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Daniel Mosmann

Daniel Mosmann wurde 1971 geboren und wuchs in Schiltach im Schwarzwald auf. Als junger Erwachsener widmete er sich zunächst der Malerei. Nach einer technischen Ausbildung und einer perspektivlos-nihilistischen Persönlichkeitsphase wuchs sein Interesse am Schreiben. Er begann mit der Arbeit an eigenen Geschichten. 2008 erschien sein erstes Buch „Von Kastanien und Knochen“.

Heute lebt Daniel Mosmann mit seiner Familie im Schwarzwald und leitet eine arbeitstherapeutische Werkstatt für psychisch- und suchtkranke Menschen. Er liebt Familienurlaube im Wohnmobil und Wanderungen zu Natursehenswürdigkeiten. Nicht zuletzt inspirierten ihn diese Reisen zu mancher düster-morbiden Erzählung.

2015 erscheint sein neuer Kurzgeschichtenband „Auf Pilgerfahrt mit Gevatter Tod“ bei Periplaneta in der Edition Subkultur.


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Das sonderbare Begräbnis des William M. Roth

Wir schreiben heute den 27.4.2005. Es ist drei Uhr nachmittags. Zwei Arbeiter der Stadtverwaltung, die bei zunehmendem Nieselregen an einem Grab beschäftigt sind, sehen ihrem wohlverdienten Feierabend entgegen. Auf dem Grabstein, der das Familiengrab ziert, ist der eingemeißelte Name William M. Roth zu lesen – in Bälde soll ein zweiter Name hinzugefügt werden, nämlich der seiner Frau Maria, die vor drei Tagen verstarb und nun ihrem Mann zur Seite gelegt werden soll. Die Männer heben zur Stunde, mit Hilfe eines röhrenden Kleinbaggers, ihr Grab aus; sie tun dies – Kundigen wird dies seltsam erscheinen – auf der rechten Seite des Familiengrabes.

Etwas ungewöhnlich, um nicht zu sagen suspekt, erscheint es, dass der baggerführende Arbeiter plötzlich den Arm des Baggers aus dem Loch herausfahren lässt, den Motor seines Gefährtes abstellt und hastig aus der Bedienerkabine steigt. In einer der Örtlichkeit ungebührenden Lautstärke ruft er seinen Kollegen heran, beide finden sich am Grabesrand ein und starren in das Loch – ein ungläubiger Ausdruck liegt dabei auf ihren Gesichtern. Einer der beiden kramt schließlich sein Mobiltelefon aus der Jackentasche und tippt hektisch eine Nummer ein. Das Telefonat ist kurz, dennoch fällt die erneut unpassende Lautstärke auf. Der Arbeiter steckt das Handy wieder ein, tauscht sich mit dem Kollegen aus und beide schütteln den Kopf. Dann treten sie zur Seite und warten.

Nur wenige Minuten später kommt ein Mann in einem edlen Anzug zügigen Schrittes auf den Friedhof; sein Gesicht ist rot, der Atem geht schnell, der Krawattenknoten ist wie immer leicht geöffnet – er ist hier seit vielen Jahren der Bürgermeister.

Die Arbeiter drücken ihre Zigaretten aus, als sie ihn erblicken, und alle zusammen positionieren sich sogleich über dem ausgehobenen Loch auf der besagten rechten Seite des Familiengrabes Roth. Ihre Blicke sind von Ratlosigkeit und einer Spur Entsetzen gezeichnet, während sie lautstark diskutieren und mit ihren Händen immer wieder mal auf die rechte, mal auf die linke Seite des Grabes deuten.

Nach einigen weiteren Telefonaten gibt der Bürgermeister den beiden Arbeitern eine Anweisung, dann verschwindet er wieder vom Friedhofsgelände – dabei späht er oftmals mit unsicherem Blick zu den Seiten und manchmal auch nach hinten, so als fühle er sich beobachtet. Das zuvor offenstehende Tor des Friedhofs zieht er sorgsam zu, als ob er dadurch vermeiden möchte, dass ihm etwas folgt, das besser innerhalb der Friedhofsmauern verbleiben sollte.

Die beiden Arbeiter, die nun das auf der rechten Grabesseite ausgehobene Loch wieder zuschütten und darauf folgend – mittlerweile unter lukrativem Überstundenzuschlag – ein ebensolches auf der linken Seite des Familiengrabes ausheben, verhalten sich ebenfalls denkbar merkwürdig. Sie arbeiten jetzt wesentlich schneller als zuvor, blicken oftmals verstohlen um sich und unterhalten sich nur noch in vorsichtig-leisem Flüsterton, beinahe so, als könne sie sonst möglicherweise jemand hören, obwohl doch offensichtlich keine weitere Person auf dem Friedhof anwesend ist. Auch hier könnte man meinen, dass sich die Männer unter Beobachtung gestellt fühlen, und dass sie die Arbeit aus diesem Grunde so schnell als irgend möglich hinter sich bringen wollen. Zu guter Letzt sammeln sie sogar ihre zuvor etwas achtlos weggeworfenen Zigarettenkippen wieder auf; offenbar ist man sehr bemüht, bei einer bis dato unbekannten Instanz einen seriösen Eindruck zu hinterlassen.

Nach vollbrachter Arbeit sind die Männer sichtlich erleichtert, den Friedhof noch vor Einbruch der Dunkelheit verlassen zu können, wobei sie ebenfalls sorgsam das Tor verschließen.

Das Loch, nun also ordnungsgemäß auf der linken Seite des Familiengrabes, wartet nächtens darauf, von dem eingesargten Leichnam der langjährigen Witwe Maria Roth bezogen zu werden.

Der Keim dieser obskur anmutenden Begebenheit wurde etwa neun Jahre zuvor ausgesät, nämlich im Jahre 1994. Um genau zu sein, war es am 21.8.1994, als das Ende eines Lebens den Anfang dieser Geschichte einleitete. „Operation gelungen, Patient tot!“, hieß es damals von Seiten der verantwortlichen Ärzte, als der Schreinermeister William M. Roth kurz nach einer angeblich unkomplizierten Magenoperation verstarb.

William M. Roth war zweifelsohne ein ehrenwerter Mann. Er galt stets als rechtschaffen und linientreu und sein überaus reges Engagement bei dörflichen Aktivitäten verhalf ihm zu einem guten Ruf bei der Bevölkerung.

Allerdings ging seine Neigung zu besagter Rechtschaffenheit zuweilen etwas weit, um genau zu sein, galt er unter seinen Mitarbeitern als höchst penibel. So war seine übertriebene Ordnungsliebe oftmals Streitpunkt innerhalb der kleinen Werkstatt oder auch andernorts gewesen. Auch im Familienleben zeigte William M. Roth häufig eine überfordernde Genauigkeit – das Fernbleiben von familiären Veranstaltungen ohne ärztlich bestätigte Krankmeldung oder anderweitig glaubhafter Entschuldigung war für ihn stets ein unverzeihliches Verbrechen gewesen.

Manche sagten ihm deshalb nach, er sei ein unverbesserlicher Genauigkeitsfanatiker. Das negativ behaftete Substantiv „Korinthenkacker“ und das Adjektiv „kleinkariert“, die beide oftmals bezüglich seiner Person im Bekanntenkreis zu vernehmen waren, wollen wir aufgrund eines respektablen Umgangs mit dem Verstorbenen an dieser Stelle nicht verwenden.

Natürlich war auch sämtlicher Besitz des William M. Roth von seinen Eigenarten geprägt. Das Haus, das er selbstverständlich sein eigen nennen durfte, war stets in tadellosem Zustand, die Inneneinrichtung wirkte genau aufeinander abgestimmt, die Parkettböden schienen niemals an Glanz einzubüßen und Sauberkeit wurde großgeschrieben – selbst ein Fernsehgerät auf den Armen tragend, hätte sich William M. Roth vor Betreten der Wohnung wohl noch die Schuhe an einem der zahlreich vorhandenen Abstreifer gesäubert.

Auch sein Automobil war trotz seines beträchtlichen Alters in neuwertigem Zustand, die hölzernen Gartenmöbel wurden regelmäßig im Frühjahr und im Herbst mit Pflegeöl in Schuss gebracht und die filigran gepflasterte Einfahrt sowie der klar strukturierte Vorgarten waren stets aufgeräumt und reinlich. Wagte ein Scharnier des Gartentors einmal den Versuch eines Quietschens zu unternehmen, so dauerte es zumeist nicht einmal eine volle Stunde, bis der Hausherr diesen Fauxpas mit einem Ölkännchen wieder in Ordnung gebracht hatte.

Nun gut, in aller Kürze sprechen wir bei William M. Roth also von einem Mann, der seine festen Prinzipien hatte, die er nicht nur mit aller Konsequenz bei sich selbst beachtete, sondern sie auch von anderen unerbittlich abverlangte – alles musste seine Ordnung und Richtigkeit haben. Er war – um es abschließend doch in einer allgemein verständlichen Sprache auf den Punkt zu bringen – ein pedantischer Spießbürger.

Die Beisetzung des Schreinermeisters stand von Anfang an unter keinem guten Stern, denn neben der Tragik, die dem Vorgang einer Beisetzung ohnehin schon innewohnt, war sie begleitet von allerlei … sagen wir: ungünstigen Begleiterscheinungen. Man könnte hierbei selbstverständlich auch das moderne Wort Pannen verwenden.

Ein erster unglücklicher Umstand war sicherlich die Wahl der Stadtverwaltung, den alten Totengräber zu entlassen, weil er zu kostspielig geworden war. Das, obwohl er jahrelang solide Arbeit geleistet hatte. Aus Gründen der Pietät, die beim empfindlichen Thema der menschlichen Sterblichkeit zweifelsohne hoch angelegt werden muss, war es für ihn zu jeder Zeit oberstes Gebot gewesen, bei seinem Tagewerk für möglichst wenig Aufsehen zu sorgen.

Doch wie gemeinhin bekannt sein dürfte, wird heutzutage an allen Ecken und Enden gespart, also warum nicht auch an der Würde der Toten? – zumal von Verstorbenen eher selten Reklamationen zu erwarten sind. Demzufolge beauftragte man zwei jüngere und entsprechend kostengünstigere Männer, die die Arbeit in wenigen Wochenstunden nebenberuflich erledigen sollten. Dass die Einweisung in ihr neues Aufgabengebiet von dem Totengräber durchgeführt wurde, dem sie den Arbeitsplatz abspenstig gemacht hatten, legt die Vermutung nahe, dass jene Einarbeitung eher unzureichend durchgeführt wurde.

Jedenfalls war die Vorbereitung für das Begräbnis unseres geschätzten William M. Roth ein Beispiel an mangelnder Erfahrung und fehlender Sensibilität; so wartete – in aller gebührenden Geduld – direkt neben dem Grab ein unästhetischer Haufen aus trockenen Humusbrocken, der einem überdimensionierten Maulwurfshügel nicht unähnlich war. Der Totengräber, der sich nun mit dem Arbeitsamt herumschlagen musste, hatte stets darauf geachtet, die ausgehobene Erde nicht direkt neben dem Grab zu deponieren, da allein der Anblick jenes Erdhügels, der wenige Stunden nach der Niederlassung des Sarges die Lebenden von den Toten trennt, zuweilen recht emotionale Ausbrüche bei den Trauernden hervorrufen kann.

Dies war aber nur eine der besagten Ungünstigkeiten, denn leider fehlte es nicht nur an erfahrenem Personal des Handwerks, nein, es war auch ein Mangel auf der geistlichen Ebene eingetreten. Der Dorfprediger, der für seine subtil-pietätvolle Art berühmt war, war zum Zeitpunkt der Beerdigung schwer erkrankt, weshalb auch er durch einen jüngeren und unerfahrenen Kollegen ersetzt werden musste. Wenn wir von jenem Ersatzdienst leistenden Pfarrer sagen, dass er sich wahrlich Mühe gegeben hat, tun wir ihm kein Unrecht, aber zu mehr hat es damals unglücklicherweise nicht gereicht. Man denke nur an die empfindliche Szene, als der Sarg hinabgesenkt worden war, und es darum ging, die erste symbolhafte Schaufel Erde zu ihm hinuntergleiten zu lassen. Hätte der erkrankte Pfarrer dies getan, so hätte er peinlichst genau darauf geachtet, die klumpige, verhärtete Erde neben den Sarg fallen zu lassen, damit die Geräuscherzeugung dabei möglichst gering gehalten worden wäre. Der jüngere Pfarrer hingegen ließ die harten Klumpen direkt auf den weißen Sargdeckel hinabfallen, was ein unangenehm aufdringliches Bockeln zur Folge hatte, das so manchem Teilnehmer der Beisetzung einen gehörigen Schauer über den Rücken laufen ließ.

Übrigens zählte auch die vorangegangene und abschließende Grabesrede sicherlich nicht zum Besten, was je von Geistlichen über Verstorbene gesagt wurde, aber da wir uns nicht länger mit den eher nebensächlichen Pannen der Beisetzung des William M. Roth beschäftigen wollen, kommen wir nun zu einer wahrhaft skandalösen Peinlichkeit, die sich im Grunde noch vor der Beisetzung abspielte und für die wir wieder die Totengräber verantwortlich machen müssen.

Jedermann dürfte mit dem Gedanken vertraut sein, dass es auch auf einem Friedhof gewisse Traditionen einzuhalten gilt: Eine davon ist beispielsweise die Liegeordnung in Familiengräbern, und die besagt, dass der Mann stets rechts, die Frau stets links im Grabe ruhen soll – dies dient einem recht pragmatischen Grund, denn so lässt sich ohne Verwaltungsaufwand leicht feststellen, auf welcher Seite des Grabes der jeweilig später verscheidende Ehepartner begraben werden muss, sprich: wo im Grabe noch ein Plätzchen frei sein dürfte.

Im Falle des William M. Roth kam die Trägerschaft mit Sarg und Leichenzug an ein Grabesloch, das von den Totengräbern auf der linken, also auf der falschen Seite des Familiengrabes ausgehoben worden war. Die meisten Trauergäste – des Sterbens nicht sehr vertraut – bemerkten diese unverzeihliche Verwechslung zunächst nicht. Die anderen, die es bemerkten – allen voran der diensthabende Pfarrer und einige ältere Leute – versuchten sich ob dieser Peinlichkeit in Schweigen zu hüllen. Doch wie es sich mit dem Schweigen oftmals verhält, wurde nach einiger Zeit ein Tuscheln daraus. Die Nachricht verbreitete sich entgegen aller Bemühungen unmerklich unter den Trauergästen.

Man versuchte sich darin, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, überging diese große Peinlichkeit mit einem souveränen Blick, da ein Lächeln unangebracht schien, und beerdigte letztlich den Leichnam von William M. Roth auf der weiblichen Seite des Familiengrabes.

Im Nachhinein wurde auf dringendes Verlangen des Bürgermeisters hin wenigstens auf eine ausreichende Dokumentation des Geschehens Wert gelegt, da man im Falle des Verbleichens der Witwe Roth logischerweise erneut auf der verkehrten, sprich rechten Seite graben müsste, damit man sich nicht in Gefahr begab, einer erneuten Peinlichkeit aufzulaufen. Schließlich dürfte dann auf keinen Fall auf der Seite gegraben werden, wo fälschlicherweise ihr Mann schlummerte, gab besagter Bürgermeister zu bedenken, der aufgrund der ungeheuerlichen Verfehlungen offenbar ins Schwitzen geraten war – zumindest ließ sich das aus dem aufgezogenen Krawattenknoten und aus seinem hochroten Gesicht schließen.

Weitere Pannen, die hier abschließend noch Erwähnung finden sollten, waren, dass die Kerzen der zahlreichen Kranzniederlegungen für jedermann ersichtlich vom diensthabenden Totengräber vorzeitig ausgeblasen wurden, was in der Friedhofssymbolik die unschöne Bedeutung hat, dass jemandem das Lebenslicht ausgeblasen wird.

Außerdem – dies wurde als noch wesentlich tragischer empfunden – wurde der Sargdeckel von besagtem Totengräber mit einer Spitzhacke aufgeschlagen, als ebenfalls noch einige Trauergäste vor Ort waren. Dieser grobe Vorgang scheint zwar wenig geschmackvoll, ist jedoch keineswegs ungewöhnlich – die Beschädigung des Sarges soll der zügigeren Verwesung des robusten Holzes dienlich sein –, doch wird diese etwas makabre Handlung für gewöhnlich erst vollzogen, wenn die Angehörigen des frisch Verstorbenen das Friedhofsgelände verlassen haben und derweil zum Leichenschmaus übergegangen sind.

Zu guter Letzt, als wäre es nicht schon der Schmach genug gewesen, wartete der Totengräber auch nicht mit dem Zuschütten des Grabloches, bis die letzten Gäste verschwunden waren; nein, der baldige Feierabend übte ganz offenbar seinen Reiz aus, und in aller unsittlichen Hast schob einer jener günstig zu habenden Arbeiter den wartenden Maulwurfshügel in das gähnende Loch hinein und die von der Sommersonne hartgetrockneten Brocken krachten abermals lautstark auf den eingeschlagenen Sargdeckel.

Aufmerksame Beobachter konnten zu diesem Zeitpunkt die Witwe Maria Roth am oberen Ende des Friedhofes sehen, als sie, gestützt von drei männlichen Trauernden, versucht war, diesen unsäglichen Ort zu verlassen und dabei immerzu lautstark schrie: „Die falsche Seite! Oh mein Gott, die falsche Seite! Wenn mein lieber Mann das alles mitbekommen würde – er würde sich im Grabe umdrehen!“

Betrachtet man, angesichts jenes Ausspruches von Frau Roth, abschließend die zahlreichen Unsäglichkeiten, die während der Beisetzung vorgefallen sind, und bringt diese letztlich in Verbindung mit den erwähnten Wesenszügen unseres geschätzten Schreinermeisters, so verwundert es nicht allzu sehr, dass man am heutigen Nachmittag, auf der rechten Seite des Familiengrabes auf den vermoderten Sarg von William M. Roth stieß. Allein der Teufel weiß, wie er wohl dahin gekommen sein mag.

Biester

Prolog

‚Verdammte Biester‘, denke ich, während ich auf regennasser Straße laufe und einige fette, dunkelgrüne Frösche vor mir herhüpfen. Ich hasse sie.

Aber ich mag es, bei leichtem Regen zu joggen. Es ist früh, erst halb sieben. Die anderen schlafen noch, Astrid und Eileen, meine Frau und meine Tochter. Ich genieße die Ruhe, diese frische, klare Luft.

„Früh morgens ist das Licht besonders schön“, sagte mein Vater schon immer. Er meinte, im Morgenlicht würde man die Pilze im Wald besser finden können. Ich hab nie nachgesehen, ob das stimmt.

Auf den Feldern liegt Nebel. Das Gras neben dem Weg duftet und der Asphalt glitzert vor mir. Nur diese ekelhaften Frösche überall. Wir haben hier eine regelrechte Plage. Ich muss bei jedem Schritt darauf achten, keinen von ihnen zu zertreten. Immer gelingt es mir nicht, und dann quillt dieser eklige Brei unter meinem Schuh hervor und verdünnt sich mit Regenwasser.

Bald werde ich den Froschteich erreicht haben. Das ist dann der Wendepunkt, danach geht’s auf anderer Strecke zurück nach Hause. Zu meinen Liebsten. Frühstück. Sonntag. Leichtes Leben.

Neben mir quakt es, vor mir schält sich ein Gebäude aus dem Nebel heraus. Das Haus am Teich, wie wir im Dorf sagen. Das Dach ragt gänzlich aus den Schwaden heraus, ebenso der Wipfel der mächtigen Eiche, die neben dem Gebäude steht. Der Rest verschwimmt im Dunst zu einem verwaschenen Grau.

‚Was ist das?‘, frage ich mich, als ich näher komme. Hängt da nicht etwas am Baum? Ich laufe zunächst weiter, falle dann ins Gehen zurück, schließlich bleibe ich stehen.

Ich weiß, was das ist. Verdammt noch mal, ich weiß, was da am Baum hängt!

Dann bricht das Grauen über unser Dorf herein …

Ich erwache, schweißnass. Schon wieder dieser furchtbare Traum. Er lässt mich nicht los, seit einem halben Leben. Ich sehe auf meinen Wecker – 8.17 Uhr. Es war Zeitumstellung, jetzt ist Sommerzeit. Astrid hat die Uhren gestern Abend schon umgestellt. Ich drehe mich im Bett herum und sehe sie. Sie schläft noch. Schön, dass sie da ist. Immer noch, nach all den Jahren. Wir sind gemeinsam alt geworden, wie wir es uns einst geschworen haben.

„Gehst du wählen?“, fragt sie mich später beim Frühstück. Sie bestreicht gerade ein Vollkornbrot mit Butter und Bio-Honig. Unsere kleine Küche ist erfüllt von Kaffeeduft.

„Ach so!“, sage ich. „Heute ist ja Wahl.“

Wir haben den 27. März 2011, es ist Landtagswahl hier in Baden-Württemberg. Ich habe nicht mehr daran gedacht. Meine Wahlbenachrichtigung steckt in einem Archiv aus Bast direkt neben der Mikrowelle.

‚Gehe ich wählen?‘, frage ich mich und bestreiche mir dabei ein Stück Brot mit selbstgemachter Himbeermarmelade. Die Tausende von Toten kommen mir in den Sinn, die das Erdbeben und der Tsunami in Japan gefordert haben. Noch ist nicht klar, ob der Super-GAU in Fukushima noch verhindert werden kann, oder ob sie ihn nicht schon haben. Unsere Regierung nimmt plötzlich die alten Werke vom Netz. Eine Kehrtwende um 180 Grad. Vor kurzem sagten sie, das sei derzeit nicht möglich. Es sei außerdem auch nicht nötig, schließlich seien sie sicher. Mindestens für noch mal 30 Jahre. Es ist wie immer, die Wahrheit kommt nur langsam und häppchenweise ans Licht – die ganze Wahrheit niemals. Lügen, Lügen, Lügen. Wie immer.

„Gehst du denn hin?“, frage ich Astrid.

„Ja, ich geh‘ jetzt gleich. Ich mache ’nen Morgenspaziergang.“ Sie deutet nach draußen, ich lasse meinen Blick ihrem Finger folgen. Klar, es ist Nieselregenwetter. Sie liebt das. Ich eigentlich auch.

„Was wählst du?“, frage ich.

„Grün“, sagt sie. „Oder ÖDP. Ich entscheide mich dann dort spontan. Was machst du jetzt? Kommst du mit?“

Sie kennt meine Meinung. Zehn Eimer Scheiße, welchen hätten sie denn gern?

„Ich weiß nicht“, antworte ich. „Ich glaube nicht.“

Astrid lächelt. Es ist ein vielsagendes, trauriges Lächeln, das von unserem Leben erzählt. Es erinnert mich an unsere Tochter Eileen. An damals, vor dreißig Jahren.

„Martin, sie sind nicht alle so“, sagt Astrid und nimmt meine Hand. „Ich meine … ich kann mir nicht vorstellen, dass alle so sind. Es gibt doch überall … Idealisten … oder etwa nicht? Wieso nicht auch in der Politik? Du weißt doch, dass sie nicht alle so sind … oder?“

Ich sage nichts, bin aber dankbar für ihre Hand. Sie ist warm. Ihr Unterarm ist übersät von kreisförmigen Narben. Ich weiß noch, wie es war, als diese Narben blutende Wunden waren. Verdammt, ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen.

Eine halbe Stunde später verlässt Astrid das Haus, sie geht wählen, Grün oder ÖDP. Ich bleibe hier, setze mich an den Computer und beginne endlich mit dieser Geschichte. Das schiebe ich schon ein halbes Leben lang vor mit her, denn natürlich ist mir bewusst, dass es nach der Veröffentlichung heißen wird, „Biester“ sei nur eine fiktive Horrorgeschichte oder aber das wirre Gedankenkonstrukt eines verrückten Verschwörungstheoretikers. Möglicherweise ist das auch abhängig vom heutigen Wahlergebnis – wer weiß? Würde eine neue Regierung den Vorfall weiterhin vertuschen?

Doch auch, falls heute der lang ersehnte Machtwechsel wieder nicht stattfindet: Jedes Gerücht trägt ein Stück Wahrheit in sich, und zumindest wird diese Erzählung dazu beitragen, ein Gerücht, das hier im Schwarzwald grassiert, am Leben zu erhalten. Ein Wust aus Notizen, die ich mir im Laufe der Jahre immer wieder heimlich gemacht habe, soll in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht werden. Ich gehe im weiteren Verlauf streng nach diesen Notizen vor. Demnach begann alles am Ostersamstag, dem 2. Mai 1983 – auf diesen Tag ist der erste Zettel datiert, aber die Szenen liegen alle offen in meinem Gedächtnis. Ich brauche die Notizen lediglich als Stütze für die genauen Datierungen und für die Details, ansonsten erinnere ich mich ganz genau – wie könnte ich all das Grauen je vergessen?

Biester

Alles hatte seinen Anfang beim Frühstück. Ein Tiger fiel über mich her, als ich im Kühlschrank nach der Butter suchte. Er schlug mir die Pranken in die Seiten und brüllte mir mit seiner wilden Katzenfratze ins Gesicht.

„Eileen!“, warnte ich den Tiger. „Wie soll ich denn so die Butter finden?“

Doch Eileen ließ sich nicht abhalten, sprang mir auf den Rücken und hielt sich an meinem Hals fest. „Rrrrrrhhh!“, keifte sie und bleckte die Milchzähne, die mit ihren fünf Jahren noch lückenlos waren.

„Eileen, bitte, komm und setzt dich hin!“, rief Astrid vom Tisch herüber. Sie hatte sich schon hingesetzt und mit dem Frühstück begonnen, da sie, trotz des Osterwochenendes, gleich noch für einige Stunden arbeiten musste. Als leitende Angestellte in der Entwicklungsabteilung eines namhaften Spielgeräteherstellers war sie gefragt und arbeitete viel mehr als ich. Ich arbeitete damals lediglich zu 50 % als Landschaftsarchitekt, die Reduzierung meiner Stelle hatten wir wegen unserer Tochter Eileen vorgenommen, allerdings gab auch das Arbeitsangebot zu jenem Zeitpunkt nicht viel her.

Astrid und ich hatten uns auf beruflichem Wege kennengelernt. Vor einigen Jahren waren wir mit der gemeinsamen Anlegung eines Kinderspielparks beauftragt worden. Während des Projekts waren wir uns nähergekommen. Uns war bald klar gewesen, dass wir zusammenleben wollten. Wir hatten schnell geheiratet, einige Reisen unternommen und unser kleines Haus gebaut – alles ganz klassisch eben.

Ein anderes gemeinsames Projekt war Eileen, eine blonde Räubergöre, die von uns vergöttert wurde. Sie war unser einziges Kind, auch wenn ich mir noch eines gewünscht hätte. Nach einer problematischen Schwangerschaft und einigen Komplikationen bei der Geburt’ hatten uns die Ärzte von einer nochmaligen Schwangerschaft abgeraten, weil es ein erhebliches Risiko für Astrid bedeutet hätte. Ich hatte damals das Gefühl, dass Astrid diese von der Natur getroffene Entscheidung besser akzeptieren konnte als ich, da sie damals ohnehin stark an ihrer Karriere orientiert war und schnell wieder in ihren Beruf wollte. Sie war erfolgreich und ihrem Gehalt verdanken wir letztlich den Wohlstand und unser Haus.

„Wo ist denn die verdammte Butter?“, fragte ich in den Raum hinein. Noch immer hing mir der blonde Tiger im Rücken.

„Da wo sie immer ist“, antwortete Astrid. Mit den langen, rot gefärbten Haaren, ihrem herzlichen Gesicht und dem mit Blümchenmuster bestickten Pullover, der beinahe bis zu den Knien hinabreichte und ihr leichtes Übergewicht geschickt verbarg, wirkte sie eher sozial-alternativ als diszipliniert und karriereorientiert.

„‘Verdammt‘ darf man nicht sagen“, meinte Eileen.

Ich suchte weiter und hätte gerne Astrids schönen Hals gewürgt. Nach einigen Sekunden kam sie herüber und zog die Butter heraus. Sie war direkt vor meinen Augen gewesen, in einer Butterdose – ich hatte nach einer in Folienverpackung Ausschau gehalten.

„Dein Papa ist blind wie ein Maulwurf.“ Grinsend setzte sich Astrid wieder an den Tisch. Ich setzte mich dazu, goss mir Kaffee ein und bot Eileen etwas Salami an. Die schüttelte den Kopf, deutete auf den Honig und klärte mich über ihre Liebe zu Tieren auf, wie sie es immer dann tat, wenn sie gerade keine Lust auf Wurst oder Fleisch hatte.

„Was macht ihr beide denn heute? Ich muss ja gleich ins Büro“, meinte Astrid.

„Ich dachte wir …“ Ich versuchte zu antworten, während ich Honig auf ein Aufbackbrötchen strich, doch Eileen schrillte dazwischen.

„Ich möchte mal wieder in die Wilhelma!“

„Der Zoo?!“, meinte ich und gab Eileen das Brötchen. „Der ist in Stuttgart, da fahren wir über eine Stunde. Ich dachte, wir holen nachher Froschlaich.“

„Die Fahrt macht mir nichts aus.“

„Das sagst du jetzt, aber ich hab dann nachher den kleinen Quengelsack im Auto …“

„Gehen wir in die Wilhelma, Papa? Bitte?“ Ihre Augen wurden groß und glänzend, ihre Miene herzerweichend. Sie war ein Dickschädel allererster Güte.

„Nein, Schatz, heute nicht. Wir holen Froschlaich, mit den Fahrrädern. Das wolltest du doch schon die ganze Woche tun.“

„Ich will aber heute in die Wilhelma.“

„Eileen, bitte. Ein andermal, okay?“

„Nein, nicht okay! Ich will heute!“

„Was an ‚nein‘ verstehst du nicht?“ Ich sah an ihren schmalen, zusammengeschobenen Augenbrauen, dass sie allmählich zornig wurde.

„Immer dasselbe mit dir, Papa. Nie machen wir das, was ich will.“

„Ich will nicht in die Wilhelma, das ist mir heute zu stressig, und ich will auch nicht Froschlaich holen. Ich würde am liebsten noch schlafen oder zehn Kilometer wandern gehen. Wir machen also auch nicht, was ich will. Der Froschteich ist ein Kompromiss.“

Sie zog die Mundwinkel nach unten, eine erste Träne rann über die Wange, dann schrie sie los. „Dich kann man zu nichts gebrauchen! Du bist nicht mein Papa! Ich kauf mir ’nen anderen Papa …!“

„Eileen, bitte …“, versuchte Astrid sie zu beruhigen. Es funktionierte nicht. Eileen warf das Honigbrötchen nach mir.

„So! Gut! Wir gehen nirgendwo hin!“, schrie ich mitten in Eileens Tobsuchtsanfall hinein. Ihr Brötchen klebte an meinem Shirt. Sie sprang schreiend auf, rannte die Treppe nach oben und verschwand in ihrem Zimmer.

„Oh Mann!“, meinte Astrid. „Was für ein kleines Biest.“

„Hat sie nicht von mir.“ Ich zog das klebende Brötchen vom Shirt ab und grinste. Astrid lachte.

Zehn Minuten später stand Eileen in der Küchentür. Sie hatte sich eine Jacke angezogen und schabte mit ihren Turnschuhen ungeduldig auf der Schwelle. Ihr Gesicht war ein Abbild kindlicher Freude. Es war wunderschön.

„Papa, wann gehen wir endlich zum Froschteich? Mir ist sooo langweilig.“

Nach dem Frühstück ging Astrid wie geplant ins Büro, während Eileen und ich zusammen zum Froschteich radeln wollten. Ich machte mit ihr die Fahrräder startklar, was nicht ganz einfach war, da sie jede Minute irgendetwas Anderes im Kopf hatte. Nach der Winterpause mussten die Reifen der Räder aufgepumpt, die Ketten geölt und Eileens Sattel und Lenker ihrer Größe angepasst werden. Nachdem sie, während ich an den Rädern arbeitete, zig Mal ein Flugzeug mit Gummimotor hatte fliegen lassen und mit Straßenmalkreide einige Tierfiguren auf den Asphalt gezeichnet hatte, radelten wir schließlich los.

Wir fuhren die gesamte Strecke auf asphaltierten Feldwegen, die wie großmaschige Netze über der Landschaft lagen. Die meisten Äcker waren frisch gepflügt und die Luft roch nach Erde. Die Felder, auf denen derzeit nichts angebaut wurde, waren mit Gras bewachsen und lagen in sanftem, blütenlosem Grün vor uns. Aufgrund der vielen Regentage der letzten Wochen war die Erde feucht und die Luft dunstig. Teils hingen noch Nebelschwaden über den Äckern oder in den kleinen Waldstücken, die hier und da herausstachen.

Auf dem Sportflugplatz, an dem uns der Weg vorbeiführte, waren schon die ersten Hobby-Piloten eingetroffen und im Vorbeifahren konnten wir dort den Start einer kleinen Maschine beobachten. Das Brummen des Motors begleitete uns noch eine Weile, als wir uns immer mehr dem großen Tal näherten, vor dem der Froschteich lag. Auch zwei Segelflieger schwirrten schon durch die Luft und funkelten im Sonnenlicht vor dem Blau des Himmels.

Eileen redete die ganze Fahrt über. Das tat sie immer, wenn sie gutgelaunt war, und ich mochte es. Wenn sie quasselte, glaubte ich, sie sei ein glückliches Kind, und ein Hauch dieses Glücks erfüllte auch mich.

„Froschmänner sind ganz faule Säcke“, rief sie fröhlich zu mir herüber, obwohl ich sie auch hätte verstehen können, wenn sie in normaler Lautstärke geredet hätte. Ich fuhr direkt neben ihr und musste darauf achten, dass sie mich nicht rammte. Sie hatte das Radfahren erst im letzten Herbst gelernt, weshalb sie noch etwas unsicher war und ihr Rad oftmals ohne ersichtlichen Grund nach rechts oder links zog.

„Taucher? Wie kommst du denn jetzt auf Taucher?“

„Doch nicht Taucher, Papa. Froschmänner.“

„Ähhh … du meinst Froschmännchen“, korrigierte ich. „Wieso sind die faul?“

„Die sitzen den ganzen Tag nur auf den Weibchen rum.“

„Wer sagt denn das?“ Ich lachte.

„Na Gerlinde, im Kindergarten.“

Am Froschteich bot sich uns ein wunderbares Bild. Der Tümpel lag dicht am Waldrand und so standen auf einer Seite – dort, wo wir die Räder abstellten – hohe Fichten, während etwa zwei Drittel des Ufers lediglich von einigen Büschen und ansonsten von freien Feldern umsäumt waren. Die Sonne brach gerade durch den morgendlichen Dunst, der hier noch über allem lag. Das Gras war nass vom Nebel und glänzte in den ersten Sonnenstrahlen. Der kleine See lag still vor uns und spiegelte die Bäume. Aus den Büschen, die noch ohne Blätter waren, klang ein Vogelkonzert und überall quakten Frösche. Am gegenüberliegenden Ufer paddelten gemächlich zwei Enten vor abgebrochenem Schilfgras umher und ab und zu sprang ein Fisch aus dem Wasser und schnappte nach einer Fliege.

Hier oben auf 900 Metern Höhe lässt die Vegetation etwas länger auf sich warten, als weiter unten in den Tälern. Einige Gänseblümchen, die auf den Rasenflächen zerstreut waren, und einige Buschwindröschen unter den Bäumen blühten aber schon. Bald würde hier alles voll mit Blüten sein.

‚Endlich Frühling‘, dachte ich. Ich freute mich jedes Jahr über den Frühling und das tue ich noch immer. In solchen Höhenlagen sind die Winter lang, was eindeutig ein Nachteil ist, wenn man hier wohnt. Allerdings haben wir viel Sonne. Abends, wenn unten im Tal längst alles im Schatten liegt, versprüht sie bei uns noch immer ihre angenehme Wärme und taucht die Wolken in wundervolle Farben.

Nachdem wir die Räder an Bäume gelehnt hatten, kramte ich in meiner Satteltasche nach dem Einmachglas, das wir mitgebracht hatten, um den Froschlaich einzufüllen. Zunächst wollten wir um den Teich herumgehen, da sich die meisten Frösche jedes Jahr vor allem auf der gegenüberliegenden Seite aufhielten. Dort, wo der Teich an freies Feld angrenzte, trafen mehr Sonnenstrahlen auf die Wasseroberfläche. Eileen rannte gleich los.

„Papa, komm schon, du Faulpelz!“

Ich fand das Glas und dackelte meinem kleinen Wirbelwind hinterher. Schon nach den ersten zehn Metern stürzte sie ins nasse Gras, drehte sich zu mir hoch und grinste verschämt, um sogleich wieder aufzustehen und weiterzurennen.

„Fall’ mir bloß nicht ins Wasser, hörst du?!“

„Jaahaa!“

Als wir am gegenüberliegenden Ufer standen, war sofort klar, dass es kein Problem sein würde, Froschlaich zu holen. Tausende im Sonnenlicht glitzernde Kugeln lagen nahe dem Ufer im Wasser und waren gut zu erreichen. Mir kam kurzzeitig der Gedanke, dass die Froschpopulation anscheinend überhandnahm. Allmählich wurden sie zum Problem – selbst kleinere Verkehrsunfälle hatte es schon ihretwegen gegeben. Während man zur Zeit der Krötenwanderung in anderen Gegenden vor Straßenrändern Froschzäune einrichtete und die Tiere mit freiwilligen Helfern über die Straße brachte, um die Arterhaltung zu sichern, wären wir hier froh darüber gewesen, wenn ihre Anzahl wieder abnehmen würde. Sie waren bei uns schon immer zahlreich gewesen, doch spätestens im letzten Jahr waren sie eine regelrechte Plage geworden. Im Dorf wurde jedes kleine Gewässer – und war es auch nur eine Regenpfütze – von ihnen belagert. Sie tummelten sich zu Hunderten im Park, auf Spielplätzen, in Feldbegrenzungskanälen und leider auch in jedem verdammten Vorgarten. Ihr lautes und endloses Gequake raubte uns allen den Schlaf.

Eileen wollte ihren Froschlaich. Unser Experiment machten wir nun schon das dritte Jahr in Folge. Wir sammelten Laich, gaben ihn in einen größeren Behälter und beobachteten dann täglich die Veränderungen, betrachteten den Vorgang der Metamorphose, wie aus den glibberigen Froscheiern Kaulquappen schlüpften und daraus dann Frösche wurden. Biologieunterricht zum Anfassen. Auch mir machten diese Experimente Spaß, obwohl ich von Fröschen eigentlich genug hatte.

„Da Papa! Da ist jede Menge. Kommst du da hin?“ Sie deutete ins glitzernde Wasser. Die Froschlaichbänder lagen wie Perlenketten dicht unter der Wasseroberfläche auf irgendwelchen Wasserpflanzen, an dieser Stelle allerdings in etwa einem Meter Entfernung zum Ufer. Einige Frösche flohen in die Teichmitte, als sie uns bemerkten.

„Ich weiß nicht, Eileen. Wir sollten ’ne andere Stelle suchen. Die Eier liegen nicht nah genug am Ufer. Ich komm da nicht gut ran.“

„Du sollst sie aber hier holen.“

„Warum?“

„Weil …“ Sie sah mich an, schob die Augenbrauen zusammen und drückte ihre kleinen Fäuste in die Hüften. „Weil ich halt den Froschlaich von hier will.“

„Lass uns doch noch ein Stück weiter gehen. Es kommt sicher ’ne bessere Stelle. Hier könnte ich nass werden.“

„Papa“, meinte sie, „das macht doch nichts. Du kannst ja zu Hause wieder trockene Sachen anziehen.“

„Na dann geh du doch hin und hol das Zeug raus. Du kannst dich ja ebenfalls zu Hause umziehen.“

Tatsächlich stapfte sie nach kurzer Überlegung zum Rand des Gewässers, beugte sich schneller als mir lieb war darüber, verlor das Gleichgewicht und fiel beinahe hinein, schaffte es aber, nur mit einem Fuß leicht ins Wasser zu treten. Mittlerweile war ich bei ihr und hielt sie an der Jacke fest.

„Siehst du!“, brüllte sie und riss sich von mir los. „Das ist nur deine Schuld.“ Sie starrte auf ihren nassen Schuh und drehte ihn theatralisch in der Luft umher. „Mama wird schimpfen – mit dir.“

„Au Backe“, meinte ich, lächelte jedoch innerlich, und ging zum Ufer. „Du hast gewonnen – wie immer, Chefin.“

„Sag nicht immer Chefin!“

Ich nahm das geöffnete Glas, beugte mich so weit ich konnte über die Wasseroberfläche hinweg, tauchte es hinein und zog es durch die Laichketten hindurch. Einige beachtlich große Frösche schwammen von der Stelle weg und ich ekelte mich etwas, als einer von ihnen meine Hand streifte. Es war nicht einfach, die glibberigen Fäden ins Glas zu bekommen, aber letztlich hatte ich etwas von dem Laich darin. Als wir das Glas zur Begutachtung ins Licht hielten, sahen wir mindestens hundert schwarze Punkte darin. Das sollte reichen.

„Froschlaich! Froschlaich! Wir haben Froschlaich!“ Eileen grinste übers ganze Gesicht. So leicht sie zornig wurde, so leicht war es auch, ihr eine Freude zu machen.

Ich schraubte den Deckel auf das Glas, während wir langsam zu den Rädern am Waldrand zurückschlenderten.

Der Dunst löste sich allmählich auf und die Sicht wurde zusehends klarer. Neben dem Teich glänzten die Felder in sattem Grün. Ein einziges Haus stach aus der Fläche heraus: das Haus am Teich, wie wir im Dorf sagten. Dort wohnte die Mutter einer meiner früheren Freundinnen, und ich hatte gehört, dass auch sie selbst seit einigen Wochen wieder hier wohnen würde.

Wenige hundert Meter hinter unserem Fahrradabstellplatz am Waldrand fiel der Boden steil ab. Dort lag ein 300 Meter tiefes Flusstal. Darin, ganz unten in der Talsohle, lag die Kreisstadt des Bezirks mit etwa 20.000 Einwohnern.

Ich packte das gefüllte Glas gerade zurück in meine Satteltasche, als ich etwas Seltsames hörte. Das Geräusch kam aus dem Wald, glaubte ich. Es war ein stetiges, tiefes Brummen. Zunächst hörte ich es nur ganz leise, aber es schien ganz allmählich lauter zu werden.

Ich blickte in den Wald, versuchte irgendwo in seinem Inneren die Quelle des Geräusches auszumachen, doch ich sah nichts als unzählige hohe, karge Stämme, die akkurat in Reihen angeordnet waren und aus dem Unterholz ragten.