Bliefe von dlüben

Cover

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2009

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Covergestaltung any.way, Barbara Hanke/Cordula Schmidt

Coverabbildung China Daily/Reuters/Corbis;

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ISBN 978-3-644-10351-1

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

ISBN 978-3-644-10351-1

(Marlene Dietrich in Josef von Sternbergs Shanghai Express, 1932)

Seit mehr als dreißig Jahren öffnet sich China der Welt. Etwa genauso lange wimmelt es im Land auch von westlichen Journalisten und Reportern, die unablässig Bericht erstatten. So sind auf westlichen Fernsehkanälen mittlerweile unzählige China-Features gesendet worden, und es ist tonnenweise Chinaliteratur erschienen. Trotzdem haben fast alle Besucher, die zum ersten Mal zu mir nach Peking kommen, keinen Schimmer, was sie hier erwartet. Kaum einem war vorher wirklich bewusst, dass in China momentan die größte materielle Umwälzung stattfindet, die die Welt je erlebt hat. Und die meisten staunen darüber, wie dieses Land jetzt aussieht und was das für seltsame Auswirkungen auf den Alltag der Chinesen hat.

 

Diese Ahnungslosigkeit hat mehrere Gründe. Einer ist, dass es einfach einen Haufen von Mythen und Legenden über China gibt, die sich in den Köpfen der Westler festgefressen haben und hier die Aufnahme neuer Informationen verhindern. Ein solcher Mythos ist zum Beispiel, dass die Chinesen rätselhafte Menschen sind, die wir kaum verstehen können. Ein anderer, Chinesisch sei eine nur sehr schwer erlernbare Sprache. Ein schönes Beispiel für eine im Westen nicht auszurottende Überzeugung ist auch der Glaube, die Chinesen könnten kein R aussprechen. Tatsächlich sind sie dazu sehr wohl in

Dafür ist im Westen kaum bekannt, dass viele Südchinesen kein Sch sprechen können, worüber sich die Nordchinesen nicht wenig lustig machen. Und keiner außer mir weiß, dass meine anmutige Dolmetscherin eine leichte H-Schwäche hat. So sagt sie statt «Gehirn» «gering», was sehr lustig klingt. Ich muss trotzdem jedes Mal widersprechen. Gering ist das Gehirn meiner Dolmetscherin nämlich nicht, denn sonst könnte sie mir ja wohl kaum Chinesisch so perfekt ins Deutsche übersetzen. Andererseits können tatsächlich manche Chinesen kein R schreiben, wie man auf dem chinesischen Cover einer Johnny-English-DVD nachlesen kann: «He kmows no feal, he knows no dangel, he kmows nothing», vgl. auch Seite 71. Nur aus diesem Grund ist das L-Wortspiel im Titel dieses Buches auch gerade noch so gerechtfertigt. Eigentlich wurde es aber nur um der besseren Verkäuflichkeit willen gemacht. In Deutschland findet man halt Bücher über China mit R-L-Fehlern sehr komisch.

 

Ein anderer Grund für die Unkenntnis im Westen ist paradoxerweise die Berichterstattung etlicher Journalisten. Dabei ist den wenigsten, die mit mir in China leben, etwas vorzuwerfen. Die meisten sind alte China-Hasen, die ihre Kundschaft zu Hause nach bestem Wissen und Gewissen mit Nachrichten und Einschätzungen beliefern. Das falsche Bild wird in der Regel zu Hause gemalt, von den Redaktionen, die die Informationen auswählen, kommentieren und bewerten. Menschenrechtsverletzungen,

Dazu kommen die Berichte von Journalisten, die sich nur für ein paar Wochen in China aufhalten und sofort meinen, den vollen Durchblick zu haben. Ein schönes Beispiel für diese Spezies sind die Talkshowtante Sandra Maischberger und der Sportchef des Hessischen Rundfunks, Ralf Scholt. Beide glaubten offenbar, geschätzte zehn Minuten China-Briefing reichten aus, um die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Peking kommentieren zu können. Beim Einmarsch der Nationen ins Olympiastadion erzählten sie ihrem Millionenpublikum neben vielem sonstigen Unsinn, die deutsche Delegation würde das Stadion später als bei anderen Spielen betreten, weil sich die Reihenfolge der Mannschaften nach dem «chinesischen Alphabet» richte. Nun haben die Chinesen überhaupt kein Alphabet, sondern Zeichen, was etwas radikal anderes ist. So konnte sich der Einmarsch eben nicht nach der Reihenfolge der Anfangsbuchstaben der Ländernamen richten, sondern musste sich an der Komplexität der Zeichen orientieren, die im Chinesischen für das jeweilige Land stehen. Die Länder, deren Zeichen sich aus wenigen Strichen zusammensetzen, liefen also zuerst ins Stadion ein, die mit vielen Strichen erst später. Weil aber das Zeichen für Deutschland (= de) mit fünfzehn Strichen bereits ein hochkomplexes ist, kam die deutsche Delegation kurz vor Schluss. So einfach war das, aber offenbar für Frau Maischberger und Herrn Scholt bereits zu hoch, um es vor der Moderation zu lernen.

 

Diese Fehlerliste ließe sich noch lange fortsetzen, zumal bei der politischen Berichterstattung und Kommentierung. Und so werden die schönsten China-Irrtümer auch im Verlauf dieses Buches immer wieder ein Thema sein. An dieser Stelle soll nur noch kurz das kenntnisloseste Stück China-Impression gewürdigt werden, das mir bisher unterkam. Es handelt sich um die Tagebuchnotizen von Christine Morgenroth, einer Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hannover, die im September 2002 zusammen mit Oskar Negt und anderen in China unterwegs war. Abgedruckt ist der Bericht am Schluss von Negts Buch «Modernisierung im Zeichen

Diese völlige Verkennung der chinesischen Verhältnisse wäre eventuell noch zu akzeptieren, wenn Frau Morgenroth ansonsten bei Lidl an der Kasse sitzen würde und ihre Eindrücke unter der Überschrift «Mein schlimmstes Ferienerlebnis» in ihrem Privatblog veröffentlicht hätte. Von einer Professorin aber, die einen Aufsatz in einem Buch publiziert, das in einem renommierten Verlag erschienen ist, sollte man eigentlich ein Minimum an Recherche erwarten. Stattdessen aber schlägt sie in ihrem Text einen Ton an, der in seiner Blasiertheit schwer zu übertreffen ist. Anlässlich eines Vortrages, den sie zusammen mit Oskar Negt an der Shanghaier Tongji-Universität vor chinesischen Akademikern auf Deutsch

Man stelle sich vor, ein Professor würde Ähnliches über die USA und die US-Amerikaner verbreiten. Den Hudson River in New York würde er in Mississippi umbenennen, aus dem Mount Rushmore würde er Mount Rashmore machen, und außerdem würde er seiner Überzeugung Ausdruck verleihen, dass alle Amis «vom Denkerischen her» etwas minderbemittelt seien. Die Aufregung wäre sicher riesengroß. Über China dagegen kann man alles Mögliche behaupten, egal, ob es nun stimmt oder nicht, und es ächzt höchstens mal ein Sinologe zu Hause an seinem Schreibtisch.

 

Oder ich. Denn ich habe dieses Buch auch geschrieben, weil ich mit einigen falschen Vorstellungen und Behauptungen über China und die Chinesen aufräumen will. Stattdessen soll dieser kleine Crashkurs in fünfunddreißig abwechslungsreichen Lektionen zeigen, dass China oftmals sehr viel anders ist, als man es sich in Deutschland vorstellt: viel lustiger, viel liberaler, viel anstrengender, viel komplizierter und viel widersprüchlicher, aber vor allem auch viel normaler. Den Stoff für dieses Buch habe ich mir im Laufe von zwei Jahren in Singapur und vier Jahren in China in harter Kleinarbeit

Aus Gründen der Didaktik und weil das Tor des Himmlischen Friedens in Peking fünf Tore hat, habe ich den Lehrstoff dieses kleinen Chinawissenskurses in fünf Abteilungen aufgeteilt: Vorschule, Unter-, Mittel- und Oberstufe sowie eine Lektion, die Sie ganz gezielt auf das große China-Abitur vorbereitet, das Sie nach der Lektüre dieses Buches ablegen können. Der Unterstufenstoff beginnt mit der Lektion «Franz Lehár ist eine dumme Sau», in der die Irritationen beschrieben werden, die ich bei meiner Ankunft in Peking empfunden habe. Nur ein paar Monate später sind diese negativen Gefühle einer ungezügelten Begeisterung für die Stadt und ihre Bewohner gewichen. Da diese Emotion nur teilen kann, wer bereits einige Erfahrungen in Peking gesammelt hat, habe ich die Lektion, die diesen Stoff behandelt, dem fortgeschrittenen Mittelstufenwissen zugeschlagen. Das Oberstufenwissen umfasst dagegen einige Spezialinformationen, die sich eigentlich nur derjenige aneignen sollte, der wirklich alles wissen will und auf das China-Abitur scharf ist. Oft ist die Zuordnung des Lehrstoffes völlig willkürlich und an den Haaren herbeigezogen, so ähnlich wie im echten Leben.

 

 

Hinweisen will ich hier noch darauf, dass viele der abgedruckten Lektionen in einem früheren Leben einmal Kolumnen waren, die in dem endgültigen Satiremagazin Titanic erschienen sind. Sie wurden für dieses Buch noch einmal komplett überarbeitet, aktualisiert und zum Teil stark erweitert. Um das bereits gesammelte China-Wissen abzurunden, wurden außerdem

 

Meine Dolmetscherin aber, von der in diesem Buch auch immer wieder mal die Rede ist, lebt nach wie vor in meiner Nähe. Hinter dieser Umschreibung verbirgt sich nämlich niemand anderes als meine Frau Yingxin. Ihr und ihrer Familie habe ich es zu verdanken, dass ich als jemand, der immer noch nicht viel Chinesisch kann, tiefere Einblicke in die chinesische Welt erhalten habe, als sie Sandra Maischberger oder Christine Morgenroth je haben werden. Yingxin hat – neben anderen – auch den gesamten Unterrichtsstoff dieses Crash-Kurses auf

 

Und noch eine letzte Bemerkung, bevor es wirklich losgeht: Natürlich wird in diesem Buch verallgemeinert, wenn ich hin und wieder von «den Chinesen» spreche. Und selbstverständlich ist das ungerecht, weil es «die Chinesen» ebenso wenig gibt wie «die Deutschen». Doch anders als mit ungerechten Verallgemeinerungen lassen sich manche Beobachtungen nicht auf den Punkt bringen, zumal, wenn man sie, so wie ich, gerne etwas zugespitzter formuliert. Sollte sich aber ein Chinese durch irgendeine Formulierung oder Behauptung hier verletzt fühlen, kann ich ihn nur bitten, zurückzuschlagen. Ich würde jedenfalls zu gerne ein ähnliches Buch wie dieses hier von einem chinesischen Autor über «die Deutschen» lesen, je ungerechter, komischer und gemeiner, desto besser. Dafür verspreche ich, dass der Titel meines Buches das allerletzte L-Wortspiel sein soll, das ich im Zusammenhang mit der chinesischen Sprache gemacht habe. Ich schwöle!

Vorschule

Die chinesische Vorschule

Wer beschließt, sich in China niederzulassen, der ist gut beraten, sich zunächst einige Zeit in Singapur aufzuhalten. Dieser hübsche kleine Stadtstaat liegt an der Spitze der Malaiischen Halbinsel. Er ist damit zwar mindestens zweitausendfünfhundert Kilometer vom eigentlichen China entfernt, aber immerhin zu siebenundsiebzig Prozent von ethnischen Chinesen besiedelt. So kann man sich schon einmal damit vertraut machen, wie es sich mit diesem Menschenschlag so leben lässt. Andererseits ist man noch nicht ganz und gar allein unter den Chinesen: Auf der Insel leben auch eine große Anzahl Malaien, recht viele Inder und sogar Eurasier, die meisten mit portugiesischen oder holländischen Vorfahren. So sollte einem der Übergang von der gewohnten europäischen Gesellschaft zur chinesischen leichter fallen.

 

Einfacher als in China ist in Singapur schon mal die Sprache. Straßennamen und Fahrpläne kann man lesen, weil sie in lateinischer Schrift geschrieben sind. Man muss auch kein Chinesisch können, um sich zu verständigen. Die Arbeits- und erste Unterrichtssprache hier ist Englisch. In dieser Sprache erscheint auch die Straits Times, die wichtigste Zeitung des Landes. Dazu gibt es eine Reihe von englischsprachigen Radio- und Fernsehprogrammen, sodass man immer weiß, was um einen herum gerade passiert. Während man sich aber noch auf

In Singapur kann man zudem schon ein Gefühl für die chinesische Grammatik entwickeln. Im Alltag wird hier nämlich ein spezielles Englisch gesprochen, das sich Singlisch nennt und der Struktur des Chinesischen sehr ähnlich ist. Auch im Singlischen steht das, worum es geht, immer am Anfang eines Satzes, in der Regel wird «to be» als Hilfsverb einfach weggelassen, man sagt «can» statt «yes», Substantive kann man auch als Verben gebrauchen, und Artikel gibt es gar nicht. «What talking you?» (statt «What are you talking about?») ist ein typischer singlischer Satz, der unter anderem so schön ist, weil sein Satzbau nicht nur dem chinesischen, sondern auch dem deutschen («Was sagst du?») gleicht.

Die Aussprache ist für Deutsche sowieso kein Problem. Auf Singlisch sagt man «orreddy» statt «already, «argly» für «ugly» und «eskew me», wenn «excuse me» gemeint ist. Spricht Herr Metzler vom Accounting Englisch, klingt das kaum anders. Hängt man dann noch ein «lah» oder «eh» an jeden Satz, dann hört sich das schon sehr einheimisch an. Ich für meinen Teil mochte Singlisch auch deshalb, weil es mir die Angst nahm, im Gespräch mit englischen Muttersprachlern Fehler zu machen. «Eskew me», erklärte ich dreist. «So sprechen wir in Singapur halt Englisch.»

 

 

Die nächste China-Lektion lautet: Wie werde ich damit fertig, ein Loser zu sein? Auch das kann man wohl nirgendwo besser als in Singapur erfahren. Die hiesige Wirtschaft wächst bereits seit Ende der Sechziger. Selbst die Asienkrise in den Neunzigern konnte Singapur nicht viel anhaben, und erst die globale Wirtschaftskrise seit 2008 zwang auch den Stadtstaat in die Rezession. Trotzdem hat man hier immer noch das höchste Bruttoinlandsprodukt der Welt. Das heißt konkret: Von 4,6 Millionen Singapurern sind mehr als einunddreißigtausend Millionäre, und jedes Jahr kommen etwa tausend dazu. Damit hat Singapur auch die höchste Millionärsdichte auf der Erde. Neunzig Prozent aller Singapurer besitzen eine

 

Die wichtigste Lektion aber, die der China-Novize in Singapur lernt, ist die Tatsache, dass das politische System hier anders funktioniert als zu Hause. China ist, das hat sich inzwischen auch in Deutschland herumgesprochen, keine Demokratie. Für Singapur gilt das Gleiche, selbst wenn man die Bevölkerung alle fünf Jahre pro forma wählen lässt. Tatsächlich wird aber «The Republic» – so der Spitzname Singapurs – seit 1959 von einer Quasi-Staatspartei regiert, der Peoples Action Party nämlich, die sich in puncto Machtausübung und -erhalt vor der Kommunistischen Partei Chinas nicht zu verstecken braucht. Die PAP hat alles, was eine waschechte KP braucht: Sie ist eine Kaderpartei, das heißt, nur ein kleiner Kreis von geheimen Parteikadern wählt die Führungsspitze. Geleitet wird sie von einem Zentralen Exekutivkomitee, an dessen Spitze ein Generalsekretär steht. Nur das Parteisymbol hat man sich ausnahmsweise nicht von den Kommunisten abgeguckt. Der rote Blitz in einem blauweißen Kreis gleicht eher dem Emblem der ehemaligen britischen Faschisten. Dafür sind die Rituale sehr kommunistisch: Den Ersten Mai feiert man zusammen mit der parteieigenen Einheitsgewerkschaft NTUC, ruft dabei Kampfparolen und grüßt mit der geballten Faust. Anlässlich des Kampftages werden auch Jahr für Jahr die «Helden der

 

Und damit sind die politischen Parallelen zwischen Singapur und China keineswegs erschöpft. Wie in China werden auch auf der Insel sämtliche Medien zensiert. Das ist allerdings kaum nötig, weil jede Zeitung und jeder Fernsehsender über Beteiligungen sowieso dem Staat gehören. Zeitungen und Fernsehprogramme aus den Nachbarstaaten Singapurs sind auf der Insel genauso wenig erhältlich wie der Playboy. Einst war die Cosmopolitan verboten, weil das Magazin, so die Zensoren, «promiskuitive Werte» gefördert habe. Heute müssen ausländische Zeitungen, die in Singapur erscheinen wollen, zweihunderttausend Singapurdollar Kaution hinterlegen und einen Vertreter auf der Insel stationieren, den die Regierung zur Not verklagen kann. Das tut sie auch sehr gerne, und zwar immer dann, wenn in der Auslandspresse Singapur und seine Regierung nicht so gut wegkommen. Die Zeitungen – darunter solch subversive Blätter wie die Financial Times oder die Far Eastern Economic Review – haben bisher noch jeden Prozess verloren.

 

Natürlich darf man in Singapur auch nicht auf die Straße gehen, wenn einem etwas nicht passt. Zwar ist das Demonstrationsrecht in der Verfassung verankert, doch wer eine Demonstration anmelden will, bekommt keine Genehmigung. Unter solchen politischen Verhältnissen sind freie Wahlen nur ein Witz, den sich die Peoples Action Party gelegentlich erlaubt, um etwas Spaß zu haben. Am Ende gewinnen doch immer nur ihre Leute fast alle Sitze im Parlament – im Moment

 

Seltsamerweise gibt es bei den in Singapur lebenden Westlern über das hiesige politische System kaum Beschwerden. Auch in Deutschland liest und hört man selten ein kritisches Wort über den autoritär regierten Stadtstaat, obwohl die meisten großen deutschen Zeitungen und Rundfunkanstalten Korrespondenten in Singapur stationiert haben. Das mag an den günstigen Shoppingmöglichkeiten hierzulande liegen.

Dabei geht es auf der Insel zuweilen noch ein bisschen härter zu als im gerne ausgiebig kritisierten China, zum Beispiel in Sachen Todesstrafe. Sowohl in Singapur als auch in China wird sie für eine Reihe von Verbrechen verhängt, doch nur in Singapur ist sie für bestimmte Delikte auch obligatorisch. Wer beispielsweise mit mehr als fünfzehn Gramm Heroin, dreißig Gramm Kokain, zweihundertfünfzig Gramm Speed oder fünfhundert Gramm Cannabis erwischt wird, den muss ein Richter zum Tode verurteilen, ob er will oder nicht, das Gesetz lässt ihm keine andere Wahl. So wurden in Singapur seit 1991 mehr als vierhundert Menschen hingerichtet. Das ist pro Kopf – was sonst? – der Bevölkerung die höchste Quote weltweit.

Singapur kann aber auch mit einer Bestrafungsspezialität dienen, die ansonsten nicht mehr so oft auf der Welt vorkommt, auch in China nicht. Dabei handelt es sich um das sogenannte Caning. Damit ist das Verprügeln eines Delinquenten mit dem Rotan, einem Stock aus Rattan, gemeint. Das hört

 

Überhaupt bestraft man in Singapur gerne jede Lebensäußerung. Auf den Boden spucken oder Papier auf den Boden werfen kostet umgerechnet zweihundertfünfzig bis fünfhundert Euro, im Wiederholungsfall kann Zwangsarbeit verordnet werden. Wer an einem verbotenen Punkt über die Straße geht, zahlt zweihundertfünfzig Euro, wer privat Feuerwerk besitzt oder abfeuert, marschiert gleich für zwei Jahre ins Gefängnis. Als ich in Singapur lebte, stand auf «widernatürlichen fleischlichen Verkehr» nach Paragraph 377 des Singapurer Penal Codes noch bis zu lebenslänglich. Das hieß konkret, jeder konnte damit rechnen, für immer hinter Singapurer Gardinen zu verschwinden, wenn er zu Hause Anal- oder Oralverkehr praktizierte. Erst im Oktober 2007 wurde dieses Gesetz abgeschafft, allerdings nur für Heterosexuelle. Schwule können für ein bisschen Orales und Anales immer noch bis zu zwei Jahre ins Gefängnis wandern.

Wie hoch die Todesstrafenquote in Relation zu anderen Staaten ist, zeigt ein UN-Report, der in Singapur für den Zeitraum zwischen 1994 und 199913,6 Hinrichtungen pro Million Einwohner auswies, sechsmal höher als die Hinrichtungsquote zur gleichen Zeit in China, das allerdings die Welttodesstrafenstatistik in absoluten Zahlen anführt. Anders als im Fall Chinas empörten sich über diesen Rekord höchstens noch entlegene Rockgruppen. So traten 1995 R.E.M. in einem Singapurer Club unter dem Tarnnamen «Mandatory Death Sentence» auf, um das Publikum für die Menschenrechtslage in ihrem Land mit R.E.M.-Musik zu bestrafen.

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