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Leonard Mlodinow

Wenn Gott würfelt

oder Wie der Zufall unser Leben bestimmt

Aus dem Englischen von Monika Niehaus

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Prolog

Kapitel 1 – Ein Blick durch die Brille des Zufalls

Die verborgene Rolle des Zufalls … wenn Ratten Menschen übertrumpfen

Kapitel 2 – Die Gesetze von Wahrheiten und Halbwahrheiten

Die Grundprinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung und wie sie missbraucht werden … warum eine gute Geschichte oft weniger wahrscheinlich ist als eine dünne Erklärung

Kapitel 3 – Seinen Weg durch einen Raum von Möglichkeiten finden

Ein Gerüst, um über Zufallssituationen nachzudenken … von einem Glücksspieler im pestgeplagten Italien zu Let’s Make a Deal

Kapitel 4 – Auf der Suche nach dem Weg zum Erfolg

Wie man die Zahl der Möglichkeiten bestimmt, die es für den Eintritt eines Ereignisses gibt, und warum das wichtig ist … die mathematische Bedeutung der Erwartung

Kapitel 5 – Die widerstreitenden Gesetze der großen und der kleinen Zahlen

Das Maß, in dem sich Wahrscheinlichkeiten in den Ergebnissen widerspiegeln, die wir beobachten … Zenons Paradox, das Konzept des Grenzwertes und das Casino beim Roulette besiegen

Kapitel 6 – Falsch-positive und positive Trugschlüsse

Wie man Erwartungen im Licht vergangener Ereignisse oder neuer Erkenntnisse anpasst … Fehler beim Umgang mit bedingten Wahrscheinlichkeiten vom medizinischen Screening bis zum O.-J.-Simpson-Prozess und der Trugschluss des Anklägers

Kapitel 7 – Messungen und das Gesetz des Irrtums

Bedeutung und fehlende Bedeutung bei Messungen … die Glockenkurve und Wein-Ratings, politische Umfragen, Schulnoten und die Stellung der Planeten

Kapitel 8 – Die Ordnung im Chaos

Wie große Zahlen die Unordnung des Zufalls kompensieren können … oder warum 200 000 000 Autofahrer ein Gewohnheitstier bilden

Kapitel 9 – Illusionen von Mustern und Muster von Illusionen

Warum wir oft von den Regelmäßigkeiten bei Zufallsereignissen zum Narren gehalten werden … können eine Million aufeinander folgender Nullen oder der Erfolg von Wall-Street-Gurus Zufall sein?

Kapitel 10 – Wie der Zufall unser Leben bestimmt

Warum Zufall ein fundamentaleres Konzept als Kausalität ist … Bruce Willis, Bill Gates und die Theorie der normalen Katastrophen des Lebens

Danksagung

Anmerkungen

Sach- und Personenregister

 

 

 

 

Für meine drei Wunder des Zufalls:

Olivia, Nicolai und Alexei … und

für Sabina Jakubowicz

Prolog

Vor ein paar Jahren kaufte ein Mann in der spanischen Nationallotterie ein Los, das auf die Zahl 48 endete und gewann. Stolz auf seine «Leistung» enthüllte er das Geheimnis seines Erfolges. «Ich habe sieben Nächte hintereinander von der Zahl 7 geträumt!», erklärte er. «Und 7 mal 7 ist 48.»1 Diejenigen unter uns, die das kleine Einmaleins besser beherrschen, lächeln vielleicht über den Irrtum des Spaniers, doch wir alle schaffen uns unsere eigene Sicht der Welt, benutzen sie dann als Filter und verarbeiten unsere Wahrnehmungen, um der Datenflut, die uns im Alltag überschwemmt, Bedeutung abzugewinnen. Und wir machen oft Fehler, die, wenn auch weniger offensichtlich, ebenso schwerwiegend sind wie jener des Lotteriespielers.

Dass sich die menschliche Intuition schlecht zum Umgang mit Situationen eignet, die Unsicherheit beinhalten, ist bereits seit den 30er Jahren bekannt; damals stellten Forscher fest, dass Menschen weder eine Zahlenfolge erzeugen konnten, die mathematischen Tests für Zufälligkeit standhielt, noch zuverlässig erkannten, ob eine gegebene Zahlenfolge zufallsgeneriert war oder nicht. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ein neues akademisches Gebiet entwickelt, das sich dafür interessiert, wie Menschen angesichts mangelhafter oder unvollständiger Information Urteile fällen und Entscheidungen treffen. Wie die Untersuchungen dieser Forscher gezeigt haben, sind unsere Denkprozesse, wenn Zufall und Wahrscheinlichkeit eine Rolle spielen, häufig voller Fehler. Ihre Arbeit stützt sich auf viele Disziplinen, von der Mathematik und den traditionellen Naturwissenschaften über kognitive Psychologie und Verhaltensökonomie bis hin zu den modernen Neurowissenschaften. Doch obgleich solche Studien von einem aktuellen Nobelpreis (in den Wirtschaftswissenschaften) geadelt wurden, sind die Lehren, die man daraus ziehen kann, noch nicht über akademische Kreise hinaus in eine größere Öffentlichkeit vorgedrungen. Dieses Buch ist ein Versuch, das zu ändern. Es geht um die Prinzipien, die den Zufall regieren, um die Entwicklung solcher Vorstellungen und darum, wie sie in Politik, Geschäftsleben, Medizin, Wirtschaft, Sport, Freizeit und anderen Tätigkeitsgebieten Einfluss ausüben. Es geht weiter darum, wie wir Entscheidungen treffen, und um die Prozesse, die dazu führen, dass Menschen Fehlurteile (und schlechte Entscheidungen) fällen, wenn sie mit Zufälligkeit oder Ungewissheit konfrontiert werden.

Fehlende Information führt oft zu miteinander konkurrierenden Interpretationen. Aus diesem Grund ist es zum Beispiel so schwierig, die Klimaerwärmung sicher zu belegen, aus diesem Grund werden Medikamente manchmal als «sicher» deklariert und später doch wieder vom Markt genommen, und aus diesem Grund wird mir auch nicht jedermann zustimmen, dass Schokoladenmilchshakes unverzichtbarer Bestandteil einer herzgesunden Ernährung sind. Leider hat die Fehlinterpretation von Daten im Großen wie im Kleinen viele negative Konsequenzen. Wie wir noch sehen werden, interpretieren sowohl Ärzte als auch Patienten Statistiken über Medikamentenwirksamkeit und wichtige medizinische Tests häufig falsch. Eltern, Lehrer und Studenten missverstehen die Aussagekraft von Examina und Zugangstests, Weinkenner begehen Fehler bei der Beurteilung von Weinen. Und Investoren ziehen falsche Rückschlüsse aus dem früheren Abschneiden von Investmentfonds.

Im Sport haben wir eine Kultur entwickelt, in der Erfolg oder Misserfolg eines Teams aufgrund eines intuitiven Gefühls für Korrelation weitgehend auf die Fähigkeit des Trainers zurückgeführt wird. Wenn Teams verlieren, wird daher häufig der Trainer gefeuert. Eine mathematische Analyse dieser Strategie in allen wichtigen Sportarten hat jedoch gezeigt, dass das Feuern des Trainers im Mittel keine Auswirkungen auf die Leistung des Teams hat.2 Ein ähnliches Phänomen tritt in den Konzernetagen auf, wo man Führungskräften übermenschliche Kräfte zutraut und davon ausgeht, sie könnten einen Konzern groß machen oder aber ruinieren. Aber immer wieder, sei es bei Kodak, Lucent oder Xerox, hat sich dieser Glaube als illusorisch erwiesen. Als Gary Wendt in den 90er Jahren die Finanzsparte von General Electrics unter Jack Welch leitete, galt er als einer der cleversten Geschäftsmänner in den USA. Wendt schlug Kapital aus diesem Ruf und setzte ihn in einen Bonus von 45 Millionen US-Dollar um, als er abgeworben wurde, um das in Schwierigkeiten befindliche Finanzunternehmen Conseco zu sanieren. Die Investoren begrüßten diesen Wechsel offenbar und gingen davon aus, mit Wendt an der Spitze seien Consecos Probleme vorbei: Innerhalb eines einzigen Jahres verdreifachten die Aktien des Unternehmens ihren Wert. Doch zwei Jahre später trat Wendt plötzlich zurück, Conseco ging bankrott, und der Wert der Aktien fiel ins Bodenlose.3

War Wendt an einer unmöglichen Aufgabe gescheitert? War er am Steuer eingeschlafen? Oder beruhte Wendts Glorifizierung auf fragwürdigen Annahmen, zum Beispiel darauf, dass eine Führungskraft beinahe absolute Macht hat, ein Unternehmen zu beeinflussen, oder dass ein einziger Erfolg in der Vergangenheit ein zuverlässiger Indikator für zukünftige Leistungen ist? Fragen, die sich nicht zuverlässig beantworten lassen, ohne die Situation in jedem Einzelfall gründlich zu analysieren. Ich möchte dies in späteren Kapiteln anhand mehrerer Beispiele illustrieren, aber wichtiger noch: ich möchte Ihnen die Werkzeuge zeigen, die man braucht, um die Fußstapfen des Zufalls zu erkennen.

Gegen den Strom menschlicher Intuition zu schwimmen, ist eine schwierige Sache. Wie wir noch diskutieren werden, ist der menschliche Verstand so strukturiert, dass er für jedes Ereignis einen definitiven Grund sucht und daher unter Umständen Probleme hat, den Einfluss unzusammenhängender Zufallsfaktoren zu akzeptieren. Und darum besteht der erste Schritt darin, zu erkennen, dass Erfolg oder Misserfolg manchmal weder aus überragenden Leistungen noch aus völliger Inkompetenz erwächst, sondern, wie der Ökonom Armen Alchian schrieb, aus «zufälligen Umständen».4 Zufallsprozesse sind eine fundamentale Größe in der Natur und in unserem Alltag allgegenwärtig, doch die meisten Leute verstehen sie nicht oder denken nicht viel über sie nach.

Der englische Titel dieses Buches lautet «The Drunkard’s Walk» (wörtlich: Das Torkeln des Trunkenbolds), ein Ausdruck, für den es im Deutschen keine Entsprechung gibt. Er leitet sich von einem mathematischen Begriff ab, der Zufallsbewegungen beschreibt, etwa die Bahn, der Moleküle in einem Gas oder einer Flüssigkeit folgen, wenn sie unablässig gegen ihre Schwestermoleküle stoßen und von diesen angerempelt werden. Es ist, als ob Gott würfelt, ein Sinnbild für den Zufall, den wir nicht berechnen können. Das kann eine Metapher für unser Leben sein, für unseren Weg vom College zur Karriere, vom Singlehaushalt zur Familie, vom 1. zum 18. Golfloch. Das Überraschende ist, dass die mathematischen Werkzeuge, die dazu dienen, diese Zufallsbewegungen zu verstehen, auch dazu eingesetzt werden können, Alltagsereignisse besser zu begreifen. Ziel dieses Buches ist es, die Rolle des Zufalls in der Welt um uns herum darzustellen und zu zeigen, wie wir sein Wirken erkennen können. Ich hoffe, dass Sie, lieber Leser, nach dieser Reise durch die Welt des Zufalls das Leben mit anderen Augen betrachten und ein tieferes Verständnis für die Rolle von Zufall und Wahrscheinlichkeit in unserem Alltag gewinnen.

KAPITEL 1

EIN BLICK DURCH DIE BRILLE DES ZUFALLS

ICH ERINNERE MICH, wie ich als Teenager die gelben Flammen der Sabbatkerzen über den weißen Petroleumzylindern flackern sah, aus denen sie sich speisten. Ich war zu jung, um Kerzenlicht romantisch zu finden, doch ich fand es magisch – wegen der tanzenden Bilder, die vom Feuer geschaffen wurden. Die Flammen zuckten und verwandelten sich, wuchsen und fielen wieder in sich zusammen, alles ohne ersichtlichen Grund und Plan. Sicherlich, dachte ich, musste hinter dem Flackern der Flammen ein Muster verborgen sein, das Wissenschaftler in mathematische Gleichungen fassen konnten. «So funktioniert das Leben nicht», erklärte mir mein Vater. «Manchmal geschehen Dinge, die nicht vorhersehbar sind.» Er erzählte mir von der Zeit, als er im Konzentrationslager Buchenwald war und kurz vor dem Verhungern einen Laib Brot aus der Bäckerei gestohlen hatte. Der Bäcker veranlasste die Gestapo, alle Gefangenen vorzuführen, die den Diebstahl begangen haben konnten, und sie mussten sich in einer Reihe aufstellen. «Wer hat das Brot gestohlen?», fragte der Bäcker. Als niemand antwortete, wies er die Wärter an, einen nach dem anderen zu erschießen, bis alle tot waren oder einer gestände. Mein Vater trat vor, um die anderen zu schonen. Er versuchte nicht, sich als Held darzustellen, sondern sagte, er habe es getan, weil er glaubte, so oder so erschossen zu werden. Aber stattdessen gab der Bäcker meinem Vater einen Posten als sein Gehilfe. «Ein Zufallsereignis», so mein Vater. «Es hatte nichts mit dir zu tun, aber wenn die Sache anders gelaufen wäre, wärst du niemals geboren worden.» Das brachte mich darauf, dass ich eigentlich Hitler meine Existenz verdankte; die Deutschen hatten die erste Frau meines Vaters und ihre beiden kleinen Kinder ermordet und dadurch sein gesamtes früheres Leben ausgelöscht. Und wenn der Krieg nicht gewesen wäre, wäre mein Vater niemals nach New York emigriert, hätte niemals meine Mutter getroffen, die ebenfalls geflohen war, und niemals mich und meine beiden Brüder gezeugt.

Mein Vater sprach selten vom Krieg. Ich habe es damals nicht begriffen, aber später dämmerte es mir: Wenn er von seinen Erlebnissen sprach, dann weniger, um seine Erfahrungen mit mir zu teilen, sondern weil er mir etwas über das Leben erzählen wollte. Krieg ist ein Extremereignis, doch die Rolle des Zufalls basiert nicht auf Extremen. Die Konturen unseres Lebens werden, wie diejenigen der Kerzenflammen, durch eine Reihe von Zufallsereignissen ständig umgeformt und in neue Richtungen gelenkt, die zusammen mit unseren Reaktionen darauf unser Schicksal bestimmen. Infolgedessen ist der Lauf des Lebens nicht nur schwer vorhersehbar, sondern auch schwer zu deuten. Genauso, wie es bei einem Rorschach-Klecks sein kann, dass Sie Madonna sehen und ich ein Schnabeltier, lassen sich die Daten, auf die wir im Geschäftsleben, vor Gericht, in der Medizin, im Sport, in den Medien oder auf dem Zeugnis der Kinder stoßen, in unterschiedlicher Weise lesen. Aber anders als beim Rorschach-Test gibt es richtige und falsche Wege, die Rolle des Zufalls zu interpretieren.

Menschen folgen oft ihrer Intuition, wenn sie in unsicheren Situationen eine Entscheidung fällen sollen. Intuitives Vorgehen war in unserer Evolution zweifellos von Vorteil, wenn es darum ging, rasch zu entscheiden, ob ein Säbelzahntiger lächelte, weil er satt und zufrieden war, oder weil er ausgehungert war und sich auf seine nächste Mahlzeit freute. Aber die modernen Zeiten folgen einem anderen Rhythmus, und heutzutage können sich solche intuitiven Prozesse nachteilig auswirken. Im Umgang mit den Tigern unserer Tage kann unsere übliche Denkweise zu Entscheidungen führen, die suboptimal oder sogar völlig falsch sind. Das ist für diejenigen, die untersuchen, wie das Gehirn Ungewissheit verarbeitet, wenig erstaunlich: Viele Studien zeigen eine enge Verbindung zwischen den Teilen unseres Gehirns, die Zufallssituationen beurteilen, und jenen, die den Wesensbereich steuern, der häufig als Hauptquelle unserer Irrationalität angesehen wird – unsere Emotionen. So zeigt die Funktionelle Kernspintomographie beispielsweise, dass Risiko und Belohnung von Teilen des dopaminergen Systems bewertet werden, einem Belohnungsschaltkreis im Gehirn, der wichtig für motivationale und emotionale Prozesse ist.1 Die Hirnscans zeigen auch, dass der Mandelkern (Amygdala), der ebenfalls eng mit dem emotionalen Zustand eines Menschen verknüpft ist, aktiviert wird, wenn Menschen Entscheidungen auf unsicherer Basis treffen.2

Die Mechanismen, mit denen Menschen Situationen analysieren, in denen der Zufall eine Rolle spielt, sind ein komplexes Produkt aus evolutionären Faktoren, Hirnstruktur, persönlicher Erfahrung, Wissen und Emotion. Tatsächlich ist die menschliche Reaktion auf Ungewissheit so verzwickt, dass manchmal unterschiedliche Strukturen im Gehirn zu unterschiedlichen Schlüssen kommen und offenbar darum streiten, welche sich durchsetzt. Wenn Ihr Gesicht zum Beispiel nach dem Genuss einiger saftiger Shrimps in drei von vier Fällen auf das Fünffache seiner normalen Größe anschwillt, wird die «logische» linke Hemisphäre Ihres Gehirns versuchen, ein Muster zu finden. Die «intuitive» rechte Hemisphäre wird hingegen zu dem einfachen Schluss kommen: «Finger weg von Shrimps!» Zumindest ist das das Ergebnis von Studien in einem weniger gefährlichen experimentellen Rahmen. Dieses Spiel nennt man «Wahrscheinlichkeiten erraten» (probability guessing). Statt mit Shrimps und Histaminen herumzuspielen, sehen Sie eine Reihe von Karten oder Lichtern, die zwei Farben haben können, beispielsweise Rot und Grün. Das Experiment ist so angelegt, dass die Farben mit unterschiedlichen Wahrscheinlichkeiten auftreten, es aber sonst keinerlei Muster gibt. Beispielsweise kann es sein, dass Rot doppelt so häufig wie Grün erscheint, wie in der Folge Rot-Rot-Grün-Rot-Grün-Rot-Rot-Grün-Grün-Rot-Rot-Rot etc. Die Aufgabe der Versuchsperson ist es, nach einer Weile Zuschauen vorherzusagen, ob als nächstes Glied der Kette Rot oder Grün auftaucht.

Das Spiel hat zwei Grundstrategien. Die eine besteht darin, stets die Farbe zu nennen, die, wie Sie festgestellt haben, die häufigere ist. Das ist der Weg, den Ratten und andere nichtmenschliche Tiere einschlagen. Wenn Sie diese Strategie verfolgen, ist Ihnen ein gewisser Erfolg sicher, aber Sie müssen auch in Kauf nehmen, dass Sie Ihr Ergebnis nicht verbessern. Wenn beispielsweise in 75 Prozent aller Fälle Grün erscheint und Sie stets «Grün» vermuten, liegen Sie in 75 Prozent aller Fälle richtig. Die andere Strategie besteht darin, den Anteil von Grün- und Rot-Vermutungen an den Anteil von Grün und Rot anzupassen, den Sie in der Vergangenheit beobachtet haben. Wenn Rot und Grün nach einem bestimmten Muster auftauchen und Sie dieses Muster herausfinden, können Sie mit dieser Strategie jedes Mal richtig liegen. Wenn die Farben jedoch zufällig erscheinen, wäre es besser, bei der ersten Strategie zu bleiben. Wenn Grün in 75 Prozent aller Fälle zufällig auftritt, führt die zweite Strategie nur zu einer Erfolgsrate von 60 Prozent.

Menschen versuchen gewöhnlich, das Muster herauszufinden, und werden deshalb bei diesem Spiel von Ratten geschlagen. Es gibt jedoch Menschen mit einer bestimmten Hirnschädigung – sogenannte Split-Brain-Patienten –, die verhindert, dass die rechte und die linke Gehirnhälfte miteinander kommunizieren. Wenn man das Wahrscheinlichkeitsexperiment mit diesen Patienten so durchführt, dass sie das farbige Licht nur mit ihrem linken Auge sehen und nur ihre linke Hand benutzen, um ihre Vermutung zu signalisieren, dann ist nur die rechte Hirnhälfte an diesem Experiment beteiligt. Wenn das Experiment mit dem rechten Auge und der rechten Hand durchgeführt wird, wird hingegen nur die linke Hirnhälfte getestet. Das Ergebnis dieses Doppelexperiments war verblüffend: Wie sich zeigte, verfolgte die rechte Hemisphäre ein und desselben Split-Brain-Patienten stets die Strategie, die häufigere Farbe zu wählen, während die linke Hemisphäre stets versuchte, das Muster zu erraten.3

Angesichts des Ungewissen weise Urteile und Entscheidungen zu fällen, ist eine seltene Fertigkeit. Doch wie jede Fertigkeit lässt sie sich durch Übung verbessern. Auf den folgenden Seiten möchte ich die Rolle des Zufalls in der Welt um uns herum, die Vorstellungen, die über die Jahrhunderte entwickelt wurden, um diese Rolle besser zu verstehen, und die Faktoren untersuchen, die uns häufig in die Irre führen. Der britische Philosoph und Mathematiker Bertrand Russell meinte dazu: «Wir alle beginnen mit dem ‹naiven Realismus›, das heißt mit der Doktrin, dass die Dinge sind, was sie zu sein scheinen. Wir denken, dass Gras grün ist, Steine hart sind und Schnee kalt ist. Doch die Physik lehrt uns, dass das Grün des Grases, die Härte der Steine und die Kälte des Schnees nicht das Grün des Grases, die Härte der Steine und die Kälte des Schnees sind, die wir aus eigener Erfahrung kennen, sondern etwas ganz anderes.»4 Im Folgenden wollen wir das Leben durch die Brille des Zufalls betrachten und werden feststellen, dass viele Ereignisse in unserem Leben ebenfalls nicht das sind, was sie zu sein scheinen, sondern etwas ganz anderes.

 

IM JAHR 2002 sprach das Nobelkomitee den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften einem Wissenschaftler namens Daniel Kahneman zu. Heutzutage beschäftigen sich Wirtschaftswissenschaftler mit Fragen aller Art – sie erklären, warum Lehrer so schlecht bezahlt werden, warum Footballteams so viel wert sind und warum Körperfunktionen der Größe von Schweinemastbetrieben eine Grenze setzen (ein Schwein scheidet 3  5 Mal mehr Kot aus als ein Mensch, was bedeutet, dass eine Farm mit einigen tausend Schweinen oft mehr Fäkalien produziert als die benachbarten Kleinstädte5). Trotz all der wichtigen Forschungsergebnisse, die Wirtschaftswissenschaftler erarbeitet haben, ist der Nobelpreis von 2002 bemerkenswert, denn Kahneman ist gar kein Wirtschaftswissenschaftler. Er ist Psychologe und hat jahrzehntelang mit dem 1996 verstorbenen Kollegen Amos Tversky zusammengearbeitet. Kahneman hat die Art von Fehleinschätzungen untersucht und erklärt, aus der sich viele der üblichen Trugschlüsse speisen, über die ich in diesem Buch sprechen möchte.

Die größte Herausforderung für das Verständnis der Rolle, die der Zufall im Leben spielt, besteht darin, dass die Grundprinzipien des Zufalls zwar aus der Alltagslogik erwachsen, aber viele der Konsequenzen, die aus diesen Prinzipien folgen, unserer Intuition widersprechen. Kahnemans und Tverskys Studien wurden selbst von einem Zufallsereignis ausgelöst. Mitte der 60er Jahre willigte Kahneman, damals frischgebackener Psychologieprofessor an der Hebrew University, ein, eine wenig Aufregung versprechende Arbeit zu übernehmen, nämlich vor einer Gruppe israelischer Luftwaffenausbilder über die konventionelle Weisheit von Verhaltensmodifikationen und ihre Anwendung auf die Psychologie des Flugtrainings zu referieren. Kahneman unterstrich den Punkt, dass eine Belohnung von positivem Verhalten verstärkend wirkt, eine Bestrafung von Fehlern hingegen nicht. Da unterbrach ihn einer seiner Zuhörer, widersprach ihm und brachte Kahneman auf ein Thema, das er jahrzehntelang verfolgen sollte.6

«Ich habe meine Männer oft für wundervolle Manöver gelobt, und das nächste Mal flogen sie stets schlechter», erklärte der Fluglehrer. «Und ich habe Leute wegen miserabler Manöver angebrüllt, und im Großen und Ganzen waren sie das nächste Mal besser. Erzählen Sie mir nicht, dass Belohnung funktioniert und Bestrafung nicht. Das widerspricht ganz einfach meiner Erfahrung.» Die anderen Fluglehrer stimmten ihm zu. Kahneman hatte den Eindruck, dass die Erfahrungen des Fluglehrers tatsächlich den Tatsachen entsprachen. Auf der anderen Seite vertraute Kahneman den Tierexperimenten, die demonstrierten, dass Belohnung besser wirkt als Bestrafung. Eine ganze Weile zerbrach er sich den Kopf über dieses offensichtliche Paradox. Und dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Das Anschreien mochte der Leistungsverbesserung vorausgehen, aber anders, als es schien, war es nicht deren Ursache.

Wie war das möglich? Die Antwort gibt ein Phänomen, das man als Regression zum Mittelwert (auch: Regression zur Mitte) bezeichnet: In einer beliebigen Reihe von Zufallsereignissen folgt auf ein außergewöhnliches Ereignis wahrscheinlich rein statistisch ein gewöhnlicheres Ereignis. Und so funktioniert das Ganze: Die Flugschüler verfügten alle über eine je individuelle Fertigkeit, Kampfjets zu fliegen. Ihre Flugfertigkeiten zu verbessern, bezog viele Faktoren ein und erforderte ein ausgiebiges Training. Und wenngleich sich also ihre Leistungen durch das Flugtraining allmählich steigerten, so machte sich diese Veränderung doch nicht von einem Manöver zum nächsten bemerkbar. Jede besonders gute oder besonders schlechte Leistung war daher vor allem eine Frage des Zufalls. Wenn einem Piloten also eine außerordentlich gute Landung – deutlich oberhalb seines normalen Leistungsvermögens – gelang, dann waren die Chancen hoch, dass er am nächsten Tag näher an seinem normalen Leistungsniveau liegen, das heißt schlechter fliegen würde. Und wenn ihn der Fluglehrer am Tag zuvor gelobt hatte, sah es so aus, als habe ihm das Lob nicht gut getan. Doch wenn ein Pilot eine besonders miserable Landung hinlegte – und das Flugzeug über das Ende der Startbahn in den Matsch schoss –, dann standen die Chancen gut, dass er am nächsten Tag näher an seinem normalen Leistungsniveau liegen, das heißt besser fliegen würde. Wenn ein Fluglehrer jedes Mal «du tollpatschiger Affe» brüllte, nachdem einer seiner Schüler Mist gebaut hatte, dann sah es so aus, als habe die Standpauke gewirkt. Auf diese Weise konnte sich ein scheinbares Muster entwickeln: Wenn ein Schüler gute Leistungen erbringt, tut ihm Lob nicht gut; wenn er schlechte Leistungen erbringt und sein Lehrer ihn lautstark mit einem niederen Primaten vergleicht, verbessern sie sich. Die Fluglehrer in Kahnemans Klasse hatten aus solchen Erfahrungen den Schluss gezogen, ihr Schreien sei ein wichtiges pädagogisches Mittel. In Wirklichkeit machte es überhaupt keinen Unterschied.

Dieser intuitive Irrtum regte Kahneman zum Nachdenken an. Sind solche Fehlinterpretationen häufig? Glauben wir, wie die Fluglehrer, dass harte Kritik das Verhalten unserer Kinder, die Leistung unserer Angestellten verbessert? Gelangen wir angesichts unsicherer Informationen zu anderen Fehlschlüssen? Kahneman wusste, dass Menschen notwendigerweise gewisse Strategien einsetzen, um die Komplexität von Entscheidungsfindungen zu verringern, und dass die intuitive Einschätzung von Wahrscheinlichkeiten dabei eine wichtige Rolle spielt. Werden Sie sich krank fühlen, wenn Sie diesen saftigen Hotdog essen, den der Straßenverkäufer anpreist? Sie erinnern sich nicht bewusst an alle vergleichbaren Gelegenheiten, bei denen Sie einen Hotdog gegessen haben, zählen die Nächte, in denen anschließend Ihr Magen revoltierte, und warten dann mit einer numerischen Schätzung auf. Sie verlassen sich auf Ihre Intuition. Doch Studien Ende der 50er/​Anfang der 60er Jahre haben gezeigt, dass Menschen in Situationen, wo es um Zufall geht, eben nicht auf ihre Intuition vertrauen können. Wie weit ist dieses Missverstehen in Situationen von Ungewissheit verbreitet?, fragte sich Kahneman. Und welche Folgen hat dies für unsere Praxis der Entscheidungsfindung? Ein paar Jahre waren vergangen, als Kahneman einen anderen Juniorprofessor namens Amos Tversky einlud, einen Gastvortrag in einem Seminar zu halten. Später beim Mittagessen erzählte Kahneman Tversky von seinen Ideen. Im Lauf der nächsten 30 Jahre stellten Tversky und Kahneman fest, dass auch gebildete und intelligente Menschen häufig versagen, wenn es um Zufallsprozesse geht – ob in militärischen Situationen oder beim Sport, bei geschäftlichen Problemen oder medizinischen Fragen –, und von ihrer Intuition im Stich gelassen werden.

Stellen Sie sich vor, vier Verlage hätten Ihren Thriller über Liebe, Krieg und Klimaerwärmung abgelehnt. Ihre Intuition, und ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube, sagen Ihnen vielleicht, die Ablehnung all dieser Experten könne nur bedeuten, dass Ihr Manuskript nichts taugt. Doch hat Ihre Intuition recht? Ist Ihr Roman unverkäuflich? Wenn eine Münze bei mehreren Münzwürfen immer wieder «Kopf» zeigt, so heißt das nicht – wie wir alle aus Erfahrung wissen –, dass die Münze zwei Kopfseiten aufweist. Könnte es sein, dass der Erfolg eines Buches so unvorhersehbar ist, dass selbst dann, wenn Ihr Roman das Zeug zu einem Bestseller hat, viele Lektoren das nicht merken und Ihr Manuskript mit einer belanglosen Dankesfloskel zurücksenden? Ein Buch in den 50er Jahren wurde wiederholt mit Kommentaren abgelehnt wie «sehr langweilig», «ein farbloser Bericht über typische Familienzankereien, belanglose Scherereien und halbwüchsige Gefühle», und «selbst wenn das Buch fünf Jahre früher auf den Markt gekommen wäre, als das Thema [der Zweite Weltkrieg] noch aktuell war, hätte es wohl keine Chance gehabt». Das Buch, dem diese Kritik galt, ist das Tagebuch der Anne Frank, von dem inzwischen 30 Millionen Exemplare verkauft worden sind, was es zu einem der ganz großen Bestseller der Geschichte macht.7

Solche Fehlurteile sind keine Einzelfälle. Heute gelten John Grisham, Theodor Geisel (Dr. Seuss) und J. K. Rowling als Top-Autoren. Doch die Manuskripte, die sie schrieben, bevor sie berühmt wurden – alle schließlich höchst erfolgreich –, wurden wiederholt abgelehnt. John Grishams Manuskript Die Jury wurde von 26 Verlagen abgelehnt, für sein zweites Buch Die Firma begannen sich Verleger erst zu interessieren, als dem Autor aufgrund einer Raubkopie, die in Hollywood kursierte, 600 000 Dollar für die Filmrechte angeboten wurden. Dr. Seuss’ erstes Kinderbuch wurde 27 Mal abgelehnt. Und J. K. Rowlings erstes Harry-Potter-Manuskript brauchte neun Anläufe, bis es einen Verlag fand.8 Und dann gibt es auch noch die Kehrseite, die jedermann in der Branche nur allzu gut kennt: die vielen Autoren, die großes Potenzial haben, es aber nie geschafft haben, die John Grishams, die nach den ersten 20 Ablehnungen, oder die J. K. Rowlings, die nach der fünften Ablehnung aufgegeben haben. Ein solcher Schriftsteller war John Kennedy Toole, der nach zahllosen Ablehnungen die Hoffnung verlor, seinen Roman jemals zu veröffentlichen, und sich das Leben nahm. Seine Mutter versuchte es jedoch weiter, und elf Jahre später wurde Ignaz oder Die Verschwörung der Idioten veröffentlicht, gewann den Pulitzer-Preis in der Kategorie Belletristik und verkaufte sich 1,5 Millionen Mal.

Zwischen dem Verfassen eines großartigen Romans – oder der Kreation eines Schmuckstücks oder eines Schokoladenkuchens – und großen Stückzahlen dieses Romans oder Schmuckstücks oder Kuchens in der Auslage Tausender von Einzelhandelsgeschäften liegt eine breite Kluft von Zufälligkeit und Ungewissheit. Aus diesem Grund gehören Menschen, die auf welchem Gebiet auch immer erfolgreich sind, fast alle zu einem ganz bestimmten Typ – dem Typ Mensch, der nicht aufgibt.

Viel von dem, was uns geschieht – Erfolg im Beruf, Investitionen und Lebensentscheidungen, ob klein oder groß – ist in beträchtlichem Maße ebenso sehr das Ergebnis von Zufallsfaktoren wie von persönlichem Geschick, Einsatzbereitschaft und harter Arbeit. Daher ist die Realität, die wir wahrnehmen, keine direkte Reflexion der Menschen oder der Umstände, die ihr zugrunde liegen, sondern vielmehr ein Bild, das durch die randomisierenden Auswirkungen unberechenbarer oder fluktuierender äußerer Kräfte verschleiert wird. Das soll nicht heißen, dass Fähigkeit keine Rolle spielt. Sie ist einer der Faktoren, die die Erfolgschancen erhöhen, doch die Verbindung zwischen Handlung und Ergebnis ist nicht so direkt, wie wir gerne glauben möchten. Und daher ist weder unsere Vergangenheit immer leicht zu verstehen noch lässt sich unsere Zukunft leicht voraussagen, und in beiden Fällen profitieren wir davon, uns nicht mit oberflächlichen Erklärungen zufriedenzugeben, sondern tiefer zu blicken.

 

WIR UNTERSCHÄTZEN die Auswirkungen des Zufalls überall, sei es bei der Empfehlung unseres Börsenmaklers für einen lateinamerikanischen Investmentfonds, der seit fünf Jahren alle anderen Fonds schlägt, oder wenn wir unser jüngstes Zipperlein der Nebenwirkung des Medikaments zuschreiben, das wir gerade einnehmen, oder wenn unser Arzt den Anstieg unserer Triglyceride auf unsere neue Angewohnheit zurückführt, uns zum Frühstück heimlich eine Cremeschnitte zu gönnen, nachdem wir die Kinder pflichtgemäß mit Mangos und fettfreiem Jogurt abgespeist haben. Wir können den Rat unseres Börsenmaklers oder unseres Arztes annehmen oder nicht, aber nur wenige von uns fragen sich, ob der Betreffende überhaupt genug Daten hat, um einen solchen Rat zu geben. In Politik, Wirtschaft und Geschäftswelt werden Zufallsereignisse oft als Erfolge oder Misserfolge fehlinterpretiert, selbst dann, wenn Karrieren und Millionen Dollar auf dem Spiel stehen.

Hollywood ist ein gutes Beispiel. Sind die Belohnungen (und Bestrafungen) im Hollywood-Spiel verdient, oder spielt der Zufall bei einem Kassenschlager (oder -flop) eine weitaus wichtigere Rolle? Wir alle wissen, dass Genie noch keinen Erfolg garantiert, doch es ist verführerisch anzunehmen, dass Erfolg von Genie kommen muss. Der unbehagliche Verdacht, dass niemand im Voraus wissen kann, ob ein Film ein Hit oder ein Reinfall wird, geht jedoch schon länger in Hollywood um, zumindest seit der Romancier und Drehbuchautor William Goldman dies in seinem Klassiker Adventures in the Screen Trade (Abenteuer im Filmgeschäft, 1983) klar aussprach. In diesem Buch zitiert Goldman den früheren Studioleiter David Picker mit den Worten: «Wenn ich all die Projekte, die ich abgelehnt habe, angenommen hätte, und all die, die ich angenommen habe, abgelehnt hätte, wäre wohl in etwa dasselbe herausgekommen.»9

Das soll nicht heißen, dass ein zapplig gedrehtes Heimvideo genauso leicht ein Hit werden könnte wie zum Beispiel der «Exorzist», dessen Produktionskosten bei geschätzten 80 Millionen Dollar lagen. Nun ja, genau das passierte praktisch vor einigen Jahren mit dem «Blair Witch Project». Es kostete die Filmemacher gerade mal 60 000 Dollar, spielte aber satte 140 Millionen Dollar ein. Aber das ist es nicht, was Goldman meint. Er sprach nur über professionell gemachte Hollywoodfilme mit einem so hohen Produktionswert, dass sie bei einem respektablen Verleiher landen. Und Goldman bestritt nicht, dass es Gründe für das Einspielergebnis eines Films gibt. Aber er betonte, dass diese Gründe so komplex sind und der Weg vom «grünen Licht» bis zum Filmstart so anfällig für unvorhergesehene und unkontrollierbare Einflüsse ist, dass «fundierte Vermutungen» über das Potenzial eines ungedrehten Films nicht viel treffsicherer sind als Kaffeesatzlesen.

Beispiele für Hollywoods Unberechenbarkeit lassen sich leicht finden. Filmfans werden sich erinnern, welch große Erwartungen die Studios in Megaflops wie «Ishtar» (Warren Beatty + Dustin Hoffman + ein 55-Millionen-Budget = 14 Millionen Dollar Einspielsumme) und «Last Action Hero» (Arnold Schwarzenegger + 85 Millionen Dollar = 50 Millionen Dollar) setzten. Oder vielleicht erinnern Sie sich an die großen Zweifel, die die Verantwortlichen in den Universal Studios beim ersten Film von George Lucas’ «American Graffiti» plagten, der für weniger als eine Million Dollar produziert wurde. Trotz ihrer Skepsis spielte der Film 115 Millionen ein, doch das hielt sie nicht davon ab, noch stärker an Lucas’ nächster Idee zu zweifeln. Er nannte die Story zunächst «The Adventures of Luke Starkiller as taken from ‹The Journal of the Whills›», und Universal bezeichnete sie als «nicht produzierbar». Schließlich machte das Fox-Studio den Film, zahlte Lucas aber für Drehbuch und Regie nur 100 000 Dollar, weil niemand so recht an den Erfolg des Films glauben mochte; im Gegenzug erhielt Lucas die Fortsetzungs- und Merchandising-Rechte. Im Endeffekt brachte «Star Wars» (Krieg der Sterne) bei einem Budget von 11 Millionen 461 Millionen Dollar ein, und Lucas hatte sich ein Imperium geschaffen.

Angesichts der Tatsache, dass die Entscheidung für «grünes Licht» Jahre vor der Fertigstellung eines Films getroffen wird und Filme vielen unberechenbaren Einflüssen unterliegen, die während der Jahre der Produktion und des Marketings auftauchen, nicht zu sprechen von dem unergründlichen Geschmack des Publikums, erscheint Goldmans Theorie gar nicht weit hergeholt. (Sie wird zudem von einer ökonomischen Studie aus jüngster Zeit gestützt.10) Trotzdem werden Studiodirektoren nicht nach jenen grundsätzlichen Managerqualitäten beurteilt, wie sie von der United States Steel Cooperation ebenso verlangt werden wie von Paramount Pictures, sondern nach ihrem Riecher für Kassenschlager. Wenn Goldman recht hat, dann ist dieser «Riecher» reine Illusion, und trotz ihres Aufplusterns wäre keiner dieser Herren einen 25-Millionen-Dollar-Vertrag wert.

Zu entscheiden, wie viel eines Erfolgs auf Können und wie viel auf Glück zurückgeht, ist nicht einfach. Zufallsereignisse kommen oft wie Rosinen in einer Müslischachtel daher – in Gruppen, Strähnen oder Clustern. Und obgleich die Glücksgöttin fair ist, was Potenzial angeht, ist sie nicht fair im Hinblick auf Ergebnisse. Das heißt, wenn 10 Hollywood-Direktoren zusammenkommen und jeder 10 Mal eine Münze wirft, wird es trotz Chancengleichheit am Ende Gewinner und Verlierer geben. Bei diesem Beispiel stehen die Chancen 2 : 3, dass mindestens einer der Direktoren acht Mal Kopf oder Zahl wirft.

Stellen Sie sich vor, George Lucas hat einen neuen Star-Wars-Film gedreht und entschließt sich zu einem verrückten Marketingexperiment. Er stellt den gleichen Film unter zwei verschiedenen Titeln vor: «Star Wars Episode A» und «Star Wars Episode B». Jeder Film bekommt seine eigene unabhängige Werbekampagne und seinen eigenen Verleiher – alles ist identisch – nur, dass es in den Trailern und Anzeigen für den einen Film «Episode A» heißt, für den anderen «Episode B». Nun machen wir ein Rennen daraus. Welcher Film wird wohl beliebter sein? Wir können uns beispielsweise die ersten 20 000 Kinogänger vornehmen und festhalten, für welchen Film sie sich entscheiden (wobei wir die hartgesottenen Fans ignorieren, die sich beide Filme anschauen und dann behaupten, es gebe subtile, aber dennoch wichtige Unterschiede). Da die Filme und ihre Werbekampagnen identisch sind, können wir das Spiel mathematisch nachstellen: Stellen wir uns nun vor, wir reihen alle Zuschauer hintereinander auf und werfen für jeden Zuschauer eine Münze. Kopf heißt, sie sehen Episode A, Zahl heißt, sie sehen Episode B. Da Kopf und Zahl beim Münzwurf gleich wahrscheinlich sind, denken Sie vielleicht, dass bei diesem experimentellen Krieg der Kassen jeder Film die halbe Zeit in Führung liegen sollte. Die Mathematik des Zufalls sagt jedoch etwas anderes: Die wahrscheinlichste Anzahl der Führungswechsel ist null, und es ist 88 Mal wahrscheinlicher, dass einer der beiden Filme alle 20 000 Zuschauer hindurch führt, als dass die Führung sich ständig ändert.11 Die Lehre daraus ist nicht, dass es keinen Unterschied zwischen Filmen gibt, sondern dass einige Filme besser als andere abschneiden, selbst wenn sie alle identisch sind.

Solche Themen werden in den Chefetagen Hollywoods oder anderswo nicht diskutiert, und daher werden die typischen Muster des Zufalls – scheinbare Glücks- oder Pechsträhnen oder die Bündelung von Daten zu Clustern – routinemäßig fehlinterpretiert, oder noch schlimmer, es wird so getan, als stellten sie einen neuen Trend dar.

Eines der besten Beispiele für eine Krönung mit anschließendem Königsmord im modernen Hollywood ist der Fall Sherry Lansing, die Paramount viele Jahre lang mit großem Erfolg leitete.12 Unter Lansing gewann die Paramount Preise für «Forrest Gump», «Braveheart» und «Titanic» und erlebte ihre beiden Jahre mit den höchsten Einspielzahlen. Dann sank Lansings Stern plötzlich, und sie wurde entlassen, nachdem Paramount, wie die Zeitschrift Variety es ausdrückte, «eine lange Underperformance an den Kinokassen» erlebt hatte.13

Mathematisch gesprochen, gibt es eine kurze und eine lange Erklärung für Lansings Schicksal. Zuerst die kurze Antwort. Schauen Sie sich diese Zahlenreihe an: 11,4  10,6  11,3  7,4  7,1  6,7. Ist Ihnen etwas aufgefallen? Das fiel auch Lansings Boss, Summer Redstone, auf, denn diese sechs Zahlen stellen den Marktanteil der Paramounts Motion Picture Group in den letzten sechs Jahren unter Lansing dar. Der Trend veranlasste die Zeitschrift Business Week zu der Spekulation, Lansing habe «vielleicht einfach das Gespür für Hollywood verloren».14 Bald darauf kündigte sie ihren Abschied an, und ein paar Monate später übernahm ein Manager namens Brad Grey ihren Posten.

Wie konnte ein Genie wie Lansing einem Unternehmen sieben fette Jahre bescheren und dann praktisch über Nacht scheitern? Es gab zahlreiche Theorien, um Lansings frühere Erfolge zu erklären. Solange es dem Studio gut ging, wurde Lansing gelobt, sie habe Paramount zu einem der bestgeführten Studios in Hollywood gemacht, in dem konventionelle Geschichten in 100-Millionen-Dollar-Hits verwandelt würden. Als sich ihr Glück wendete, übernahmen die Revisionisten das Ruder. Lansings Händchen für erfolgreiche Remakes und Fortsetzungen wurde nun zum Manko erklärt. Am schädlichsten war wohl der Vorwurf, ihr Versagen gehe auf ihren «Durchschnittsgeschmack» zurück. Nun wurde ihr vorgehalten, für Kassenflops wie «Timeline» und «Lara Croft Tomb Raider: Die Wiege des Lebens» grünes Licht gegeben zu haben. Plötzlich war jedermann überzeugt, Lansing sei risikoscheu, altmodisch und habe das Gespür für Trends verloren. Aber kann man ihr wirklich vorwerfen, einen Michael-Crichton-Bestseller für vielversprechendes Filmfutter gehalten zu haben? Und wo waren all die «Lara-Croft»-Kritiker, als der erste «Tomb-Raider»-Film 131 Millionen Dollar einspielte?

Selbst wenn die Theorien über Lansings Defizite plausibel wären, erklären sie nicht, warum ihr Niedergang so abrupt erfolgte. War sie über Nacht risikoscheu und realitätsfremd geworden? Denn Paramounts Marktanteil brach ganz plötzlich ein. Ein Jahr ist Lansing ganz oben, im nächsten eine Witzfigur für Late-Night-Comedians. Ihr Absturz wäre vielleicht verständlich gewesen, wenn sie, wie andere in Hollywood, Depressionen wegen einer schmutzigen Scheidung entwickelt hätte, des Betrugs verdächtigt worden oder einer religiösen Sekte beigetreten wäre. Aber das war nicht der Fall. Und sie hatte auch sicherlich keinen Hirnschaden erlitten. Das einzige Indiz, das Lansings Kritiker für ihr aktuelles Versagen liefern konnten, war eben ihr aktuelles Versagen.

Im Nachhinein ist klar, dass Lansing nicht wegen eigener Fehlentscheidungen gefeuert wurde, sondern weil die Filmindustrie keine Ahnung von Zufallsereignissen hat: Paramounts Filme für das folgende Jahr waren bereits in Vorbereitung, als Lansing das Unternehmen verließ. Wenn wir also wissen wollen, wie sich Lansing in einem Paralleluniversum geschlagen hätte, wenn sie ihren Job behalten hätte, müssen wir uns nur die Daten im Jahr nach ihrem Ausscheiden ansehen. Mit Filmen wie «Krieg der Welten» und «Spiel ohne Regeln» erlebte Paramount den besten Sommer in zehn Jahren und sah seinen Marktanteil wieder auf fast 10 Prozent steigen. Das ist nicht nur eine Ironie des Schicksals – hier kommt wieder jener Aspekt des Zufalls ins Spiel, der als Regression zum Mittelwert bezeichnet wird. Eine Variety-Überschrift zu dem Thema lautete denn auch: «Abschiedsgeschenke: Der Filmnachlass des alten Regimes befeuert Paramounts Wiederaufstieg».15 Aber hätte Viacom nur etwas mehr Geduld gehabt, dann hätte die Schlagzeile wohl lauten können: «Hervorragendes Jahr bringt Paramount und Lansings Karriere wieder auf Kurs.»

Sherry Lansing hatte zu Beginn Glück und am Ende Pech, aber es hätte schlimmer kommen können. Sie hätte zu Beginn Pech haben können. Das passierte einem Direktor der Columbia Pictures namens Mark Canton. Kurz nach seiner Einstellung als ausgefuchster Kenner der Filmbranche gepriesen, wurde er schon nach ein paar Jahren wieder gefeuert, weil seine Filme nicht genug einspielten. Von einem ungenannten Kollegen als jemand kritisiert, der «nicht zwischen Gewinnern und Verlierern unterscheiden kann», während ein anderer ihm vorwarf, «zu sehr mit Beifallklatschen» beschäftigt zu sein, gehörten zu den Filmen, die er in Vorbereitung hatte, als er ging, «Men in Black» (Einspielsumme weltweit 589 Millionen Dollar), «Air Force One» (315 Millionen), «Das fünfte Element» (264 Millionen), «Jerry Maguire – Spiel des Lebens» (274 Millionen) und «Anaconda» (137 Variety 16

Nun, das ist Hollywood, eine Stadt, wo Michael Ovitz 15Monate lang als Disney-Präsident arbeitet und dann mit einer Abfindung von 140Millionen geht, und wo Studioleiter David Begelman von den Columbia Pictures wegen Fälschung und Unterschlagung entlassen wird und dann ein paar Jahre später als Führungskraft von Metro-Goldwyn-Mayer wieder eingestellt wird. Aber wie wir in späteren Kapiteln noch sehen werden, plagt dieselbe Art von Fehlurteilen, die Hollywood zeigt, auch die menschliche Wahrnehmung in allen anderen Lebensbereichen.

WAS DIE VERBORGENEN EFFEKTE des Zufalls angeht, so datiert mein persönliches Aha-Erlebnis aus meiner Collegezeit, als ich einen Kurs in Wahrscheinlichkeitsrechnung belegte und begann, das Gelernte auf die Welt des Sports anzuwenden. Das ist nicht schwer, weil sich die meisten Leistungen im Sport wie in der Filmindustrie leicht quantifizieren lassen und die Daten allgemein verfügbar sind. Und genauso, wie sich die Lektionen zu Durchhalten, Training und Teamwork, die wir beim Sport lernen, auf alle anderen Bereiche des Lebens anwenden lassen, gilt dies auch für die Lehren des Zufalls. Daher enthält die Geschichte zweier Baseballspieler, Roger Maris und Mickey Mantle, eine Lehre für uns alle, selbst für diejenigen, die einen Baseball nicht von einem Pingpongball unterscheiden können.

 Life Magazine  

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Life-Magazine-Artikel 18

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Um dieses Experiment tatsächlich durchzuführen, hätte ich eine ziemlich seltsame Münze, ein ziemlich starkes Handgelenk und Urlaub vom College gebraucht. In der Praxis ermöglichte mir die Mathematik des Zufalls, die Analyse mit Hilfe von Gleichungen und einem Computer durchzuführen. Nicht überraschend lag Normal-Maris’ Home-Run-Leistung im größten Teil meiner imaginären 1961er Saisons im Bereich, der für Maris normal war. In einigen imaginären Saisons schlug er einige Home Runs mehr, in anderen einige weniger. Nur selten schlug er deutlich mehr oder deutlich weniger. Wie häufig produzierte Normal-Maris’ Talent Babe-Ruth-Resultate?

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Wir werden niemals wissen, ob Maris 1961 weitaus besser spielte als in all den anderen Jahren als professioneller Baseballspieler oder ob er einfach nur Glück hatte. Detaillierte Analysen von Baseball und anderen Sportarten, durchgeführt von so renommierten Wissenschaftlern wie dem verstorbenen Stephen Jay Gould und dem Physik-Nobelpreisträger Ed Purcell, zeigen jedoch, dass Münzwurfmodelle wie jenes, das ich vorhin beschrieben habe, die tatsächliche Leistung von Spielern und Teams wie auch ihre Glücks- und Pechsträhnen sehr gut wiedergeben können.