch der Deutschen.«

»Immerhin, er ist tot«, sagte ich. Ich stand auf. Die Geschichte langweilte mich. Ich hatte zu viel vertrackte Sterbefälle mitangesehen. Da sagte die Frau: »Sie müssen nicht glauben, dass darum die Unannehmlichkeiten für mich zu Ende sind. Dieser Mensch bringt es wirklich fertig, einem bis über das Grab hinaus Unannehmlichkeiten zu bereiten.« Ich setzte mich noch einmal. »Er hat einen Handkoffer hinterlassen – was soll ich nur mit dem Handkoffer tun? Er stand hier im Büro, als die Sache passierte. Ich vergaß ihn. Jetzt will ich doch nicht bei der Polizei noch einmal alles aufwärmen.« – »Na, schmeißen Sie ihn doch in die Seine«, sagte ich, »oder verbrennen Sie ihn in Ihrer Zentralheizung.« – »Das ist unmöglich«, sagte die Frau, »ich würde das nie riskieren.« – »Na, hören Sie mal, Sie haben sich schließlich die Leiche vom Hals geschafft, da werden Sie doch mit dem Handkoffer fertigwerden.« – »Das ist etwas ganz anderes. Der Mann ist jetzt tot. Das steht amtlich fest. Der Handkoffer aber, das weiß ich, ist ein juristischer Gegenstand, das ist ein Sachwert, das kann geerbt werden, es können Anwärter kommen.«

Ich war der Sache schon überdrüssig, ich sagte: »Ich nehme das Ding gern an mich, das macht mir nichts aus. Ich kenne jemand, der mit dem Toten befreundet war, der kann den Handkoffer zu der Frau bringen.« Die Wirtin war überaus erleichtert. Sie bat mich nur, ihr einen Empfangsschein auszustellen. Ich schrieb einen falschen Namen auf einen Zettel, den sie datierte und quittierte. Sie drückte mir herzlich die Hand, ich aber zog eilig ab mit dem Handkoffer. Denn mein Gefallen an dieser Patronin war ganz vergangen, so hübsch sie mir auch zuerst erschienen war. Ich sah auf einmal in ihrem schlauen langen Kopf nur den Schädel, auf den man schwarze Löckchen gesetzt hat.

IV

Am nächsten Morgen zog ich mit meinem Handkoffer in die Capoulade. Ich wartete umsonst auf Paulchen. War er plötzlich mit dem Seidenhändler abgereist? War er nicht in die Capoulade gekommen, weil an der Tür ein Schild hing: »Für Juden verboten«? Mir fiel aber ein, er hatte ja, als die Deutschen kamen, das Vaterunser gebetet. Das Schild, das ihn also nichts anging, war außerdem schon verschwunden, als ich die Capoulade verließ. Vielleicht war einem der Gäste oder dem Wirt selbst das Schild zu unsinnig vorgekommen, vielleicht war es nur schlecht angenagelt gewesen und heruntergefallen, und keinem Menschen war es wichtig genug erschienen, es wieder anzunageln.

Der Tag war schön, der Handkoffer war nicht schwer. Ich ging zu Fuß bis zum Concorde. Doch wie auch die Sonne schien, an diesem Morgen beschlich mich die Sorte von Elend, die der Franzose Cafard nennt. Sie lebten so gut in dem schönen Land, so glatt ging ihnen alles ein, alle Freuden des Daseins, doch manchmal verloren auch sie den Spaß, dann gab es nichts als Langeweile, eine gottlose Leere, den Cafard. Jetzt hatte ganz Paris den Cafard, warum sollte ich verschont bleiben? Mein Cafard hatte sich schon gestern Abend geregt, als ich die Wirtin nicht mehr hübsch fand. Jetzt verschlang mich der Cafard mit Leib und Seele. Zuweilen gluckst es in einer großen Pfütze, weil es inwendig noch ein Loch gibt, eine etwas tiefere Pfütze. So gluckste in mir der Cafard. Und als ich die riesige Hakenkreuzfahne sah auf dem Place de la Concorde, da kroch ich ins Dunkel der Metro.

Der Cafard herrschte auch in der Familie Binnet. Annette war wütend auf mich, weil ich gestern nicht auf sie gewartet hatte. Ihre Mutter fand, es sei Zeit, dass ich irgendein Legitimationspapier herbeischaffte, in der Zeitung stehe, es gebe bald Brotkarten. Ich aß nicht mit der Familie, weil ich beleidigt war. Ich kroch in das Loch unterm Dach, das mein Zimmer war. Ich hätte ein Mädchen heraufnehmen können, doch dazu hatte ich auch keine Lust. Man spricht von tödlichen Wunden, von tödlicher Krankheit, man spricht auch von tödlicher Langeweile. Ich versichere Ihnen, meine Langeweile war tödlich. Aus lauter Langeweile brach ich an diesem Abend den Handkoffer auf. Er enthielt fast nichts als Papier.

Aus lauter Langeweile fing ich zu lesen an. Ich las und las. Vielleicht, weil ich bisher noch nie ein Buch zu Ende gelesen hatte. Ich war verzaubert. Nein, darin kann der Grund auch nicht gelegen haben. Das Paulchen hat wirklich recht gehabt. Ich versteh gar nichts davon. Meine Welt ist das nicht. Ich meine aber, der Mann, der das geschrieben hat, der hat seine Kunst verstanden. Ich vergaß meinen Cafard. Ich vergaß meine tödliche Langeweile. Und hätte ich tödliche Wunden gehabt, ich hätte auch sie im Lesen vergessen. Und wie ich Zeile um Zeile las, da spürte ich auch, dass das meine Sprache war, meine Muttersprache, und sie ging mir ein wie die Milch dem Säugling. Sie knarrte und knirschte nicht wie die Sprache, die aus den Kehlen der Nazis kam, in mörderischen Befehlen, in widerwärtigen Gehorsamsbeteuerungen, in ekligen Prahlereien, sie war ernst und still. Mir war es, als sei ich wieder allein mit den Meinen. Ich stieß auf Worte, die meine arme Mutter gebraucht hatte, um mich zu besänftigen, wenn ich wütend und grausam geworden war, auf Worte, mit denen sie mich ermahnt hatte, wenn ich gelogen oder gerauft hatte. Ich stieß auch auf Worte, die ich schon selbst gebraucht hatte, aber wieder vergessen, weil ich nie mehr in meinem Leben dasselbe gefühlt hatte, wozu ich damals die Worte gebrauchte. Es gab auch neue Worte, die ich seitdem manchmal gebrauche. Das Ganze war eine ziemlich vertrackte Geschichte mit ziemlich vertrackten Menschen. Ich fand auch, dass einer darunter mir selbst glich. Es ging in dieser Geschichte darum – ach nein, ich werde Sie lieber nicht langweilen. Sie haben ja in Ihrem Leben Geschichten genug gelesen. Für mich war es sozusagen die erste. Ich hatte ja übergenug erlebt, aber nie gelesen. Das war nun wieder für mich etwas Neues. Und wie ich las! Es gab, wie gesagt, in dieser Geschichte einen Haufen verrückter Menschen, recht durchgedrehtes Volk, sie wurden fast alle in üble undurchsichtige Dinge verwickelt, selbst die, die sich sträubten. So hatte ich nur als Kind gelesen, nein, zugehört. Ich fühlte dieselbe Freude, dasselbe Grauen. Der Wald war ebenso undurchdringlich. Doch war es ein Wald für Erwachsene. Der Wolf war ebenso böse, doch es war ein Wolf, der ausgewachsene Kinder betört. Auch mich traf der alte Bann, der in den Märchen die Knaben in Bären verwandelt