Anna Seghers

Der Kopflohn

Roman aus einem deutschen Dorf
im Spätsommer 1932

Logo

Impressum

Mit einem Nachwort von Sonja Hilzinger

ISBN 978-3-8412-0710-4

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, Juli 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Bei Aufbau erstmals 1951 erschienen; Aufbau ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung Torsten Lemme

unter Verwendung eines Ausschnitts aus dem Gemälde

„Gartenrestaurant“ (1912) von August Macke

E-Book Konvertierung: le-tex publishing services GmbH, www.le-tex.de

www.aufbau-verlag.de

Inhaltsübersicht

Cover

Impressum

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebentes Kapitel

Achtes Kapitel

Nachwort

[Informationen zum Buch]

[Informationen zu den Autorinnen]

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne ...

Erstes Kapitel

I

Bastian kam als letzter vom Feld, klappte die Zauntür zu, kratzte den Schmutz von der Hacke, legte sie an ihren Platz im Schuppen, wusch sich Gesicht und Hände an der Pumpe. Sein Kopf blieb gesenkt, seine Schultern vorgezogen, weil ihm der Rücken vom vielen Bücken spannte. Vor der Haustür bückte er sich tief zum letztenmal. Er wollte zwei Kartoffeln aufheben, die Dora aus dem Korb gefallen waren. Dabei wurde ihm schwindlig. Einen Augenblick stand er vierbeinig da, die Hände auf der Erde, um nicht umzukippen. Diesen Augenblick lang trug er eine unermeßliche Last auf seinem waagrechten Rücken. Dicht hinter ihm stand der Tod, die Hand erhoben, um noch einen kleinen Brocken zu der Last zu legen: dann war es um den Mann geschafft.

Er drückte sich noch rechtzeitig vom Boden ab und richtete sich stöhnend auf. In der linken Hand die beiden Kartoffeln, faßte er mit der rechten die Türklinke.

Der Tür gegenüber hinter dem gedeckten Tisch saß die Frau, neben ihr auf der Bank der Größe nach vier Kinder. Das fünfte Kind hielt sie auf einem Knie. Die unbewegten Gesichter waren verschleiert durch den leichten Dampf, der aus der Schüssel hochstieg. Beim Geruch des Dampfes wurde dem Bauer zum zweitenmal schwindlig, wenn auch nicht so stark. Sein Inneres zog sich zusammen vor Gier. Er hatte nur den einen Wunsch, sich über die volle Schüssel zu werfen, den Kopf im Essen. Er trat neben seinen Stuhl, den einzigen auf der zweiten Breitseite des Tisches.

Sein Herz klopfte, als sein Kopf tiefer in den Dampf geriet. Er richtete sich aber zurecht, wie er sich vorhin gerichtet hatte. Er zwirbelte sein Bärtchen zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Kinder sahen gespannt mit zu, ihre Nasenflügel zuckten. Über die Teller fügten sich die kleinen Dächer aus gefalteten Händen. Endlich erhoben sich in der Stille die ersten Worte des Gebetes, das Bollwerk um die Schüssel.

Als Bastian bei der Stelle angekommen war, an welcher Gott um Vergebung der Schuld angegangen wird, klapperte draußen die Zauntür. Er hörte, wie sich jemand der Schwelle näherte. Er versuchte mit aller Kraft, diese Schritte zu mißachten, er erhob die Stimme. Keins der Kinder sah auf. Aber an dem tiefen Schatten, der plötzlich die abendliche Stube erfüllte, merkten alle, daß jemand auf der Schwelle stand und mit seiner Gestalt die offene Tür ausfüllte.

II

Amen. Bastian drehte sich um. Der Mensch in der Tür war ihm unbekannt; einer von den Jungens, wie sie öfter durchkamen. Er trug eine kurze Hose, einen ledernen Gürtel, ein blaues Leinenhemd, einen Rucksack, durch dessen Riemen eine Jacke gezogen war. Sein von Schmutz und Schweiß verkrustetes Gesicht war schüchtern bis auf die schmalen, hellen Augen. Er sagte: »Ich bin Johann Schulz, dem Georg Schulz sein Sohn.«

Plötzlich setzte die Frau ihr Kind vom Knie auf die Bank und stand auf.

Sie sagte: »Mein Verstorbener hat doch eine Schwester drüben in Botzenbach gehabt. Die hat einen Schulz geheiratet. Sie sind dann schnell wegverzogen, weit weg, ich glaube, ins Sächsische. Ich habe auch mal gehört, sie sollen Kinder bekommen haben. Er wird wohl von diesem Schulz ein Kind sein. Ich habe dir von diesen Leuten nie was erzählt, weil sie ja zu unserer Zeit gar nicht mehr da waren und weil es eigentlich gar keine richtige Verwandtschaft ist.«

Bastian sah unschlüssig in das fremde Gesicht, dann sah er vom Gesicht auf die Schuhe. Die waren für andere Füße eingekauft; die runden, schlecht gesteppten Knöchelflecken saßen nicht da, wo jetzt die Knöchel waren.

Der Junge ließ sich betrachten, die Türklinke in der Hand. Auch ihn machte der Geruch des Essens schwindlig. Er rieb seinen Hinterkopf an der Tür, die schicken mich weg, die schicken mich nich weg, Gottogott, Gottogott.

Bastian sah von den Schuhen zurück ins Gesicht. Auf einmal kam es ihm vor, nicht nur von Dreck sei das Gesicht ganz grau. Wie er fester drauf sah, wurde es unter den Lidern bläulichgrau. Bastian sagte – ungern: »Wenn’s Ihnen nich auf die Zeit ankommt – setzt Euch.«

Die Kinder starrten den Gast an. Die Frau richtete einen Teller auf der Schmalseite des Tisches und legte eine Brotscheibe dazu.

Der Gast packte das Brot mit seiner ganzen Faust, ohne abzuwarten, bis alle Teller gefüllt waren. In großer Qual, als könnte er auch jetzt noch verhungern, den harten Bissen im Mund, zerrieben seine Zähne das altbackene Brot. Die Kinder erschraken. Seine Zähne erschienen ihnen zackig und glänzend. Ohne den Kopf zu drehen, betrachtete Bastian aus den Augenwinkeln diesen Hunger. Der war anders als der seine, nackter, reißender. Als der Gast mit dem Brot fertig war, sah er bestürzt in die leere, offene Hand. Dann packte er den Löffel.

Ohne sich viel zu kümmern, was am anderen Ende des Tisches vorging, versuchte die Frau, das ziemlich große Kind, das sich auf ihrem Knie krümmte und sträubte, an die Brust zu bringen.

Als das Essen fertig war, sagte Bastian: »Johann – so heißen Sie doch – ja? Ihr werdet wohl jetzt nach Botzenbach fortmachen, vor Nacht?«

Schulz antwortete: »Ja, da muß ich wohl jetzt los.«

Sie sahen einander an. Auf einmal fiel dem Jungen der Kopf auf die Brust. Er stellte ihn wieder hoch, aber er fiel wieder, und er stellte ihn wieder hoch.

Bastian wunderte sich. Er hatte immer geglaubt, nur die Alten seien erschöpft. Er konnte sich aus jungen Jahren an keine Erschöpfung erinnern, wie er sie heute verstand: eine Faust von oben, die seinen Körper auspreßte. Oder zwei Fäuste, die ihn auswrangen. Er begriff nicht, wodurch etwas Junges so erschöpft war. Er sagte: »Wenn es Euch nicht eilt, von mir aus kannst du die Nacht hierbleiben.«

Zum erstenmal horchte die Frau gegen das andere Ende des Tisches. Ihr ruhiges, flaches Gesicht zeigte zwar kein Erstaunen, aber Aufmerksamkeit. Sie richtete ihr Kleid, setzte das Kind auf den Boden und stand auf. Bastian bereute sofort sein Angebot. Er forderte seinen Gast mit einem bestürzten Blick auf, es abzuschlagen. Der aber hielt sich mit einer Hand am Tischbein fest, rückte vom Stuhl auf die Bank, schob mit der freien Hand das nächste Kind seitwärts, so daß alle vier Kinder schnell eins nach dem anderen halb abrutschten, halb von selbst aufstanden, und legte sich dann rasch längelang. Bastian schüttelte den Kopf und stand auf.

Eine Weile liefen Mann und Frau zwischen Küche und Stube hin und her mit Geschirr und Futtereimer. Sie traten unwillkürlich sachte auf. Mit leisen Zurufen hielten sie die Kinder an, sich auszukleiden. Die standen noch immer beim Ende der Bank zusammen und betrachteten den Schlafenden.

Eine Stunde später kam die Frau aus dem Stall. Schwere und leise Atemzüge erfüllten die vier Wände. Alles war zu erkennen. Die Sommernacht war nur eine unschlüssige Stille zwischen zwei Dämmerungen. Die Frau stellte sich auch noch einmal vor die Bank. Sie verschränkte die Arme und sah herunter, auch jetzt ohne Erstaunen, nur aufmerksam. Der Junge hatte sich wohl inzwischen noch einmal hochgerichtet, einen Schuh ausgezogen, den anderen aufgeschnürt. Den aufgeschnürten Schuh hatte er am Fuß hängenlassen und weitergeschlafen.

Die Frau gähnte und ging in die Küche. Von der Küche war durch eine Bretterwand ein Schlafzimmer abgetrennt.

Etwas später kam Bastian herein. Er stellte sich dahin, wo vorhin seine Frau gestanden hatte. Das offene Gesicht des Schlafenden erfüllte sein Herz mit Bestürzung. Manche waren schon durch ein Dorf gekommen, die Böses hinter sich hatten und noch Böseres vor sich. Am liebsten hätte er den Jungen an den Schultern wachgerüttelt und ihn fortgeschickt. Aber er tat etwas anderes: er bückte sich, zog den aufgeschnürten Schuh vom Fuß, stellte den Schuh neben den anderen und legte das herunterhängende Bein neben das andere Bein auf die Bank.

Er glaubte so zu handeln, weil er an Gott glaubte.

III

Wenn man auch Bastian keine großen Strecken ansah, er war doch seinerzeit ziemlich weit herumgekommen. Sein Vater hatte sich durch Arbeit und Heirat heraufgerackert. Er starb aber mit vierzig Jahren an den Folgen eines Huftrittes seines ersten Pferdes, auf dessen Erwerb er noch im Sterben stolz war. Die Merzens freilich, die zwei Pferde hielten, erklärten den Vorfall: Der hat sich auch eingebildet, er versteht mit Pferden umzugehen.

Der älteste Bruder, Konrad, schob den jüngsten, Andreas, in die Lehre ab, nach der Kreisstadt Billingen. Damals war zu erwarten, daß das Dorf einen Schuster mit etwas Landzuschuß ernähren könnte. Andreas hatte bis jetzt nur die Enge der Bauernstube gekannt oder die maßlose Weite der Felder. Nun verengte und erweiterte sich sein Herz zum Umkreis der kleinen Stadt; der bezieht viel Leben ein und läßt noch mehr draußen und macht eben dadurch unruhig. Er dachte, er könnte noch eine Weile fortkommen, wo immer seine Hände mit einem Paar zerrissener Schuhe zusammentrafen. Er zog mainabwärts, dann in den Schwarzwald. Er lernte Hopfenbauern kennen auf den Hügelabfällen und Waldbauern auf windigen Hochflächen. Die Winter waren hart. Er lernte die Zubereitung verschiedener Fette und Öle für Holz und Leder. Er lernte vertrackte Unterhaltungen mit Gott, wenn er allein war, und der Meister schwerhörig und die Fenster angelaufen.

Er schlug einen großen Bogen nach Nordwesten, bei dem ihm das Handwerk oft an den eigenen Füßen zustatten kam. Der Anblick des sommerlichen Meeres erstaunte ihn tief und erweiterte seine Vorstellung von der Allmacht Gottes. Juni, Juli, August. Der Weltkrieg packte ihn und verfrachtete ihn weit über den Umkreis seiner eigentlichen Wünsche. Er war an der Westfront und an der Ostfront und in Rumänien. Er war nie schwer verwundet: ein Herrgott, der ihn verschonte und vielleicht ahnte, daß dieser Mann mit einem Genesungsurlaub wenig anzufangen wußte. Brennende Dörfer, zerrissenes Fleisch zerstörten nicht seinen Glauben an eine verborgene Ordnung. Denn er wurde nach wie vor gebraucht. Wochenweise regulär in den Armeewerkstätten hinter der Front, und sonst immer täglich, wo etwas an Schuhen in Unordnung geriet; denn auch der Tod braucht Stiefel.

Als die Fronten fielen und die Armeen heimströmten, zog Bastian von Südosteuropa nach der Heimat. Schon bekamen in der großen Wirrnis die einzelnen Wünsche feste Umrisse. Aber das hatte nichts mit ihm zu tun, oder er glaubte es wenigstens nicht. Denn seine eigene Unruhe war vollkommen erschöpft. Vielleicht war sie auch aus den äußeren Bezirken in die inneren umgeschlagen. Er bekam Heimweh, nicht nach Häusern oder Menschen – an die dachte er auch jetzt mit Widerwillen. Er hatte einfach Angst, die Erde könnte ihn weniger gütig aufnehmen als seinen Bruder, weil er sich weniger um sie bemüht hatte. Während der tagelangen Fahrt spähte er nach Äckern aus, herbstliches nasses Land.

Daheim wurde er mit geringer Freude aufgenommen. Zwei ansässige Schuster konnten sich selbst nicht durchschlagen. Konrad Bastian klagte, sein Besitz sei heruntergekommen und verschuldet durch die Neuanschaffungen, die er brauchte, um seine Wirtschaft in Schuß zu bringen. Was Andreas Bastian anging, sei er durch das Lehrgeld und die Ausstattung ausbezahlt. Er hätte auf allen Anspruch durch seinen freiwilligen Weggang verzichtet.

Schließlich endete alles damit, daß sich Konrad Bastian ein Stück ziemlich sandigen Bodens nach dem Fluß zu abzwacken ließ. Auch die kleine Ziegelsteinbude mit dem Gartenstreifen konnte er ihm nicht gut absprechen – sie war ihm bei seinem Wegzug ausdrücklich als Anteil zugebilligt worden. Sie lag eine halbe Stunde von den Äckern entfernt.

Dort zog Andreas Bastian ein, ein paar Bretter, ein Strohsack. Er versöhnte sich niemals wirklich mit seinem Bruder, aber er lieh sich hie und da ein Werkzeug und stand seinem nachgeborenen Kind Pate.

Andreas Bastian wäre nie auf den Gedanken gekommen zu freien, wenn nicht der Margarete Altmeier ihr Mann an Grippe gestorben wäre. Die Witwe war eine winzigkleine Bäuerin mit handgroßem, blassem, nie lächelndem Gesicht. Die konnte ihn sicher nicht stören. Ihn trieb auch nicht der Wunsch nach Hochzeitsfreuden, sondern die Angst, allein zu liegen in einem unordentlichen Grab. Denn er war sich klar, daß das alles kein Aufschwung war, sondern der Ablauf des Lebens. Diese Frau brachte zwei Kühe mit, Möbel, Bettzeug. Ein halbes Leben lang hatte sie unverdrießlich die Trägheit des langen, schlaksigen Mannes wettgemacht. Wie gut ihr das jetzt tat: ein Mann, der sich mühte. Alles sah aus, als könnten sie miteinander ihr Leben in Ordnung zu Ende führen. Da kam etwas dazwischen. In der langen Ehe mit dem prächtigen, prahlerischen Altmeier war die Frau nicht schwanger geworden. Jetzt gebar sie ein Kind, und in kurzen Abständen noch vier Kinder. Bastian hatte die Frau bereits gelehrt, gern an den Tod zu denken. Jetzt mußten sie sich scharf umdrehen. Jetzt hieß es, nicht nur den letzten Rest auskosten, sondern das Ganze, jeden Tropfen, den sie verabsäumt hatten.

Die ersten Jahre war es soviel, als ein Mensch tragen kann, wenn er sich Mühe gibt. Dann war es noch mehr geworden.

Bastian mißtraute den ausgiebigen Klagen der Nachbarn. Er dachte, es sei vor allem ihm bestimmt, zugrunde zu gehen. Grade das war sein Trost, daß es ihm bestimmt war, etwas für ihn von oben Ausgedachtes, eine Prüfung.

IV

Es kamen zuweilen Lastautos durch, rotbeflaggte, hakenkreuzbeflaggte. Sie schrien Reden durch ein Rohr, sie schneiten Zettel aus einem Sack; er hatte manchmal welche in der Hand gehabt. Es ärgerte ihn, daß man ihm von außen zuredete, tu dies, tu das. Es war ihm zuwider, daß sich Fremde einmischten. Im vorigen Monat waren mal die beiden jungen Brüder Kunkel aus der Stadt gekommen. Sie hißten zwei Hakenkreuzfahnen, eine vor der Haustür, eine auf dem Treibhausdach. Sie standen in neuen Röcken – zwar nicht in braunen, die waren verboten, in was Grüngrauem – vor der Haustür, reckten die Hälse, ließen sich betrachten und ausfragen. Die guten Windjacken, die ledernen Gürtel, die hohen Stiefel machten den Jungens am Ort runde Augen. Lastautos kamen durch mit zwanzig, dreißig Jungens, nahmen Kunkels mit, setzten welche bei Kunkels ab. Viele Bauern schüttelten die Köpfe. Manche sagten: »’ne neue Narrheit!« Manche sagten: »Wer weiß – vielleicht –« Einer sagte: »Doch besser wie die roten Büttels. Die wollen doch was bringen, die wollten nur was holen.« Einer sagte: »Na, bringen – mit dem Maul.« Bastian sagte auch: »’ne neue Narrheit.« Er machte einen Bogen um den Trubel. Beim Anblick der Kunkels grämte ihn, daß er keine solchen Söhne hatte, kräftig und beschlagen, nur das niedrige Gestrüpp um die Knie.

Einmal wachte er nachts auf. Ihn quälte bis in den Traum die Ratenzahlung für die Pumpe. Er hatte voriges Jahr bohren lassen, weil ihn die Frau beim Eimerschleppen dauerte; denn sie war klein und schwach, und seine Tochter zu jung. Jetzt kam er mit der Abzahlung nicht zurecht. Er lag wach und rechnete. Da knallten zwei Schüsse aus der Richtung von Billingen und durchlöcherten seine Gedanken. Er vergaß sie eine Weile, zitterte und horchte. Dann fiel ihm alles wieder ein, deutlicher, weil er jetzt ganz wach war. Er hatte sagen hören, bleiche Kinder wie Dora hätten weiche Knochen. Dann drücke ihnen das Schleppen den Rücken ein. Das war aber nur übriggebliebenes Gerede von seinen Reisen vor dem Krieg in anderen Gegenden. Das nutzte gar nichts, heute, an diesem Ort.

Es gab aber auch noch lichte Stunden. Er richtete sich auf von seinem Acker, langsam ließen die ziehenden Schmerzen in seinem Rücken nach, er atmete tief und sah sich um. Der Horizont war nur ein dünner Rain zwischen den Feldern der Erde und dem unermeßlichen blauen Feld des mächtigen Nachbarn.

V

Als Johann am Morgen aufwachte, standen Andreas Bastians Kinder an derselben Stelle wie am Abend, am Fußende der Bank, und betrachteten ihn. Am dichtesten stand die Dora Bastian, eine dünne, hoch über ihre Geschwister geschossene Zehnjährige. Ihr Gesicht war schmal und lang; ohne sich zu runden, wuchs es aus dem Hals heraus. Sie war sehr bleich, mit hellen, kaum sichtbaren Brauen, bräunlich nur über Schultern und Armen, ganz ohne Lächeln wie ihre Mutter. Ein schwacher Glanz kam selten in ihre Augen und erlosch schnell. Auf Johann hinunterblickend, flocht sie ihr Zöpfchen mit unendlicher Langsamkeit. Johann dachte an seine Schwester, damals in der Frühe, gähnend im Leibchen, dürrarmig, zopfflechtend. Er sprang auf und lief aus der Stube. Die Kinder drehten sich alle um und folgten bis auf die Türschwelle. Von hier aus sahen sie zu, wie er sein Hemd über den Gürtel zog und sich unter der Pumpe abgoß. Andreas Bastian kam aus dem Stall, warf einen verwirrten Blick auf Johanns triefenden jungen Rücken. Johann sah sich um nach etwas zum Abtrocknen; ohne das Gesicht von ihm zu drehen, zog Dora ihre Schürze aus und reichte sie hin.

Er schlupfte ins Hemd. Es war zwischen fünf und sechs. Kühler, golddunstiger Morgen umgab seinen frischen Körper und forderte ihn auf, teilzunehmen. Johann spreizte unwillkürlich die Arme. Gleich fielen sie herunter. Er zuckte die Achseln und senkte den Kopf.

Er trat hinter den Kindern in die Stube, Kaffeegeruch, auf dem Tisch ein großer Teller voll alter Brotstücke, ein paar Tassen. Die Frau schenkte ein, gab jedem aus der Tüte einen Löffel Zucker, legte die Zuckertüte in die Schublade. Sie goß aus dem Schöpfer ein paar Tropfen Milch in jede Tasse. Johann dachte an die kuhwarme Milch in den Eimern vor der Tür zum Verkauf. Er tunkte still sein Brot.

Margarete Bastian nahm das kleine Kind auf ein Knie. Sie öffnete ihr Kleid; sofort begann das Kind wütend zu schreien. Diesmal schloß sie schnell ihr Kleid und tunkte ein wenig Brot, wonach das Kind gierig schnappte. Über dem Tisch trafen sich Mann und Frau mit einem schweren, scheuen Blick, den Johann nicht verstand. Langsam drückte der aufsteigende Tag, als wollte er die Menschen sachte an seine Schwere gewöhnen. Bastian sagte: »Margret, wir gehen jetzt ran an den Klee.« Er sagte zu Johann: »Dann kommste en Ende mit, da geht’s bei unserm Kleefeld links ab nach Botzenbach.« Johann erwiderte nichts, er suchte in seinem Kopf. Er drückte die Augen zu. »Vollgefressen weggehen? Da habt ihr doch draußen euer Holz.« Bastian sah zögernd seine Frau an. Die Frau nickte. Bastian sagte: »Könnt ihr das in der Stadt?« Johanns Gesicht veränderte sich, klappte auf. »Warum nicht?«

Sie gingen hinaus. Bastian holte den Block aus dem Schuppen und seine Axt. Er machte ein paar Hiebe vor. Johann sagte: »Laßt, laßt.« Er griff selbst die Axt. Bastian sah eine Minute lang mit zu. Zuerst sah es ungeschickt aus, dann schwerfällig, dann vernünftig.

Sie ließen ihn allein und zogen ab. Bastian hatte das jüngste Kind auf der Schulter, einen Tragkorb auf dem Rücken. Die Frau hatte gleichfalls einen Tragkorb und das zweitjüngste an der Hand. Eine kleine, ganz blanke Sichel am Gurt des Mannes zog hinter ihnen in der Morgenfrühe einen dünnen Lichtschweif. Sie kamen an die Stelle, wo die Landstraße nach Botzenbach abbog. Einige Augenblicke lang sah man von hier aus unter den Hügeln eine Krümmung des Flusses, ein bläuliches, blinkendes Hufeisen. Wie jeden Morgen schwenkte die Frau das Kind in die Luft, wie jeden Morgen schrie das Kind beim Anblick des Flusses einen schrillen, glücklichen Vogelschrei.

Sie brauchten eine halbe Stunde bis zum Acker. Bastian spürte auf seiner linken Schulter das Gewicht des Kindes. Er sagte: »He, Margret, es geht dir nicht mehr an die Brust, sagst du, wie?« Die Frau erwiderte: »Nein.« Sie hatte versucht, dieses Kind so lange wie möglich zu stillen, um vor Schwangerschaft bewahrt zu bleiben. Mit gesenkten Köpfen, ohne ein Wort daran zu geben, dachten beide nach. Jahr für Jahr, Tag für Tag schloß sich eine Tür nach der andern, ein Spalt nach dem anderen, bis zur völligen freudlosen Dunkelheit.

Sie erreichten den Acker und setzten die Kinder in die Furche.

Daheim im Garten zogen die beiden großen Kinder einen Stecken durch den Tragring des Milcheimers. Sie hoben ihn mit gerunzelter Stirn und zogen ab, mit winzigen, durch den leise schwenkenden Eimer gebändigten Schritten. Fast im selben Augenblick bimmelte vom Ende des Dorfes das dünne Glöckchen der Milchsammelstelle.

Johann sah ihnen nach, auf Doras hohe, schwarzstrümpfige, nicht unschöne Beine. Dann war er allein. Das Dorf hinter dem Zaun war ihm unbekannt. Eine Welle aus Angst und Langweile schlug über Johann zusammen. Er schüttelte sich und drehte sich um. Er nahm die Axt. Er stolperte über das mittlere Kind, das allein zurückgeblieben war; das bröselte auf der Erde vor sich hin, fahl und schwach. Johann fluchte, packte das Kind hart an und setzte es in die Haustür.

Er legte einen Holzklotz nach dem andern auf und hackte. Nach sechs, sieben Hieben war ihm der Schwung geläufig. Sein Unbehagen verwandelte sich in Zorn, sein Zorn in Wut. Es war ihm rot vor den Augen. Die Umrisse der Klötze zitterten. Doch seine Arme waren schon auf den richtigen Punkt eingeschwungen. Mit starken Hieben zerschlug er den zwecklosen Morgen, das nutzlose Leben, in das man ihn hineingelockt hatte. Er schlug besinnungslos ein auf alle, von denen er annahm, daß sie am Verlauf seines Lebens schuld hatten. Schonungslos, ohne eine Spur von Reue schlug er den nieder, der ihm den Weg absperrte. Er schnaufte. Die Kinder starrten ihn an; sie waren zurückgekommen, um den zweiten Milcheimer zu holen. Diesmal zogen sie noch vorsichtiger ab, in den äußeren Armen ihr Schulzeug. Johann holte aus. Seine Wut fiel und stieg. Zu Spänen zerschlug er seine jungen, fruchtlosen Jahre, Hoffnungen, die man ihm aus Versehen gemacht hatte, Versprechungen, die kein Mensch ernst genommen hatte. Das mittlere Kind war längst von der Schwelle in den Garten zurückgekrochen, bohrte in der nassen Erde vor der Pumpe und kümmerte sich nicht um ihn. Manchmal trat von der Gasse her eine Frau an den Zaun, ging zurück und holte eine andere. Eine kleine Gruppe von Frauen und Mädchen mit leeren Milcheimern stand eine Minute lang hinter dem Zaun, sah mit zu, flüsterte, löste sich auf. Es war Mittag geworden, dunstig verhängte Sonne. Die Kinder kamen aus der Schule. Ein Regenfall war möglich, die Bastians mußten den Klee einbringen. Dora machte das Essen fürs Feld fertig. Sie mußte die Tür abriegeln. Sie ließ für Johann den halben Brotlaib auf dem äußeren Fensterbrett, Salz und heiße Kartoffeln. Er nahm sich soviel Brot, wie er am Abend bekommen hatte. Kurze Zeit war er satter, ruhig. Ein wenig Gescharr und Gegacker, Glucksen unter der Pumpe, zu dem trocknen Brot der dünne, mittägliche Fettgeruch des Dorfes. Er setzte gedankenlos die fertigen Scheite in den Schuppen zu sauberen, ordentlichen Stößen. Die Kinder kamen wohl nicht mehr zurück. Die halfen, aber der Regen kam wohl kaum vor Nacht. Er senkte den Kopf tief bei dem Gedanken an die Regennacht. Er legte Klötze auf und schwang die Axt. Er hieb auf den schläfrigen Mittag ein, auf die trügerische Stille des Dorfes. Mit bösen, schonungslosen Hieben schlug er ein auf den Frieden dieses Hauses. Es blieben nur noch wenige Klötze übrig. Seine Kraft ließ langsam nach, auch sein Zorn. Als er schnaufte, standen Bastian und die Kinder hinter ihm. Er wischte sich den Schweiß ab. Er allein war heiß, die Luft um ihn herum war kühler. Über dem abendlichen Dorf lag jetzt eine Stille ganz anderer Art, nicht mehr des Druckes, sondern der abgeworfenen Last, endgültige Erleichterung. Bastian betrachtete Johann mit etwas spöttischem Lächeln, während sein halbverdeckter Blick vor Trauer dunkel wurde: hätte ich nur früher, zur rechten Zeit, einen Sohn bekommen.

Das brauchte nicht mehr besonders ausgemacht zu werden, daß Johann jetzt auch gleich mitaß: saure Milch, in die man hineinbrockte. Er ging wieder hinaus zu den übrigen Klötzen. Um ihn herum wurde den Hühnern gestreut, gepumpt, Eimer in den Stall getragen. Johann legte die letzten Klötze auf. Er schwang die letzten Hiebe gegen den Tag, das einzige, was bestimmt zu Ende war.

Bastian trat zu ihm, noch bevor er gefürchtet hatte, die Aufforderung könnte ausbleiben. »Da kannste noch mal hier schlafen. Morgen ist ja auch Sonntag.«

Bastian streckte eine flache Hand von sich und fügte hinzu: »Es fängt auch an zu regnen.«

VI

Nun geschah etwas in der zweiten Nacht seines Hierseins, das zwar mit ihm nicht das geringste zu tun hatte, aber ihr Leben lang von Bastians und den Kindern mit seiner Ankunft in Verbindung gebracht wurde. Gegen zwei Uhr fuhr der alte Bastian hoch, Unruhe im Geflügelstall, tolles, keifiges Gegacker. Da kriegte er seine Frau mit einem Puff wach. Sie horchte kurz, dann rannten beide ins Freie.

Johann hatte sich auch hochgerichtet, Bastian hatte gezischt: »Der Fuchs!« Da kam er nach.

Es regnete nicht mehr, ihre nackten Zehen tauchten in feuchte, schleimige Erde. Eine kurze Unschlüssigkeit. Bastian hatte eine eiserne Stange in den Händen, sein Mund stand offen. Johann fragte mit zwei Gebärden nach einer Flinte – keine da. Er nahm ihm die Stange weg. Einen Augenblick später lag sein Körper platt auf dem Stalldach, Bastian sah nur die Stange gegen den mit Sternen besäten Himmel. Sie zitterten und hielten ihre Hemden zusammen. Johann schwenkte den Arm: Stalltür auf!

Alles ging so schnell, daß es eigentlich schon vorbei war, als sich Dora ganz kurz nach Johann aufrichtete. Durch die offene Tür kamen Gegacker und Flügelschläge, ungewohnt im nächtlichen Garten. Die Mutter stand bereits wieder in der Stube. Sie rief mit merkwürdiger Stimme: »Wie viele hat’s geschnappt?« Die Stimme des Vaters kam von ziemlich weit her: »Nur das eine.« Gleich darauf kamen beide Männer zurück. Der Fuchs war ihnen entgangen, er hatte aber seine Beute lassen müssen. Bastian hielt die Gans von sich weg, sein Hemd war blutbefleckt.

Die Frau sagte: »Die muß man gleich rupfen, die muß man gleich fertigmachen.« Die Kinder waren alle wach geworden, viele glänzende Käferaugen. Auf dem Tisch im Dunkeln blähte sich der schneeweiße Vogelbalg. Bald drängten sich alle um den Herd, heiß vor der Brust und frostig im Rücken.

Der alte Bastian sengte den Biß aus und erweiterte den Schnitt, damit das Blut auslief. Dora hielt steif mit erschrockenen Augen ein Schüsselchen unter. Auch ihr Hemd war voll Blutspritzer. Dann schnitt Bastian Hals, Flügel und Füße ab. Er sagte: »Ein Glück, daß es bloß die eine war. Es hätten ja alle sein können.«

Die Frau nahm die Gans mit einem tiefen Griff aus. »Der Naphtel hat sie alle vorausbestellt.« Sie trennte vorsichtig mit ihrem kleinen scharfen Messer das Eingeweide. Die Männer rupften. Bastian sagte: »Der Naphtel verkauft sie weiter in Billingen.« Er sah plötzlich in Johanns Gesicht, bestürzt. In Johanns Gesicht war immer noch eine Spur von Erregung, etwas Aufgerissenes, Zügelloses. Er erschrak; er wußte nicht, daß dieselbe Erregung eben erst in seinem eigenen Gesicht erloschen war. Die kleinen Kinder lasen in der ganzen Küche die Federn zusammen und stopften sie in den Leinenbeutel, den Dora offenhielt. Fader Brandgeruch wechselte mit Fettgebrotzel, das die Frau gesprächig machte. »Eine nimmt der Naphtel für sich selbst. Die schlägt er aus den anderen heraus.« Bastian fügte hinzu: »Zu uns muß erst ein Fuchs kommen.« Die Frau nahm das Fett ab mit einem langen Schöpflöffel. Bastian fuhr fort: »Bei uns springt die Kleie nich raus. Immer ’ne Mark weg, immer noch ’ne Mark. Muß es am Dritten rein oder am Fünften, für den Kastrizius die Rate?« Die Frau sagte: »Immer fragste, und immer is es am Dritten.« Bastian sagte: »Immer frag ich, und immer is es am Dritten, und ich weiß nich, wie sie rein soll.« Dora, die den Federbeutel zunähte, blickte ihren Vater erschrocken an. Sie fürchtete sich, sobald von der Pumpenrate gesprochen wurde. Sie fühlte, daß sie schuld hatte. Bastian häutete den Hals mit zusammengebissenen Zähnen. Die Frau sagte: »Aus einer Gans kann man sehr viel machen.« Sie übersprang eine ganze Menge Gedanken und sagte zum Abschluß: »Weißt du noch, was es bei unserer Hochzeit gab? Braten und Meerrettich.«

Johann hatte jetzt nichts zu tun. Die letzte Nacht hatte er ziemlich ausgeschlafen. Aber er hatte doch einen zweiten guten Schlaf bitter nötig. Er kam nicht mit sich zurecht. Er hätte lachen können oder losheulen. Die Frau erklärte, sie wollte jetzt allein beim Herd bleiben, die anderen sollten sich noch eine Stunde legen, weil jetzt Sonntag sei.

Johann streckte sich sogleich auf seiner Bank hin. Aber Bastian kam noch einmal zu ihm und sagte: »Johann, da kannst du heute also mithalten.

Es ist ja auch Sonntag. Da wirst du’s nicht so dringend haben nach Botzenbach.

Da kannst du also heute wirklich Gans essen.

Da bist du also eingeladen.«

Zweites Kapitel

I

Sonntag, am späten Nachmittag, fuhr ein mit Menschen vollgequetschtes Lastauto in einer mächtigen Staubwolke auf der Landstraße von Billingen nach Oberweilerbach. Auf dem Auto saßen außer dem Fahrer ein Dutzend Bauernsöhne aus den anliegenden Dörfern, ältere und jüngere Verwandtschaft, meistens Männer. Die Männer hatten schwarze Sonntagsröcke an. Die jungen Bauern hatten Windjacken mit Gürtel an, Schaftstiefel, Mützen mit Abzeichen. Auto und Fahrer gehörten der Brauerei Strohmeier in Billingen, die beides zur Verfügung gestellt hatte, sowie einige Fässer Bier und Quartier in ihren Räumen, für das Treffen, vorigen Abend in Billingen. Bei dem Treffen waren Reden gehalten worden von Doktor Döbritz, der extra deshalb gekommen war, von dem Landwirt Feder aus Billingen und von Heinrich Breideis vom Milchverband. Für die Menschen, die jetzt auf dem Lastwagen fuhren, waren alle drei Reden von geringer Bedeutung, mit dem einzigen Satz verglichen, den Christian Kunkel gesprochen hatte, ein junger, fünfundzwanzigjähriger Bauer aus Oberweilerbach, der jetzt vorn neben dem Fahrer saß. Mit erhobener Hand hatte Kunkel auf dem Podium wiederholt, was ihm Breideis eingeprägt hatte: »Heute bin ich aus meinem Dorf allein hier. Komm ich wieder, werden wir zwanzig sein, zwanzig mindestens, ja, bei Gott, das verspreche ich.« Kunkel hatte dabei seinen kleinen Bruder Gottlieb verschwiegen, der eingeklemmt in einer seitlichen Reihe saß und mit gerunzelter Stirn und zugepreßten Lippen seinen Bruder droben betrachtete. Jetzt saß er hinten im Auto zwischen zwei starken Burschen eingeklemmt und betrachtete ebenso den Rücken seines Bruders.

Christian neben dem Fahrer war vergnügt und schweigsam. Die Felder waren übersät mit gleichmäßigen, glänzenden Gesichtern, die ihn mit offenen Augen und Mündern von unten anstarrten. Für Kunkel war der vergangene Abend der zweite große Abend seines Lebens. Der erste schloß den Beerdigungstag seines Vaters. Die Mutter saß noch und wischte an den Augen herum. Bruder und Schwester sahen ihn merkwürdig an. Da begriff er, daß er der Älteste war. Er hatte es damals sofort ausprobiert. Er sagte zu seinem kleinen Bruder Gottlieb: »Los mal, Rüben durchdrehen!« Gottlieb hatte etwas mit den Brauen gezuckt, sonst nichts. Er hatte die Rüben durchgedreht.

Später, wenn Leute den Kunkel fragten: »Wie geht’s, wie steht’s?« erwiderte er auf jeden Fall: »Ich kann nich klagen.« Das Ansehen der Leute war doch Mörtel, der einem den Bau zusammenhielt. Er rackerte sich ab. Er zwang seine drei Helfer, Mutter, Schwester und Bruder, sich abzurackern. Es kam ihm zustatten, daß es auf seinem Boden nur solche gab, die für ihn arbeiteten, keine, für die er arbeitete. Er dachte wohlweislich nicht ans Freien. Da war kein Blutstropfen in Christian, der sich nicht den Umständen gefügt hätte.

Er hatte eigene Gedanken. Er probierte mal Tomaten auf einem Acker, er baute sich ein Treibhaus, das erste am Ort. Er zog Blumenkohl und Salate in ungewohnten Monaten. Er dachte nach, wie er das Zeug ohne Bahn nach Billingen kriegte. Aus Billingen kamen: der Milchverband, der Jude, das Brauereiauto. Er setzte auf das letzte und machte sich an den Fahrer. Der fuhr doch immer leer zurück, der sollte seine Ablieferung vor den Markttag setzen. Mit so viel Beharrlichkeit wäre Kunkel in guten Zeiten vorangekommen. Jetzt gelang es ihm, sich im Gleichgewicht zu halten. In seine Hände kamen Zeitungen und Flugblätter. An seinen Augen wurden Fahnen vorbeigetragen. In seine Ohren wurde »Verrecke!« und »Heil!« und »Rot Front!« und »Nieder!« gerufen. Dazu sagte er überhaupt nichts. Doch dachte er, wenn er Zeit hatte, gründlich nach, was ihm nützlich sei. Eines Abends kam Kunkel aus Billingen mit zwei Hakenkreuzfähnchen zurück. Er setzte eins auf die Haustür, eins auf die Treibhaustür. Genau wie jedesmal war Kunkel in der Stadt mit allerlei Leuten zusammengekommen. Er war auf dem Amt gewesen wegen der Gebühren für den Marktstand. Er hatte den Arzt bezahlt, der seiner Schwester das Geschwür aufgestochen hatte. Er war auf den Milchverband gegangen wegen der neuen Preisliste. Überall war Kunkel wie immer ins Gespräch gekommen. Seine Gedanken erreichten diesmal einen Abschluß: Ja, dies war ihm vielleicht nützlich.

Denn Kunkel war vor allem ein Mensch, der fragte, was ihm nützlich sei. Bei der Zucht von Tomaten, Blumenkohl, Radieschen, Salat fragte er sich nach dem Nutzen. Wenn ihm Leute Fahnen, Hemden, Armbinden und Aufnahmescheine anboten, fragte er sich, ob ihm diese Leute und Dinge nützlich seien. In der Nacht auf Montag, weniger müde als in Werktagsnächten, gequält und unruhig durch das nachklingende harte Lachen sonntäglicher Mädchen, gelang es ihm schnell, über dieser Unruhe einzuschlafen; denn sie war ihm unnütz. Die Predigten seines Pfarrers verfolgte er aufmerksam, denn bei einem Mann, der viel und gründlich gelesen hatte, mußte schon etwas abfallen für einen jüngeren, was ihm nützlich war. Legte Kunkel den Kopf in den Nacken nach dem jubelnden Pünktchen von Lerche im unermeßlichen Himmel – Munterkeit durchzuckte ihn und zuckte aus seinen Händen in die Arbeit –, dann dachte Kunkel an diese Lerche genau über seinem eignen Feld als an etwas, das ihm nützlich war.

II