Impressum

Vollständige eBook-Ausgabe der Buchausgabe

bloomoon, München 2013

Copyright © Celia Bryce, 2013

Titel der Originalausgabe: Anthem for Jackson Dawes

Die Originalausgabe erschien 2013 bei Bloomsbury Publishing Plc, London

© 2013 bloomoon, ein Imprint der arsEdition GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Celia Bryce

Übersetzung: Bettina Obrecht

Umschlaggestaltung: Grafisches Atelier arsEdition

unter Verwendung von Bildmaterial von © www.blacksheep-uk.com

Umsetzung eBook: Zeilenwert GmbH

ISBN eBook 978 - 3 - 8458 - 0147 - 6

ISBN Printausgabe 978 - 3 - 7607 - 9940 - 7

www.bloomoon-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Sechzehn

Siebzehn

Achtzehn

Neunzehn

Zwanzig

Die Autorin

»Also, du kennst ja meine Einstellung zu Krankenhäusern. Du kannst mich zu jeder Tages- und Nachtzeit anrufen.«

Großvaters Stimme klang, als käme sie von sehr weit weg, er wirkte viel älter – ja, es klang so, als befinde er sich auf einem anderen Planeten, nicht nur am anderen Ende der Leitung.

Es war Megans erster Tag auf der Station. »Ja, ich weiß schon«, sagte sie, bemüht, tapfer zu klingen. Sie wünschte sich so sehr, es würde alles besser werden, ohne den Aufenthalt im Krankenhaus. Sie folgte ihrer Mutter durch die doppelte Glastür in die Station und blieb wie angewurzelt stehen.

Eine Kleinkinderstation?

Das konnte doch unmöglich stimmen!

Aber es stimmte.

Überall waren Kleinkinder, alles deutete auf die Anwesenheit von Kleinkindern hin.

Spielsachen schepperten. Ein Rasseln erklang, ein helles Glöckchen bimmelte. Ein Surren. Quietschen. Irgendwo auf der rechten Seite weinte ein Säugling.

Direkt vor ihr sauste ein kleiner Junge auf einem Plastikauto den Flur entlang und bog nach links ab. Er drückte auf die Hupe. Ein Erwachsener folgte ihm mit langsamen Schritten, er war in ein Gespräch mit einer Krankenschwester vertieft.

Großvater redete immer noch weiter, sagte ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, aber Megan konnte nicht antworten.

Wo waren denn die anderen Patienten? Leute wie sie selbst? Leute in ihrem Alter?

Sie war doch kein Säugling und auch kein Kleinkind. Sie war schon fast vierzehn!

Warum hatte man sie hier untergebracht? Wie konnte so etwas passieren?

SMS an Gemma. So bald wie möglich. Sie würde eine Antwort wissen. Dafür hatte man doch beste Freundinnen, oder? Sie trösteten, redeten einem gut zu. Na ja, Gemma war mehr eine, die einen in solchen Fällen in den Arm nahm, anstatt zu reden.

Dad mochte Gemma. Sie sagte nie ein Wort zu viel. Nicht wie andere Freundinnen von Megan. Zum Beispiel die Zwillinge, die immer ungefähr hundert Wörter benutzten, wenn eins auch gereicht hätte.

Von Gemma würde ein oder ein kommen, und damit war alles gesagt.

Ja. SMS an Gemma. Selbst ihr würden ein paar Wörter einfallen, wenn sie erfuhr, dass man Megan in die Säuglingsstation gesteckt hatte.

Großvater bemühte sich immer noch, einen munteren Eindruck zu machen.

»Ich darf ja nicht allein mit dem Bus fahren, deswegen kann ich nicht zu dir kommen Also wenn du irgendwelche Probleme hast, Mädchen, sag ihnen einfach, dass du mich anrufen musst. Sag ihnen, ich bin der Dorfälteste, deswegen habe ich mehr Ahnung als sie.«

Megan lachte, weil er sich das von ihr wünschte, aber Großvater war noch nicht fertig. »Genau, sag ihnen, wenn sie Hilfe brauchen Dichtungsringe für die Wasserhähne, Steckschlüssel, Schraubenschlüssel, irgendwelche Schwierigkeiten mit den Installationen «

»Wahrscheinlich haben die hier Leute, die so was machen«, sagte Megan, fest entschlossen, kein Zittern in ihrer Stimme zuzulassen. Es war nicht leicht. Sie hörte Säuglinge schreien. Sie hörte Kleinkinder weinen. Ihr fiel ein, dass sie ihr Handy vermutlich gar nicht benutzen durfte. Womöglich beeinflusste es irgendwelche Geräte. So wie im Flugzeug. Wenn jemand aufmerksam wurde, würde er ihr das Telefon vielleicht abnehmen. Sie presste es fester ans Ohr. Auf keinen Fall. Nicht bevor sie Gemma erreicht hatte. Oh, beeil dich, Großvater! Leg auf! Sei still!

Aber nein. Er versuchte immer noch, allem die richtige Wendung zu geben, alles in Ordnung zu bringen, so wie er es früher immer getan hatte, als Eisenwarenhändler.

Er konnte so gut wie alles in Ordnung bringen, ja, so ein Mensch war er, Megans Großvater.

»Also dann, du weißt, wo du mich findest.« Jetzt klang er noch weiter entfernt. »Aber es wird alles gut, du wirst sehen, so sicher wie das Amen in der Kirche. Dann tschüs erst mal, Lämmchen.«

Das Amen in der Kirche. Tja. Na ja.

Es war grauenhaft. Diese ganze Sache. Dass sie Krebs hatte, war schlimm genug, weil die Krankheit nicht von selbst wieder verschwinden würde, aber das war jetzt die Krönung eine Säuglingsstation!

Und das Krankenhaus lag meilenweit von zu Hause entfernt. Das bedeutete, dass Mam ständig quer durch die Stadt fahren musste. Sie konnte Stadtverkehr nicht ausstehen, und vor dem Krankenhaus fand man nie einen Parkplatz.

Sie war einfach viel zu kompliziert, diese ganze Sache.

»Na«, sagte Mam. »Das ist doch gar nicht so übel, oder?«

Megan verzog das Gesicht. »Gut ist es nicht.«

»Natürlich nicht klar ist es nicht gut, dass du hierherkommen musst, aber wenn es jemandem schlecht geht «

»Ja, das weiß ich, aber –« Megan verstummte. Aber was? Was genau? Was machte es schon aus, ob hier überall Kleinkinder herumrasten? Sie hatte Krebs und es musste schnell etwas geschehen.

Und trotzdem machte es etwas aus.

Irgendwie machte es was aus.

»Ist schon gut.« Mam blieb so fröhlich wie die Farben, die sie hier umgaben, die Farben der Wände, der Decke, überall waren sie, diese Farben. Nichts konnte über längere Zeit hinweg richtig schlimm sein, meinte Mam immer. »Wenn dein Vater anruft, gibt es jede Menge zu berichten. Er will bestimmt genau wissen, was jetzt los ist.«

Dann veränderte sich ihre Stimme. Die Fröhlichkeit war verflogen, als wäre es ihr zu anstrengend, die Fassade dauerhaft aufrechtzuerhalten. Wie Luftballons bei einer Party. Sie wurden immer irgendwann schlaff und schrumpelten zusammen. »Wenn doch nur «

Megan wusste, was jetzt kommen würde. Ihr Bauch wurde ganz hart, als hätte sie eben eine Schüssel Zement ausgelöffelt. Sie wollte es nicht hören.

»Dad braucht nicht herzukommen. Ich habe doch dich.« Sie versuchte, fröhlich zu klingen. »Und ich habe Grandad. Ich werde schon klarkommen.«

Mam seufzte. »Ja, du hast mich und Grandad.« Sie schaffte es, ein bisschen zu lachen. »Und der hat schon angedroht, dass er jeden Tag anrufen wird. Zweimal am Tag, wenn nötig. Die Krankenschwestern tun mir jetzt schon leid. Er wird sie gnadenlos kontrollieren, pass nur auf.« Sie schüttelte den Kopf. »Als hätte er auch nur die leiseste Ahnung von Krankenhäusern. Von solchen hier, meine ich.«

Ein krausköpfiger kleiner Junge kam in atemberaubender Geschwindigkeit auf dem Hintern auf sie zugerutscht. Er wurde von seinem krausköpfigen Bruder verfolgt, der ihn hochhob, obwohl er sich wehrte. Dann tauchte die krausköpfige Mutter der beiden auf, mit rosigen Wangen und einer Sorgenfalte auf der Stirn.

»Sei vorsichtig mit ihm, Dylan, bitte!«

Der kleine Junge kicherte, als wäre das der größte Witz aller Zeiten.

Seine Mutter schenkte Megan ein vorsichtiges, angespanntes Lächeln.

»Willkommen im Irrenhaus«, sagte sie und nahm ihren kleinen Sohn in den Arm. Er krähte vor Vergnügen. Die Mutter warf Megan einen mitleidigen Blick zu. »Keine Sorge, Liebes, wir sind nicht mehr lange hier. Manchmal geht es hier auch friedlich zu.«

»Achtung!« Etwas knallte von hinten in ihren Rücken. Breite Hände umklammerten ihre Schultern.

»Entschuldigung!« Das Etwas war ein Junge, unendlich groß gewachsen, in einem riesigen T-Shirt und einer ausgebeulten Jeans. »Ich probiere gerade aus, wie schnell man so ein Ding vorwärtsschieben kann. Wichtige wissenschaftliche Forschung. Bis dann!«

Er machte einen Schritt um Megan und ihre Mutter herum und schoss mit seinem Tropfgestell davon. Vier Beutel mit Flüssigkeiten waren daran befestigt und spaghettiartige Schläuche führten in zwei auf dem Ständer festgeklammerte Kästchen.

»Hm soso « Mam sah ratlos drein. »Forschung.«

»Das glaube ich kaum«, sagte Megan. »Und mir ist so schon schwindlig genug, ohne dass mich jemand anrempelt. Wie dämlich ist der denn?« Sie nahm Mams Arm, denn jetzt hatte sie ziemlich weiche Knie. »Oh nein. Da ist er wieder.«

Und tatsächlich kam der Junge wieder auf sie zu.

»Hey, du bist ja gar kein Säugling!« Der Tropfständer quietschte beim Vorwärtsrollen. Der Junge schenkte ihr ein breites Grinsen. »Du bist ja ganz normal!«

Was hatte er denn erwartet, einen Marsmenschen vielleicht?

»Sag doch mal Hallo, mein Schatz. Wo sind deine Manieren?«, flüsterte Mam und stupste sie in die Rippen.

»Er ist gerade mit mir zusammengeknallt«, murrte Megan. »Was ist mit seinen Manieren?«

Der Junge betrachtete sie so aufmerksam, als hätte er noch nie zuvor ein Mädchen gesehen. Oder als hätte er schon zu viele Mädchen gesehen und wüsste genau, worauf es ankam. Megan zog ein grimmiges Gesicht und verschränkte die Arme. Hätte Mam sie bloß dazu überredet, ein weiteres Oberteil anzuziehen!

»Wir sind neu hier«, zwitscherte Mam so munter wie ein Vögelchen. »Wir wissen eigentlich gar nicht, wo wir hinsollen. Man hat uns nur gesagt, wir sollten na ja um diese Uhrzeit hier sein.« Sie legte ihren Arm um Megans Schulter und drückte sie, als sei dies ihr erster Tag im Feriencamp.

Megan schüttelte ihren Arm ab und sah den Jungen an, der so groß war wie die Tür, noch größer sogar, und sich einen Hut ins Gesicht gezogen hatte wie ein Hollywood-Gangster. Seine Augen funkelten. Er lachte sie aus. Vermutlich war er noch nicht mal von dieser Station und nur hier, um sich an ihrer Ratlosigkeit zu ergötzen. Sollte er doch.

Der Junge wollte gerade etwas sagen, als zwei Mädchen den Flur entlangkamen. Sie hatten einander untergehakt, die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten sich kichernd irgendwelche Heimlichkeiten zu. Dann hielten sie an und starrten mit großen Augen erst auf den Jungen, dann auf Megan.

»Jackson«, sagte die eine mit quietschender Stimme und aufgeregter Miene, »hast du eine neue Freundin?«

Er schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge. »Becky, Becky, Becky. Komm!« Er hielt seine flache Hand hoch, Becky klatschte ihre Handfläche dagegen. »Wer ist deine Freundin?«

»Laura.«

»Komm, du auch, Laura.« Handflächen klatschten, wieder hallte Gekicher durch den Korridor.

Spielte der mit Neunjährigen? Sechzehn, siebzehn mochte er sein und gab sich mit Neunjährigen ab? Megan versuchte, einen Fussel von ihrem Ärmel zu zupfen, aber er ging nicht ab. Mam lächelte so verkrampft, dass ihre Backen zu roten Bällen anschwollen.

Sie mussten jetzt eigentlich ihre Sachen auspacken. Vielleicht warteten die Krankenschwestern oder der Arzt. Sie mussten jemandem Bescheid sagen, dass sie hier waren. Stattdessen standen sie still im Flur mit den ganzen Zeichnungen an der Wand und dem da im Mittelpunkt, dem Star der Show.

Megan drückte sich flach an die Wand.

Noch mehr Gekicher, die Mädchen hielten sich die Hände vor den Mund. Der Junge blickte auf die Mädchen herunter wie ein Oberstufenschüler, und die beiden sahen erwartungsvoll zu ihm auf, als wäre das alles schon einmal passiert, als wüssten sie, was jetzt kommen würde, als wäre alles nur ein großes Spiel.

»Erzählst du uns eine Gruselgeschichte, Jackson? Laura möchte eine hören. Bitte!«

Megan verdrehte die Augen.

»Jetzt nicht. Komm schon, Becky. Ich denke, dein Bruder wartet auf dich, oder? Bist du nicht seinetwegen hier?«

Die Mädchen sahen einander an, als wäre es ihnen gerade erst wieder eingefallen. »Huch! Okay. Wir sehen uns!« Kichernd drückten sie sich an der Wand entlang in Richtung Hauptstation. Jackson schüttelte den Kopf, dann wandte er sich wieder Megan zu, betrachtete sie noch einmal genau. Sie sah weg.

»Da hast du ja einen richtigen Fanclub«, sagte Mam. Sie kicherte wie die Mädchen, als wollte sie auch dazugehören.

Der Junge lachte. »Ja, so etwas Ähnliches.«

Megan stopfte die Hände in die Hosentaschen und betrachtete ein Bild, das an der Wand hing. Es zeigte einen dicken Elefanten. Einen fliegenden Elefanten. Er hatte drei rosa Zehennägel an jedem Fuß.

Jemand tippte ihr auf die Schulter. Es war der Junge.

»Also, wie heißt du denn jetzt?«, fragte er.

Megan wandte sich zu ihm um, aber sie gab keine Antwort.

»Oh, sie hat wohl plötzlich ihre Stimme verloren. Das ist Megan und ich bin ihre Mutter. Hallo, Jackson.«

»Mam! Müssen wir nicht gehen? Ich muss mich doch anmelden oder so was.«

»Ja « Mam lächelte immer noch. Sie sah Jackson weiter prüfend an.

»Sie müssen doch wissen, dass ich hier bin, oder?«

Was hatte bloß dieser Junge an sich, dass alle um ihn herum dahinschmolzen?

Schritte näherten sich und sie wandten sich um.

»Oh-oh, da kommt Schwester Brewster «

Eine groß gewachsene Frau mit einer hoch aufgetürmten Frisur steuerte auf sie zu, ein Aktenbündel unter dem Arm. Sie hielt an und richtete ihre riesigen blauen Augen auf Jackson, der mit einem Mal verstummt war. Megan wandte sich wieder den rosa Zehennägeln des Elefanten zu und versuchte, nicht zu lachen. Gar nicht mehr der große Star.

»Jackson jetzt lass das Mädchen erst mal ankommen. Sie hatte ja noch nicht einmal Zeit zum Luftholen.«

Megan spürte, dass Schwester Brewster keinen Spaß verstand. Jackson war das offenbar auch klar. Er zuckte verlegen mit den Schultern, nahm den Hut ab und machte eine leichte Verbeugung. Er hatte eine vollständige Glatze. Mam schnappte nach Luft.

»Ich habe sie heute Morgen poliert, zur Feier Ihrer Ankunft.«

Grinsend setzte er den Hut wieder auf.

»Ja. Danke, Jackson. Die Show ist vorbei.« Schwester Brewster trat zur Seite und ließ ihn vorbei. »Du hast Besuch.«

Jackson grinste breit in die Runde. »Also bis später, Leute«, sagte er. Dann schlenderte er mit schwingenden Hüften den Flur hinunter. Seine langen Beine schienen ihn beinahe in die Luft zu federn. Sein Tropfständer wackelte neben ihm her.

Schwester Brewster schüttelte seufzend den Kopf.

»Er sucht verzweifelt Gesellschaft, seit er hier ist.«

Während er noch unterwegs war, schwang eine Tür auf und eine kleine Frau mit einem schwarzen Federhut, einem dicken gelben Mantel und Unheil verkündender Miene trat in den Flur. Sie stemmte die Hände in die Hüften. Rund wie ein Kloß.

»Jackson! Komm sofort hierher, Junge! Machst hier einen Aufstand wie ein Halbstarker!« Ihre Stimme war laut und harsch, sie ließ sich nicht ignorieren.

Jackson hielt an und wandte sich nach Megan um. »Darf ich vorstellen: meine Mutter«, sagte er. »Ich weiß nicht, wie sie das schafft, immer im falschen Moment aufzutauchen. Wie schafft sie das bloß?«

Megan zuckte mit den Achseln, um zu signalisieren, dass sie keine Ahnung hatte.

Geschieht ihm recht. Angeber.

»Kannst du das arme Mädchen nicht mal in Ruhe lassen, bis sie ihr Zimmer gefunden hat? Gleich stehst du im Weg rum. Augenblicklich kommst du hierher, Junge.«

»Schon gut, schon gut.«

Jacksons Mutter blieb in der Tür stehen und wartete, bis er in seinem Zimmer verschwunden war. Dann marschierte sie hinter ihm her.

»Dieser Junge«, sagte Mam, »sieht ja unglaublich gut aus. Wie eine Statue aus Ebenholz. Und dieses Lächeln das geht ja gar nicht weg. Ist er nicht wunderbar?«

»Dieser Junge«, sagte Schwester Brewster, »könnte ein bisschen Abwechslung gebrauchen, und ich habe das Gefühl, er hat sie gefunden.« Sie nickte Megan bedeutungsvoll zu.

Kommt nicht infrage, dachte Megan. Ohne mich.

Megan hatte das Zimmer des Facharztes gleich nicht gefallen. Es lag unten in der Ambulanz, und in diesem Raum hatte man ihr mitgeteilt, dass sie Krebs habe. Es war nicht wie eine richtige Arztpraxis. Ihr eigener Arzt hatte Fotos von seinen Kindern an der Wand hängen. Drei Jungs, alle gleich alt. Einen dreifachen Albtraum nannte er sie.

Er hatte witzige Spielsachen auf seinem Tisch herumliegen, mit denen er seine kleinen Patienten ablenkte. Sie erinnerte sich noch daran, wie sie als kleines Mädchen hingegangen war. Sie erinnerte sich an den kleinen Affen, der am Stethoskop hochgeklettert war … oder das getan hätte, wenn er echt gewesen wäre. Sie erinnerte sich daran, dass er der netteste Arzt auf der ganzen Welt war. An der Wand über seiner Behandlungsliege hing ein riesiges Foto mit schneebedeckten Bergen, so etwas wie eine Wintersportregion. Er wirkte immer so, als würde er im nächsten Moment in den Urlaub fahren, ihr eigener Arzt. Fröhlich, immer zum Scherzen aufgelegt.

Der Facharzt war ungefähr so witzig wie aufgewärmte Milch. Er trug eine Brille mit halbrunden Gläsern, und wenn er lächelte, was nicht häufig vorkam, sah er aus wie ein Frosch. Sein Zimmer hatte kahle Wände und zu viele Türen. Für ihn arbeitete eine Schwester mit einem Mund, der für ihr Gesicht zu klein wirkte. Sie erschien in einer der Türen mit einem Aktenstapel unter dem Arm, den sie auf den Schreibtisch legte, bevor sie durch eine andere Tür wieder verschwand. Megan hatte keine Vorstellung davon, wo diese Türen hinführten. Sie selbst war aus dem Wartezimmer in der Roten Zone gekommen. Jedem, der durch diese Tür trat, ging es angeblich schlecht, auch wenn er es gar nicht spürte.

Vielleicht war all das zusammen der Grund, warum Megan so hatte lachen müssen, dass sie sich beinahe in die Hose machte, als der Froschmann ihr gesagt hatte, sie habe einen Tumor und dieser Tumor sei Krebs. Hier lag ganz offensichtlich ein Fehler vor. Zunächst einmal fühlte sie sich überhaupt nicht krank.

Sie sah Mam und Papa an. Ihnen musste doch ebenso klar sein, dass es sich um einen Irrtum handelte. Aber die saßen nur ganz still nebeneinander wie diese Dinger, die Großvater aufstellte, damit seine Bücher nicht umfielen. Buchstützen nannte er sie.

Sie war doch nicht krank, ihr war nur manchmal schwindlig. Sie hatte ein bisschen weiche Knie. Wie konnte das Krebs sein? Das war Blödsinn. Sie würde einfach nach Hause gehen und das wieder vergessen. Das war kinderleicht.

Und außerdem, was wusste er schon?

Der Facharzt spielte mit seinem Kugelschreiber, bis ihr Lachen verstummte, aber gerade als er etwas sagen wollte, feuerte Megan eine Frage nach der anderen auf ihn ab, als hätte sie sich diese seit Wochen aufgehoben und müsste sie jetzt alle auf einmal loswerden. Sie ließ überhaupt keine Zeit für Antworten. Würde sie noch Fußball spielen können? Und Schlittschuh laufen? Würde sie noch mit ihren Freunden ins Kino gehen können? Würde sie noch einkaufen gehen können? Was war mit der Schule? Würde der Tumor von alleine wieder verschwinden? Warum war das überhaupt passiert?

Zuletzt hatte sie keine Fragen mehr. Die Aufregung machte sie müde. Megan sackte in ihrem Stuhl zusammen und wusste nicht mehr, was sie sagen oder tun sollte.

Sie sah, wie der Facharzt konzentriert seine Schreibtischunterlage betrachtete.

Sie sah, dass Mam und Papa immer noch starr wie Statuen auf ihren Stühlen saßen und sich an den Händen hielten.

»Mir ist klar, dass es ein Schock ist, wenn man so etwas erfährt«, sagte der Facharzt schließlich. »Und es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen keine besseren Untersuchungsergebnisse mitteilen kann.« Er schlug eine Akte auf, vermutlich die von Megan. Sie hatte ziemlich viele Seiten. Ziemlich viele Untersuchungen. »Aber jetzt, wo wir es wissen und uns ganz sicher sind, können wir überlegen, was wir dir Gutes tun können.«

Ihr Gutes tun? Schokolade schenken? Zu einem Eis einladen oder ins Kino? So hatte er das wohl nicht gemeint.

»Ich denke, wir werden es folgendermaßen angehen: zuerst Chemotherapie, dann lässt er sich leichter entfernen.«

»Und wie geht das?«, fragte Megan. Ihr Kopf schwirrte. »Wie entfernt man einen Tumor?«

Der Facharzt wirkte überrumpelt. »Durch eine Operation«, sagte er.

»Sie meinen, man schneidet mir den Kopf auf?«

»Ja, Megan. Genau das meine ich.«

Aber warum denn, wo sie sich doch gar nicht krank fühlte? Warum ließ sich der Froschmann nicht selbst den Kopf aufschneiden? Sollte mal einer nachsehen, ob sich da drin überhaupt ein Gehirn befand. Er machte doch gerade lauter Fehler. Er meinte eine andere Patientin. Vermutlich hatte ihm diese blöde Schwester mit dem zu kleinen Mund die falsche Akte hingelegt. Es gab wohl noch eine andere Megan Bright. Genau, so war das.

Babyleicht, alles babyleicht. Aber jetzt fing sie doch an zu zittern. Es war nicht kalt im Raum, aber sie zitterte am ganzen Körper. Jemand nahm ihre Hand. Es war Papa. Sie musste sich vergewissern, denn alles fühlte sich plötzlich ganz fremd an. Sie fühlte sich, als käme sie aus einem anderen Land, wie jemand, der die Sprache nicht versteht, jemand, der alles dafür tun würde, endlich wieder etwas Vertrautes zu hören.

Der Facharzt schenkte ihr sein Froschlächeln. » ich denke, wir haben alle ein gutes Gefühl, was deine Heilung angeht, Megan. Ich möchte, dass du das weißt.«

Als würde er einen Zauberstab schwenken. Aha. Gut.

»Eine Operation also?« Das war Mam, die ein Taschentuch zwischen ihren Fingern zerknüllte. Es war ein kleines Ding mit einer Borte am Rand und einem aufgestickten Kleeblatt in der Ecke. Sie klang, als sei sie gerade von irgendwo anders in diesen Raum hineingefallen und würde überhaupt nichts mehr verstehen.

»Wann?«, fragte Megan.

»Das kann ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht sagen«, antwortete der Facharzt. »Du solltest dich einweisen lassen, sobald hier ein Bett frei wird.« Er schlug Megans Akte zu. War das ein Zeichen, dass sie jetzt gehen konnten?

Keiner rührte sich. Jeder wartete nur ab, was als Nächstes passieren würde.

Schließlich hüstelte Papa und drückte Megans Hand. »Na, wie klingt das?«

Es klang beschissen.

Der leuchtend rosafarbene Koffer stand herum wie eine dieser Blüten, die nach dem Regen in der Wüste blühen. Mam räumte ihn aus, legte die Sachen zurecht, so wie sie immer alles zurechtlegte.

Die Kleider faltete sie zu ordentlichen kleinen Päckchen zusammen und schob sie ganz sorgfältig in den Schrank, als ob es unheimlich wichtig wäre, in welchem Fach sie untergebracht waren.

Megan, die neben dem Bett stand, wünschte, Mam würde damit aufhören. Tu das nicht, noch nicht, wollte sie sagen. Ich muss das selbst machen, auf meine eigene Art und erst dann, wenn ich will. Es sind doch meine Sachen.

Die Wörter waren da, aber sie blieben ihr in der Kehle stecken, blähten sich in ihr auf.

Schließlich war alles da, wo es hingehörte, und im Schrank stapelten sich lauter Bruchstücke von Megans Leben, alles säuberlich sortiert und hinter den Schranktüren verborgen. Mam hatte rote Wangen. Sie sah sich im Raum um, als nehme sie alles in sich auf, als würde sie sich fragen, was jetzt zu tun oder zu sagen sei, als könnte sie Untätigkeit nicht ertragen.

»Wenn bloß dein Vater hier wäre«, sagte sie unvermittelt. »Er wollte herkommen und hier bei dir sein.«

Das reichte als Auslöser. Megan explodierte.

»Nein!«, schrie sie. »Er hat seine Arbeit, und die ist zu weit weg! Er wird schon anrufen oder eine Mail schicken, die kannst du für mich ausdrucken. Ich will überhaupt nicht, dass er kommt.« Megan verstummte, als ihr klar wurde, dass sie laut schrie, aber sie sah sich angewidert im Raum um. »Es gibt hier ja noch nicht einmal einen Computer.«

Tief einatmen, tief ausatmen. Ruhig bleiben, jetzt nicht durchdrehen.

Aber es war, als habe sie durch das Ein- und Ausatmen alle Kraft verloren, als wäre diese einfach aus ihr ausgeströmt. Nicht einmal ihre Augen wollten noch offen bleiben. Die Augen waren zu voll, die Lider zu schwer. Natürlich wünschte sie, ihr Vater wäre hier. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, dass es wehtat, aber er durfte nicht kommen. Er hatte es ihr versprechen müssen. Er hatte schwören müssen. Er durfte nichts anders machen. Er arbeitete woanders, das war normal. Er kam nach Hause, wenn er Urlaub hatte, wenn er an der Reihe war, und das war normal.

Er sollte alles so lassen, wie es war.

Nur so, nur so konnte sie gesund werden.

»Mir geht es gut«, sagte sie mit ruhiger, gefasster Stimme. »Er braucht nicht hier zu sein. Und du auch nicht.«

Eine irische Krankenschwester namens Siobhan kam herein, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Das war es nicht, nicht wirklich, aber nach einer Tasse Tee und ein bisschen mehr Hin und Her sagte Mam, sie würde jetzt vielleicht für ein paar Stunden nach Hause gehen.

»Sie können hierbleiben«, sagte Siobhan. »Es gibt hier eine Klappliege.« Sie zeigte auf ein Zusatzbett, das wie ein gebrochener Flügel an der Wand neben Megans Bett hochgeklappt war. »Manche Eltern machen das.«

Wenn ich noch klein wäre, ja, dachte Megan. Wenn ich noch ein Baby wäre.

»Morgen, Mam. Komm morgen wieder. Ich komme klar. Wirklich.«

Sie beobachtete, wie sich ihre Mutter und die Krankenschwester einen Blick zuwarfen. Schwester Siobhan schlug Mam vor, noch hierzubleiben, während sie Megan Blut abnahm.

»Sie fangen mit der Behandlung an.« Mam warf der Schwester noch einen Blick zu. »Ich sollte hierbleiben.« Megan sah sie beide an, schüttelte den Kopf.

»Na gut«, sagte Mam. »Dann gehe ich jetzt erst mal. Aber morgen früh bin ich gleich wieder da. Und du rufst auf jeden Fall an, wenn ich früher kommen soll. Egal, wie spät es ist, verstanden?«

Endlich brach Mam auf, aber ihr fiel noch etwas ein, sie wollte einfach nicht gehen.

»Warum unterhältst du dich nicht mal mit diesem Jungen? Er kennt sich bestimmt aus mit der Station und allem.«

Megan ignorierte sie hartnäckig.

»Ihr könntet Freunde werden, Schatz.«

»Ich hab schon Freunde. Mir geht’s gut.«

Mam war kaum aus der Tür, da riss Megan schon jedes einzelne Teil aus dem Schrank und drapierte alles um sich herum. Sie saß mitten drin wie ein Hamster in seinem Nest. Es waren persönliche Dinge, ihre Dinge, Briefe von Dad, Make-up, Unterwäsche. Alles. Sie wollte sie noch eine Weile um sich haben, diese kleinen Bruchstücke von zu Hause. Das Einzige, das ihr bestätigte, wer sie war.

Megan sah sich das Waschbecken an, das darüber befestigte Regal, den Mülleimer darunter, das Bett mit seinen ganzen Hebeln und Pedalen, den Fernseher, der wie an einem Stiel aus der Wand wuchs, die weiße Tafel, auf der in großen blauen Buchstaben ein Name stand. Ihr Name. Irgendwie überraschte sie das.