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Peter Dempf

Die Herrin der Wörter

Die Legenden von Phantásien

Roman

hockebooks

30. Kapitel:
Die verschwundene Bibliothek

Nicht weit hinter der Wand wartete Luz in einer kleinen Kaverne, die gerade Platz genug für sie beide bot. Von hier aus führten mindestens fünf Gänge in alle Richtungen.

»Haben sie dir Schauermärchen über mich erzählt?«, begrüßte sie der Bücherwurm und Kiray wusste nicht recht, wie sie das Glitzern in seinen Augen deuten sollte. Hatte sie doch einen Fehler begangen? Nun, jetzt war es nicht mehr zu ändern – und sie wollte auch keinen Rückzieher machen.

Sie holte ein Halstuch aus ihrer Tasche und band es sich vor den Mund. Ihr war nicht ganz geheuer bei der Sache. Sie musste etwas tun, um sich zu beruhigen. »Die G-geschöpfe Phantásiens r-reden viel, wenn der T-tag lang und die Themen dürftig sind«, sagte sie und deutete auf die Gänge. »W-wohin f-führen sie?« Neugier sei eine ihrer besseren Eigenschaften, fügte sie hinzu. Man könne nie genug fragen. Wer nicht antworten wolle, der könne schweigen.

»Überallhin. Der ganze Turm ist hohl, so hohl und leer wie das, was hier gestapelt und aufbewahrt und wieder verwendet wird. Aber was willst du von der Herrin der Wörter?«

»K-kennst du sie?« Plötzlich war Kiray noch aufgeregter als zuvor.

»Nein. Hier entlang«, murmelte der Bücherwurm und schob sich mit Eleganz und Leichtigkeit vorwärts. Kiray konnte nur die konvulsivischen Bewegungen seines Hinterteils erkennen. Sie fand das geradezu hübsch. Wenn nicht der Staubgeruch gewesen wäre, hätte sie ihre Aventiure genossen.

Hinter dem Wurm her kroch sie durch Gänge und Kavernen, durch Hallen und Spalten bis in einen Bereich des Turms, der einst zur Bibliothek gehört haben musste, aber längst aufgegeben worden war. Ihr Rücken schmerzte, als sie aus dem Tunnel in den ehemaligen Bibliotheksraum kroch. Es war ein großer Saal, mit Nischen, in denen Stapel von Papieren lagen. Auch der Boden war mit Papieren bedeckt, sodass sie so weich und lautlos wie auf Samt lief. Als sei das Feenpapier transparent, fing es das Licht der Sonne ein und leitete es nach innen weiter. Überall herrschte eine Art Morgendämmerung.

»W-wo sind wir hier?«

»Nicht weit von der Kanzel des Eremiten entfernt«, sagte der Bücherwurm und witterte. »Seit vielen Jahren ist dieser Raum vergessen.«

Kiray lief durch den Saal und betrachtete die gestapelten Blätter in den Nischen. Es schien eine Kopie des Bibliotheksraums zu sein, aus dem sie gerade gekommen waren, nur dass überall fingerdick der Staub von den Feenblättern lag.

»Hier irgendwo muss die Karte sein.« Mit zitternder Nase deutete Luz umher. Der Saal erstreckte sich offenbar gegen die Außenmauer hin, denn im von ihr abgewandten hinteren Teil des Raumes strahlte das Licht heller. Die Erregung des Bücherwurms sprang auf sie über.

»W-wo soll ich anfangen?«, fragte sie und ging, ohne eine Antwort abzuwarten, tiefer in den Raum hinein. Sie versuchte sich vorzustellen, wie dieser Raum in Vergessenheit geraten sein mochte, und entdeckte etwa auf halber Länge einen umgefallenen Papierstapel, der einen Zugang versperrte. Seit Hunderten von Jahren lag er wohl so da und verhinderte, dass man den Raum betrat – und irgendwann war der Saal wohl aus dem Gedächtnis der Bibliothekare verschwunden. Was hatte der Sammler gesagt? Ein Ort des Verschwindens seien das Kloster und seine Türme. Jetzt erst verstand sie ihn.

»W-wo soll ich beginnen?«, fragte sie nochmals. Sie erhielt keine Antwort. Als sie sich umwandte, war der Bücherwurm verschwunden.

»Luz!«, rief sie. »Luz?«

Niemand antwortete. Zuerst war sie nur überrascht, aber dann beschlich sie ein ungutes Gefühl. Ihr fielen die Warnungen ein, die der Mönch und der Sammler ausgesprochen hatten. Sie stand in einem Bibliotheksraum, mutterseelenallein, und der Wurm, der sie bis hierher gebracht hatte, war verschwunden. Sie war zu vertrauensselig gewesen. Allein würde sie nie zurückfinden. Sie konnte allerhöchstens versuchen, den verschütteten Gang freizulegen. Damit wäre sie sicherlich Tage beschäftigt, falls er nicht überhaupt nach ein paar Schritten vor einer Mauer endete. Enttäuschung und Angst machten sich in ihr breit. Sie hatte dem Bücherwurm vertraut, und er hatte sie verraten.

Doch sie musste beide Gefühle herunterschlucken, um ihrer Aufgabe willen. Entschlossen wandte sie sich den Blätterbergen zu. Alle Wände waren mit Stapeln von Feenpapier vollgestellt, nur die Stirnseite des Saales nicht. Von dort herein drang das meiste Licht. Die ganze Wand dort war frei geblieben, was Kiray wunderte. Auf gut Glück musste sie es also allein versuchen. Wo sollte sie anfangen? Entmutigt ging sie zum anderen Ende des Raumes, dorthin, wo das Licht heller schien, und setzte sich vor einen Stapel, der sie haushoch überragte. Blatt auf Blatt lag dort, durch das Gewicht zu hauchdünnen Papierchen gepresst. Allein um diesen Berg durchzusehen, würde ihr Leben nicht ausreichen.

Sie drehte den Kopf und blinzelte ins Sonnenlicht, das für einen Augenblick heller durch die Wand drang. Vielleicht spitzelte draußen gerade die Sonne durch die Wolkendecke. Im Halbdämmer der Halle genoss sie das Licht und schloss die Augen – um sie sofort wieder zu öffnen. Was war denn das? Verblüfft betrachtete sie die Wand. Ein Gewirr aus hellen und dunklen Linien konnte sie dort erkennen. Nichtssagend, anscheinend von den unterschiedlichen Stärken und Lagen des Feenpapiers gebildet. Wenn sie aber die Augen schloss und durch die gesenkten Lider gegen die Wand blickte, zeichnete sich auf der roten Lidhaut eine Landschaft ab. Darunter war ein Satz zu lesen, der ihr geläufig war: »Zwei Wesen, die in zwei Welten wohnen, wachen über das Welttor der Weisen.«

Sie hatte die Karte entdeckt! Auf das Geräusch in ihrem Rücken reagierte sie zuerst nicht. Sie wollte nicht zeigen, dass sie auch nur einen Augenblick lang an der Zuverlässigkeit des Bücherwurms gezweifelt hatte. Doch plötzlich kroch ihr eine Gänsehaut den Arm hinauf und ein eisiges Gefühl legte sich auf ihre Brust. Ihre Gedanken verdunkelten sich und ein schwarzer Schatten zog über ihr Gemüt. Ihr rechter Arm begann zu zittern.

31. Kapitel:
Der Angriff

»W-was w-willst du?«, stotterte Kiray und versuchte doch ihrer Stimme einen festen Klang zu geben. In solchen Augenblicken verwünschte sie ihren Sprachfehler und mochte ihn zugleich, denn er verbarg etwas von ihrer Angst.

Langsam drehte sie sich um. Aus dem diffusen Licht schälte sich eine Gestalt. Mitten in der Halle, als wäre er eine Statue ganz in Schwarz, stand hoch aufragend der Alp und blickte zu ihr herüber. Eine eisige Hand griff nach ihr und ihr war, als gefriere sie innerlich. Die Haut an ihren Händen zog sich zusammen und bildete kleine Kegelchen. Nervös sah sie umher, ob nicht irgendwo in einer Wand ein Wurmgang zu sehen war oder eine Tür nach draußen. Doch sie entdeckte nichts dergleichen, sie saß in der Falle.

Der Alp rührte sich nicht. Er stand einfach da und wartete und verbreitete ein Gefühl der Bedrohung und Eiseskälte, das sich wie eine dunkle Schicht auf die Wände der Halle legte. Nur seine Kapuze bewegte sich leicht. Seine kalten Augen ruhten auf ihr wie schwere Hände auf den Schultern.

»I-ich ha-habe dir nichts getan!«, fauchte Kiray endlich. Zumindest eine Antwort erwartete sie. Überraschend wehte sie seine Stimme an wie ein eisiger Windhauch. Durch die Ohren und Nasenlöcher fuhr er in sie hinein, und die Stimme des Alps erklang in ihrem Innern.

»Oft schon war ich hier und habe nach der Karte gesucht. Lange Jahre die Stapel um- und umgeschichtet. Gefunden habe ich sie nicht. Bis ich zu begreifen begann, dass es eine phantásische Karte ist, eine Karte für die Augen einer Nebelzwergin, für deine Augen, nicht für die meinen. Du wirst sie finden.« Der Alp lachte ein brüchiges Lachen. Es klang, als würde man über eine berstende Eisfläche laufen.

»I-ich d-denke nicht d-daran!« Gleichzeitig war ihr bewusst, dass sie die Karte längst gefunden hatte. Das Muster auf der Innenseite ihrer Lider, als sie die Augen geschlossen und gegen das Licht geblickt hatte, war zweifellos die Karte gewesen. Nur hatte sie leider kaum Zeit genug gehabt, sie genauer zu betrachten. »Ich habe n-noch n-nicht einmal z-zu suchen be-begonnen.« Je länger sie dem Alp gegenüberstand, desto schlimmer wurde ihr Stottern. Als verknote sich ihre Zunge in seiner Gegenwart.

Wie eine Gewitterbö fuhr der Zorn des Alps durch die Feenblätter und wirbelte sie auf. Seine Wut wurde körperlich spürbar und Kiray duckte sich unwillkürlich. »Halt mich nicht zum Narren. Du warst dazu ausersehen, die Karte zu finden. Mit mir spielt man nicht.«

»A-aus-ersehen?«

Langsam glitt der Alp auf sie zu. Je näher er kam, desto kälter wurde es Kiray. Sie schlang ihre Arme um den Körper.

»Dieser Wurm hat dir erzählt, die Aufzeichnungen Molte Gurns seien verschwunden. Hat er dir nicht auch erzählt, dass dieser Nebelzwerg, die Hölle mag ihn verschlucken, auf einer Karte den Weg zur Herrin der Wörter eingezeichnet hat? Nun, die Aufzeichnungen habe ich gelesen, aber diese verdammte Karte fehlt.«

Der Alp wollte also zur Herrin der Wörter! Genau wie sie selbst. Kiray schöpfte ein wenig Hoffnung. Dann brauchte der Alp sie womöglich, um den Weg zur Herrin der Wörter zu finden. Obwohl sich die Halle weiter verdüsterte, schien ihr die Gefahr, in der sie schwebte, mit einem Mal geringer geworden.

»Schließ die Augen«, hauchte der Alp, der jetzt nur noch wenige Meter vor ihr stand. »Schließ die Augen.«

Kiray versuchte sich zu wehren, aber es gelang ihr nicht. Zu übermächtig war der Wille des Alps. Etwas trat wie durch eine offene Pforte in sie ein. Es legte sich auf ihren Willen, schob ihn beiseite. Die Last lähmte sie. Die Bibliothek verschwamm. Sie fiel in eine Dunkelheit und glaubte, der Alp stoße sie in eine Kammer in ihrem Inneren. Aber sie wollte nicht beiseitegeschoben werden. Niemandem war es bislang gelungen, ihr seinen Willen aufzuzwingen. Nicht dem Uralten Jorg und nicht dem Ältestenrat der Nebelzwerge. Dem Alp sollte es auch nicht gelingen, diesem Huckauf, der sie niederdrückte. Heftig kämpfte sie gegen die Übermacht des Grauens, das sie erfüllte. Niemand durfte ohne ihre Erlaubnis ihr Innerstes betreten. Was aber konnte sie tun?

Einer kleinen Flamme ähnlich züngelte eine Idee in ihr hoch. Die Bibliothek war voller Blätterstaub. Mit unendlicher Mühe hob sie ihren Arm und riss sich das Tuch von Mund und Nase. Danach atmete sie tief ein. Bleierne Müdigkeit hielt sie nieder, aber der Feenstaub begann seine Wirkung zu entfalten. Wie die Leuchtkörper eines Feuerwerks schossen Namen und Begriffe durch ihr Gedächtnis: Nebelschlucht, Katzenauge, Wächter von Rok und vieles mehr. Sie kannte die allermeisten dieser Wörter nicht. Abachomen, irqueman, ladunga, mihiles, fermerren – Begriffe längst untergegangener Sprachen blitzten durch ihre innere Dunkelheit. Sie glühten Sternen ähnlich am Firmament ihres Gedankendoms und prasselten wie ein feuriger Regen auf die Last herab, die sie zu drücken versuchte. Diese wand sich unter dem Feuerregen, hob sich – und Kiray entschlüpfte. Der Druck des Alps ließ nach. Sie erhob sich, öffnete eine Pforte in ihrem Innern und fühlte, dass ihr Wille in das Haus ihres Körpers zurückströmte. Sie schöpfte neue Kraft aus den Wörtern, die sich wie Zaubersprüche anhörten: Darheime tharfuri bethurfen thurunahti. Sie stellte sich unter den Feuerregen der Begriffe wie unter einen Wasserfall und fühlte, wie er sie reinigte.

Da heulte der Alp auf und Kiray erkannte, dass er nicht mit diesem Widerstand gerechnet hatte. Sie kauerte sich zusammen und erwartete einen Schlag, einen Stoß, das Zustechen der Krallenfinger, aber nichts geschah.

Als ihre Augen die Bibliothekshalle wiedersahen, entdeckte sie den Alp, der vor ihr floh, als hätte er sich verausgabt. Vielleicht war er geschwächt durch den Angriff der Kentauren, vielleicht konnte er in den Türmen nicht seine ganze Kraft einsetzen, oder vielleicht hatte er sie nur einschüchtern wollen. Was wusste sie schon von seinen Kräften und Plänen? Ein ärgerliches Schnauben begleitete seinen Abgang. Der Alp schwebte bis zum Ende der Halle und verschwand in einem Wurmloch. Hatte sie ihn vertrieben, oder hatte er sich aus freien Stücken vertreiben lassen? Kiray jedenfalls blieb zurück. Lange starrte sie auf die Papierberge, die transparent wirkten, und glaubte dahinter eine Bibliothek zu erkennen, die zu einem Chaos übereinandergestürzter Bücher zerfallen war. Das Bild verschwamm, je länger sie es betrachtete.

Kiray wartete noch einige Zeit, um Kraft zu sammeln. Endlich hob sie das Tuch auf und band es sich wieder um. Die Magie der Wörter hatte den Alp bezwungen, davon war sie überzeugt. Weil er selbst stumm war? Das spielte jetzt keine Rolle. Sie wandte sich wieder der Lichtzeichnung zu und betrachtete die Wand genauer. Mit bloßem Auge konnte sie nichts erkennen außer wirren Linien. Aber wenn sie die Augen schloss, sah sie deutlich den Eispass vor sich, die Passstraße, dahinter das Land der Nebelzwerge und davor die Milchwasser und die Drei Zinnen. Hinter den Türmen lagen zwei weitere dunkle Punkte, die mit einem Kreuz bezeichnet, aber namenlos waren. Offenbar waren es zwei Siedlungen, klein die eine, groß und bedeutend die andere, vermutlich eine Stadt. Beide lagen sie in den Biegungen der Milchwasser, die dort längst zu einem großen Strom angeschwollen war.

Dahinter verschwamm die Karte zu undeutlichen Schlieren. Was waren das für Orte? Würde sie dort die Herrin der Wörter finden?

Plötzlich verstand sie auch, was für eine Bewandtnis es mit der Karte hatte. Nur die Illusionisten der Gurn-Familie verfügten über die Gabe des »zweiten Sehens«. Wer diese Fähigkeit besaß und durch seine geschlossenen Lider blickte, sah die Dinge vor sich klarer, als es mit offenen Augen möglich war. So hatte Molte Gurn also sichergestellt, dass nur ein Mitglied seiner eigenen Familie die Karte entdecken konnte. Allen anderen blieb sie verborgen. Wie aber war es ihm gelungen, die Karte an die Wand zu malen? Ihr legendärer Vorfahr musste noch über weitere geheimnisvolle Fertigkeiten verfügt haben, von denen sie selbst nicht einmal träumen konnte.

Abermals schloss Kiray die Augen und suchte nach weiteren Hinweisen. Da erst fiel ihr der eigenartige Verlauf der Milchwasser auf der Karte auf. So schnörkelig floss kein Gewässer. Wie Buckel wölbte sich der Flusslauf, ähnlich einer Brücke. Sie legte ihren Kopf schief und entzifferte Schriftzeichen: »Finde dein Wort«, stand da. Weiter flussabwärts fand sie den ihr bereits bekannten Spruch: »Zwei Wesen, die in zwei Welten wohnen, wachen über das Welttor der Weisen.« Dahinter stand allerdings noch ein zweiter Satz, eine Aufforderung: »Durchschreite das Tor der Weisen.«

Als sie die Augen wieder öffnete, hallte das Lachen des Alps durch den Raum. Kiray fuhr um, konnte aber niemanden entdecken. Sie hatte einen Fehler begangen. Sie hätte die Karte nicht ansehen dürfen. Darauf hatte der Alp nur gewartet. Sie verspürte brennenden Ärger darüber, dass sie sich hatte übertölpeln lassen. Und wie sollte sie die Botschaft der Karte nun deuten? Waren die beiden namenlosen Orte die nächsten Stationen ihrer Reise? Und würde sie dort die Herrin der Wörter finden – oder nur weitere Hinweise auf ihr eigentliches Ziel? Und was sollte die merkwürdige Aufforderung bedeuten: »Finde dein Wort«? Gab es das überhaupt, Wörter, die nur einem selbst gehörten?

Völker wie die Grasleute, zu denen Atréju gehörte, besaßen Jagdnamen, die nur sie selbst kannten, Totems, die ihnen Kraft verliehen und deren Entdeckung Unheil über den Träger brachte. Auch bei den Katzenwesen gab es geheime Namen, meist drei an der Zahl. Mit dem ersten Namen, der allgemein bekannt war, wurden sie außerhalb ihrer Familie gerufen. Der zweite Name, den nur ihre engsten Vertrauten kannten, wurde innerhalb der Familie oder des Freundeskreises verwendet. Den dritten Namen schließlich gaben sie sich selbst, und er blieb ihr Geheimnis, das sie mit in den Tod nahmen. Aber auch die Nebelzwerge kannten solche herausgehobenen Wörter, wie Kiray nun einfiel. Der Uralte Jorg hatte ihr ein Wort mitgegeben: Aventiure. Es sollte ihr Kraft verleihen. War es deshalb »ihr« Wort?

Und was hatte es mit der merkwürdigen Aufforderung auf sich? »Durchschreite das Tor der Weisen.« Sie musste herausfinden, wo sich das Tor der Weisen befand und wozu es diente. Hatte es mit ihrem Auftrag zu tun?

32. Kapitel:
Allein

»Schön, dass es dir gut geht«, säuselte eine Stimme in Kirays Rücken. Sie fuhr herum. Vor ihr schlängelte sich Luz aus dem staubigen Bibliotheksboden.

»V-verräter!«, zischte sie den Bücherwurm an.

Verlegen kroch Luz etwas in seine Röhre zurück. »Ganz so ist es nicht. Gut, ich wusste, dass er auf dich gewartet hat, aber ich konnte nicht anders. Seit Jahren wühlt er den Raum hier um und um und findet nichts. Ich hatte Mitleid.«

Mitleid? Da musste sie sich wohl verhört haben! Sie konnte sich nur schwer beherrschen. Aber sie brauchte Luz. Nur der Bücherwurm konnte sie aus diesem Labyrinth herauslotsen. »Sch-schwamm drüber«, sagte sie deshalb. »B-bring mich h-hier raus!« Ihr Stottern hatte sich wieder verstärkt. In ihr zitterte noch alles.

Der Bücherwurm nickte, schlüpfte aus seiner Röhre und durchquerte den ganzen Raum. Jetzt erst sah Kiray, wie lang er tatsächlich war. Ob es noch mehr von seiner Sorte gebe, fragte sie.

»In diesem Turm nur mich und meine Frau. In den beiden anderen Türmen tummeln sich ganze Familien, meine Kinder und Enkel.«

Was die Würmer den Tag über unternähmen, bohrte sie weiter, während sie durch die Röhre zurückkroch, durch die sie gekommen waren.

»Wir sorgen dafür, dass der Turm nicht zu hoch wird. Eine ehrenvolle Aufgabe.«

Weiter fiel Kiray nichts ein, was sie fragen konnte. Stumm kroch sie hinter ihm her durch die Gänge, bis sie wieder in den abgelegenen Bibliothekssaal gelangten, wo sie die Wörterköpfe zurückgelassen hatten.

»Orthin!«, rief sie. »N-nantrin!« Nichts rührte sich. »W-wo seid ihr?«

»Sie sind nicht mehr da. Du hast schließlich lange gebraucht, um den Alp niederzuzwingen. Er war ganz schön erregt. Das scheint nicht oft vorzukommen. Unsereins hat ja eigentlich ein durchsichtiges, leichtes Gemüt, das von solchen Blutsaugern wie dem Alp nach Belieben geplündert werden kann. Aber ihr Nebelzwerge seid offenbar von anderem Papier. Das sieht man euch gar nicht an.«

Ihr blieb der Mund offen stehen. Wie lange sie mit dem Alp gekämpft habe, fragte sie endlich. Für sie seien es nur wenige Minuten gewesen.

»Du hast einen ganzen Sonnenumlauf in der Halle verbracht.«

Und als wäre diese Erkenntnis erst jetzt bis in ihren Magen gelangt, begann dieser vernehmlich zu knurren. »Einen T-tag!«, murmelte sie.

Ein furchtbarer Verdacht stieg in ihr auf. Wenn sie wirklich einen ganzen Tag in der Kaverne zugebracht hatte … Hastig drehte sie sich um, bedankte sich flüchtig und begann zu laufen, so schnell sie konnte, durch den Gang, die Pulte entlang, sodass sich die Mönche nach ihr umdrehten, bis zur Pforte.

»Ö-öffnen!«, schrie sie schon von Weitem und wiederholte ihre Forderung immer lauter, weil ihrer Meinung nach der Mönch nicht schnell genug reagierte. Endlich zog er die Pforte auf und sie schlüpfte durch eine Lücke, die gerade groß genug für sie war.

Dann stand Kiray in einer Gasse, wusste jedoch nicht, wohin sie sich in diesem Labyrinth wenden sollte. Den Turm musste sie in ihrem Rücken behalten, dachte sie, dann würde sie schon herausfinden. Aber die Wege direkt unter dem Turm waren überdacht, sodass man nicht sehen konnte, ob man sich von ihm weg- oder zu ihm hinbewegte. Auch ging es in keine Richtung geradeaus, da die Gassen allesamt krumm und verwinkelt waren. Nach sieben Biegungen und drei Treppen hatte sie sich hoffnungslos verlaufen und wusste nicht mehr, in welche Richtung sie sich wenden sollte. Nur auf gut Glück lief sie weiter. Sie begegnete niemandem, den sie hätte fragen können. Schließlich beschloss sie, einen letzten Versuch zu unternehmen. Seufzend kletterte sie mehrere Leiterstufen zu einem Steg hinauf und tatsächlich konnte sie auf die Zeltstadt vor dem Turm hinabblicken, als sie die oberste Sprosse erreicht hatte.

Kiray atmete auf. Sie merkte sich die ungefähre Richtung, kletterte wieder hinunter und lief abermals los. Es dauerte noch beinahe zwei Stunden, bis sie sich aus dem Klosterlabyrinth befreit hatte. Mit glühenden Wangen und knurrendem Magen erreichte sie endlich den Stellplatz des Sammlers. Wie vom Donner gerührt blieb sie stehen und starrte auf die Lücke zwischen den Behausungen. Das Kudur hatte ein regelrechtes Loch in den Boden geweidet und selbst die harte Schicht aus Feenblattstaub abgegrast. Von Orthin aber und von seinem Karren war weit und breit nichts zu sehen.

Tränen der Wut stiegen ihr in die Augen. Er war ohne sie abgefahren, er hatte sie hier zurückgelassen! Sie musste mehrmals tief einatmen, damit sie nicht in hemmungsloses Schluchzen ausbrach. Auch der Sammler war ein Verräter. Hatte er womöglich sogar dem Alp geholfen, sie in dem ehemaligen Bibliothekssaal zu überrumpeln?

Ein Windhauch brachte sie zurück in die Gegenwart. Ein befiederter Kopf rieb sich an ihrer Wange.

»Andar«, lachte Kiray, »w-wenigstens du lässt mich nicht im Stich, o-obwohl ich so lange weg war.« Verzweiflung mischte sich in ihr Lachen.

Hinter ihr strömten weiterhin Hunderte Phantásier in Richtung Kloster. Nur mit einem halben Ohr achtete sie auf die Geräusche, auf das Gepolter, Geschrei, Geschimpfe, Husten, Hecheln, Schnaufen, das Getrappel, Geschlurf und Gestöhn, das Hopsen und Springen und Schlapfen. Währenddessen wurden ihre Gedanken von der Frage beherrscht, ob sie sich nun allein auf den Weg machen sollte. Und wohin sollte sie gehen? Die Milchwasser entlang, wie es auf der Karte eingezeichnet war? »Finde dein Wort«, hatte es dort geheißen, aber nichts darüber, wo sie es finden würde.

»Ist das Euer Falke, Blume aus dem Land hinter dem Eispass?« Kiray drehte sich um und erstarrte. Vor ihr stand, groß und herrlich anzusehen, der Kentaurenfürst. Sie musste ihren Kopf weit in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen, denn sie reichte ihm nur bis zum Knie. »Wir verfolgen ihn schon eine Weile«, fuhr er fort. »Es ist das edelste Tier, das ich je gesehen habe.«

»Spart Euch die Mühe, ich g-gebe ihn nicht her!«, fauchte sie den Kentauren an, der ihren Wutausbruch mit einem Lächeln erwiderte.

»Das hatte ich auch nicht erwartet«, sagte er in dem milden und etwas belehrend nachsichtigen Tonfall, in dem man einem Fremden die Gebräuche seines eigenen Landes erklärt. »Wenn mir der Sinn nach ihm stünde, würde ich Euch töten.«

Kiray schluckte. Das war für den heutigen Tag doch etwas zu viel. »D-droht Ihr mir?«

Jetzt musste der Kentaur doch lachen. Offenkundig amüsiert tänzelte er vor ihr auf und ab und hielt sich den Bauch. Sein schneeweißes Fell glänzte seidig in den letzten Strahlen der Sonne, die sich anschickte unterzugehen. »Seid mir nicht böse, aber Ihr klingt, als hättet Ihr mir soeben den Krieg erklärt.«

»W-wir«, ergänzte Kiray. »Wir. Mein N-nebelfalke und ich!«

»Dann nehmt meine sofortige Kapitulation entgegen, denn nichts liegt mir ferner, als Euch den Falken zu entwenden. Er entstammt einer seltenen Rasse dieses Gebirges. Von edlem Wuchs und einer übellaunigen Art gegenüber seinen Feinden, wie ich sehe. Aber er ist ein Geschöpf der Berge. Diese Geschöpfe gelten uns als heilig. Ihr habt nichts zu befürchten.«

Kiray beruhigte sich etwas. Sie fühlte, wie ihr die Hitze langsam aus dem Gesicht wich. »Was wollt Ihr d-dann von mir? Umsonst sprecht Ihr mich d-doch nicht an.«

»Ihr seid mit diesem – Wörterfledderer gekommen? Diesem Orthin?«

In den Augen des Kentauren las sie Misstrauen. Die Sonne wurde durch seinen breiten Rücken verdeckt. Wie ein Strahlenkranz schimmerten das weiße Fell und die schulterlangen hellen Haare. In der ihn umgebenden Hektik des Kommens und Gehens wirkte er wie eine gemeißelte Statue. Nur mit den Vorderhufen tänzelte er noch immer schwach und zeigte so, dass er lebte.

»W-was interessiert es Euch?«, entgegnete Kiray, schon etwas sicherer. Sie bemerkte, dass ihr Stottern wieder nachgelassen hatte. Vor ihren Augen stampften die beiden Vorderhufe unruhig hin und her. Ihr war es unangenehm, ständig den Kopf in den Nacken legen zu müssen.

»Wie ich sehe, hat er sich aus dem Staub gemacht.«

Nein, antwortete sie keck, sicher warte er auf sie. Am Rande der Zeltstadt. Schließlich hätten sie eine Abmachung. Noch habe sie keine Zeit gefunden, ihm nachzugehen, werde ihn aber finden – ohne fremde Hilfe.

Der Kentaur sah sie scharf an. Dann wurde sein Gesichtsausdruck milder. »Abmachungen in dieser Zeit sind die Wörter nicht wert, mit denen sie getroffen wurden. Nennt mich Hylaios. Vor Euch steht der Sohn des Asbolos und der Prokis, Fürst der Hochlandkentauren, Abgesandter des Petraios von Meleagron.« Er scharrte mit dem rechten Vorderhuf und deutete eine Verbeugung an. »Ich bin mit den besten Bogenschützen meines Volkes unterwegs, um Rat und Hilfe zu suchen.«

Fragend sah Kiray zu Hylaios hoch, dessen schmal geschnittenes Gesicht edel wirkte und keineswegs hochmütig oder falsch. Auch die sehnigen Arme und die Muskeln, die um Bauch und Schultern spielten, beeindruckten sie. Wäre nicht diese rossische Vierbeinigkeit gewesen, sie hätte sich in ihn verlieben können.

»Kiray, N-nebelzwergin, Enkelin d-des Uralten Jorg …«

»… und damit Nachfahrin des Molte Gurn!«, ergänzte Hylaios.

Sie hasste es, wenn andere ihre Sätze beendeten. Der Kentaur aber hatte nur gesagt, was sie selbst hatte anführen wollen. Zögernd trat sie einen Schritt zurück, denn Hylaios hatte sich aus der Sonne bewegt, die ihr nun mitten ins Gesicht schien und sie blendete. »W-woher wisst Ihr das?«

Wiehernd lachte der Kentaur. Er setzte zwei Schritte zurück und verdeckte wieder die Sonne, sodass Kiray nicht mehr blinzeln musste. Licht und Schatten spielten mit den Muskeln unter seinem seidigen Fell. »Solche Dinge sprechen sich herum. Die Mönche scheinen zwar stumm, aber in Wirklichkeit plaudern sie gerne. Schließlich lebt dieses Kloster von den Wörtern, mit denen es um sich wirft. Leere Wörter allerdings für verständige Geschöpfe. Zu sehr ist hier das Wort zum Geschäft verkommen. Wenn wirklich wichtige Neuigkeiten auftauchen, dann rauscht es wie Wind in den Blättern der Bäume. Die Wörter gewinnen regelrecht Flügel – für den, der hören kann, liegt ihr Flatterklang in der Luft.«

Das möge ja alles so sein, entgegnete Kiray, die ein ungutes Gefühl nicht abstreifen konnte, es erkläre jedoch nicht, was er als Fürst der Kentauren von ihr wolle.

»Euch begleiten.«

Verblüfft sah Kiray dem Kentauren ins Gesicht. Dabei musste sie den Kopf so weit in den Nacken legen, dass es sie schmerzte. »M-mich begleiten? Wohin?«

»Auf Eurer Suche.« Der Kentaur stieg mit den Vorderbeinen bedrohlich in die Höhe. »Auch wir suchen nach einer Möglichkeit, die Dinge zu ändern, die geschehen, seit das Nichts um sich greift.«

»Macht Euch zum Elfenbeinturm auf«, erwiderte Kiray.

Hylaios schüttelte sein weißliches Haar und scharrte mit den Hufen. Resignation lag in dieser Geste, als hätte ein hoffnungsvoller Versuch Rückschläge erlitten. »Nein. Seit Cháiron zurück ist, der große Heiler, wissen wir, dass selbst die Kindliche Kaiserin ratlos ist. Als unsere einzige Hoffnung bleibt – die Herrin der Wörter.«

»W-woher wisst Ihr …?«

Wieder fiel er ihr ins Wort, aber sein spöttisches Lächeln verhinderte, dass sie mit dem Fuß aufstampfte und sich diese Unterbrechungen verbat. »… dass Ihr auf dem Weg zur Herrin seid? Ihr wart mit einem Wörterkopf unterwegs, Kiray aus der Familie der Gurn. Diese Geschöpfe verkaufen die Erinnerungen anderer phantásischer Wesen. Dafür erhalten sie etwas Geselligkeit. Sie sind wie Aasgeier, immer auf der Suche nach sterbenden Sprachen, maroden Wörtern, faulenden Begriffen. Ihre einzige Möglichkeit, Gesellschaft zu finden, sind die Abende, an denen sie ihre gefledderten Wörter, mit denen sich das Feenpapier vollgesaugt hat, weitergeben. Noch interessanter ist es, wenn sie von tatsächlichen Erlebnissen berichten. Geschichten sind unser Lebenselixier. Eure Geschichte galt allen als die spannendste.« Hylaios beugte sich so weit zu ihr hinunter, dass sie befürchtete, seine Hinterbeine könnten sich in die Luft erheben. »Außerdem haben wir einen gemeinsamen Feind: den Alp. Da sich Orthin, der Wörterkopf, verabschiedet hat …«

»D-diesen gemeinsamen Feind k-kenne ich nicht«, log Kiray und sah Hylaios ernst an. »W-woher wollt Ihr wissen, d-dass sich der Sammler aus dem Staub gemacht hat? Er hat mir s-sein Wort gegeben.«

Der Kentaur winkte Kiray, sie solle ihm die Hand reichen. Ehe sie sich versah, saß sie auf Hylaios’ Rücken und sie trabten davon. »Sein Wort gegeben. Was ist das Wort eines Wesens wert, das keine eigenen Wörter kennt und sie sich von anderen holen muss?« Hylaios sah sie über die Schulter an. Ein Schatten lag auf seinem Gesicht, den Kiray nicht deuten konnte. »Noch in der Nacht ist er mit seinem Wagen und dem Kudur abgezogen. Eine kleine Strecke haben meine Freunde ihn verfolgt, dann ließen sie ihn ziehen. Wohin er gefahren ist, wissen wir also nicht, denn sie verließen ihn vor der Großen Kreuzung hinter den Türmen. Vom Alp wissen wir, weil uns der Bücherwurm verständigt hat – Luz, den Ihr ja kennengelernt habt. Seit Jahren steht er in unseren Diensten.« Ein tiefes Lachen rollte in seiner Brust, als freue ihn die Verblüffung, die sich in Kirays Mienenspiel abzeichnete.

»W-wohin …?«

»Zu unserem Lager, Kiray aus dem Hause Gurn.«

Jetzt platzte ihr der Kragen. »Bevor wir weitersprechen«, herrschte sie ihn an, »will i-ich eines klarstellen. Selbst wenn i-ich nicht flüssig spreche, will ich ausreden und nicht ständig u-unterbrochen werden. Das müsst Ihr Euch merken, ein für alle Mal, o-ob Hochlandkentaur oder nicht.«

Sie bemerkte, dass ihre kurze, wenn auch holprige Rede Eindruck auf Hylaios gemacht hatte.

»Ihr sprecht sehr gut, besser als früher. Woher kommt das?«

Stolz saß sie auf dem Rücken des Halbpferdes. Das Lob tat ihr gut, obwohl es sie auch erstaunte. Woher wusste der Kentaur, dass sie früher schlechter gesprochen hatte? Aber es gelang ihr nicht, lange darüber nachzudenken. Sie bemerkte, dass die Phantásier ihre Köpfe hoben, wenn sie beide vorüberritten. Was hatte der Sammler durch seine Erzählung nur angestellt? Außerdem schien es ungewöhnlich zu sein, dass ein Kentaur geritten wurde.

Als sie das Lager der Kentauren erreichten, starrten die Kämpfer ihren Führer mit offenen Mündern an.

»Das hier ist Kiray, Nebelzwergin aus dem Hause der Gurn!« Mehr brauchte er nicht zu sagen. Sofort senkten sich die Oberkörper der Kentauren und die Vorderhufe scharrten demütig auf dem steinharten Boden. So mussten in alter Zeit die Königinnen begrüßt worden sein, dachte Kiray, die nicht wusste, wie ihr geschah. »Wir brechen auf. Kiray aus dem Hause Gurn wird uns begleiten.«

»A-aber …«, wollte Kiray einwenden, doch Hylaios bat, sie ein letztes Mal unterbrechen zu dürfen.

»Wenn die Geschöpfe hier begriffen haben, wen sie in ihren Reihen haben, und die Ehrfurcht der Neugier gewichen ist, seid Ihr an diesem Ort nicht mehr sicher. Sie werden Euch zerreißen, um von Euch Hilfe zu erhalten. Vor allem, da Ihr wisst, wohin wir uns bei unserer Suche wenden müssen.«

Tatsächlich warfen ihr die vorübergehenden Phantásier merkwürdige Blicke zu. Kiray wurde bewusst, dass an der Lagerstraße der Kentauren mehr Betrieb herrschte als in den anderen Gassen, die sie vom Rücken Hylaios’ aus überblicken konnte. Das Angebot kam trotzdem überraschend.

»W-wollt Ihr mich entführen?«, fragte sie forsch.

Aus den Augen der Zaungäste leuchtete schiere Begehrlichkeit. Man hatte sie entdeckt. Ein Geraune ging durch die Gassen. Die Kentauren hielten plötzlich ihre Bogen schussbereit gespannt, die roten Pfeile auf den Sehnen. Niemand wagte es, den Kentauren entgegenzutreten. Ein Stein flog aus dem Hinterhalt in ihre Richtung und streifte Hylaios, der zusammenzuckte.

»Die Angst vor dem Untergang ist größer als die Angst vor dem schnellen Tod. Ich glaube, Ihr habt keine Wahl mehr«, sagte er.

Die Wartenden starrten sie finster an, während Kiray auf Hylaios’ Rücken sitzen blieb, Andar auf ihrer Schulter. Die Bogen im Anschlag, drängten sich die Kentauren durch die Gassen. Die Menge um sie wurde lichter. Langsam verstummten das Gesumm der Gespräche und der Lärm der Tiere, und die scharfen Gerüche verflogen. Bald herrschten wieder die würzigen Grasdüfte und der helle Geruch der nahen Milchwasser vor sowie die herben Düfte der Felsen. Vor ihnen lag die leere Straße.

Kiray blickte zurück zu den im letzten Licht leuchtenden Drei Zinnen. Während die Basis der Türme bereits in das Schwarz der hereinbrechenden Nacht gehüllt war, glänzten die Spitzen blutrot. Das Kloster wirkte gefährlich. Für sie wäre es unmöglich gewesen, länger dort zu bleiben. Dennoch beschlich sie ein ungutes Gefühl. Hatte sie ausgerechnet mit den Kentauren reisen müssen?

»Auf zur nächsten Aventiure«, flüsterte sie mehr zu sich selber. Ihre Stimme klang heiser.

33. Kapitel:
Auf dem Rücken des Kentauren

Nicht lange nach ihrem Aufbruch erreichten sie eine Wegscheide. Zwei Hauptstraßen kreuzten hier und führten in alle vier Himmelsrichtungen.

»Jetzt ist es Euer Werk, Kiray aus dem Hause Gurn. Die Wege scheiden sich, wohin sollen wir uns wenden?«, fragte der Kentaurenfürst. »Wenn Ihr die Karte kennt, führt uns zur Herrin der Wörter.«

Das war leichter gesagt als getan. Langsam senkte sich eine rabenschwarze Nacht über das Land.

»W-wir müssen d-die Milchwasser entlang«, bestimmte Kiray und schon setzten sich die Kentauren wieder in Bewegung. Unregelmäßig schlugen die Hufe ihren Takt. Der Fluss bog unterhalb der Drei Zinnen nach Osten ab und führte den Hauptkamm des Grollgebirges entlang, bis er nach Süden abgelenkt wurde, durch das Schlaumassiv brach und hinaus auf eine riesige Ebene floss.

Hylaios erzählte ihr das, während sie die Straße entlangritten, zügig, aber nicht allzu schnell. Auf seinem Rücken saß es sich angenehm, obwohl er eigentlich zu breit für sie war. Wie bei ihrer ersten Begegnung ritt Hylaios in der Mitte, während seine sechs Begleiter die Flanken schützten. Ihre Wimpel und Decken flatterten im Wind. In den Spitzen der langen Bogen spiegelte sich die Abendsonne.

Mit einem Ruf, der sie zusammenfahren ließ, erhob sich Andar in die Luft. Sie sah ihm nach, wie er in der niedergehenden Sonne verschwand. Sein Flug war schneller als der jedes Pfeils. Tagsüber würde er sie wieder einholen.

Was hatte sie bei den Drei Zinnen gelernt? Dass das Wort eines Freundes nichts galt. Dass es heiße Luft war, Rauch, der sich im Wind verflüchtigte.

»W-warum hat sich d-der Sammler aus dem Staub gemacht?« Kiray fragte, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten.

»Vielleicht wollte er selbst nach der Herrin suchen. Wörterköpfe sind seltsame Geschöpfe. Sie jagen die Wörter nicht nur für sich, sondern handeln damit. Vielleicht wollte er Euch einfach loswerden, damit er den Gewinn nicht zu teilen brauchte. Oder er betreibt Geschäfte, die nicht für Euer Auge bestimmt sind.«

Stumm saß Kiray auf dem Rücken des Kentauren und besah sich die Nacht. Irgendwo dort draußen rasselte der Karren einem Ziel entgegen, das Orthin ihr schon bei ihrer ersten Begegnung nicht hatte nennen wollen. Sie erinnerte sich an seine volle Tasche in Putts Gasthaus. Ohne Zweifel betrieb Orthin heimliche Geschäfte, von denen niemand etwas wissen durfte. Hing es mit den Eigenschaften des Feenpapiers zusammen? Sie selbst hatte mithilfe des Staubs der Feenblätter den Alp vertreiben können. War es womöglich das?

Mit raumgreifenden Schritten zogen die Kentauren über die Straße. Sie trabten so elegant, dass Kiray die Unebenheiten des Weges kaum zu spüren bekam. Erst weit nach Mitternacht legten sie eine Pause ein. Kiray stieg ab, aß einen Bissen aus dem Brotsack, den Hylaios umhängen hatte, wickelte sich in ihren Mantel und schlief beinahe sofort ein.

Sie erwachte, weil ein eisiger Hauch sie berührte. Starr lag sie da und spürte eine Kälte, die nicht von der Kühle der Nacht stammte. Vorsichtig hob sie den Kopf. Der Horizont stand in Flammen. Blutrot leuchtete es von den Flanken des Schlaumassivs herüber. Die Kentauren blickten alle zu den Bergen hin. Kiray überlegte, was dieses Schauspiel verursachen könnte, doch dann versteifte sich ihr ganzer Körper. Vor dem rot leuchtenden Hintergrund erkannte sie einen Kentauren, vermutlich Hylaios, denn ihn sah sie in der Gruppe der Halbpferde nicht. Er unterhielt sich mit einem Schatten, dessen Kälte sie bis hierher fühlte, dem Alp.

Eisig lief es ihr über den Rücken. Ihre rechte Hand zitterte. Jetzt wusste sie, dass es ein Fehler gewesen war, sich den Reiterkriegern anzuschließen. Alles war verloren, der Weg zur Herrin der Wörter verraten. Während sie die beiden beobachtete, schien es ihr mit einem Mal, dass sie sich zu ihr umdrehten. Rasch schloss sie die Augen und kauerte sich in ihre Bodenmulde. Dann vernahm sie Hufschlag. Hylaios kehrte zurück.

Als ein Huf sie sanft berührte, schrak sie auf und öffnete die Augen. Direkt über ihr stand Hylaios. In der Sprache der Hochlandkentauren, die kehlig und rau klang, unterhielten sich er und seine Gefährten. Kiray, die keine Schwierigkeiten hatte, die Kentauren zu verstehen, bemerkte, dass jetzt alle ihre Bogen in der Hand hielten, mit aufgelegten Pfeilen.

»Die Reiter sind zu früh!«, murrten die Mitglieder der Garde.

»Der Alp hat sie in Bewegung gesetzt!«, beruhigte Hylaios seine Gefährten. »Er weiß, was er tut.«

Kiray wusste jetzt, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Hylaios glaubte vermutlich, dass sie seinen Dialekt nicht verstehen konnte. Nebelzwerge beherrschten eine Vielzahl der Sprachen Phantásiens, wenn auch nicht alle. Aber das schien Hylaios nicht zu wissen.

»W-was ist das?«, fragte sie beim Aufstehen und stieß mit dem Kopf gegen den Bauch Hylaios’, der erschrocken zur Seite trat.

Niemand antwortete ihr. Endlich sagte Hylaios ein Wort, das ihr erneut das Blut in den Adern stocken ließ: »Feuerreiter!«

Sie kroch unter seinem Bauch hervor und blickte in die Richtung, in die alle Kentauren starrten. Am Gebirgsrand entlang zog sich ein rotes Band, das unregelmäßig zerfaserte und auf und ab wogte. Vom Alp war nichts mehr zu sehen.

»Der Wurm der Feuerreiter. Tausende sind es. Sie kommen von den Höhen des Grollgebirges herunter. Was Ihr seht, sind Fackeln, die sie mit sich führen. Auf ihrem Weg brennen sie nieder, was ihnen in den Weg tritt. Eine Plage. Lange schon. Aber so zahlreich waren sie noch nie. Sie ziehen den Gebirgsstock entlang, auf der Suche nach Beute. Die Drei Zinnen dürften noch eine Weile vor ihnen verschont bleiben.«

Von den Feuerreitern hatte Kiray bereits gehört. Geschichten ihrer Überfälle durchzogen die Überlieferungen halb Phantásiens. Gesehen hatte sie einen Feuerwurm noch nie. Er wirkte Furcht einflößend, wie er sich das Massiv entlangschlängelte. Im Augenblick zog er von ihnen weg, aber die Reiter waren unberechenbar und legten auf ihren Pferden in mörderischen Ritten gewaltige Strecken zurück, sodass niemand sagen konnte, wo sie als Nächstes auftauchen und Verheerungen anrichten würden.

Wie gebannt starrten sie alle auf das blutrote Band unter dem vollen Mond. Als Kiray zu Hylaios hochsah, glaubte sie in seinen Gesichtszügen ein verstecktes Lächeln zu entdecken. Als er sich zu ihr herabbeugte, verschwand diese Freude sofort aus seiner Miene. Sie blickte ihm in die Augen, die ihr plötzlich falsch und verschlagen zu leuchten schienen. Was hatte der Kentaur mit dem Alp zu tun?

»W-was tun wir dagegen?«

»Nichts«, antwortete Hylaios und hob sie auf seinen Rücken, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, »aber wir reiten weiter, um in den Schutz der nächsten Befestigung zu gelangen. Man weiß nie.«

»Wie heißt d-die nächstgelegene Burg?«

»Es ist keine Burg, sondern nur eine kleine Stadt. Eigentlich ist es eine Universität.« Den letzten Satz sprach er voller Verachtung aus. »Ein Ort des Wortes.« Er wieherte, als wäre ihm eben ein Witz eingefallen. Kiray sah ihn verwundert an. Einen solchen Gefühlsausbruch hatte sie bei ihm noch nicht erlebt. Hier sprach offenbar der Krieger aus Hylaios. »Sie bietet im Augenblick die einzige sichere Unterkunft.«

34. Kapitel:
Der Friedensstifter

Solange der Mond schien, ging es im gestreckten Galopp weiter die Milchwasser entlang. Im Dunkel huschte und kreischte es. Die scheinbar leere Landschaft lebte. Büsche und Bäume flogen an Kiray vorüber, getaucht in silbriges Licht. Erst als der Mond unterging, fielen die Kentauren in einen leichten Trab, bei dem man sich wieder unterhalten konnte. Die ganze Zeit überlegte sie, was Hylaios wohl mit dem Alp besprochen und warum der sie diesmal in Ruhe gelassen hatte.

»Was t-treibt Euch aus den Bergen ins Tal, Hylaios?« Sie musste mehr über die Kentauren erfahren. Geschichten waren dafür das geeignete Mittel.

Hylaios drehte sich zu ihr um und sah sie prüfend an. »Ich glaube, Ihr habt ein Recht, das zu erfahren«, sagte er. »Einst, in den Zeiten der großen Könige, als das Böse weite Teile Phantásiens beherrschte, haben wir Kentauren die Marken bewacht. Diese Zeit ist längst hinter den Horizont gesunken. All das Land, das wir durchreiten, gehörte einmal mächtigen Herrschern, deren Namen vergessen und deren Lieder längst verweht sind. Ein Name aber hat sich erhalten, der Name des Geschlechts, das sich am ungebärdigsten verhielt und nach dem dieses Gebirge heißt: die Grollherrscher. Gewaltige Streitkräfte konnten die Grolle aufbieten: Steinschleuderer, die so groß waren, dass sie die Milchwasser mit einem Schritt überqueren konnten, ohne sich die Füße nass zu machen. Drachenreiter, die auf geflügelten Drachen dahinritten und jeden Feind niederbrannten, der ihnen in die Quere kam. Kentauren, die mit ihren Bogen nie ein Ziel verfehlten, und Zwergenkrieger mit ihren gefährlichen Doppeläxten. Nur die Kindliche Kaiserin fürchteten sie, niemanden sonst.

Ihre Aufgabe war es, das Land vor den Pendlern zu schützen, die aus den dunklen Landstrichen jenseits der Marken nach Phantásien einsickerten und es unruhig und unsicher machten: Werwölfe, Vampire und was sonst noch Phantásiens Ruhe stört.

Aber wie es so ist mit der Macht und der Kraft der Wörter: Sie ließen sich überreden und glaubten den Beteuerungen und Versprechungen eines Pendlers, der ihnen den Wunsch ins Ohr blies, Phantásien zu beherrschen. Das Herrschergeschlecht der Grolle meinte mithilfe dieses Pendlers mächtig genug zu sein, um gegen die Kindliche Kaiserin zu Felde zu ziehen und die Macht in Phantásien an sich zu reißen. Obwohl der Rat der Kentauren sich dagegen sträubte, unternahmen die Grollherrscher einen Feldzug gegen den Elfenbeinturm.

Wir Kentauren aber trennten uns deshalb von unseren Herren und flohen. Ein ganzes Volk verließ seine Heimat und zog davon. Doch die Grolle brauchten die sicheren Pfeilschützen und setzten meinem Volk nach, sodass wir in immer größere Höhen des Gebirges flüchten mussten. Natürlich wehrten wir uns, aber die Steinwerfer und die Zwerge richteten ein fürchterliches Blutbad unter uns an. Niemals davor und niemals danach ist so viel Kentaurenblut vergossen worden. Man zwang uns, das Banner der Grolle zu nehmen, und wir mussten erneut Gehorsam schwören. Wir gaben unser Wort, und das Wort ist uns heilig. Unser Eid hieß Treue. Also zogen auch wir gegen die Kindliche Kaiserin in den Krieg.«

Kiray hörte fasziniert zu. Von den Grollkriegen erzählten auch die Geschichten der Nebelzwerge. »Ist es n-nicht eigenartig«, warf sie ein, »dass d-das Wort solche Bedeutung erlangt? E-ein Schwur ist nichts weiter als d-die Luft, die unseren Lungen entströmt u-und im Mund zu einer Folge von Tönen geformt wird.«

»Ihr habt recht, Kiray«, antwortete Hylaios mit bedauerndem Unterton. »Wörter sind es, nichts weiter – und doch so viel mehr. Bindend und zwingend sind diese Wörter. Ihnen wohnt eine geheime Kraft inne, die uns fesselt. Sie unterwerfen uns einem fremden Willen. Sie schaffen eherne Gesetze, die über Generationen fortwirken und niemanden aus ihrem Bann entlassen, und nur die Stärksten von uns sind in der Lage, sich ihnen zu widersetzen, oft um den Preis ihres Lebens.«

Kiray hörte eine Art Seufzer, als gelte das eherne Gesetz, das den Kentauren abgezwungen worden war, bis heute. Hylaios verstummte für einige Augenblicke, sodass nur das Trommeln der Hufe zu hören war. Sie war sich sicher, dass auch die anderen Kentauren der Stimme ihres Führers gelauscht hatten, denn auch sie vermieden jegliches Gespräch, während sie sich sonst in kurzen Abständen Warn- oder Sicherungslaute zuriefen.

Eine Frage beschäftigte Kiray, doch sie wagte nicht, die Stille des Nachdenkens zu stören. Welcher Pendler hatte die Grolle zum Krieg überredet? Zwar ahnte sie die Antwort, hoffte aber, dass sie sich irrte.

»Die Kindliche Kaiserin führte einen eigenartigen Krieg gegen die Grollherrscher«, erzählte Hylaios schließlich weiter. »Nie stellte sie ein Heer auf, nie kam es zu einer Schlacht. Der Berater der Grolle drängte zum Kampf. Es war der Pendler, dieses Scheusal, der die Grolle zu immer wilderen Taten aufstachelte, sie brandschatzen und rauben ließ – und sie in den Untergang trieb. Er wusste Dinge über Phantásien und die Kindliche Kaiserin, die einen Sieg wahrscheinlich machten. Pendler werden alt, älter als wir Phantásier, und kommen aus Zeiten vor jeglicher Geschichte. Das Heer der Grolle machte das Land dem Erdboden gleich, saugte es aus, verwüstete es, zerstörte Ernten und vertrieb die Bewohner. Sie gebärdeten sich wie die Feuerreiter, nur um vieles schlimmer.

In diesen dunklen und verwirrenden Zeiten tauchte im Lager der Kentauren ein Wesen auf, das so unbekümmert die Wachen überlaufen hatte, dass wir zuerst glaubten, einen Pendler vor uns zu haben. Doch es war ein Nebelzwerg. Ihm war der Aufstand der Grollherrscher zu Ohren gekommen. Er erzählte überall, er werde die Heldenlieder dichten, die von den Grollkriegen handelten. Seiner Stimme konnte sich niemand entziehen, nicht der Führer der Kentauren, Kleobis, und nicht der Herrscher, der in dieser Zeit das Heer führte, Klyte Groll.

Das Erstaunlichste war, dass der Nebelzwerg mit seinen Liedern und Gesängen die Herzen der Aufständischen zu beruhigen vermochte. Sanft und bestimmt waren seine Worte, schmeichlerisch und fordernd.« Hylaios drehte sich zu Kiray um. In seinen Augen funkelten die Sterne, die das Land in einen bläulichen Schimmer tauchten. »Ihr kennt seinen Namen. Molte Gurn hieß der Nebelzwerg. Ihm gelang, was niemandem vor ihm geglückt war: Molte Gurn, der Wortmächtige, schuf Frieden und sich selbst ein Denkmal in unseren Überlieferungen. Der Krieg verlief sich. Der Pendler verlor seine Macht und musste sich zurückziehen. Molte Gurn verbreitete, dass das Wort den Sieg gegen die Kälte der Stille davongetragen habe. Seither treibt der Pendler die Feuerreiter über die dunklen Grenzen.«

Kiray schwieg. Als Nebelzwergin hatte sie ein gutes Gefühl für Geschichten, und hier passten die Wörter nicht zum Erzählten. Irgendwo im Gefüge der Sage hatte Hylaios die Unwahrheit gesagt – oder zumindest nicht die gesamte Wahrheit.

35. Kapitel:
Die Stadt der Denker

Der Kentaur blieb stehen und deutete auf die aufgehende Sonne, die ein erstes Grau über den Horizont schickte und eine kleine Stadt aus der Schwärze der Nacht entließ.

»W-was ist das für eine Stadt?«

Als wolle er ihre düsteren Gedanken vertreiben, hellte sich der Horizont auf, und erste Sonnenstrahlen fingerten übers Land. Vor ihnen lag ein Hügel, dessen Fuß die Milchwasser mit einem silbernen Band umschlang und auf dessen Kuppe sich ein Mauerring zeigte, über den keinerlei Türme oder Gebäude hinausragten. Nur die Wehrmauer mit ihren Zinnen war zu sehen.

Kiray strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht, die ein Seitenwind ihr über die Augen geweht hatte.

»Sie hat viele Namen, allein deshalb, weil sich Bewohner und Umland nicht auf einen einzigen haben verständigen können. Die Bewohner nennen sie Municipium Cerebri, was so viel heißt wie Hirnort, die anderen Urbs Ululatus – Geheulstadt – oder Orbis Fabulae: Stadt der Geschichten, wenn man es nett meint, und Stadt des Geschwätzes, wenn man ihr nicht wohl gesonnen ist. Je nachdem, ob ein Gelehrter oder ein Krieger von ihr spricht.«

Die meisten dieser Namen seien nicht sehr freundlich, sagte Kiray, die erwartungsvoll dem Mauerring entgegensah.

»Man urteilt von außerhalb der Mauer immer voreingenommen. Für uns ist es eine Zuflucht. Wer die Feuerreiter sieht, hat sie am Hals, heißt ein Sprichwort. Und ich hoffe nicht, dass es sich bewahrheitet. Wir jedenfalls müssen ausruhen, weil wir die Nacht hindurch geritten sind.«

Hylaios hatte zweifellos recht. Sein Fell war nassgeschwitzt. Kiray dagegen fühlte sich nicht müde. Seit sie die Begegnung des Kentauren mit dem Alp beobachtet hatte, sehnte sie sich danach, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Außerdem verspürte sie einen nagenden Hunger.

»Tor der Weisen«