cover

Buchinfo

Sieben Tage mit seinem Vater in einem Sport-Ferienpark: Daniel kann sich tatsächlich Besseres vorstellen. Doch gleich am ersten Tag begegnet ihm Lexi, und er ist sofort fasziniert. Sie ist so anders, witzig, klug, mitreißend, und er kann mit ihr über alles reden. Wirklich alles? Aber warum schweigt sie über die mysteriösen Wunden an ihrem Körper? Warum sucht sie dauernd die Nähe des Wassers? Warum tickt ihre Uhr rückwärts? Und warum kann nur er das Mädchen sehen? Als Lexi endlich ihr Geheimnis lüftet, erkennt Daniel, dass er handeln muss. Sofort. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt …

Autorenvita

Edward Hogan

Edward Hogan wurde 1980 in Derby geboren und lebt in Brighton. Er hat einen Abschluss in Kreativem Schreiben und wurde durch den David Higham Award gefördert. Sein erster Roman „Blackmoor“ schaffte es auf die Shortlist des „Sunday Times Young Writer of the Year Award“ und des „Dylan Thomas Prize“ und gewann den „Desmond Elliot Prize“.

Edward Hogan – DIESE STUNDE GEHÖRT MIR NICHT – Aus dem Englischen von Elisabeth Spang – Thienemann

 

Für Jesse, Alice und Emily

image

SONNTAG,
21. OKTOBER

EINS

An dem Tag, als wir ankamen, dachte ich, ich hätte ihr Leben gerettet.

Dad fuhr langsam in den Marwood Forest, in dem die Holiday World lag, größte Sport-Ferienanlage Europas und – meiner Meinung nach – die Hölle auf Erden.

»Wir müssen einfach mal raus, Daniel«, sagte er. »Es ist ja nur für eine Woche.«

»Eine Woche!«, sagte ich kopfschüttelnd.

»So lang ist das nicht«, sagte er. »Wir brauchen mal richtig Zeit füreinander.«

Zeit. Davon war in meiner Familie – oder was davon noch übrig war – andauernd die Rede. Mit der Zeit wird es leichter werden. Wir brauchen einfach Zeit, um das alles zu verarbeiten. Zeit für sich selbst. Zeit füreinander. Zeit fern von der Schule.

»Außerdem«, fuhr Dad fort und zog seine Trainingsjacke zurecht, »können wir dort etwas für unsere Gesundheit tun.«

»Ich bin gesund. Mit mir ist alles in Ordnung«, sagte ich. Ich war ein bisschen empfindlich, was mein Gewicht betraf.

Dad machte diese Geste, bei der er den Kopf zurücklegt und dann mit der Hand über die Stoppeln an seinem Hals streicht. Als würde er sich selbst würgen. Früher hatte er das nicht getan. Das war etwas Neues, wie auch seine Marotte, Gemüse zu ziehen und zu weinen. Wir liefen auf den größten Parkplatz ein, den ich je gesehen hatte. Metall und Glas glitzerten im schwachen Sonnenlicht.

»Ich weiß, dass mit dir alles in Ordnung ist, Kleiner«, sagte Dad. »Aber mit mir nicht.«

Wir stiegen aus dem Wagen und luden unsere Taschen aus. Kraftfahrzeuge mussten außerhalb der Anlage stehen bleiben; in der Broschüre stand, dass wir in einer »Elektro-Kutsche« zu unserem Bungalow gebracht würden. Ich sah eine am Willkommens-Pavillon warten. Es war ein übergroßer Golfbuggy.

»Ich finde einfach, wir müssen mal raus an die frische Luft. In unserem Haus fehlt die Luft zum Atmen«, sagte Dad.

»In unserem Haus fehlt der Fernseher«, sagte ich und wünschte dann, ich hätte es nicht gesagt. Es stimmte, dass Dad den Fernseher nicht erneuert hatte, aber ich war es gewesen, der ihn kaputt gemacht hatte.

Wir gingen auf die Elektro-Kutsche zu. Dad hielt seine Sporttasche so fest umklammert, dass alles Blut aus seinen Fingern wich und die Haare auf seiner Hand noch dunkler aussahen. Er war ganz still geworden, was grundsätzlich kein gutes Zeichen war.

»Dad?«, fragte ich.

»Da, wo wir wohnen, gibt es einen Fernseher. Ich hab uns einen ›Komfort-plus-Bungalow‹ gebucht. Nicht ganz so nobel wie die Kategorie ›Luxus‹, aber wie du weißt, ist das Geld knapp. Außerdem wirst du gar kein Fernsehen brauchen, denn hier gibt es jede Sportart, die du dir nur vorstellen kannst.«

»Ich kann mir etwa drei vorstellen«, sagte ich. »Und die kann ich alle nicht ausstehen.«

Wir kamen bei der Kutsche an, Dad gab dem Fahrer unsere Bungalow-Nummer und unser Gepäck, dann wandte er sich wieder zu mir. »Vielleicht findest du diese Woche den Sport, der dir wirklich liegt«, sagte er. »Die Sportart, in der du richtig gut bist.«

Ich schüttelte langsam den Kopf.

»Na ja«, sagte Dad. »Notfalls kann man auch fernsehen.«

In der Kutsche saß ich vorne neben dem Fahrer – einem alten Mann mit grauem Bart –, während Dad mit den Taschen auf der Rückbank hockte. Er versuchte, scherzhaft zu überspielen, wie heftig der Herbstwind zu den offenen Seiten hereinwehte.

»Willkommen in der wilden freien Natur!«, rief er und atmete zufrieden tief durch. In der Ferne erkannte ich ein Starbucks.

Die Holiday World war Natur mit einem Zaun drum herum. Eine Sportanlage mit Geschäften und Restaurants mitten im Wald. Man wohnte in hölzernen Bungalows oder Häusern oder großen Wohnanlagen, je nachdem wie viel Geld man hatte, und Familien in Trainingsanzügen fuhren auf Fahrrädern vorbei. Es gab so viel Nylon und so viel Holz, dass wahrscheinlich ein einziges Streichholz genügt hätte, um ein Feuer zu entfachen, das man bis ins Weltall sehen könnte. In der Ferne ragte eine große Kuppel auf, ein beheiztes Tropenparadies-Schwimmbad mit Wellenmaschine und Palmen und Stromschnellen. Ich hatte es in der Broschüre gesehen; es war die Hauptattraktion der Holiday World.

Ich hätte es Dad gegenüber zwar nie zugegeben, aber als wir die Freiluft-Spielfelder und Tennisplätze hinter uns ließen und tiefer in den Wald hineinfuhren, verspürte ich prickelnde Vorfreude. Die Schatten der hohen angepflanzten Kiefern verdunkelten das Innere der Kutsche, und mir war, als hörte ich einen leises tiefes Summen. Man konnte – wenn man sich bemühte – den ganzen künstlichen Park-Unsinn vergessen und sich auf das dunkle Herz des Waldes konzentrieren. Man wusste, wenn es dunkel wurde, erwachten die wilden Tiere. Wusste, in tausend Jahren, wenn diese glücklichen Urlaubsfamilien allesamt tot und begraben wären, würde die Natur sich diesen Ort zurückerobern. Efeuranken würde die kleinen Hütten überwuchern und dicke Baumwurzeln sich durch die Fußböden bohren. Schließlich würden sich die Fluten unter dem Tropenparadies grün färben und Fische den Whirlpool besiedeln. In den Palmen säßen kreischende Vögel, Füchse würden die Vorratsschränke plündern und durch die Restaurants trotten.

»Daniel!«, rief Dad. »Hast du vielleicht irgendwo die Pflanzennahrung gesehen?«

Auf der Suche nach der Nährlösung für seine geliebte Tomatenpflanze kramte er mit gesenktem Kopf in den Taschen herum. Ich antwortete nicht, denn plötzlich stand mitten auf der Straße ein Mädchen. Sie trug eine rote Kapuzenjacke über einem Badeanzug. Ihre Haare waren zerzaust und nass. Ich sah den alten Mann an, der die Kutsche fuhr, und erwartete, dass er abbremste. Er machte keine Anstalten, und das Mädchen rührte sich nicht vom Fleck.

»Wollen Sie denn nicht …?«, sagte ich zu dem Fahrer.

»Was?«, fragte er.

Als wir nur noch fünf Meter entfernt waren, griff ich ins Steuer und riss es nach links herum. Wir verfehlten das Mädchen um wenige Zentimeter, aber wir krachten stattdessen durch ein Holzgeländer, und die Kutsche kippte zur Seite. Die Welt drehte sich um mich herum, und ich knallte mit dem Kopf gegen das Armaturenbrett. Als die Kutsche zum Stillstand kam, lag ich auf dem Rücken und sah in eine riesige Eiche hinauf. Der Fahrer war auf mir gelandet und alles andere als erfreut.

»Was machst du denn, verdammt noch mal?«, fragte er.

»Was machen Sie denn?«, erwiderte ich. »Sie hätten um ein Haar das Mädchen überfahren!«

»Welches Mädchen?«, rief er.

Ich krabbelte unter dem Fahrer hervor und stand mit suchendem Blick auf der Straße. Es war niemand zu sehen, nur Dad, der kopfschüttelnd seine Tomatenpflanze im Arm wiegte.

ZWEI

»Was sollte das denn, Daniel?«, fragte Dad, als wir den restlichen Weg zu unserem Bungalow zu Fuß gingen.

»Der Kerl hätte fast ein Mädchen überfahren«, rief ich.

»Er meint, da wäre niemand gewesen«, sagte Dad.

»Wem willst du denn glauben?«

»Tja, angesichts deines aktuellen Vorstrafenregisters …«

»Was? Na vielen Dank auch.«

»Hör mal, Junge, eigentlich hatte ich gehofft, dass du in diesem Urlaub genau diese Art von Verhaltensauffälligkeiten bleiben lassen würdest. So wie du den Wagen von der Straße gelenkt hast, hättest du den Alten umbringen können. Du hättest uns alle umbringen können.«

»Es war ein Golfbuggy. Kein Mensch stirbt bei einem Unfall mit einem Golfbuggy!«

Ich dachte wieder an das Mädchen auf der Straße. Von ihren Schultern waren schwache Dampfschwaden aufgestiegen. Ich hatte schon mal Halluzinationen gehabt. Auch das gehörte zu den Verhaltensauffälligkeiten, von denen Dad hoffte, ich würde sie bleiben lassen. Aber auch er hatte so seine Verhaltensauffälligkeiten, seit Mum weg war. Die kreisten hauptsächlich um den Star-and-Sailor-Pub, wo er am Automaten Wer wird Millionär? spielte, neun Gläser Bier trank und dann mit einer gebrochenen Nase und einem Hemd voller Chilisoße nach Hause kam. Sich locker machen, so nannte er das.

Wir kamen bei unserem Komfort-plus-Bungalow an. Von einer ausladenden Zeder überdacht, wirkte er klein und dunkel. Es gab ein großes Fenster und ein kleines. Unser Bungalow machte ein Gesicht, als hätte ihm jemand eine reingehauen.

Als wir gerade die Taschen hineinbrachten, kamen zwei Frauen in Tennisklamotten den Weg zum Nachbarhäuschen heraufgeradelt. Sie waren ein bisschen jünger als Dad, beide hatten die gleichen vollen Locken und das gleiche breite Lächeln. Schwestern. Dad hob die Kirschtomatenpflanze vorsichtig hoch. Es war mir schon unangenehm, dass er sie überhaupt mitgebracht hatte, und dass er in aller Öffentlichkeit mit der Pflanze redete wie mit einem Baby, fand ich todpeinlich.

»Willkommen in der Holiday World«, sagte eine der Frauen mit übertriebener Geste zu mir. Das war ironisch gemeint.

»But you can never leave, ihr wisst schon, wie im Hotel California«, ergänzte die andere. »Das hier ist Chrissy, und ich bin Tash.«

Chrissy war kleiner und hatte schon ein paar graue Haare. Die jüngere der beiden, Tash, trug ziemlich eng anliegende Kleider und ein teuer aussehendes Armband.

»Ich bin Daniel«, sagte ich. Ich sah zu Dad hinüber, wusste aber wirklich nicht, was ich hätte sagen sollen, weil er gerade an seinen Tomaten herumfummelte wie an den Perlen einer unschätzbar kostbaren Kette.

»Ich bin Rick«, sagte er, ohne aufzusehen. Erst seit etwa einem Monat nannte er sich Rick, und ich zuckte dabei immer noch zusammen. Früher hatte er Richard geheißen.

»Hallo«, sagte Tash. »Wart ihr schon mal hier?«

»Nö«, erwiderte Dad.

»Ist für uns auch das erste Mal. Wir sind hergekommen, um uns in Form zu bringen.« Sie sagte das mit einem Lächeln, und für mich war ganz offensichtlich, dass sie auf ein Kompliment aus war, denn sie waren beide gertenschlank. Ich wartete darauf, dass Dad etwas Entsprechendes antworten würde.

»Aha«, sagte er.

»Also, was führt euch denn in die Holiday World?«, fragte Tash.

Dad hielt den Topf mit der Pflanze über den Kopf und begutachtete dessen Boden. »Wir brauchten einfach mal ein bisschen Abstand«, sagte er. »Von daheim.«

»Oh«, sagte Chrissy. »Ich verstehe.«

Ich spürte, dass die Atmosphäre allmählich unbehaglich wurde.

»Eigentlich ist es wegen der Tomaten«, warf ich ein. »Die hatten seit Ewigkeiten keinen Urlaub.«

Beide Frauen lachten laut, und Chrissy legte ihre Hand auf meinen Arm. »Du bist ja gut!«, sagte sie. »Hört mal, wenn ihr irgendetwas braucht oder vielleicht mal Lust habt, ein Doppel zu spielen, dann kommt ruhig rüber und klopft bei uns.«

»Danke«, antwortete ich, denn Dad sagte gar nichts. »Wisst ihr, wo man hier gut essen kann?«

Die Schwestern sahen einander an. »Es gibt natürlich all die üblichen Lokale, aber ich mag eigentlich das Pfannkuchenhaus unten am Strand am liebsten«, sagte Chrissy.

»Es ist nicht wirklich ein Strand, Chrissy«, sagte Tash lachend.

»Okay«, gab Chrissy zu. »Es gibt ein Restaurant mit dem Namen Pfannkuchenhaus auf der Fläche mit aufgehäuftem Sand neben dem künstlich angelegten See. Ihr könntet zum Essen aber auch einfach zu uns kommen. Wir machen ein Herbst-Barbecue.«

Tash zeigte auf die Tomatenpflanze. »Ihr könntet den Salat mitbringen.«

»Das Pfannkuchenhaus klingt gut«, sagte Dad und trug die Pflanze hinein. Ich folgte ihm ins Haus.

»Bis dann«, sagten sie.

»Bis dann«, antwortete ich.

Dad hatte angefangen, Gemüse zu ziehen, kurz nachdem Mum uns verlassen hatte, aber die Tomatenpflanze war sein Ein und Alles. Es war die erste Pflanze, die er gekauft hatte, nachdem sie weg war, und sie war zu kostbar, um sie daheim zu lassen. »Das Aroma des Mittelmeers«, sagte er immer. Und das von einem Mann, der sich nicht mehr leisten konnte als einen Urlaub in Nottinghamshire.

Er stellte die Pflanze ans Küchenfenster und baute einige Rasierspiegel um die Tomaten herum auf, damit sie die Sonne reflektierten. Dann holte er ein Babyfläschchen mit dem zu Hause aufgefangenen Regenwasser hervor und begann, die reifen, vollen Früchte damit zu besprenkeln. »Wenn man so einer Pflanze Liebe und Aufmerksamkeit entgegenbringt«, sagte er, wie schon so oft, »dann schenkt sie einem alles, was sie zu geben hat.«

Er war die ganze Strecke in Flipflops und Socken gefahren, und als er die Schlappen jetzt abstreifte, war in seinen Strümpfen neben dem großen Zeh eine Kerbe, sodass seine Füße wie Hufe aussahen.

»Die schienen nett zu sein«, sagte ich.

»Wer?«, fragte er.

»Die Frauen. Die Nachbarinnen.«

»Lesben«, sagte er.

»Dad, das waren Schwestern!«

Er zuckte die Schultern. »Und übrigens«, fügte er hinzu, »es ist wirklich nicht nötig, vor anderen Witze über die Tomatenpflanze zu reißen, vielen Dank auch. Schließlich gibt es noch so etwas wie Familienloyalität, weißt du, auch wenn ich nicht glaube …«

Er verstummte, und ich wusste, er war drauf und dran gewesen, etwas Kritisches über Mum oder sogar über mich zu sagen. Ich wünschte, er täte es. Alles wäre besser als dieses gekünstelte Lächeln. Das Lächeln sagte: »Es war nicht deine Schuld, Junge.« Was natürlich bedeutete, dass es sehr wohl meine Schuld war.

Ich sah mich im Bungalow um – reichlich Holzimitat, ein paar unbequeme Sofas mit hinreichend knalligen Mustern, um die Flecken zu verbergen –, während Dad die restlichen Sachen von draußen holte. Der Fernseher war vermutlich in einem der Schränke versteckt. Die Holiday World garantierte schallisolierten Schlaf (alle lieben die Natur, aber schließlich will man ja nicht von ihr aufgeweckt werden), und als Dad die Tür schloss, machte die luftdichte Gummileiste ein schmatzendes Geräusch, und ich spürte meine Augen um einen Zentimeter hervorquellen.

»Schön«, sagte er und sah auf die Uhr. »Wir gehen unsere Räder holen, schauen für einen kurzen Planscher im Tropenparadies vorbei, und dann wollen wir mal sehen, ob wir dieses Pfannkuchenhaus finden, hm? Spitze!«

DREI

Man fuhr in diesem Gelände also nicht mit dem Auto, aber zu Fuß ging man auch nicht. Man fuhr Fahrrad. Wenn man ein kleiner Junge war, fuhr man ein BMX-Rad. Wenn man ein erwachsener Mann war, bekam man ein Mountainbike. Leute meiner Größe mussten einen Shopper fahren, das ist ein Damenrad – weiß und rosa, ohne Querstange und mit einem Korb vorne dran. Offen gestanden hatte ich mich schon fast damit abgefunden, mich rundherum zum Trottel zu machen.

»Kann ich nicht ein BMX haben?«, fragte ich.

»Das ist ein Kinderfahrrad«, sagte Dad.

»Vorschriften der Behörde für Gesundheit und Sicherheit«, meinte der Fahrradmann.

»Der Bursche hier braucht so viel Gesundheit und Sicherheit, wie er nur kriegen kann«, sagte Dad zu dem Fahrradmann. »Er ist eine Gefahr für sich und andere.«

Das war ein Zitat aus dem Bericht, den die Schule geschickt hatte. Der Fahrradmann musterte mich mit neu erwachtem Respekt.

Wir nahmen die Räder und fuhren davon wie Mann und Frau.

Irgendein Teil der Schwimmbadkuppel war immer in Sicht, und jetzt sahen wir auf unserer Fahrt, wie die Bäume sich lichteten und den Blick auf sie freigaben. Sie ragte hoch über uns auf. Die Außenhülle der Kuppel war aus riesigen Hartplastik-Sechsecken zusammengesetzt, und man konnte hineinschauen. Wir hielten an und beobachteten, wie Kinder sich übermütig die Wasserrutsche hinab in die Stromschnellen warfen – eine Bahn mit bewegtem Wasser. Ich war die letzten vierzehn Tage nicht in der Schule gewesen, aber jetzt waren Schulferien, sodass jede Menge andere Kinder da waren. Ein merkwürdiges Gefühl, wieder unter Gleichaltrigen zu sein. In einer langen Reihe wie in einer Supermarktschlange zogen Männer die Stromschnellen entlang; sie wirkten ernst und zielstrebig, während die Strömung sie dahintrug. Ich betrachtete ihre Gesichter und – natürlich auch – ihre Körper. Echte Palmen hingen über die künstlichen Felsen am Rand des Wassers. Von dort konnte man gedämpfte Schreie vernehmen.

»Ich hab Hunger«, sagte ich.

»Wohl kaum«, antwortete Dad. »Es ist erst sechs. Lass uns da reingehen, dann kriegen wir richtig Appetit. Es sieht toll aus.«

»Mir ist eigentlich nicht nach Schwimmen.«

»Du musst nicht schwimmen. Schau mal. Da sind auch Liegen.« Dad deutete auf einen Bereich mit hölzernem Schiffsboden, wo sich einige Jungs in Schwimmshorts mit zwei Mädchen in Bikinis unterhielten. Die Mädchen tranken Milchshakes durch Strohhalme und versuchten, nicht zu lachen.

»Du kannst auch nur sonnenbaden«, schlug Dad vor.

»Ich kann nicht sonnenbaden«, sagte ich. »Denn die Sonne ist draußen.«

»Da drinnen sind es durchgehend neunundzwanzig Grad.«

»Hier draußen ist es warm genug«, sagte ich, obwohl es ganz schön kalt war.

»Soll das jetzt die ganze Zeit so gehen, Daniel? Den ganzen Urlaub lang?«

Ich schaute weg.

»Die meisten Kinder würden ihren rechten Arm dafür geben, hierherzufahren. Liebe Güte, es ist ja nicht so, als würde ich von dir verlangen, dein T-Shirt auszuziehen.«

»Dad, Herrgott noch mal«, sagte ich.

Andere Familien radelten an uns vorbei.

»Selbst wenn du es tätest, würde keiner dich anglotzen«, sagte Dad.

Dann verstummte er. Ich starrte auf das T-Shirt hinab, das sich über meinen weichen Körper spannte. Im Nachhinein gesehen hatte er es wahrscheinlich nett gemeint. Er hatte wahrscheinlich sagen wollen, dass die Leute viel zu sehr mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt waren, um einen Jugendlichen mit ein bisschen Übergewicht zu triezen. Aber ich hatte zwei Probleme mit dem, was er gesagt hatte: Erstens wusste ich aus Erfahrung, dass er sich täuschte. Die Leute glotzen sehr wohl. Es fällt ihnen auf. Zweitens, wie schlimm stand es denn schon um mich, wenn ich auf nichts Besseres hoffen konnte, als dass die Leute mich nicht beachteten?

»Ich fahre zum Bungalow zurück«, beschloss ich.

Ich wendete das Fahrrad und begann, zornig davonzustapfen, aber hinter mir spürte ich seine niederdrückende Traurigkeit. Auch wenn ich eigentlich auf ihn sauer war, wusste ich doch, dass ihn so etwas völlig fertigmachte. Womöglich würde er eine Woche lang weinen oder, noch schlimmer, trinken.

Also machte ich kehrt.

Er hatte den Kopf in die Hände gelegt und stand wie angewurzelt da, das Fahrrad lehnte zwischen seinen Beinen.

»Dad«, sagte ich.

»Ja.«

»Können wir nicht einfach zu dem Pfannkuchenhaus gehen? Vielleicht ist mir ja morgen nach Schwimmen.«

Ich wartete einen Moment. Endlich nahm er die Hände vom Gesicht. Da war wieder dieses Lächeln. Trauriger als alles, was ich je gesehen hatte.

»Aber natürlich, Daniel.«

VIER

Das Pfannkuchenhaus war wie diese Lokale, die man in amerikanischen Spielfilmen immer sieht. Es war ein geschwungenes weißes Gebäude mit durchgehenden großen Fenstern, aus denen die Gäste gute Sicht auf den See hatten. Es stand auf einem künstlichen Strand, und als wir die Fahrräder darüberschoben, fühlte ich den Sand in meine Turnschuhe sickern.

Der Anblick des Sees war beruhigend. Ich spürte, wie meine Körpertemperatur sank, als ich aufs Wasser hinausschaute, und mein Herzschlag verlangsamte sich.

Eins. Und.

Zwei. Und.

Drei. Und.

Es waren nur noch wenige Boote draußen, und die meisten befanden sich auf dem Rückweg in den kleinen, hölzernen Hafen. Fast spürte ich den Tiefensog des Wassers in der Magengrube. Der See war von Bäumen umgeben und man konnte kaum das andere Ufer sehen, nur ein paar Lichter, die drüben in den Bungalows angingen. Am Strand stand ein Schild mit der Aufschrift: SCHWIMMEN STRENGSTENS VERBOTEN. Klang wie der Titel einer Fernsehsendung.

»Na, komm schon, du wolltest doch hierher«, sagte Dad und öffnete die Tür.

Die Stereoanlage im Pfannkuchenhaus spielte die Beach Boys.

»Jeder geht surfen, was, Daniel?«, sagte Dad. »Jeder, außer uns.« Er versetzte mir einen leichten Schlag gegen den Arm, der ein klatschendes Geräusch machte. Ein bisschen zu fest, um spaßhaft zu sein.

Ich bestellte ein Crêpe mit Käse und Pilzen und zusätzlich einen Pfannkuchen mit Kirschen und Eiscreme. Dad verlangte einen Burger und als Nachtisch einen Pfannkuchen mit Ahornsirup.

»Haben Sie Bier?«, fragte er den Kellner.

»Wir haben eine Bar mit uneingeschränkter Alkohollizenz, Sir«, sagte der Kellner und deutete auf die Spirituosen im Regal hinter der Theke.

»Prima. Ist ja super hier. Diese Lesben hatten ganz recht«, sagte Dad.

»Wie meinen, Sir?«, fragte der Kellner.

»Nichts. Ich hätte gerne eine Flasche von Ihrem besten Lagerbier, bitte.«

Dass es hier eine Bar gab, sah ich mit gemischten Gefühlen. Es bedeutete, dass Dad mich vielleicht nicht dazu zwang, ins Tropenschwimmbad zu gehen, aber es bedeutete auch, dass ich ihn womöglich am Ende des Abends zum Bungalow zurücktragen müsste. Vielleicht trinkt er im Urlaub ja nicht ganz so viel, dachte ich.

Fünf Biere später fing er an, sich wieder über Mum auszulassen. »Ich mache niemandem Vorwürfe«, sagte er. »Am allerwenigsten …«, er zeigte auf mich. »Gar keinem.«

Ich beäugte den übrig gelassenen Pfannkuchen auf seinem Teller. Er sah aus wie eine fleckige Fettrolle. Ich nahm ihn und verdrückte ihn mit einem Happs, nur damit ich ihn nicht länger ansehen musste. Zum Glück hörte Dad für einen Moment auf zu reden.

»Findest du nicht, du hattest genug?«, fragte er.

»Du nicht auch?«, gab ich zurück und sah auf sein leeres Bierglas.

Er folgte meinem Blick. »Ach, ich sitze offenbar auf dem Trockenen. Kellner! Noch eins von Ihrem Besten, wenn Sie so freundlich wären.«

Er verfiel immer in diese lächerlich gestelzte Ausdrucksweise, wenn er zu viel Bier getrunken hatte. Ich konnte gut nachvollziehen, wie es dazu kam, dass er ab und zu mal eins auf die Nase bekam.

Jetzt wurde es dunkel. Ich sah durch die großen Fenster zum See hinaus, dessen Oberfläche ein wenig Mondlicht einfing. Das Wasser schwappte auf den Sand. Mein Blick folgte dem Verlauf der Wellen bis zur Mitte des Sees, und ich glaubte, dort eine Bewegung zu erkennen. Eine Gestalt, die durch die Wasseroberfläche auf das entfernte Ufer zuglitt.

Ich schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. Ich hatte in der Schule Halluzinationen gehabt, kurz bevor ich ausgerastet war. Daraufhin hatte man mir »eine kleine Auszeit« verordnet. Aber jetzt war ich im Urlaub. Wo wurde man wohl hingeschickt, wenn man im Urlaub ausrastete?

Beruhigt erkannte ich, dass das Wasser draußen auf dem See aufgehört hatte, Wellen zu werfen, und am Horizont niemand zu sehen war. Gott sei Dank, dachte ich.

Das Pfannkuchenhaus verwandelte sich in ein winterliches Strandcafé. Leute saßen draußen an Tischen unter großen Heizpilzen, versuchten, so zu tun, als wäre es Sommer, rauchten aber, um sich warm zu halten.

Drinnen mischte sich eine Schar von Männern und Frauen an der Bar. Dad sah zu ihnen hinüber und nickte mit dem Kopf zur Musik, traf aber nicht ganz den Rhythmus.

»Dad, ich habe Kopfschmerzen«, sagte ich.

»Ach ja?« Er wirkte erfreut. »Na, dann solltest du heimgehen, Daniel. Ich meine, in den Bungalow. Du willst doch sicher nicht mit deinem Alten hier rumhängen, wenn du Kopfschmerzen hast.«

»Bleibst du denn noch?«, fragte ich.

»Ja, ich bleib nur noch kurz auf ein Bier. Als kleinen Absacker. Man muss sich, äh, du weißt schon …«

»Locker machen?«

»Genauso ist es. Locker machen.«

Ich stand vom Tisch auf und Dad ebenso. Wir gingen in entgegengesetzte Richtungen, er zur Bar, ich zur Tür.

»Ach, Dad.«

»Ja, Daniel?« Er drehte sich um und trank einen Schluck Bier.

»Ersauf nicht«, sagte ich.

Er lachte. »Ich gehe bestimmt nicht in den See«, sagte er.

Ich nickte zu seinem Bier hin. »Den See hab ich auch nicht gemeint«, antwortete ich.

Draußen war die Luft herbstlich, kühl und frisch. Ich schloss mein Rad auf und zog es aus dem Ständer. Keinem der im Freien sitzenden Gäste schien aufzufallen, dass es ein Damenrad war. Vielleicht hatte Dad ganz recht. Vielleicht beachtete mich gar keiner.

Ich sah zum Radweg hinüber, während ich mein Fahrrad den Strand entlangschob. Die Fahrräder hatten Dynamos, das hieß, wenn man in die Pedale trat, ging das Licht an. Die Dynamos machten ein zirpendes Geräusch wie Grillen. Vor jedem der Bungalows standen im Rasen zwei Pfosten mit eingelassenen Lampen. Das waren die einzigen Lichtquellen. Mit den zirpenden Dynamos, den merkwürdigen weißen Lampen und den Radfahrern, deren Lichtkegel durch den Wald schwenkten, kam man sich vor wie in einer Unterwasserwelt.

Ich spähte wieder auf den See hinaus. Mein Blick wurde von den höheren Zweigen eines Baums eingefangen, wo ich eine Kapuzengestalt in leuchtend rotem Oberteil auf einem Ast liegen sah, die ein Bein herabbaumeln ließ. Es war das Mädchen von der Straße. Ich schüttelte den Kopf und drehte mich zu den Leuten um, die vor dem Pfannkuchenhaus saßen. Sie unterhielten sich und rauchten und schauten einander tief in die Augen. Sie hatten die Gestalt nicht bemerkt. Vielleicht hatte auch ich sie ja gar nicht wirklich gesehen.

Ich holte tief Luft und spähte wieder zu dem Baum hinüber. Die ferne Gestalt war noch immer da. Ich kniff die Augen zu und wandte mich ab.

FÜNF

Zurück im Bungalow machte ich den Fernsehschrank auf und den Apparat an. Es gab jede Menge Satellitensender, aber in den meisten lief Sport, sodass ich wieder ausschaltete. Kurz war mir, als sähe ich auf dem leeren Bildschirm Umrisse. Als sähe ich diesen Baum draußen am See, in dem die Gestalt hockte wie ein Leopard. Ich rieb mir übers Gesicht. Ich bin nur müde, dachte ich, und machte die Schranktüren zu.

Aufmerksam lauschte ich in die Stille im Haus. Ich lauschte, bis die Stille wich und das Lachen von Chrissy, Tash und deren Freunden im Garten nebenan herüberwehte. Ihr Barbecue neigte sich wohl dem Ende zu. Es roch nach angekokeltem Essen. Jenseits dieser Geräusche vernahm ich den Wald, seinen Herzschlag und sein nächtliches Murmeln. Man spürte geradezu, wie er sich an den Bungalow drängte.

Ich ging zu Bett und lag noch eine Weile wach. Ich dachte darüber nach, was sich zu Hause mit meiner Mum abgespielt hatte. Grübelte nach über das Thema Zeit. Wenn jemand eine Geschichte erzählt, sagt er oft: »Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.« Ich weiß, was damit gemeint ist.

Ich könnte anfangen mit dem 4. September, nachmittags um zwei. Ein Tag nach Beginn des neuen Schuljahres. Ich saß zu Hause vor dem Fernseher. Unser Haus hat einen gemeinsamen überdachten Eingang mit dem Spirituosenladen nebenan. Er ist wie ein kleiner Korridor. Der Schnapsladen hat am Eingang eine Überwachungskamera, und wenn man bei unserem Fernseher auf den zweiten AV-Kanal schaltet, verbindet er sich seltsamerweise mit dieser Kamera. Ich schaltete manchmal auf diesen Kanal, wenn ich unten Leute hörte. Das Problem war, man durfte ihn nicht zu lange anlassen, sonst brannte sich das Bild in den Schirm ein. Ich weiß nicht, warum. Das war irgendwas Technisches. Wir hatten einen ziemlich guten Fernseher. Ein schöner Samsung, noch recht neu.