Angie Sage

 

SEPTIMUS HEAP

FYRE

 

Aus dem Englischen

von Reiner Pfleiderer

 

Mit Illustrationen

von Mark Zug

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel Septimus Heap. Book Seven: Fyre bei Katherine Tegen Books, New York

(Imprint von HarperCollins Publishers New York)

 

Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books, a division of HarperCollins Publishers, Inc.

 

ISBN 978-3-446-24424-5

© Angie Sage 2013

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München 2013

Umschlagillustration: Mark Zug

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

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Mehr über Septimus Heap gibt es unter www.septimusheap.de

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

 

Für meine Eltern.

Ich danke euch.

 

INHALT

 

 

Prolog: Vorboten

  1 Was darunter liegt

  2 Eine weiße Hochzeit

  3 Pfützen

  4 Umzug

  5 In der Großen Kammer der Alchimie und Heilkunst

  6 Lauschen

  7 Eine falsche Spur

  8 In der Hüterhütte

  9 Drillinge

10 Die Wolkenflasche

11 Drachenfeuer

12 Die Herzkammer

13 Willkommen zurück

14 Entzauberung

15 Der letzte Tag

16 Vermisst

17 Gestürzt?

18 Transportzauber

19 Was hätte sein können

20 Hexerei

21 Was werden soll

22 Verwandte

23 Der Alchimieschornstein

24 Kein guter Morgen

25 Das Fremdenzimmer

26 Ein schlechter Zeitpunkt

27 Eine Rätselgeschichte

28 Der Köder

29 Ein Haustürgespräch

30 Der Porter Palast

31 Jennas Reise

32 Heaps gegen Heaps

33 Der Skorpion

34 Der Schmugglerschlund

35 Ein Abtritt

36 Zur Burg

37 Ausstiege

38 Drachen unterwegs

39 Eindringlinge

40 Die Hüter

41 In der Klemme

42 Foryx

43 Steinige Zeiten

44 Irgendwo

45 Hochwasser

46 Eine Kraftprobe

47 Feuer

48 Eine Königin

49 Ein Außergewöhnlicher Zauberer

 

Schluss

Dank

 

PROLOG:

VORBOTEN

 

 

 

Eine Flamme brennt um Mitternacht. Auf einer Insel in den wilden Marram-Marschen hält eine junge Frau eine Laterne in die Höhe. Ihre dunklen langen Haare wehen im Wind, der, warm und salzig, vom Meer herüberbläst. Im Schein der Laterne glitzern das goldene Diadem auf ihrem Kopf und die goldenen Borten an ihrer langen roten Robe – der Robe der Burgkönigin.

Die Königin ist nicht allein. Neben ihr steht ein alter Mann mit langen weißen gewellten Haaren und dem Stirnband des Außergewöhnlichen Zauberers. Er sieht prachtvoll aus in seiner reich mit magischen Symbolen bestickten lila Robe. Sein Name ist Hotep-Ra. Er ist der allererste Außergewöhnliche Zauberer.

Die Insel, auf der sie stehen, ist ein alter Lauschposten, und Hotep-Ra lauscht in diesem Augenblick aufmerksam. Reglos wie eine Statue steht er da, ganz versunken in das, was er aus der Ferne vernimmt. Dann legt er die Stirn in noch tiefere Falten. »Es ist, wie ich befürchtet habe«, flüstert er. »Sie haben mich entdeckt.«

Die Königin versteht nichts von Magie, aber sie achtet sie, denn Magie hat einst das Leben ihrer Tochter gerettet. Sie nickt traurig, weil sie weiß, dass Hotep-Ra und sie nun für immer voneinander scheiden müssen.

 

Eine Flamme brennt eine halbe Stunde nach Mitternacht. Die Königin und Hotep-Ra befinden sich unter der Erde, und die Laterne bescheint eine weiße Wand, die mit Reihen von leuchtenden Hieroglyphen bedeckt ist. Die Königin sucht ein Symbol. Bald hat sie es gefunden: einen blauen Drachen in einem blau-goldenen Kreis. Sie legt die Hand auf den Kreis, und während sie warten, dreht Hotep-Ra an dem Ring, den er am rechten Zeigefinger trägt. Der Ring hat die Form eines goldenen Drachen, der sich in den eigenen Schwanz beißt. Sein Auge ist ein funkelnder Smaragd. Er ist wundervoll gearbeitet, aber das Schönste an ihm ist das warme gelbe Licht, das tief aus seinem Inneren heraus glimmt und im Schatten von Hotep-Ras Hand erstrahlt.

Dann ertönt ein tiefes, leises Rumpeln, und die Hieroglyphenwand schwingt nach hinten auf und gibt den Blick frei auf einen dunklen großen Raum. Die Königin lächelt Hotep-Ra an. Er erwidert das Lächeln ein wenig traurig, und gemeinsam treten sie ein.

Die Königin trägt die Laterne, deren Licht zwei prächtige weiße Marmorsäulen erhellt, die in der Dunkelheit emporragen. Sie gehen zwischen den Säulen hindurch, schreiten über einen Mosaikfußboden in roten, gelben, weißen und grünen Tönen. Und dann sind sie am Ziel. Die Königin reicht Hotep-Ra die Laterne, und er hält sie hoch, damit ihr Licht das schönste Geschöpf bescheint, das er jemals gesehen hat: sein treues Drachenboot.

Der Rumpf des Drachenboots ist breit und stabil, für die Fahrt auf dem Meer gebaut und unlängst von Hotep-Ra vergoldet worden. Der Rumpf und der Mast mit seinem himmelblauen Segel sind der unbelebte Teil des Bootes. Alles andere ist ein lebendiger weiblicher Drache. Längs des Rumpfes liegen, sauber zusammengefaltet, die grünlich schillernden Flügel. Der Kopf und der Hals der Drachin bilden den Bug, der Schwanz das Heck. Halb Boot, halb Drache, hat das Geschöpf in tiefem Schlaf gelegen, allein in diesem dunklen, alten unterirdischen Tempel, doch beim Öffnen der Wand ist die Drachin erwacht. Träge hebt sie den Kopf und reckt den Hals wie ein Schwan. Die Königin tritt leise näher, um sie nicht zu erschrecken. Die Drachin öffnet die Augen, senkt den Kopf, und die Königin schlingt die Arme um den Hals der Drachin.

Hotep-Ra bleibt zurück. Er betrachtet sein Drachenboot, das auf dem Mosaikboden ruht, als warte es darauf, dass das Wasser steigt und es zu fernen Inseln trägt. Und tatsächlich hat er genau dies mit ihm im Sinn gehabt: Alt, wie er ist, hat er zu einer letzten Reise mit ihm aufbrechen wollen. Doch daraus kann nun nichts mehr werden. Jetzt, da seine Feinde ihn aufgespürt haben, muss Hotep-Ra das Drachenboot in dem geheimen unterirdischen Versteck belassen, denn dort ist es vor ihnen sicher. Er seufzt. Das Drachenboot muss warten, bis ein anderer Drachenmeister es braucht. Hotep-Ra weiß nicht, wer das sein wird, er weiß nur, dass er ihm eines Tages begegnen wird.

Die Königin verspricht dem Drachenboot, dass sie auf den Tag genau in einem Jahr wiederkommen wird, aber Hotep-Ra verspricht ihm nichts. Er tätschelt der Drachin die Nase, dann dreht er sich um und verlässt schnellen Schrittes den Tempel. Die Königin eilt ihm nach, und zusammen sehen sie draußen zu, wie sich die Hieroglyphenwand rumpelnd wieder schließt.

Bedächtig folgen sie dem sandigen Pfad, der zu einem verborgenen Ausgang am Rand der Insel führt. Dort zieht Hotep-Ra den Drachenring ab. Zum Erstaunen der Königin wirft er ihn auf den sandigen Boden, als ob er ihm nichts bedeuten würde. Sowie der Ring am Boden liegt, erlischt sein Licht.

»Aber das ist doch Ihr Ring«, flüstert die Königin bestürzt.

Hotep-Ra lächelt matt. »Nicht mehr«, sagt er.

 

Die Königin und der Außergewöhnliche Zauberer sind in die Burg zurückgekehrt. Aber Hotep-Ra reist nicht sogleich ab, obwohl er weiß, dass er dadurch die Aufmerksamkeit seiner Feinde auf all das lenken könnte, was ihm lieb und teuer ist. Doch er möchte noch einige Vorkehrungen treffen, um die Burg und ihre Königin, so gut er kann, abzusichern.

Er legt geschützte Zauberwege an, die der Königin den gefahrlosen Besuch des Drachenboots und anderer Orte, die ihr viel bedeuten, gestatten. Er versieht den Zaubererturm mit allen magischen Kräften, die er entbehren kann, und richtet für die klügsten und besten Außergewöhnlichen Lehrlinge eine Queste ein. Auf diese Weise, so hofft er, wird er regelmäßig Neuigkeiten aus der Burg erfahren und helfen können, wenn sein Rat benötigt wird. Er bittet die Königin, an jedem Mittsommertag sein geliebtes Drachenboot zu besuchen, und baut tief im Innern der Burgmauern ein Drachenhaus, in dem es Ruhe finden wird, wenn es eines Tages gefahrlos in die Burg kommen kann.

Aber Hotep-Ra ist zu lange in der Burg geblieben.

Neunundvierzig Stunden nachdem er das Nahen seiner Feinde erlauscht hat, steht er auf dem Landungssteg des Palastes und nimmt Abschied von der Königin. Es ist ein gewittriger Tag, und der grau verhangene Himmel spiegelt die Traurigkeit der Königin wider.

Das Boot, das Hotep-Ra nach Port bringen soll, wo ein Schiff auf ihn wartet, ist zum Ablegen bereit. Gerade will er an Bord gehen, als ein lauter Donner ertönt, und die Königin schreit auf. Aber sie schreit nicht wegen des Donners, sie schreit, weil sie aus der dunklen Wolke über ihnen etwas auftauchen sieht – die Zaubererkrieger Schamandrigger Saarn und Dramindonnor Naarn, zwei Meister der schwarzen Künste. Die Mäntel ausgebreitet wie Rabenschwingen, sodass die blaugrün schillernden Rüstungen darunter sichtbar sind, und einen dunklen Schweif hinter sich herziehend, stoßen sie vom Himmel herab wie zwei riesige Raubvögel, die stechenden grünen Augen auf die Beute am Boden gerichtet.

Die Feinde haben Hotep-Ra gefunden.

Beim letzten Mal, als sie ihn aufgespürt hatten, war Hotep-Ra von dem Drachenboot gerettet worden, doch diesmal, das weiß er, muss er ihnen allein entgegentreten. Aber die Königin hat anderes im Sinn. Sie zieht eine kleine Armbrust aus dem Gürtel und lädt sie. Und dann, gerade als Schamandrigger Saarn und Dramindonnor Naarn zum entscheidenden Stoß ausholen wollten, schießt sie den Pfeil ab.

Er bohrt sich unterhalb der vierten Rippe in Dramindonnors linke Brustseite. Der Getroffene stürzt zu Boden, und der Landungssteg erzittert unter der Wucht des Aufpralls. Aber der Schwarzkünstler zuckt nur kurz, und als Blut aus der Wunde spritzt, versiegelt er sein Herz mit einem Zauber. Unterdessen hat die Königin die Armbrust wieder gespannt und legt einen zweiten Pfeil ein. Große Furcht ergreift Hotep-Ra: Die Königin weiß nicht, mit wem sie sich anlegt. Rasch umgibt er sie – sehr zu ihrem Unwillen – mit einem Schutzschild. Doch es ist zu spät. Schon hat sie auch Schamandrigger ins Herz geschossen. Der Zaubererkrieger fällt, doch auch er versiegelt seine Wunde gerade noch rechtzeitig.

Zum Entsetzen der Königin stehen die Zauberer wieder auf. Sie sind riesengroß – über drei Meter – und greifen zu ihren berüchtigten Explosiven Zauberstäben, von denen ihr Hotep-Ra erzählt hat. Im Gleichschritt – eins-zwei, eins-zwei – rücken sie gegen den Schutzschild vor. Sie sprechen abwechselnd:

»Dafür …«

»… werden wir dich …«

»… und deine Nachkommen …«

»… töten.«

»Niemals …«

»… werden wir …«

»… das vergessen.«

Unter dem Angriff der Zauberstäbe gerät der Schutzschild der Königin ins Wanken. Hotep-Ra zückt seinen Flug-Charm und schnellt hoch in die Luft, denn er weiß, dass ihm die Zauberer folgen werden.

Und das tun sie auch.

In jenen alten Tagen ist die Kunst des Fliegens noch nicht in Vergessenheit geraten. Gleichwohl ist sie noch so ungewöhnlich, dass die Burgbewohner alles stehen und liegen lassen und die Hälse recken, wenn sich am Himmel etwas regt, und schon gleich gar, wenn sich drei mächtige Zauberer einen Luftkampf liefern wie in diesem Augenblick. Doch als die ersten Donnerblitze geschleudert werden und die Häuser in ihren Fundamenten erschüttern, gehen die Burgbewohner in Deckung. Ihnen wird angst und bange. Zwar erinnern sich viele noch an die Zeit, als es weder einen Zaubererturm noch einen Außergewöhnlichen Zauberer gab, doch haben sie Hotep-Ra lieben gelernt. Er ist ein guter Mensch, und keine Not ist ihm zu klein, als dass er mit seiner Magie nicht helfen würde. Als sie nun nervös aus ihren Fenstern spähen, befällt sie große Sorge. Zwei Zauberer gegen einen, das ist ein ungleicher Kampf. Und alles deutet darauf hin, dass er für Hotep-Ra nicht gut ausgehen wird.

Doch Hotep-Ra mag alt und nicht mehr der Stärkste sein, aber er ist immer noch schlau. Er lockt die Schwarzkünstler zu der goldenen Pyramide oben auf dem Zaubererturm, stellt sich auf die Spitze – eine kleine quadratische Plattform aus Silber – und richtet, das Gleichgewicht ausbalancierend, all seine Zauberkräfte auf die letzte Chance, die ihm noch bleibt.

Den Schwarzkünstlern erscheint Hotep-Ra wie ein verwundetes, in die Enge getriebenes Tier. Sie wähnen sich dem Sieg nahe und wirken ihren bevorzugten Zerstörungszauber. Sie fliegen um die Pyramidenspitze herum und ziehen einen Feuerring um Hotep-Ra. Aber darauf hat dieser nur gewartet. Er stimmt einen langen und komplizierten Täuschungszauberspruch an, der, was ihm sehr gelegen kommt, vom Prasseln der Flammen übertönt wird.

Aber der Feuerring zieht sich immer enger zusammen, und die beiden Schwarzkünstler lauern dahinter auf den Augenblick, da er Hotep-Ra erreicht und in seinen Bann schlägt. Dann werden sie sich – mit Unterstützung der einen oder anderen Spinne – einen kleinen Spaß mit ihrem Feind machen.

Hotep-Ra nähert sich dem Ende seines Zauberspruchs. Die Hitze des Feuers wird unerträglich. Er kann riechen, dass es bereits die Wolle seiner Robe versengt, und darf nicht länger warten. Zum Schrecken der Schwarzkünstler schießt er, eine Flammenspur hinter sich herziehend, mitten durch den Feuerring nach oben in die Luft. Dann schreit er die letzten Worte seines Täuschungszaubers hinaus und wird unsichtbar.

Die Täuschung gelingt. Schamandrigger Saarn und Dramindonnor Naarn starren einander entsetzt an – statt des Gefährten sieht jeder der beiden nun Hotep-Ra vor sich und schließt daraus, dass Hotep-Ra den Freund getötet hat. Rasend vor Wut und Trauer fallen sie übereinander her, und Hotep-Ra sieht aus dem Schutz seiner Unsichtbarkeit zu, wie sie sich über den Dächern gegenseitig jagen und bald immer weiter entfernen.

Hotep-Ra würde sie nur zu gern ihrem Schicksal überlassen, doch er muss verhindern, dass sie irgendwann wiederkehren, und so nimmt er die Verfolgung auf. Da hört er ein gewaltiges Krachen und blickt nach unten. Die Spitze der goldenen Pyramide ist in den Hof des Zaubererturms gestürzt – der Feuerring hat sich durch sie hindurchgebrannt wie heißer Draht durch Butter.

Hotep-Ra verfolgt die Zaubererkrieger bis zum Finsterbach. Dort beobachtet er, wie sie einen Tag und eine Nacht lang miteinander kämpfen – sie sind einander so ebenbürtig, dass keiner die Oberhand gewinnt. Schließlich umkreisen sie sich gegenseitig immer schneller und schneller, stürzen in ihrer Raserei aufs Wasser hinab und erzeugen unmittelbar vor der Mündung des Baches einen tiefen dunklen Strudel. Die Kraft des Strudels ist so gewaltig, dass sie, heulend vor Wut, von ihm in die Tiefe gezogen werden.

Hotep-Ra folgt ihnen. Er beherrscht viele Schwarzkünste, sieht normalerweise aber von ihrem Gebrauch ab. Doch nun taucht er mittels der Schwarzkunst der Unterwassersuspension den beiden nach, um ihnen ein Ende zu machen. Doch auf dem Grund des Strudels muss er feststellen, dass die wirbelnden Wasser das Flussbett durchbrochen haben und in eine Höhle der Finsterhallen eingedrungen sind, die ein alter Zufluchtsort für alles Böse ist. Hotep-Ra zerrt die Zauberer vom Eingang zu den Finsterhallen fort. Sie setzen sich zur Wehr, aber die Verzweiflung macht Hotep-Ra stark. Mit allerletzter Kraft zieht er die beiden in Richtung Oberfläche, und wie ein Korken aus der Flasche flutscht er, die Schwarzkünstler im Schlepp, aus der Tiefe nach oben.

Die Barke der Königin erwartet ihn. Sie ist ihm zum Finsterbach nachgefahren, und während die Besatzung im Kreis rudert, steht die Königin im Bug und späht nervös in den Strudel: Sie weiß, dass Hotep-Ra irgendwo dort unten im Wasser ist. Doch als er auftaucht, erschrickt sie – sie kann nur die beiden Schwarzkünstler sehen.

Hotep-Ra ist so entkräftet, dass er seine Zauber nicht länger aufrechterhalten kann. Zuerst erlischt der Täuschungszauber, dann der Unsichtbarkeitszauber. Schamandrigger Saarn und Dramindonnor Naarn sehen einander wieder, zum ersten Mal seit vierundzwanzig Stunden – und dann bemerken sie Hotep-Ra, der neben ihnen im Wasser strampelt. Ein paar Sekunden lang starren sich die drei Zauberer entgeistert an. Dann ergreift Hotep-Ra den Flug-Charm und schießt aus dem Wasser. Saarn und Naarn bekommen seine Robe zu fassen, und alle drei landen als wirres Knäuel auf der Königinnenbarke.

Die Königin erkennt, dass Hotep-Ra zu schwach ist, um den Kampf zu gewinnen. Also zieht sie den goldenen Zauberring vom Finger, den er ihr zum Schutz vor ihren Feinden geschenkt hat – und den nur reines alchimistisches Feuer zerstören kann. »Sperren Sie sie ein«, ruft sie und reicht Hotep-Ra den Ring. »Rasch!«

»Er gehört Ihnen«, flüstert er und gibt ihr den Ring zurück. »Sie müssen den Einsperrzauber sprechen. Wissen Sie ihn noch?«

Die Königin nickt – natürlich weiß sie ihn noch. Wie könnte sie etwas vergessen, was eigens für sie geschaffen wurde? (Tatsächlich ist es der einzige Zauberspruch überhaupt, den sie sich gemerkt hat.)

Die Königin beginnt, den Spruch aufzusagen, und die Worte legen sich wie ein Schatten auf die Schwarzkünstler. Sie bäumen sich auf, doch sie sind zu schwach, um sich zu wehren. Nervös horcht Hotep-Ra auf jedes Wort, doch seine Sorge ist unbegründet – wenn die Königin sich an etwas erinnern möchte, dann tut sie es auch. Schließlich gelangt sie zu dem entscheidenden Wort: »Hathor«. Ein lila Blitz zuckt auf, und die Königin wirft den Ring in das blendende Licht. Es wird dunkel. Die Königin spricht die letzten sieben Worte der Zauberformel und dann die beiden allerletzten: »Schließ ein«. Die Zeit wird aufgehoben. Sieben Sekunden lang steht die Welt still.

Aus der Dunkelheit dringen zwei qualvolle Schreie wie von verwundeten Tieren. Ein Sturm fegt über alle hinweg, übertönt die Schreie der Ringzauberer mit seinem Heulen und wirft die Königin und Hotep-Ra aufs Deck. Drei Mal dreht sich der Sturm im Kreis, dann ist er fort und hinterlässt eine verwüstete Königinnenbarke, verstörte Ruderer, die bäuchlings auf den Planken liegen, und eine schaurige Stille, die nur ein leises Pling! durchbricht. Ein goldener Ring, in den zwei grüne Gesichter eingeschlossen sind, fällt auf die Planken und kullert in eine schmutzige Pfütze.

 

Als Hotep-Ra in den Zaubererturm zurückkehrt, berichtet ihm sein Lehrmädchen Talmar Ray Bell, dass die abgefallene Spitze der Pyramide geschrumpft ist. Sie hat keine Ahnung, warum.

Aber Hotep-Ra kennt den Grund. Er weiß, dass er nur mit knapper Not dem gefürchtetsten aller Schwarzzauber entgangen ist. Ein Schwarzzauber tötet den Gegner nicht auf der Stelle, sondern lässt ihn schrumpfen, sodass er zur Beute der grauenerregendsten aller Kreaturen wird: der Insekten. Seit alters her vergnügen sich Schwarzkünstler damit, das Opfer eines solchen Zaubers in ein Spinnennetz zu setzen und durch eine magische Lupe zu beobachten, was geschieht. Hotep-Ra läuft ein Schauder über den Rücken. Er fürchtet sich vor Spinnen.

Die winzige Spitze der goldenen Pyramide steckt auf dem Grund eines großen, pyramidenförmigen Kraters fest – ein gold glänzendes Etwas auf roter Burgerde, das weiterhin schrumpft. Eine Gruppe besorgter Zauberer bewacht es. (Der gute Ruf des Zaubererturms hat sich herumgesprochen, sodass er inzwischen dreizehn Gewöhnliche Zauberer beherbergt.) Talmar Ray Bell steigt in den Krater hinab, holt die winzige goldene Pyramide und reicht sie Hotep-Ra.

Hotep-Ra hebt den Schrumpfzauber mit einem Stoppzauber auf. Die kleine Pyramide liegt nun schwer in seiner Hand und schimmert feurig in der Sonne. Hotep-Ra lächelt. »Du wirst der Schlüssel sein«, sagt er zu der Pyramide.

 

Wieder steht Hotep-Ra auf dem Landungssteg des Palastes und nimmt Abschied von der Königin. Diesmal ist er nicht allein. Talmar Ray Bell hat darauf bestanden, ihn zu begleiten – vom Kampf mit den Schwarzkünstlern ist Hotep-Ra so geschwächt, dass Talmar befürchtet, er könnte die Reise alleine nicht durchstehen.

Hotep-Ra überreicht der Königin ein Abschiedsgeschenk. Es handelt sich um ein kleines Buch mit dem Titel Die Königinnenregeln. Es ist in weiches rotes Leder gebunden, mit goldenen Ecken und einer komplizierten Schnalle versehen, und in den Deckel ist die Zeichnung eines Drachenboots geprägt. Es ist nicht seine Schuld, dass rund tausend Jahre später der Einband zerschlissen ist, Seiten herausfallen und der Einsperrzauber verloren gegangen ist. Kein Buchbinder, auch kein magisch veranlagter, kann ein Buch herstellen, das länger hält. Aber Erinnerungen überdauern, wenn sie von Generation zu Generation weitergegeben werden.

 

Hotep-Ra fährt mit der Königinnenbarke nach Port. Dort erwartet ihn ein Schiff, das unverzüglich in See sticht. Das Meer ist ruhig, und die Sonne scheint. Hotep-Ra verbringt die meiste Zeit an Deck und genießt noch einmal den Aufenthalt im Freien und die Seeluft. Die Erinnerung daran soll ihm über die lange Zeit des Eingeschlossenseins im Foryxhaus, seiner letzten Ruhestätte, hinweghelfen.

Die Nacht bricht herein, und das Schiff nähert sich den verwunschenen – und äußerst gefürchteten – Sireneninseln. Hotep-Ra sieht die Lichter der vier Leuchttürme, deren Spitzen einem Katzenkopf ähneln. Er wartet, bis das Schiff sie unbeschadet passiert hat und alle anderen schlafen gegangen sind. Dann wirft er den Ring mit dem Doppelgesicht ins Meer. Als der Ring im Wasser nach unten trudelt, blinkt sein Gold im Vollmondlicht auf, und ein hässlicher Kofferfisch verschluckt ihn.

Und damit beginnt die lange Reise des Rings mit dem Doppelgesicht zurück in den Zaubererturm. Wo er heute liegt. Und wartet.

 

* 1 *

WAS DARUNTER LIEGT

 

 

 

In den Kellergewölben des Manuskriptoriums war die Lebendkarte dessen, was darunter liegt auf einem großen Tisch ausgebreitet. Eine über dem Tisch hängende Laterne warf ein helles Licht auf den großen, brüchigen Bogen aus schillerndem Zauberpapier, der mit Briefbeschwerern des Manuskriptoriums – mit blauem Filz bezogene Bleiwürfel – beschwert war. Auf der Lebendkarte dessen, was darunter liegt waren alle Eistunnel eingezeichnet, die unter der Burg verliefen – alle bis auf die, die zu den Sireneninseln hinausführten. Und wie schon der Name verriet, war sie keine gewöhnliche Karte. Auf magische Weise zeigte sie, was in dem Augenblick, in dem man sie betrachtete, in den Eistunneln geschah.

Um die Karte standen der neue Obermagieschreiber O. Beetle Beetle, die Inspizientin Romilly Badger und der neue Kartenschreiber Partridge. Wäre in diesem Moment zufällig jemand in die Gewölbe marschiert, hätte er nicht sagen können, wer nun eigentlich der Obermagieschreiber war. Beetles lange, blau-goldene Amtsrobe war an einen nahen Kleiderhaken verbannt worden, da ihre goldverbrämten Ärmel die empfindliche Lebendkarte zerkratzen konnten. Zu frieren brauchte er dennoch nicht, denn er trug seine bequeme alte Admiralsjacke, die ihn vor der Kälte hier unten schützte. Er war sichtlich in seinem Element, wie er so über die Lebendkarte gebeugt dastand, hoch konzentriert, und Strähnen seiner dunklen Haare fielen ihm über die Augen.

Plötzlich quietschte Romilly – eine schlanke dunkelblonde junge Frau mit einem, wie Partridge fand, süßen, etwas albernen Lächeln – vor Aufregung. In einem breiten Tunnel unter dem Palast bewegte sich ein schwach leuchtender Punkt.

»Gut beobachtet!«, lobte Beetle. »Eisgeister sind nicht leicht zu entdecken. Das müsste die Stöhnende Hilda sein.«

»Da ist noch einer!« Romilly hatte eine Glückssträhne. »Oh … und seht mal, was ist denn das?« Sie tippte auf eine Stelle in der Nähe der ehemaligen Großen Kammer der Alchimie und Heilkunst.

Partridge war beeindruckt. Der leuchtende Punkt, auf den Romilly deutete, war winzig. »Ist das auch ein Eisgeist?«, fragte er.

Beetle sah genauer hin. »Nein, der ist zu dunkel. Und zu langsam. Seht doch, im Vergleich zur Stöhnenden Hilda, die jetzt schon dort drüben ist, kommt dieser Punkt kaum von der Stelle. Und die Umrisse sind zu klar erkennbar. Man kann sehen, dass es eine richtige Gestalt ist.«

Romilly stutzte. »Wie ein Mensch, meinst du?«

»Ja«, antwortete Beetle. »Genau wie ein … Mist

»Er ist weg«, sagte Romilly traurig. »Wie schade. Dann kann es aber kein Mensch gewesen sein, oder? Ein Mensch kann doch nicht so plötzlich verschwinden. Es muss ein Geist gewesen sein.«

Beetle schüttelte den Kopf. Für einen Geist war die Erscheinung zu körperlich gewesen. Aber die Lebendkarte zeigte an, dass alle Eistunnelluken noch versiegelt waren. Ein Mensch wäre also nirgendwo herausgekommen. Nur ein Geist konnte so mir nichts, dir nichts aus einem Eistunnel verschwinden.

»Merkwürdig«, murmelte er, »ich hätte schwören können, dass es ein Mensch war.«

 

Es war ein Mensch – ein Mann namens Marcellus Pye.

Marcellus Pye, unlängst wieder in das Amt des Alchimisten der Burg berufen, war soeben durch eine Luke am Boden eines der Eistunnel in einen nicht eingezeichneten Schacht eingestiegen. Sobald er durch die Luke hindurch war, wusste er sich in Sicherheit – die Lebendkarte zeigte nichts unterhalb der Eistunnels an.

Ein Pfahl mit Eisentritten führte in die Tiefe, und Marcellus kletterte mit geschlossenen Augen hinab. Er gelangte auf eine wackelige Eisenplattform und blieb stehen. Er wagte es nicht, die Augen zu öffnen, denn er konnte es kaum fassen, dass er nach fast fünfhundert Jahren zum ersten Mal wieder in der Feuerkammer war.

Doch Marcellus brauchte die Augen gar nicht zu öffnen. Er wusste auch so, wo er war. Als er tief einatmete, legte sich eine vertraute metallische Süße auf seine Zunge. Sie verriet ihm, dass er wieder zu Hause war, und löste eine Flut von Erinnerungen aus – an den Riss, der den Kessel von unten bis oben durchzogen hatte, das scharfe Knacken, als die Feuerstäbe zerbarsten, und die Hitze, als das Feuer außer Kontrolle geriet. An die Scharen von Trommlingen, die unermüdlich versuchten, den Schaden einzudämmen. Den Geruch von glühendem Gestein, als die Flammen unter der Burg um sich griffen und die alten Holzhäuser in Brand setzten. Die Angst, die Panik, als die Burg in einem Feuersturm unterzugehen drohte. Marcellus erinnerte sich an alles. Er machte sich auf ein Schreckensbild der Zerstörung gefasst, holte tief Luft und beschloss, bis drei zu zählen und dann die Augen zu öffnen.

Eins … zwei … drei!

Vor Überraschung zuckte er zusammen – es sah aus, als ob gar nichts Schlimmes geschehen wäre. Er hatte erwartet, dass alles mit schwarzem Ruß überzogen sein würde, aber das Gegenteil war der Fall. Die Plattform erstrahlte im Glanz der ordentlich aufgestellten Feuerkugeln, in denen noch die ewigen Flammen brannten. Marcellus hob eine Feuerkugel auf und hielt sie in den Händen. Er lächelte. Wie ein treuer Hund, der seinen heimkehrenden Herrn begrüßt, leckte die Flamme im Inneren der Kugel am Glas, als seine Hände es berührten. Er setzte die Kugel wieder ab, und sein Lächeln erstarb. Ja, er war wieder zu Hause, aber er war allein. Von den Trommlingen konnte keiner überlebt haben.

Marcellus wusste, dass er nun über den Rand der schwindelerregend hohen Plattform, auf der er stand, spähen musste. Dann würde er das Schlimmste zu sehen bekommen. Die ganze Konstruktion wackelte leicht, als er vorsichtig an die Kante trat. Ein Gefühl der Panik ließ ihm die Knie zittern – er wusste genau, wie tief er fallen würde.

Ängstlich spähte er über den Rand.

Weit unter ihm stand der große Feuerkessel. Seine Öffnung war eine kreisrunde schwarze Fläche, die ein Ring aus Feuerkugeln umschloss. Marcellus atmete erleichtert auf – der Feuerkessel war unbeschädigt. Er hielt den Blick in die Tiefe gerichtet und wartete darauf, dass sich seine Augen an das spärliche Licht gewöhnten.

Nach und nach traten mehr Einzelheiten aus dem Dunkel hervor. Die im Fels verankerten Metallgitter, die wie ein riesiges mattsilbrig glänzendes Spinnennetz die Höhlenwände überzogen. Die dunklen Kreise, die den Fels sprenkelten – die Eingänge zu Hunderten, vielleicht Tausenden Trommling-Höhlen. Die vertrauten Lichtmuster der Feuerkugeln, die den Verlauf der Laufgänge in der Höhle hundert Meter unter ihm markierten. Und schließlich, im Kessel selbst und das Beste von allem, das graphitfarbene Schimmern von einhundertneununddreißig Sternen – die Enden der Feuerstäbe, die aufrecht im Kessel standen wie dicke kleine Federhalter in einem Tintenfass.

Zutiefst verwundert schüttelte Marcellus den Kopf. Seine Feuerkammer war gereinigt, instand gesetzt und fachgerecht stillgelegt und machte ganz den Eindruck, als könnte sie jederzeit wieder in Betrieb genommen werden. Die Trommlinge hatten offensichtlich viel länger überlebt, als er es für möglich gehalten hatte. Sie hatten Schwerstarbeit geleistet, und er hatte nicht das Geringste geahnt. Seine Kehle schnürte sich zu. Er schluckte schwer und fuhr sich über die Augen. Mit einem Mal erlebte er das, was er einen Zeitsprung nannte – er wurde in die Jahre zurückversetzt, als er genau hier, an dieser Stelle, gestanden hatte.

Seine treuen Trommlinge wuseln um ihn herum. Julius Pike, der Außergewöhnliche Zauberer und sein einstiger Freund, steht auf der oberen Plattform und brüllt, das Prasseln der Flammen übertönend: »Marcellus, ich lege die Kammer jetzt still.«

»Bitte, Julius«, fleht er, »nur noch ein paar Stunden. Wir können das Feuer unter Kontrolle halten. Ich weiß es.« Neben ihm auf der Plattform steht der alte Duglius Trommling. Er sagt: »Außergewöhnlicher, wir Trommlinge können dafür bürgen.«

Aber Julius Pike erkennt einen Trommling nicht einmal als Lebewesen an. Er schenkt Duglius nicht die geringste Beachtung. »Du hattest deine Chance«, schreit er. »Ich versiegele jetzt die Wassertunnel und friere sie ein. Es ist vorbei, Marcellus.«

Mehrere stämmige Zauberer zerren ihn zur Luke. Er bekommt Duglius zu fassen und zieht ihn mit sich, fest entschlossen, wenigstens einen Trommling zu retten. Aber Duglius sieht ihm in die Augen und fordert streng: »Alchimist, lass mich los. Meine Arbeit ist noch nicht getan.«

Das Letzte, was Marcellus sieht, bevor der Lukendeckel zufällt, ist der alte Trommling, der traurig seinen Blick erwidert – Duglius weiß, dass dies das Ende ist.

 

Danach war Marcellus in Teilnahmslosigkeit verfallen. Er hatte Julius seinen Alchimieschlüssel ausgehändigt. Sogar mitgeholfen hatte er bei der Versiegelung der Großen Kammer der Alchimie und Heilkunst und nur müde mit den Schultern gezuckt, als ihm Julius mit einem boshaften Grinsen eröffnete, dass er jede Erinnerung an die Feuerkammer auslöschen werde: »Für immer, Marcellus. Es soll nie wieder ein Wort darüber verloren werden. Und in Zukunft wird niemand mehr erfahren, was hier unten ist. Niemand. Alle Aufzeichnungen werden vernichtet.«

Marcellus riss sich von der Erinnerung los, und die fernen Echos der Vergangenheit verklangen. Dies alles war längst vorbei, sagte er sich. Selbst der gefürchtete Julius Pike war nur noch ein Geist. Wie es hieß, war er dorthin zurückgekehrt, wo er aufgewachsen war – auf einen Bauernhof bei Port. Aber er, Marcellus Pye, war noch hier, und er hatte eine Aufgabe. Er musste das Feuer wieder in Gang setzen und den Ring mit dem Doppelgesicht vernichten.

Marcellus schwang sich auf die Metallleiter, die von der oberen Plattform nach unten führte, und machte sich vorsichtig an den Abstieg in die Feuerkammer – oder die Tiefen, wie die Trommlinge sie genannt hatten. Die Leiter wackelte bei jedem Tritt, aber Marcellus strebte unbeirrt der breiten Plattform weit unten zu, von der nun immer mehr Feuerkugeln zu ihm heraufblinzelten. Ungefähr zehn Minuten später setzte er den Fuß auf die einstige Beobachtungsstation und blieb stehen, um sich ein Bild zu machen.

Er befand sich nun auf gleicher Höhe mit dem oberen Rand des Feuerkessels und spähte hinab auf die sternförmigen Spitzen der Feuerstäbe. Ihr matter Glanz verriet ihm, dass sie unbeschädigt waren. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, hatten sie gebrannt und waren vor seinen Augen zerfallen. Und jetzt … Marcellus schüttelte bewundernd den Kopf. Wie hatten die Trommlinge das nur geschafft?

Ein schmaler Laufgang, der sogenannte Inspektionskreisel, führte außen um den Kessel herum. Er bestand aus Metallgittern, die dort, wo sie sich in der Hitze verbogen hatten, ausgebessert waren, wie Marcellus jetzt erkennen konnte. Mit äußerster Vorsicht setzte er den Fuß darauf und hielt sich gleichzeitig an den Geländern auf beiden Seiten fest. Er zog einen kleinen Hammer, einen sogenannten Trommler, aus seinem Werkzeuggürtel, umklammerte ihn fest und setzte seinen Weg fort. Alle paar Schritte blieb er stehen, klopfte gegen den Metallrand des Kessels und horchte angestrengt. Soweit er es beurteilen konnte, war der Kessel intakt, aber Marcellus wusste, dass seine Ohren längst nicht so gut waren, wie es diese Aufgabe eigentlich erforderte.

Genau dies hatten die Trommlinge rund um die Uhr, Tag und Nacht, getan. Sie hatten sich in Scharen um den Kessel gedrängt, mit ihren kleinen Hämmern unablässig gegen das Metall geklopft, seinem Klang gelauscht und alles verstanden, was es ihnen mitzuteilen hatte. Marcellus wusste, dass er nur ein schlechter Ersatz für einen Trommling war, aber er bemühte sich nach Kräften. Nachdem er den Inspektionskreisel abgeschritten hatte, kehrte er auf die Beobachtungsstation zurück. Nun kam der Augenblick, vor dem er sich am meisten fürchtete. Aber er konnte ihn nicht länger hinausschieben. Er musste in die Feuerkammer hinabsteigen.

Eine geschwungene Metalltreppe schraubte sich um den Bauch des Kessels herum in das Halbdunkel darunter, das nur ein paar verstreute Feuerkugeln erhellten. Langsam stieg Marcellus in die Tiefe, dem Geruch feuchter Erde entgegen. Auf der untersten Treppenstufe blieb er stehen und wappnete sich. Er war überzeugt, dass der Höhlenboden mit den Überresten der Trommlinge bedeckt war, und der Gedanke, ihre kleinen zarten Knochen wie Eierschalen zu zertreten, war ihm unerträglich.

Es dauerte mehrere Minuten, ehe er es wagte, den Fuß auf den Boden zu setzen. Zu seiner Erleichterung erklang kein grässliches Knirschen. Er tat einen zweiten Schritt – auf Zehenspitzen –, dann noch einen. Nur nackte Erde unter seinen Füßen. So arbeitete er sich behutsam um den Kessel herum, wobei er nach jedem Schritt mit dem Hammer dagegenklopfte und lauschte, ehe er weiterging. Kein einziges Mal trat er auf etwas, was auch nur im Entferntesten knirschte. Er nahm an, dass die zarten Knochen bereits zu Staub zerfallen waren. Nachdem er den Kessel einmal ganz umrundet hatte, wusste er, dass alles in Ordnung war.

Nun wurde es Zeit, das Feuer in Gang zu setzen.

Auf die Beobachtungsstation zurückgekehrt, folgte Marcellus einem anderen, erschreckend wackligen Laufgang, der in zehn Metern Höhe quer durch die Höhle verlief. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, froh über das Licht, das die direkt darunter aufgestellten Feuerkugeln spendeten. Schließlich gelangte er zu einer Felskammer, die in die Rückwand der Höhle gehauen war, und betrat sie. Er war wieder in seinem alten Kontrollraum.

Im Lauf der Jahrhunderte hatte sich eine dicke Staubschicht angesammelt, aber Marcellus konnte sehen, dass darunter alles glänzte und die Wände weiß getüncht waren – von dem schmierigen Ruß, der alles bedeckt hatte, war keine Spur mehr zu entdecken. Marcellus ging zur hinteren Felswand, an der neben einer Reihe von Eisenhebeln ein großes Messingrad angebracht war. Er holte tief Luft und legte die Hände auf das Rad. Es ließ sich leicht bewegen. Während er langsam daran drehte, hörte er, wie sich die Steuerungskette, die durch den Fels nach oben zum Unterfluss führte, mit einem dumpfen Rasseln in Bewegung setzte. Irgendwo weit über ihm öffnete eine Schleuse ihre Klappe. Lautes Gurgeln hallte durch die rußschwarze Nacht des Alchimie-Kais, und das aufgestaute Wasser geriet in Fluss. Marcellus vernahm ein Grollen im Innern des Gesteins, als das heranstürzende Wasser alte Kanäle erreichte und das Reservoir hinter der Höhlenwand füllte.

Nun trat Marcellus zu einer Reihe von einundzwanzig kleineren Rädern weiter hinten. Sobald das Feuer brannte, musste er die überschüssige Hitze abführen können. Früher hatte man sie durch die heutigen Eistunnel geleitet und oben in der Burg ältere Häuser damit beheizt. Aber Marcellus hatte der jetzigen Außergewöhnlichen Zauberin, Marcia Overstrand, versprechen müssen, die Eistunnel zu erhalten. Aus diesem Grund musste er die Nebenlüftungsanlage öffnen – ein Netz von dünnen Rohren, die sich bis hinauf an die Erdoberfläche verzweigten.

Noch wollte Marcellus nicht riskieren, entdeckt zu werden. Er brauchte Zeit, um das Feuer in Gang zu setzen, und Zeit, um zu beweisen, dass es für die Burg keine Gefahr darstellte. Marcia hatte ihm zwar erlaubt, das Feuer zu entzünden, aber wie er wusste, dachte sie dabei an das Feuer in dem kleinen Ofen in der Großen Kammer der Alchimie und Heilkunst. Und er hatte sie in dieser falschen Annahme sogar noch bestärkt. Julius Pike hatte nämlich zu ihm gesagt, er werde dafür sorgen, dass nie wieder ein Außergewöhnlicher Zauberer die Erlaubnis zur Öffnung der Feuerkammer geben werde – und Marcellus hatte ihm geglaubt.

Aus diesem Grund wandte sich Marcellus nun den kleinen Messingrädern zu, mit denen sich überall in der Burg verteilte Lüftungsrohre öffnen ließen, durch welche die überschüssige Hitze des erwachenden Feuers entweichen konnte. Marcellus hatte lange über diesen Punkt nachgedacht – er durfte nur dort Lüftungsrohre öffnen, wo sich die plötzlich auftretende Wärme auf andere Ursachen schieben ließ. Jetzt fischte er einen zerknitterten Zettel mit einer Liste aus der Tasche, zog ihn zurate und drehte dann, gewissenhaft abzählend, neun Räder bis zum Anschlag auf. Er überprüfte noch einmal die Liste, dann die Räder, ehe er zufrieden zurücktrat.

Ein roter Zeiger auf einer Skala verriet ihm, dass der Wasserspeicher mittlerweile fast voll war. Marcellus drehte an dem großen Rad und schloss das Schleusentor wieder. Dann warf er einen letzten Blick auf die Liste und verließ den Kontrollraum. Aufgabe erledigt.

Zwei Stunden später floss das Wasser durch den Kessel, und das Feuer trat in den langsamen, sanften Prozess des Lebendigwerdens ein. Erschöpft drückte Marcellus seinen Alchimieschlüssel in die Vertiefung an der unteren Feuerluke. Er musste daran denken, wie ihn Julius eines Tages, als sie beide schon alt waren, besucht hatte, ihm den Alchimieschlüssel zurückgab und sagte: »Ich vertraue dir, Marcellus. Ich weiß, dass du ihn nicht benutzen wirst.« Und er hatte ihn tatsächlich nie benutzt.

Bis heute.

 

Romilly und Partridge waren längst an ihre Arbeit zurückgekehrt, aber Beetle war noch in den Gewölben und beobachtete die Lebendkarte – was auch immer unter die Eistunnel gegangen war, musste auch wieder heraufkommen. Sein Magen knurrte, und wie auf ein Stichwort streckte Foxy, der Erste Charm-Schreiber, den Kopf zur halb geöffneten Tür herein. Beetle schaute auf.

Marcellus kletterte durch die untere Feuerluke. Wieder bildete er auf der Lebendkarte dessen, was darunter liegt einen Leuchtpunkt.

»Tada!«, rief Foxy. »Sandwich mit Würstchen!« Er legte ein sauber in Papier eingewickeltes Päckchen neben Beetles Kerze. Es duftete köstlich.

Marcellus schloss die untere Feuerluke und begann zu klettern – schnell.

»Danke, Foxy«, sagte Beetle und schaute wieder auf die Karte, aber seine Augen, müde vom langen Starren, waren nicht mehr scharf genug, um das Erscheinen von Marcellus als kleinen Leuchtpunkt zu entdecken. Vielmehr schielte Beetle sehnsüchtig nach dem Würstchen-Sandwich. Jetzt erst merkte er, wie hungrig er war.

»Ich packe es für dich aus«, erbot sich Foxy. »Ich möchte keine klebrigen Flecken auf der Lebendkarte.«

Beetle blickte wieder auf die Karte.

»Etwas entdeckt?«, fragte Foxy.

»Ja … ich glaube …« Beetle deutete auf den leuchtenden Marcellus, der nun plötzlich wieder sichtbar war.

Foxy beugte sich vor, und seine Hakennase warf einen Schatten auf den Leuchtpunkt.

Marcellus erreichte die obere Feuerluke.

»Weg da, Foxy«, sagte Beetle gereizt. »Du stehst im Licht.«

»Oh, entschuldige.«

Beetle schaute auf. »Entschuldige, Foxy. War nicht so gemeint. Danke für das Sandwich.«

Marcellus war durch die obere Feuerluke gestiegen und auf der Lebendkarte nun nicht mehr zu sehen.

Beetle biss in sein Würstchen-Sandwich.

Und in den Tiefen erwachte das Feuer zum Leben.