Inhaltsverzeichnis

1

Billy Hunt.

Womit verband sich dieser Name? Mit einer vergessenen Erinnerung, oder gar – noch beunruhigender – mit einer Vorahnung?

Er

Als er sich eine Zigarette ansteckte, wanderte sein Blick von Neuem hinüber zu dem Zettel mit der Nachricht von Billy Hunt. Nichts weiter als der Name und die Nummer, von der Telefonistin mit Bleistift hingekritzelt, dazu die Worte bitte anrufen. Und auf einmal spürte er ganz deutlich das Drängende, geradezu Flehentliche, das von der Mitteilung ausging. Bitte anrufen.

Er konnte sich nicht erklären, warum er plötzlich daran denken musste, wie er vor einem halben Jahr bei McGonagle, mitten im dicksten Weihnachtsrummel und angesäuselt, wie er war, im Boden seines leeren Whiskeyglases verschwommen sein gerötetes, aufgedunsenes Gesicht gesehen hatte und sich mit einem Schlage, ohne selbst eine Erklärung dafür zu haben, hundertprozentig sicher gewesen war, dass er soeben zum letzten Mal im Leben Alkohol getrunken hatte. Seitdem war er trocken, was ihn selber übrigens genauso sehr verwunderte wie alle anderen, die ihn kannten. Er hatte beinah das Gefühl, als hätte er diese Entscheidung gar nicht von sich aus gefällt, als wäre sie vielmehr

Er schielte rüber zu dem Zettel an der Schreibtischkante, griff nach dem Telefonhörer und wählte. Am anderen Ende dröhnte das Freizeichen.

Später hatte er noch einmal ein Whiskeyglas umgedreht – diesmal freilich eines, das nicht er geleert hatte –, einfach aus Neugier, weil er sehen wollte, ob man im Boden eines solchen Glases tatsächlich sein Spiegelbild erkennen kann, aber es war keins zu sehen gewesen.

Billy Hunts Stimme half ihm auch nicht weiter; sie sagte ihm genauso wenig wie der Name. Der Tonfall war leiernd, ein Singsang mit breit gedehnten Vokalen und abgeschliffenen Konsonanten. Ein Mann vom Lande. Quirke meinte ein leichtes Zittern wahrzunehmen, so ein ganz leichtes Überkippen, als wollte der andere jeden Moment laut loslachen – oder etwas anderes. Mitunter verschluckte er ein Wort oder verhaspelte sich. Vielleicht war er angetrunken.

»Na«, sagte er, »du kannst dich wohl nicht mehr an mich erinnern, was?«

»Aber

»Billy Hunt. Klingt wie ’ne Zote, hast du früher immer gesagt. Wir waren zusammen auf dem College. Ich war im ersten Studienjahr, als du im letzten warst. Ich hab, ehrlich gesagt, gar nicht damit gerechnet, dass du dich an mich erinnerst. Es gab ja schließlich kaum Berührungspunkte zwischen uns. Ich war ’ne Sportskanone – Hurling, Gaelic Football und so weiter, und du warst mehr so künstlerisch veranlagt, hast lieber die Nase ins Buch gesteckt oder bist sieben Abende die Woche ins Theater gerannt, immer abwechselnd entweder ins Abbey oder ins Gate. Ich hab das Medizinstudium geschmissen – hab keine Lust mehr gehabt.«

Quirke ließ einen Augenblick verstreichen, ohne etwas zu sagen. »Und was machst du mittlerweile?«, fragte er dann.

Billy Hunt seufzte tief und unsicher. »Ach, nicht so wichtig«, antwortete er, nicht direkt unwirsch, sondern vielmehr erschöpft. »Es geht eigentlich eher darum, was du mittlerweile machst.«

Und da, nachdem sich Quirke bereits die ganze Zeit das Gehirn zermartert hatte, entstand vor seinem inneren Auge endlich so was wie ein Bild: große breite Stirn, die Nase unverkennbar gebrochen, dickes, störrisches, rotes Haar, Sommersprossen. Der Vater hatte einen Krämerladen irgendwo unten im Süden – Wicklow, Wexford, Waterford, eins von den Countys mit W am Anfang. An sich ein gutmütiger Bursche, aber wenn man ihn reizte, konnte er leicht mal durchdrehen, daher auch die Septumfraktur. Billy Hunt. Ja, genau.

»Was ich mittlerweile mache?«, fragte Quirke. »Wie meinst du das?«

Wieder trat eine Pause ein.

»Es geht um meine Frau«, sagte Billy Hunt schließlich. Quirke

»Weil, die hat sich nämlich umgebracht.«

 

Sie trafen sich im Café Bewley in der Grafton Street. Es war Mittagszeit, und es herrschte ziemlich viel Betrieb. Als Quirke eintrat, drehte sich ihm beinah der Magen um von dem schweren, fettigen Geruch der Kaffeebohnen, die drinnen, gleich hinter der Tür, in einem großen Tiegel geröstet wurden. Merkwürdig, vor was für Sachen er sich neuerdings ekelte; er hatte angenommen, wenn er aufhörte zu trinken, würden seine Sinne abstumpfen und es würde ihm nicht mehr ganz so schwerfallen, die Welt und die diversen Reize zu ertragen, doch das Gegenteil war eingetreten, bisweilen kam er sich wie ein wandelndes Knäuel aus lauter verhedderten Nervenenden vor, auf das von allen Seiten die abscheulichsten Gerüche, Geschmäcker und Berührungen einstürmten. Nach dem grellen Sonnenlicht draußen auf der Straße dauerte es einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Gastraum des Cafés gewöhnt hatten. Quirke wurde von einer jungen Dame gestreift, die gerade im Hinausgehen war; sie trug ein weißes Kleid und einen großen Strohhut; der Duft ihres Parfums wehte ihr nach und stieg ihm in die Nase. Er stellte sich vor, wie er unversehens kehrtmachte, ihr nachlief, sie am Ellenbogen fasste und mit ihr in die Hitze des Sommertags hinaustrat. Es gab wahrhaftig Dinge, die verlockender waren als die Aussicht, sich mit Billy Hunt und dessen toter Frau beschäftigen zu müssen.

Quirke entdeckte ihn sofort; unnatürlich steif saß er auf der mit rotem Plüsch bezogenen Polsterbank in einer von den Nischen drüben auf der anderen Seite, vor sich auf dem grauen Marmortisch eine noch unberührte Tasse Milchkaffee.

Und außerdem hatte er diesen heißen, wunden, salzigen Geruch, den Quirke sofort erkannte, den Geruch des frischgebackenen Hinterbliebenen. Sich nur mit Mühe aufrecht haltend, saß er am Tisch – ein dicker Sack voll Trauer, Elend und angestauter Wut.

»Ich weiß nicht, warum sie das gemacht hat«, sagte er hilflos

Quirke nickte. »Hat sie irgendwas hinterlassen?« Billy blinzelte ihn verständnislos an. »Ich meine, einen Brief. Eine Nachricht.«

»Nein, nein, nichts dergleichen.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen, fast dümmlichen Lächeln. »Wenn sie’s doch bloß getan hätte.«

Am Morgen desselben Tages war ein Trupp Polizisten mit einer Barkasse hinausgefahren und hatte die arme tote Deirdre Hunt an der landeinwärts gelegenen Küste der Insel Dalkey nackt von den Klippen geborgen.

»Sie haben angerufen, ich soll kommen und sie identifizieren«, sagte Billy, nach wie vor mit diesem komischen, gequälten Lächeln auf den Lippen, das gar kein Lächeln war, und in den Augen immer noch das fassungslose Entsetzen über den Anblick, den er dann im Leichenschauhaus hatte ertragen müssen. Und den er nun wohl nie mehr wieder loswerden würde; bis ans Ende seiner Tage, dachte Quirke düster. »Sie hatten sie ins St Vincent Hospital gebracht. Sie sah total verändert aus. Ich glaube, wenn die Haare nicht gewesen wären, ich hätt sie überhaupt gar nicht erkannt. Die waren doch ihr ganzer Stolz, die Haare.« Er zog verlegen eine Schulter hoch und ließ sie wieder sacken.

Quirke musste an eine sehr dicke Frau denken, die sich in die Liffey gestürzt hatte und aus deren Brusthöhle, als er sie aufschnitt und die Rippen beiseiteklappen wollte, mit einer trägen Behäbigkeit, wie sie nur wirklich wohlgenährten Wesen eigen ist, ein ganzes Geschwader durchsichtiger, vielbeiniger, krabbenartiger Kreaturen hervorgekrochen kam.

Eine Kellnerin mit Häubchen und schwarz-weißem Dress eilte herbei, um Quirkes Bestellung aufzunehmen. Unangenehm stiegen ihm die Dünste von frittiertem und gekochtem

»Das ist wirklich hart«, sagte Quirke, als die Kellnerin gegangen war. »Ich meine, eine Leiche identifizieren. Das ist immer hart.«

Billy senkte den Blick; seine Unterlippe fing an zu zittern, er zog sie zwischen die Zähne, wie ein kleines Kind.

»Hast du Kinder, Billy?«, fragte Quirke.

Billy schüttelte ohne aufzublicken den Kopf. »Nein«, murmelte er, »keine Kinder. Da war Deirdre nicht so für zu haben.«

»Und was machst du sonst, ich meine beruflich?«

»Handlungsreisender. Arzneimittel. Ich komme ziemlich viel rum in meinem Job, landauf, landab, gelegentlich auch mal ins Ausland, in die Schweiz, wenn die in der Zentrale ihre Konferenzen haben. Ich glaub, das ist auch mit dran schuld, an diesem Unglück, weil, ich bin halt immer so viel weg gewesen – zum einen das und dann auch, dass sie keine Kinder wollte.« Da haben wir’s ja, dachte Quirke, das also war das Unglück. Doch Billy sagte bloß: »Einsam wird sie gewesen sein. Obwohl, sie hat sich nie beklagt.« Plötzlich blickte er auf und sah Quirke geradezu trotzig an. »Sie hat sich niemals beklagt – nie!«

Dann sprach er weiter über sie, wie sie gewesen war, was sie gemacht hatte. Und dabei verstärkte sich dieser gehetzte Zug in seinen Augen immer mehr, sein Blick schoss bald in diese, bald in jene Richtung, und das mit solch einer eigenartigen, gleichsam verhaltenen Eindringlichkeit, als wollte er einen ganz bestimmten Punkt fixieren, der ihm jedoch immer wieder entglitt. Die Kellnerin brachte den Tee für Quirke. Er trank ihn schwarz, verbrühte sich beinah die

Da senkte Billy abermals die bleichen Wimpern und guckte runter auf die Zuckerdose. Aus seinem Kragen stieg eine Welle von frieseliger Röte und überflutete allmählich sein Gesicht bis rauf zum Haaransatz und gar noch weiter. Quirke registrierte sein Erröten. Schließlich nickte Billy wortlos und holte tief Luft.

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

Quirke wartete. Es kamen immer mehr Mittagsgäste, und das allgemeine Gemurmel war mittlerweile zu einem vielstimmigen Dröhnen angeschwollen. Kellnerinnen rannten von Tisch zu Tisch, sie schleppten braune Tabletts, auf denen sich Teller mit Essen türmten – Würstchen und Kartoffelbrei, Fisch und Chips, dampfende Teetassen, Gläser mit Orangensaft. Quirke hielt Billy sein geöffnetes Zigarettenetui hin, und dieser, ohne recht zu merken, was er tat, nahm eine Zigarette. Quirkes Feuerzeug klickte und flammte auf. Billy beugte sich vor und steckte sich mit zitternden Fingern die Zigarette zwischen die Lippen. Dann lehnte er sich auf der Polsterbank zurück, er sah erschöpft aus.

»Ich lese andauernd irgendwas über dich in der Zeitung«, sagte er. »Über die ganzen Fälle, wo du mit zu tun hast.« Quirke rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Die Sache mit dem Mädel, das gestorben ist, und mit dieser Frau, die sie umgebracht haben, wie hießen die denn gleich noch mal, die zwei?«

»Welche denn?«, fragte Quirke gleichmütig.

»Na diese Frau da, die aus Stoneybatter. Vergangenes Jahr, oder war’s das Jahr davor? Diese Dolly Dingsbums.« Er legte die Stirn in Falten, versuchte sich zu erinnern. »Was ist da eigentlich draus geworden, aus der Geschichte? Erst stand’s

»Ja, das geht schnell, dass die Zeitungen das Interesse verlieren«, sagte Quirke.

Billy ging etwas durch den Sinn. »Oh Gott«, sagte er leise und starrte dabei weiter vor sich hin, »dann werden sie doch sicher auch was über Deirdre bringen.«

»Ich kann ja mal mit dem amtlichen Leichenbeschauer reden«, sagte Quirke in bewusst skeptischem Ton.

Aber Billys Problem war nicht, was die Zeitungen schreiben würden. Wieder beugte er sich vor, und auf einmal war er hellwach und streckte eindringlich die Hand aus, als ob er Quirke am Arm oder am Kragen packen wollte. »Ich will nicht, dass sie aufgeschnitten wird«, stieß er mit leiser, heiserer Stimme hervor.

»Aufgeschnitten?«

»Na ja, Autopsie, Obduktion oder wie das heißt – ich will nicht, dass das einer bei ihr macht.«

Quirke schwieg einen Moment. »Aber Billy, das ist eine reine Formsache«, sagte er dann. »Das ist vom Gesetz so vorgeschrieben.«

Billy schüttelte den Kopf; er hatte die Augen geschlossen und verzog gequält den Mund. »Ich will nicht, dass das einer bei ihr macht. Ich will nicht, dass sie aufgeschnitten wird wie – wie so ’n totes Tier.« Er hielt sich mit der einen Hand die Augen zu, während in den Fingern der anderen die vergessene Zigarette vor sich hin brannte. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen. Wie ich sie heute früh hab müssen sehn, das war schon schlimm genug« – er nahm die Hand weg und glotzte, starr vor Fassungslosigkeit, ins Leere –, »aber die Vorstellung, dass sie auf so ’nem Tisch liegt, unter diesen Lampen, mit dem Messer … Wenn du sie gekannt hättest, wie sie war, früher, wie – wie quicklebendig

Quirke trank einen Schluck von seinem mittlerweile lauwarm gewordenen Tee; die Gerbsäure brannte ihm unangenehm auf der verbrühten Zunge. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es kam zwar eher selten vor, dass er direkt mit den Angehörigen der Toten zu tun hatte, aber bisweilen wandte sich doch jemand an ihn, so wie Billy jetzt, und bat ihn um einen Gefallen. Manche wollten, dass er ein Andenken für sie zurückbehalten sollte, einen Ehering oder eine Haarlocke; eine republikanisch gesinnte Witwe hatte ihn einmal gebeten, ihr ein Stück von der Kugel zu übergeben, von der ihr verstorbener Gatte im Bürgerkrieg getroffen worden war und die er dreißig Jahre direkt neben dem Herzen getragen hatte. Andere traten mit ernsteren und entschieden zwielichtigeren Wünschen an ihn heran und baten ihn zum Beispiel, eine plausible Erklärung für die Blutergüsse am Körper eines toten Kindes oder für das plötzliche Dahinscheiden eines betagten kranken Elternteils zu finden oder ihnen platterdings beim Verhehlen eines Selbstmords behilflich zu sein. Aber was Billy da von ihm verlangte, nein, so was hatte noch nie jemand von ihm verlangt.

»Na schön, Billy«, sagte er. »Ich schau mal, was sich machen lässt.«

Mit seinen Fingerspitzen, die beinah zu sirren schienen, fast so, als ob sie unter Starkstrom stünden, berührte Billy daraufhin ganz leicht, kaum wahrnehmbar, Quirkes Hand. »Du lässt mich nicht im Stich, Quirke«, sagte er eher feststellend

Quirke stand auf. Er holte ein Halbkronenstück aus der Tasche und legte es neben seiner Untertasse auf den Tisch. Billy hatte wieder diesen zerstreuten Blick, wie jemand, der sich auf sämtliche Taschen klopft, weil er etwas sucht und es nicht finden kann. Er förderte ein Zippo zutage und ließ es gedankenverloren ein ums andere Mal auf- und zuschnappen. Auf seiner Glatze und durch das schüttere, strähnige, farblose Haar hindurch sah man Schweißperlen glänzen. »Das ist übrigens nicht ihr richtiger Name«, sagte er. Quirke verstand nicht, was das heißen sollte. »Ich meine, das ist schon ihr richtiger Name, sie hat sich bloß anders genannt. Laura – Laura Swan. So ’ne Art Künstlername fürs Geschäft. Sie hat nämlich einen Schönheitssalon gehabt, der Silver Swan hieß. Daher der Name – Laura Swan.«

Quirke wartete, doch Billy war fertig; er wandte sich um und ging davon.

 

Am Nachmittag wurde der Leichnam auf Anordnung von Quirke aus dem St Vincent Hospital in das in der Innenstadt gelegene Holy Family Hospital gebracht, wo Quirke ihn bereits erwartete. Nachdem das Holy Family von einer neuerlichen Runde ebenso heftig wie erfolglos bekämpfter Zwangsmaßnahmen zur Senkung der Kosten erfasst worden war, hatte Quirke nicht mehr, wie früher, zwei Assistenten, sondern nur noch einen. So hatte er vor der Aufgabe gestanden, sich zwischen dem jungen Wilkins, diesem kreuzbraven Protestanten, und dem Juden Sinclair zu entscheiden. Er hatte Sinclair ausgewählt, ganz spontan und ohne klare Begründung, denn im Hinblick auf ihren Erfahrungsstand –

Quirke überlegte, inwieweit er Sinclair in der Leichensache Deirdre Hunt wohl ins Vertrauen ziehen konnte, speziell hinsichtlich der Bitte ihres Mannes, den Leichnam unangetastet zu lassen. Aber Sinclair war keiner, der groß Trara machte. Als Quirke ihm mitteilte, dass er die Obduktion allein vornehmen werde – eine einfache Leichenschau reiche aus – Sinclair könne also ruhig eine Pause machen und in die Kantine gehen, um einen Tee zu trinken und eine zu rauchen –, zögerte der junge Mann nur ganz, ganz kurz, bevor er seinen grünen Kittel und die Gummistiefel auszog, die Hände in die Taschen schob und leise vor sich hin pfeifend aus dem Sektionssaal schlenderte. Quirke ging zurück und zog die Plastikplane weg.

Deirdre Hunt oder Laura Swan, oder unter welchem Namen sie auch immer firmiert haben mochte, war offenbar eine gut aussehende junge Frau gewesen, stellte er fest, vielleicht sogar eine Schönheit. Sie war ein ganzes Ende jünger als Billy Hunt – gewesen. Ihr Körper, der nicht lange genug im Wasser gelegen hatte, um ernsthaft Schaden zu nehmen, war klein und wohlgeformt; ein kräftiger Körper mit starken Muskeln, aber auch mit sanften Kurven und schlanken, schön geschwungenen Hüften und Waden. Ihr Gesicht war nicht besonders fein – Quirke war aufgefallen, dass sie mit Mädchennamen

Und nun sah er den winzig kleinen Einstich innen an ihrem kreideweißen linken Arm.

2

Sie war sich ihrer Reize sehr wohl bewusst, doch hochnäsig war sie deswegen nicht. Dass sie nicht in die Neubausiedlung gehörte, war ihr natürlich klar, aber sie konnte warten; eines Tages würde sie da rauskommen, und dann fing ihr eigentliches Leben an. Die Neubausiedlung … Die war wahrscheinlich wirklich irgendwann mal neu gewesen, obwohl es Deirdre schwerfiel, sich das vorzustellen. Welcher Esel bei der Stadtverwaltung war bloß auf die Idee gekommen, das Ding Wohnpark Lourdes Mansions zu nennen? Wände und Fußböden waren dünn wie Pappe – man konnte die Nachbarn in der Wohnung oben drüber aufs Klo gehen hören, sogar die Leute in der Wohnung nebenan –, und auf den kahlen Fluren, wo die kleinen Kinder wie wild

Sie spielte mit den gleichaltrigen Kindern auf dem Sandplatz draußen vor dem Block, wo es ein paar kaputte Schaukeln gab, eine mit zotigen Ausdrücken vollgeschmierte Wippe und einen Maschendrahtzaun, damit der Ball nicht auf die Straße fliegen konnte. Die Jungs kniffen sie und zerrten an ihr herum, und die, die schon älter waren, wollten ihr immer unter den Rock fassen; die Mädchen redeten hinter ihrem Rücken über sie und rotteten sich gegen sie zusammen. Sie nahm keine Notiz von diesen Dingen. Einmal kam ihr Vater Weihnachten angetrunken nach Hause und schenkte ihr ein rotes Fahrrad – wahrscheinlich geklaut, sagte ihr Bruder Mikey lachend –, und dann fuhr sie

Als sie sechzehn war, begann sie in einer Apotheke zu arbeiten. Es gefiel ihr gut dort bei den ordentlich abgepackten Arzneimitteln, den Flakons mit Duftwässerchen und den feinen Seifen. Der Drogist hieß Mr Plunkett und war ein verheirateter Mann, was ihn aber nicht daran hinderte, ihr nachzustellen und immer wieder zu versuchen, sie rumzukriegen. Sie wies ihn natürlich ab, bisweilen aber folgte sie ihm widerwillig in den Lagerraum hinterm Verkaufsbereich, sei es, um sich auf diese Art für eine Weile Ruhe zu

Und eines Tages betrat Billy Hunt mit seinem Musterkoffer den Laden, und obwohl er gar nicht ihre Kragenweite war – sein Hauttyp war dem ihren ziemlich ähnlich, und ihr war völlig klar, dass eine Frau nie einen Mann vom selben Hauttyp nehmen sollte –, schenkte sie ihm ein Lächeln, und als er bei Mr Plunkett seine Vertretermasche abzog, gab sie ihm das Gefühl, ganz Ohr zu sein. Und als er hinterher noch mit ihr reden wollte, hörte sie ihm mit konzentrierter Miene zu, tat so, als brächten seine albernen Schuljungenwitze sie tatsächlich zum Lachen, und schaffte es sogar, bei den etwas gewagteren Späßchen einen roten Kopf zu kriegen. Als er das nächste Mal kam und sie fragte, ob er sie gelegentlich mal ins Kino einladen dürfe, sagte sie laut und deutlich Ja, laut genug, dass Mr Plunkett es hörte und ein finsteres Gesicht machte.

Billy

An diesem Abend nahm sie ihn zum ersten Mal mit hinauf in ihr Zimmer. Sie setzten sich nebeneinander aufs Bett, und er küsste ihr das ganze Gesicht ab – er stotterte und lachte immer noch und konnte es gar nicht fassen, dass sie Ja gesagt hatte – und erzählte ihr von seinen Zukunftsplänen, und sie glaubte ihm beinah und hielt die Hand vor sich ausgestreckt und drückte die Finger durch und bewunderte den dünnen Goldreif mit dem winzig kleinen funkelnden Diamanten. Billy kam aus Waterford, wo seine Familie ein Pub hatte; sein Dad wollte wohl, dass er den Laden übernahm, aber er sagte, er würde nicht wieder dorthin zurückgehen, obwohl ihr auffiel, dass er immer »zu Hause« sagte, wenn er von Waterford redete. Er erzählte ihr von Genf, wohin er zweimal im Jahr fahren musste, um in der Zentrale, wie er sich ausdrückte, an einer Sitzung mit den ganzen hohen Tieren aus der Firma teilzunehmen, wo sich

Die Jahre verstrichen, und es schien, als sollte alles immer so weitergehen, bis eines Tages der Doktor den Laden betrat. Kreutz hieß er, was sich deutsch anhörte, doch Deirdre glaubte, dass er Inder sei. Er war groß und dünn, so dünn, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, wie in diesem Körper sämtliche Organe Platz haben sollten, und er hatte ein wunderschönes langes, schmales Gesicht, ein Heiligengesicht, hatte sie sich im Stillen gleich gedacht, das Antlitz eines Heiligen in einem dieser Bücher über die Missionsstationen in der Fremde, die sie in der Schule gehabt hatten. Er trug einen sehr schönen Anzug aus einem dunkelblauen Stoff, der wie Seide aussah, aber doch eine gewisse Schwere hatte und seine schrägen, knochigen Schultern und die praktisch nicht vorhandenen Hüften wirklich äußerst elegant umspielte. Sie hatte noch nie einen Farbigen aus solcher Nähe gesehen und musste sich zwingen, ihn nicht weiter anzustarren, besonders seine feingliedrigen dunklen Hände, die am Rand, dort wo die blasse, puderrosafarbene Haut der Handflächen anfing, eine noch dunklere, samtige Linie hatten. Auch sein Geruch, den sie, schon als er eingetreten war, ganz deutlich wahrgenommen hatte, war dunkel, fand sie, würzig und dunkel; sie hätte schwören können, dass es kein Eau de Cologne war und auch kein Rasierwasser, sondern ein Duft, den seine Haut von selbst verströmte. Sie verspürte den Wunsch, diese Haut zu berühren, mit den Fingerspitzen

Er fragte nach irgendwelchen pflanzlichen Sachen, von denen Mr Plunkett noch nie etwas gehört hatte. Seine Stimme war hell und sanft und gleichzeitig auch tief, und wenn er sprach, dann klang es beinah wie Gesang. »Ach, das ist aber höchst sonderbar«, sagte er, als Mr Plunkett ihm erklärte, dass er das Gewünschte leider nicht am Lager habe, »höchst, höchst sonderbar.« Allerdings wirkte er keineswegs verärgert. Er sei schon in mehreren Apotheken gewesen, erzählte er, und nirgends habe man ihm helfen können. Mr Plunkett nickte mitfühlend, wusste aber offenbar nicht, was er weiter sagen sollte, doch der Mann blieb einfach stehen, legte die Stirn in Falten, nicht ärgerlich, sondern höflich erstaunt, wie es schien, als ob er noch auf irgendetwas wartete und sich ganz sicher war, dass es passieren werde. Er machte keinerlei Anstalten, sich zu entfernen, nicht einmal, als sich der Apotheker ostentativ umwandte und ihm den Rücken kehrte. Das war eine Eigenschaft von ihm, die Deirdre später noch oft genug erleben sollte, diese seltsame Art, die er hatte, auch dann noch an einem bestimmten Ort oder in Gesellschaft bestimmter Leute auszuharren, wenn scheinbar klar war, dass sich dort nichts mehr für ihn ergeben würde; sein Auftreten war ruhig und entspannt, doch lag darin so eine unterschwellige Erwartung, als ob er sich ganz sicher sei, dass noch irgendetwas kommen werde, und unbedingt abwarten wolle, ob seine Ahnungen sich nicht vielleicht doch noch erfüllten. In der ganzen Zeit, die sie ihn kannte, hörte sie ihn niemals lachen, und

Bei diesem ersten Zusammentreffen hatte er Deirdre gar nicht angeschaut, zumindest nicht direkt, und doch hatte sie gespürt, dass er sie bemerkt, sie irgendwie in sich aufgenommen hatte. Die meisten Männer, die in die Apotheke kamen, waren zu schüchtern, um der jungen Frau ins Gesicht zu sehen, und blieben halb abgewandt stehen, zappelten herum oder grinsten albern vor sich hin, kriegten den Mund nicht richtig zu und hatten die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt. Dr. Kreutz aber war nicht schüchtern, oh nein – ihr war noch nie zuvor jemand begegnet, der ein derart selbstbewusstes, derart sicheres Auftreten hatte. Zufrieden war das Wort, das ihr als erstes in den Sinn gekommen wäre, wenn sie ihn hätte beschreiben sollen, ganz zufrieden – oder ganz ganz zufrieden, denn auch das gehörte zu seinen Angewohnheiten, zu seiner Art, dass er immer jedes Wort zweimal sagte, und dies so schnell, dass er die beiden Wörter in seinem sanften, vergnügten, singenden Tonfall zu einem einzigen zusammenzog: höchsthöchst, ganzganz.

Er holte ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch aus der Brusttasche seines Jacketts, riss eine Seite heraus und bestand darauf, Mr Plunkett seine Adresse zu hinterlassen, damit man ihn benachrichtigen könne, falls das, was er haben wollte, doch irgendwann vorrätig sein sollte – es handelte sich schlicht um Aloe vera, aber damals dachte sie, er sage einfach »allo«, wie ein Franzose in einem Comicstrip, der versucht, »Hallo« zu sagen –, und dann machte er sich endlich davon und zog, als er zur Tür hinausging, den schmalen, dunklen Kopf ein, wie ein Pilger, dachte sie, oder ein

Dr. Kreutz hatte seine Praxis, wie er das nannte, im Souterrain eines alten Hauses in der Adelaide Road. Deirdre wusste selbst nicht recht, was sie erwartet hatte, aber mit Sicherheit nicht so eine enge, heruntergekommene Bude mit nur einem einzigen Fenster, durch dessen obere Hälfte man einen schmalen Streifen staubiges Gras und ein Stück von einem schwarzen Eisenzaun sah. Einen Tag, nachdem er in der Apotheke gewesen war – es war Mittwoch, und sie hatte ihren freien Nachmittag –, sagte sie zu Billy, dass sie ihre Mutter besuchen wolle; sie fuhr mit dem Bus bis zur Leeson Street Bridge, ging dann durch die Adelaide Road, allerdings auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und an der Augen- und Ohrenklinik vorbei, wo der Gehweg von hohen Bäumen gesäumt war. Als sie an seinem Haus war, zwang sie sich, einfach weiterzulaufen, das ganze Stück bis zum Anfang der Harcourt Street, erst kehrtzumachen, wenn sie dort angekommen war, und dann wieder zurückzuschlendern, diesmal auf der rechten Straßenseite. Im Vorübergehen schielte sie verstohlen zu dem Haus hinüber und las, was auf dem Messingschild stand, das, festgeschraubt auf einem Holzbrett, am Zaun befestigt war.

Dr. Hakeem Kreutz

Geisteheiler

Sie war damals dermaßen durcheinander gewesen, dass sie sich nachher gar nicht mehr richtig daran erinnern konnte, wie er sie dazu gebracht hatte, stehen zu bleiben und sich mit ihm zu unterhalten. Das Einzige, was sie noch wusste, war, dass ein kalter, böiger Wind geweht hatte, der die herabgefallenen Blätter der Platanen wie große, welke Hände übers Pflaster jagte. Dem Doktor schien die Kälte nichts auszumachen, obwohl er doch nur seinen dünnen Kasack trug und praktisch barfuß war. Ein Alter mit puterrotem Gesicht, der in einem Auto vorüberfuhr, ging extra vom Gas und starrte diese beiden an, die dort beisammenstanden, die blasse junge Frau und den dunklen Mann, sie mit so einem blöden Grinsen im Gesicht, und er mit einer Seelenruhe, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen.

Ja, vierzig, dachte sie, gut und gerne vierzig war er, sogar noch älter als Billy. Aber was hatte es schon zu sagen, wie alt er war?

Er fragte sie nach ihrem Namen. »Deirdre«, sagte oder besser hauchte sie, und er wiederholte es, ließ es sich auf der Zunge zergehen, als wären es die ersten beiden Silben von einem Lied, wenn nicht gar einer Hymne. Deirdre.

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