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Gerd H. Meyden

WAS UNS JÄGERN
WIRKLICH BLEIBT …

 

Leopold Stocker Verlag

Graz-Stuttgart

Umschlaggestaltung: Werbeagentur / Digitalstudio Rypka GmbH. / Thomas Hofer, Graz
Titelbild: Gerd H. Meyden

Alle Fotos im Innenteil des Buches wurden dem Verlag freundlicherweise vom Autor zur Verfügung gestellt.

Bibliographische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

ISBN 978-3-7020-1236-6
eISBN 978-3-7020-1236-6

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind Vorbehalten.

© Copyright by Leopold Stocker Verlag, Graz 2009
Layout: Klaudia Aschbacher, A-8111 Judendorf-Straßengel

„Für Eugenie“

Inhalt

Vorwort

„…wie du’s erjagst“

Frühe „Jagdreisen“

Mein Niederwildrevier

Bergrehböcke

Sommergams

Im Moos

Bergsommer

Umbrien

Auf der Biberalp

Zwei besondere Gamsböck’

Bergjägers Rucksack

Nebel

Im Burgenland

Im späten Herbst

Drückjagd und Drückjagd

Allgäuer Rhapsodie

Blaue Schatten

Die Beute

Vorwort

Im Laufe vieler Jahrzehnte habe ich eine ganze Menge Jagdbücher gelesen und mir von den jeweiligen Autoren ein Bild machen können. Das vorliegende Buch von Gerd H. Meyden gehört zur Kategorie der Bücher, die man zu lesen nicht versäumen sollte. Der Kenner spürt sofort, dass hier ein gewachsener Jäger schreibt, einer der schon in der Jugend das vielseitige und reizvolle Handwerk des Waidwerkes von der Picke auf gelernt hat. Mich beeindruckt in diesem Buch vor allem die Ehrlichkeit und die Genauigkeit der Schilderungen eigener Jagderlebnisse und ich bin bei der Lektüre dieses wirklich lesenswerten Werkes auf Reviere „gestoßen“, in denen ich vor etlichen Jahren selbst gejagt habe. Es beeindruckt und freut mich, dass der Autor auch jenen unvergessenen Jagdschriftsteller des Leopold Stocker Verlags lobend erwähnt und zitiert, der unser aller Vorbild als Autor war: Wolfgang Freiherr von Beck. Er ist schon lange tot und würde es verdienen, neu aufgelegt zu werden. Ich halte ihn mit Gagern durchaus ebenbürtig, darüber hinaus ist er ein seinerzeit weithin Echo findender Autor unseres gemeinsamen Verlages.

Die jagdliche Ethik, die das Buch von Gerd H. Meyden vom Anfang bis zum Ende als wichtiger Inhalt begleitet, war auch das große Anliegen von Baron Beck, der somit nicht nur des Autors Vorbild ist, sondern auch meines. Ich würde es wünschen, dass die heutige jagende Jugend ihn kennen lernen würde, damit sie von ihm lernt, denn vieles wird heute „Waidwerk“ genannt, was schon weit von der Ethik entfernt ist, und das gute Beispiel, das lehrende Wort vermag viel zu erreichen und manche, ein wenig Verirrte, auf den richtigen Weg zurückzuführen. In diesem Sinne ist Gerd Meydens Buch ein sehr wichtiger Baustein auch in unserer so schnelllebigen und seit meiner Jugend total veränderten Zeit. Ein lehrreiches, unterhaltsames und unverfälschtes Werk eines guten Waidmannes, das nur zu empfehlen ist.

Graz, im Jahre 2009 Philipp Meran

„…wie du’s erjagst“

Des Jägers edelste Beute ist nicht der schweißbespritzte Bruch hinterm Hutband, noch die Hauptkrone an der Wand; auch dieses, die Beute, die Ausbeute kommt nicht mit äußerlichen Gebärden, sie ist inwendig in uns.

FRIEDRICH V. GAGERN

Die Erinnerung an das Erlebte, ob mit oder ohne greifbare Beute kann einem niemand mehr nehmen. Das Drum und Dran, und vor allem das „Wie“ machen die Jagd zum Waidwerk. Wenn sie nur aus Schuss und Wildwanne besteht, dann ist der Zauber, wenn er sich überhaupt einstellen konnte, rasch verflogen.

Dazu möchte ich eine beispielhafte Geschichte erzählen:

Ein junger Jäger und lieber Freund, der mich selbst heute noch um Rat fragt, wollte gerne einen Hirsch erlegen. Sein Vater versprach ihm zur Promotion diesen Wunsch zu erfüllen. Zufällig bot mir ein befreundeter Berufsjäger die Möglichkeit an, in der Brunft auf einen alten, guten Hirsch zu jagen. Diese Gelegenheit sollte statt mir der junge Freund nutzen. Er und der Berufsjäger fuhren mit dem Auto bis auf 100 m zum Ansitzplatz. Als es schon fast zu dunkel war, trat der Hirsch auf die Wiese. Dem Berufsjäger war er bekannt, der Jagdgast sah nur einen dunklen Schemen. Der Jäger musste dem Schützen fast noch den Büchslauf zum Ziel dirigieren, so finster war es geworden. Mündungsblitz – Fortrumpeln und Zusammenbrechen. Der Hirsch lag nach 20 Metern. Bis die Jäger zum Wild herantreten konnten, war es „Kuhranzennacht“. Man rief mich an, der Hirsch läge und ich solle zum Jägerhaus kommen. Nichts lieber als das. Meine Frau und ich eilten mit Jagdhorn, Fackeln und einer guten Flasche zum Jagdhaus des Berufsjägers. Aber als Schütze und Pirschführer eintrafen – wo war der Hirsch? Der Jäger hatte den Erlegten sofort auf den Anhänger geladen und in die kilometerweit entfernte Kühlkammer gebracht. Nichts war’s mit Verblasen im Fackelschein und einer kleinen Feier am gerecht gestreckten Wild. Der Gast war um ein bedeutendes jagdliches Erlebnis betrogen worden. Ihm war nur die Erinnerung geblieben an blendendes Mündungsfeuer vor dunklem Wildkörper. Zwischen Schuss und Überreichen der Trophäe klaffte eine wochenlange Lücke, bis der junge Jäger endlich das wirklich gute Geweih des alten Hirsches in Ruhe und bei Licht betrachten konnte. Wenn es vorher schon so nüchtern zugegangen war – oft ist es gar nicht anders möglich – so hätte der Jäger, zu dessen Beruf das unbedingt gehört, dem Gast auf jeden Fall nach dem Schuss einen erinnerungswürdigen Rahmen gestalten müssen. Besonders bei einem „Ersten“ Hirsch.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit ich mit druckfrischem Jugendjagdschein glaubte, mich Jäger nennen zu dürfen.

Unendlich viele Reviere, unendlich viele und vielerlei Jäger konnte ich als Jäger und Hundeführer inzwischen kennen lernen. Die anfängliche Wundergläubigkeit an alle, die „grün“ ausschauten, ist mit den Jahren einer kritischen, nüchternen Betrachtung gewichen.

Die vielen neuen Jagdscheinbesitzer, die nicht das Glück haben, langsam, am guten Beispiel anderer lernend, in die „Grüne Zunft“ hineinzuwachsen, sind nach beendeten Jagdscheinkursen zum Teil sich selbst überlassen.

Bei Drückjagden, denen ich mit meinem Hund zur Nachsuche zur Verfügung stehe, höre und sehe ich so Einiges. So etwa, welch bedenklichen Weg manche Jungjäger im Zuge der „Mc-Donaldisierung“ der Jagd eingeschlagen haben. Diejenigen „Bezahljagden“, auf denen nur die geldbringende, höchstmögliche Anzahl des erlegten Wildes einziger, blanker Sinn und Zweck der „Veranstaltung“ ist, geben nicht unbedingt gutes Beispiel ab. Ich denke da nur an ein Staatsrevier, wo bei einer Drückjagd weder ein Horn erklang, noch Strecke gelegt wurde, geschweige denn Brüche überreicht wurden. Das Wort „Waidmannsheil“ wurde bei der Begrüßung strikt vermieden, obwohl sicher der eine oder andere echte Waidmann als Schütze dabei war. Als stummer Beobachter werde ich mich jedoch hüten, Anderen ungefragt Lehren oder Ratschläge zu erteilen.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich ungeheuer viel verändert und auch Dank besserer Einsicht und Erkenntnisse gewandelt. Das ist ein Gesetz des Lebens, denn alles fließt.

Nur eines sollte eherner, unwandelbarer Mittelpunkt all unseres jägerischen Handelns sein: die Ethik. Nennen wir es Anstand, Waidgerechtigkeit oder Achtung des brüderlichen Geschöpfes.

Der große und wahre Waidmann Wolfgang Freiherr von Beck hat es einst ganz klar ausgedrückt:

„Das jagdliche Ethos ist das feste und einzige Fundament, auf dem wir fest stehen und mit dem wir, wenn wir es verdummen und verspielen, auch fallen werden!“

Dem ist nichts hinzuzufügen.

Frühe „Jagdreisen“

Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist.

JEAN PAUL

Wenn einer heutzutage von Jagdreisen erzählt, dann sollte es unbedingt weit in die Ferne gehen. Namibia ist bald schon so alltäglich, als wenn einer vom Urlaub auf Mallorca berichtet. Nein, damit die staunende Runde die Löffel spitzt, da muss es schon nach Neuseeland, Alaska, Kamtschatka oder in den Tien Shan gehen.

Mit meinen frühen „Jagdreisen“ kann ich da nicht punkten. In den Fünfzigerjahren da kannte man die wenigen jagdlichen Globetrotter, die je über des Vaterlands Grenzen hinaus ihre Büchse geführt hatten, alle beim Namen. Staunend und sehnsüchtig verschlang ich die Berichte eines Graf Hoensbroech, Ernst Zwilling oder Eben-Ebenau. Jedoch, wie man es meinem Sternzeichen Schütze nachsagt, verspürte ich schon früh Fernweh und Reiselust. Doch es war noch weit bis zu jenem Schritt, frei nach Mephisto: „Ihn treibt die Sehnsucht in die Ferne.“

Von einer Jagdreise in die Weite der Welt konnte ich nur träumen und ich führte Freudensprünge auf, weil ich auf einen Rehbock ins Donaumoos eingeladen war.

Mein strenger jagdlicher Lehrprinz, Graf Bülow, der in München 1951 ein Bläserkorps gegründet hatte, dessen jüngstes Mitglied ich war, hatte seinen Wirkungskreis nach Augsburg verlegt. Auch dort hatte er schnell junge Jäger für Brauchtum und waidgerechtes Jagen begeistern können. Zur Feier der bestandenen Jägerprüfung seiner Schützlinge waren wir zur festlichen Umrahmung mit Hörnerklängen zur Stelle. Die gestandenen „alten Jäger“ und Revierinhaber luden uns nun zur Belohnung auf einen Rehbock ein. Mein Gönner war ein Augsburger Urgestein – der Heindl Schorsch. Die Einladung war im Herbst ausgesprochen worden, und ich konnte es kaum erwarten, dass es endlich Juni würde. Doch zuvor musste ich selbst diejägerprüfung machen.

Das war damals noch ein recht einfaches Spiel, mir jedenfalls erschien es so, der ich mit Jagd und Hunden aufgewachsen war. Die Prüfer kannten mich allesamt. Entweder es waren Hundeleute – ich führte ja schon selber auf Verbandsprüfungen – oder sie kannten mich als passionierten Jagdhornbläser. Mit einem der Prüfer diskutierte ich über Deutsch-Kurzhaar-Mutterlinien, mit dem anderen, der Wildkunde prüfte, über Rezepte der Wildzubereitung. Die Schießprüfung war ein Vergnügen, sodass ich frech nach schwereren Tontauben fragte. Das fachliche Wissen, welches damals gefordert wurde, konnte ich locker und ausführlich unter Beweis stellen. Die „Alten“ waren froh, so begeisterten Nachwuchs in ihren durch den Krieg gelichteten Reihen zu haben.

Es kam nun die Blattzeit heran, und der Heindl Schorsch wollte mich auf meinen „Ersten“ führen. Ich wohnte damals in einem Vorort im Westen Münchens. Die Entfernung von „lächerlichen“ 80 km bis Augsburg strampelte ich daher per Fahrrad ab. Eine Büchse, hieß es, brauchte ich nicht mitzubringen, der Schorsch wollte mir seinen Drilling leihen. So radelte ich frohgemut, mit druckfrischem Jugendjagdschein, grünbehemdet gen Westen. Ab und zu begegneten mir ebenfalls grüngewandete Pfadfinder. Freundlich grüßend hielten sie mich für einen der Ihrigen. Um sie nicht zu enttäuschen, entgegnete ich auch mit Pfadfindergruß, den ich ihnen schnell abgeguckt hatte.

In Augsburg angelangt, bestieg ich den VW-Käfer vom Heindl Schorsch und wir schnurrten frohgemut gen Donauried. Im Revier, in der Nähe von Mertingen, hatte der Schorsch eine winzige Jagdhütte, klein wie eine Schuhschachtel, inmitten eines Kiefernwaldes. Ich wurde ermahnt, stets sofort die Türe zu schließen, denn draußen sangen und sirrten blutdürstige Mückenwolken. Denen war ich mit meinen kurzen Lederhosen ein willkommenes Opfer. Die Frau vom Schorsch – selber Jägerin – mied das Revier im Sommer, da sie auf Insektenstiche allergisch reagierte.

Gegen die Mückenplage hatte ich ein Mittelchen dabei – Bonomol – das bei unvorsichtiger Anwendung auf den Schleimhäuten und an den Augen höllisch brannte. Doch jetzt, glaubte ich als „gestandener Jäger“, könnte eine Pfeife meine „Würde“ unterstreichen und zugleich die lästigen Insekten vertreiben. Ich hatte mir schon fachmännisch eine teure Pfeife eingeraucht, indem ich den Pfeifenkopf innen mit Honig eingestrichen hatte. Das, so sagten mir die Experten, würde den richtigen Brand geben. Es gab ihn auch, vor allem auf meiner Zunge. Ich schmeckte nichts mehr, außer salzig oder süß, aber ich fand, es sehe furchtbar fesch aus, so lässig mit der Pfeife im Mund.

Zum Abendansitz brachte mich der Jagdherr auf einen Sitz an einer Erle am Rande des Moores. Er hatte dort einen Einstangenbock bestätigt. Stolz und glücklich, endlich allein ansitzen zu können, kraxelte ich auf meinen Erlensitz. Der Drilling mit der 8x57R-Kugel duftete wunderbar nach Ballistol. Immer wieder musste ich daran schnuppern. Am Geruch dieses Waffenöls hängen für mich seitdem immer noch die schönsten Erinnerungen.

Im schwindenden Büchsenlicht erspähte ich den Gesuchten, aber die Entfernung war zu groß. Eifrig trieb er seine Geiß in immer weiteren Kreisen von mir fort.

In der Nacht fand ich vor lauter Vorfreude kaum Schlaf – eine lästige Eigenschaft, die mich auch heute, nach so vielen Jahrzehnten, noch nicht verlassen hat. Zum Aufstehen in aller Herrgottsfrühe brauchte ich keinen Wecker. Schon vor dem ersten Dämmern saß ich mückenumsirrt auf meiner Leiter. Ich rauchte eine Pfeife nach der anderen, meine Zunge wurde immer pelziger und gefühlloser.

Da erspähte ich im ersten Morgenlicht den Gesuchten. Wieder trieb er keuchend seine Geiß, wieder war er viel zu weit. Da hielt es mich nicht mehr auf meinem Sitz und ich pirschte mich an. Die Strafe folgte sogleich. Die Geiß bekam mich in den Wind und sprang, den Bock mit sich fortnehmend, ab. Enttäuscht und verärgert über meine Ungeduld schlich ich zu meinem Erlensitz zurück. Doch die grünen Geister hatten ein Einsehen. Bald rauschte es in den Erlenstauden und der Bock trieb, nun wesentlich näher, seine Geiß in Kreisen und Girlanden um die Büsche. Mit dem Drilling im Anschlag, das Herz hämmerte bis zu den Ohren, wartete ich, dass er einmal verhoffen würde. Endlich stand er breit. Eingestochen! Ich nahm mich zusammen und der erlösende Schuss knallte ins stille Moor. Mit taumelnder Flucht verschwand der Getroffene im Gesträuch.

Als ich nach einer nie enden wollenden Halbstunde zum Anschuss ging, wies mir blasiger Lungenschweiß die Fluchtbahn. Nach wenigen Metern stand ich dann vor meinem Ersten, dessen einzige Stange, etwa zehn Zentimeter hoch, wie ein Korkenzieher gewunden war.

Nachdem ich ihn aufgebrochen hatte – mit den von Blutgier wie tollen Bremsen und Mücken eine wahre Tortur – verblies ich ihn, ich war ja schließlich Jagdhornbläser, mit allen passenden Signalen. Am liebsten hätte ich noch Zugaben gemacht.

Bald erschien der Schorsch, der sich mit mir freute und mir den ersten Erlegerbruch – natürlich Erle – überreichte. Seitdem ist mir der Erlenbruch, wenn’s keine Zirbe oder Latsche gibt, der liebste geblieben.

Es war noch früh am Morgen, und so wollte der Freund mit mir einen Pirschgang durchs Moos machen. Den Bock ließen wir zum Ausschweißen an einem schattigen Platz zurück. Es ging an Torfstichen, an rohrkolbenumwachsenen Tümpeln vorbei, aus denen paakend Enten aufstiegen, immer weiter hinein ins menschenleere, weite Donauried. Auf einer größeren Freifläche machten wir einen geringen Bock aus.

„Auf, Gerd, den schiesch jetzt au no!“ forderte mich der großzügige Versucher auf.

„Nein Schorsch, vielen Dank, aber versteh’ mich recht, das Erlebnis vom Morgen, das soll heute einzigartig bleiben!“

Der liebe Freund verstand mich gut und schoss nun selbst den geringen Gabler. Den wollte aber jetzt ich tragen und packte mir den Erlegten in den Rucksack. Mittlerweile stand die Sonne hoch am Himmel und machte den glühenden Hundstagen alle Ehre. Der Schweiß rann mir in Strömen herab, schwemmte das Mückenmittel fort, und Pfeife rauchen – das war sinnlos. Zeitweise waren meine nackten Knie geradezu grau von Blutsaugern und ich verstand sehr gut, warum die Frau vom Schorsch hier im Sommer fernblieb.

Ich habe in späteren Jahren in diesem Revier noch so manchen Rehbock glücklich schwitzend zur kleinen Jagdhütte getragen, aber da war ich besser gegen die Bluträuber gewappnet.

Der korkenzieherartig gewundene „Einstangler“ hängt heute an einem Ehrenplatz auf einem besonderen Taferl neben einem anderen, der eine hohe Anzahl meiner Rehböcke rundete.

* * *

Meine nächste „Jagdreise“ führte mich in den Chiemgau. Auf den zahlreichen Hundeprüfungen schloss ich nähere Bekanntschaft mit dem Freiherrn Crafft von Crailsheim. Sein Familiensitz, das Schloss Amerang, mit dem berühmten, von den Scaligern erbauten Renaissance-Innenhof wurde bereits im Jahre 1072 urkundlich erwähnt. Er lud mich ein, geringe Böcke nach Herzenslust zu schießen und auf dem Schloss könne ich überdies nächtigen. Er selbst wohnte nicht mehr darin, er hatte sich drunten am Ortsrand eine Villa erbauen lassen. In seiner herzlichen, geraden und manchmal recht rauen Art – er hieß daher auch der Raugraf – sagte er mir auch, warum: „Da dro’m im Schloss, da mog i net blei’m, da ziagt’s mir am Abort oiwei so eiskoit am Arsch aufi!“ Das waren die jahrhundertealten Fallklosetts, die ihn ins Tal vertrieben hatten.

Und noch eine andere Geschichte ist bezeichnend für ihn. Gleich nach der Besetzung Bayerns durch die Amerikaner waren Waffenbesitz und Jagen bei Todesstrafe verboten. Jedoch der „Raugraf“ ging munter weiter auf die Jagd. Das blieb der Besatzungsmacht nicht verborgen und so kam er vor Gericht. Dort ließ er sich die Schneid nicht abkaufen und erklärte den verdutzten Anklägern: „Meine Vorfahren sind hier schon auf die Jagd gegangen, als ihr noch nicht einmal entdeckt wart, und ich lasse mir das auch nicht von euch verbieten!“ Solche Töne hatten die Amis noch nie gehört. Und der Prozess schien übel für ihn zu enden. Da rettete ihn ein Zufall und ein findiger Verteidiger. Sein Sohn Bernulph hatte gerade spektakulär als Erster die Watzmann-Ostwand im Winter-Alleingang bezwungen. Und der Vorsitzende Richter war, wie der Anwalt herausgefunden hatte, ebenfalls ein begeisterter Bergsteiger. Als nun die neue Verhandlung wieder in neue Beschimpfungen des uneinsichtigen „Wilderers“ auszuufern drohte, sagte der Anwalt dem Richter, dass dieser doch der Vater jenes „brave Bernulph“ sei. Darauf tat jener den weisen Spruch: „This man is okay, let him go!“

Die Einladung mit unbegrenzt freier Büchse auf geringe Böcke versetzte mich in den siebten grünen Jägerhimmel. Die Entfernung nach Amerang war jedoch nicht per Fahrrad zu bezwingen, zumal ich nicht ohne Hund sein wollte. Ich war und bin immer noch der Ansicht, dass der brauchbare Hund genauso wie die Büchse oder Flinte zum echten Jäger gehört. Mein Lehrprinz prägte mir schon früh ein: Jagd ohne Hund ist Schund!

In den Pfingstferien fuhren wir, Deutsch-Kurzhaar Birko und ich, per Bahn – das Rad kam in den Gepäckwagen – nach Obing im Chiemgau. Von dort sollte es mit dem Drahtesel weiter nach dem Schloss gehen. Erst ging es jedoch mit dem Vorortszug zum Münchner Hauptbahnhof.

Den Hund an der Seite, auf dem Buckel der Rucksack, Büchsflinte auf der Schulter, das war ein Anblick, der damals niemandem sonderbar vorkam. Wir durchquerten den Bahnhof, und ab ging’s nach Obing.

Ich meldete mich beim Baron und er begleitete uns zum Schloss. Dort wies er mir ein Gästezimmer zu. Von wegen Gästezimmer: das klingt recht allgemein. Es war ein Riesensaal, etwa sechs Meter hoch und in den Ausmaßen einer Luxussuite. Doch darin mönchisch karg nur ein Bett, ein Stuhl und ein Waschtisch mit Wasserkanne und -schüssel. Hat mir auch völlig genügt, der ich ja ständig draußen im Wald sein wollte.

Ich wurde mit der einzigen Mitbewohnerin bekannt gemacht, einer bildschönen, blutjungen Komtess, die ebenfalls im Schloss auf Besuch weilte. Das Verlockende der Situation kam mir damals gar nicht in den Sinn, ich hatte eh nur Rehböcke im Kopf. In Schloss und Reviergrenzen eingewiesen, verließ mich mein großzügiger Gastgeber.

Erst einmal durchstreifte ich mit seiner Erlaubnis die vielen unbewohnten Räume. Neben meinem Saal war ein noch viel größerer – vollgestapelt mit jahrhundertalten Antiquitäten, die seit Generationen immer neuen Zuwachs bekommen hatten. Auch gab es ein „Tütenzimmer“. Der Baron erzählte mir, ein Vorfahr hätte den Spleen gehabt, dass keine Tüte weggeworfen werden dürfe, man könne sie sicher irgendwann wieder verwenden. Also sammelte das Personal Tüte um Tüte, bis der Raum – und es war kein kleiner – mit Tüten vollgepackt war.

Bevor man über den Schlossgraben ins Gemäuer gelangte, konnte man die Grabstätten etlicher Generationen heißgeliebter Dackel bewundern. Der rauen Schale weicher Kern.

Schnell hatte ich mich in meiner Bleibe eingerichtet, dem Hund ein warmes Lager für die Nacht hergerichtet und schwang mich aufs Rad, bretterte den Schloßberg hinab, jägerischen Taten entgegen.

Rehe gab’s reichlich in dem damals noch wenig zersiedelten Voralpenrevier.

Es war nicht schwer, Anfang Juni zu Anblick und Beute zu kommen. Jeden Tag trug ich einen Bock oder ein Schmalreh ins Dorf zum Baron hinunter. Mittags und abends gab es dann entweder Rehleber oder Herz und Nieren. Mein schmales Taschengeld als Gymnasiast reichte nicht für großartige Einkäufe. In der alten Schloßküche habe ich für die staunende Komtess mitgekocht, die nur ein wenig assistieren konnte. Der Küchenchef war ich. So ging es eine ganze Woche lang, immer Leber, Leber, Leber. Ich ließ mir einige Variationen einfallen, doch so toll war meine Kochkunst auch wieder nicht, dass es nicht langsam eintönig zu werden begann. Mein schöner Tischgast verspeiste klaglos, was ich da zusammenbrutzelte. Am vierten Tag kam ich auf die rettende Idee, auch einmal Leberknödel zu machen. Das war dann der Schlager der Woche. Zum Abschiedsmahl durfte sich das Komtesserl eine Lieblingsvariante aussuchen – nochmals Leberknödel. Ich bin mir ganz sicher, sollte sie später einen Jäger geheiratet haben, dass er ihr mit Rehleber ganz gewiss vom Hof bleiben sollte.

Eines aber hat sie allenfalls gelernt: Wie kocht man Rehgwichtl aus. Jeden Tag gab es ein neues frisch zu präparieren, wobei sie mir interessiert zuschaute. Ob das jedoch für ihren späteren Lebensweg von Bedeutung war – das wage ich zu bezweifeln.

Nach einer beute- und erlebnisreichen Woche radelte ich mit sechs Rehgwichtln im Rucksack wieder der Heimat zu. Dem Hund jedenfalls ist das „Jägerrecht“ mit Herz, Leber, Nieren und Pansen nicht zuviel geworden.

Auf einer der nächsten Hundeprüfungen begrüßte mich der Baron mit meinem neuen Namen: „Servus Leberknödel!“

* * *

Die nächsten „Jagdreisen“ führten mich in den fränkischen Jura. Sie sehen schon, ich zog nun meine Kreise von Mal zu Mal weiter. In einem jagdlichen Fortbildungskurs lernte ich ein Ehepaar kennen, das mir sein Revier nordöstlich von Ingolstadt öffnete. Auch dorthin brachte mich das Fahrrad.

Erst ging es etwa 20 km über Feldstraßen nach Dachau zum Bahnhof. Der Kurzhaar trabte wie immer flott nebenher. Weiter per Bahn bis Ingolstadt, dann wieder erst quer durch die Stadt geradelt und dann hinaus gen Gaimersheim über den Reisberg nach Böhmfeld. Das waren auch wieder etliche „zig“ Kilometer. Für den Hund kein Problem – nur wenn Katzen am Wegesrand schlichen, gab’s unfreiwilligen Aufenthalt.

Das Revier lag einsam um das kleine Dorf, umgeben von sanften felsigen Waldhügeln, unterbrochen von wacholderbestandenen Magerwiesen, zwischen denen sich fossile Flusstäler schlängelten, die seit der letzten Eiszeit trocken waren. Der Jagdherr, ein väterlicher Freund um Mitte Vierzig, war verheiratet mit einer passionierten Jägerin, die aus Siebenbürgen stammte. Sie konnte noch viel erzählen von der elterlichen Jagd in den Karpaten um Kronstadt, ihrem ehemaligen Heimatort. Unter anderem brachte sie mir, es war gerade der Ungarn-Aufstand von den Kommunisten blutig unterdrückt worden, den Schlachtruf der Revolution: „Es lebe die ungarische Freiheit!“ auf ungarisch bei. Das hätte mich viele Jahre später beinahe hinter Gitter gebracht. Bei einem Aufenthalt in Budapest wollte ich, voll des tückischen Plattenseer Rieslings (wenn ich daran denke, bekomme ich heut’ noch Kopfweh), den Einheimischen freundliche Worte zurufen. Nachdem ich, naiv wie ich war, „Eljen a magyar szabadság!“ ins Lokal gerufen hatte, packten mich schnell ein paar gutwillige Ungarn und schleppten mich fort, bevor mich die herbeigerufene Geheimpolizei als vermeintlichen Aufwiegler verhaften konnte.

In Böhmfeld wohnte ich in der Gastwirtschaft Ostermeier in einem kleinen Gastzimmer – es war ein Kontrastprogramm zu meinem Saal im Schloss Amerang.

Damals zogen nur vereinzelt Sauen ihre Fährte durch den Jura. Denen galten meine bis spät in die Nacht dauernden Ansitze. Gehört habe ich die heimlichen Schwarzkittel wohl, wenn die Frischlinge erzieherische Lektionen erhielten, doch nie bekam ich einen der Sippe in Anblick.

Unheimliche Gerüchte über Wilderer und Jägermorde machten damals die Runde und beflügelten meine lebhafte Fantasie. Ich malte mir in den tollsten Farben aus, wie ich den Lumpen fangen und abführen würde. Dafür besorgte ich mir eine Pistole, die ich, so lästig und schwer sie war, stets mit mir führte.

Eines Nachts schnürte ich nach einem vielstündigen Sauenansitz heim zum Dorf. Der bleiche Mond wurde von jagenden Wolken zeitweilig verschaffet, und ich gelangte gerade aus einem Hohlweg hinauf zu einer Freifläche. Da stand plötzlich ein riesiger Kerl vor mir mit dem Gewehr im Anschlag. Das Blut wollte mir erstarren. Ich riss die Büchse von der Schulter, die Stimme versagte mir vor Schreck und ich konnte nur krächzen:

„Hände hoch, Gewehr weg!“

Der Kerl reagierte nicht. Zielte weiter auf mein junges Leben. Doch bevor ich schießen konnte, merkte ich, dass meine überreizte Fantasie mir einen Streich gespielt hatte. Ein windzerzauster Wacholderstrauch war mein stummer Widersacher. Ein dürrer Ast ragte seitlich hervor, dass es im fahlen Schimmer der Mondnacht leibhaftig wie der Umriss einer zielenden Gestalt erschien. Mit trockenem Mund musste ich mich erst einmal setzen. Das durfte ich keinem Menschen erzählen, denn das gäbe ein schönes Gelächter. Langsam, mit der Hand an der Pistole, schlich ich fort und das Schnackein der Knie ließ nach. Vorerst hatte ich genug vom Wildererfangen.

In einem Föhrenwald auf der Kuppe einer der zahlreichen Hügel hatte ich einen abnormen Rehbock ausgemacht. Beide der eng stehenden Stangen waren korkenzieherartig verdreht, ein rechtes Wurm-Gehörn. Den wollte ich unbedingt haben. Der Jagdherr gab ihn mir frei und sprach für alle anderen Mitjäger das Tabu über ihn aus. Ich hatte ihn ausgemacht – ich allein sollte ihn auch erlegen dürfen. Aber der „Verdrehte“ machte es mir nicht leicht. Auf einer hohen Föhre baute ich mir in einer Astgabel ein Brett ein und hockte wie ein Uhu den halben Sommer jedes Wochenende dort droben. An einem Regentag, ich saß schon seit dem Morgengrauen mit umgehängtem Lodenkotzen auf meinem Brett, erschien der Langgesuchte, vertraut äsend im lückigen Bestand, vor meinem Baum. Langsam hob ich die Büchsflinte. Bevor ich ins Ziel gehen konnte, sprang der Bock in panischer Flucht ab und seine Schimpfkanonade musste ich mir noch von weit her anhören. Was war geschehen? Der Wind war doch gut. Der Hund war heute auch nicht dabei und wie sonst unterm Baum abgelegt. Doch als ich nach unten blickte, da sah ich die Bescherung. Kurz vorher hatte ich meine tropfende Nase mit einem Taschentuch abgewischt. Dies hatte ich nur auf meinem Schoß abgelegt. Durch das Heben des Gewehrs hatte sich der Kotzen gestrafft – und das Taschentuch war zu Boden gesegelt. Dümmer kann’s wohl nicht gehen. Der Abnorme war hier vorerst vergrämt.

Ich musste mir eine andere Seite des Waldkopfes aussuchen. Die fand ich oberhalb eines alten Steinbruchs, wo man früher Kalksteinplatten – ähnlich jenen bekannten Solnhofer Platten, gebrochen hatte. Das Glück des Anfängers war mir hold. Schon beim dritten Ansitz klappte es, und stolz trug ich meine Beute zum Gasthaus. Doch ich wollte mich noch nicht trennen, von meinem heiß Erkämpften. Ich hing ihn, wie ein Stilleben dekoriert, mit Büchsflinte, Glas, Hut und Schweißriemen in meinem Gastzimmer an den Kleiderhaken der Türe. So wollte ich ihn vom Bett aus betrachten und mich an ihm erfreuen. Ich könnte ihn ja erst am nächsten Tag abliefern. Da ich mit meiner Ansitzerei vom ersten Morgengrauen bis zum letzten Büchsenlicht schon reichlich übernächtig war, so wollte ich heute schon früher in die Federn schliefen. Aber da sollte nichts Rechtes draus werden.

Die Türe, an der mein Bock hing, führte nämlich in den Festsaal des Gasthauses. Und heute sollte dort eine Hochzeitsfeier stattfinden. Direkt hinter dieser Tür hatte sich die Dorfkapelle mit all ihren Instrumenten aufgebaut. Davon ahnte ich jedoch nichts, bis mich unglaubliches Getöse senkrecht aus dem Bett hob.

Der Bombardon dröhnte und bumperte, die Trompeten und Posaunen schmetterten, als gelte es, die Mauern von Jericho einzustürzen. Dazu hackte der Trommler wie besessen auf seine Fässer und Tonnen ein, es klang wie das jüngste Gericht bei Gewitter und Kanonendonner.

Die Scheiben klirrten im Takt, die Musiker waren voller Schwung und legten wie besessen los.

Ich floh. Doch wohin? Zum Nachtansitz? Erst einmal fort aus dem Inferno. Wenn eine Zehn-Mann-Blaskapelle zwei Meter neben einem loslegt, da bleibt kein Auge tränenleer! Zum Glück war mein Hund bei meinem Bruder auf der Jagd geblieben. Hier hätte er einen Kollaps bekommen oder er hätte herz- und steinerweichend geheult. Ich packte meine Büchse und flüchtete in den Wald. Dort war’s schon reichlich dämmrig. Ich schaute nach dem Mond. Na Servus – auch das noch. Schmal wie der Rand des Fingernagels stand die Sichel des jungen Mondes am Osthimmel. Also mit dem Nachtansitz war’s Essig!

Zurück im „Gasthaus Tschingderassa“ bot der Schankraum auch keine Zuflucht. Kein Licht, kein Mensch da. Alles war droben im Saal. Was blieb mir übrig? Die Flucht nach vorn! Rucksack, Glas und Büchsflinte in meine Stube – tief durchgeschnauft – und hinein ins Vergnügen.

Die Dorfbewohner schienen mich schon erwartet zu haben, es war für sie ganz selbstverständlich, dass der junge Jäger, der bei ihnen jagte, auch beim Fest dabei war.

Um es kurz zu machen, ich habe bis weit nach Mitternacht die strammen Bäuerinnen geschwenkt, getanzt „wie der Lump am Stecken“. Meine Haferlschuh mit den Profilsohlen eigneten sich schlecht für die Dreher. Nix wie runter mit den Schuhen, „strumpfsockert“, das ging schon wesentlich besser. Zum Glück sind die Bauern ja alle Frühaufsteher, so dachte ich, und die „Sause“ würde sich nicht allzulang hinausziehen. Der „Harte Kern“ hielt aber durch. Ins Bett bin ich dann nicht mehr gegangen, das erste zarte Morgengrauen lockte mich ins Revier. Ich packte meine Siebensachen, schwang mich aufs Rad und verkrümelte mich in den Wald. Fernverweht hörte ich noch die bierseligen Gesänge der heimwärts Wankenden.

Wen wundert’s, dass ich in meinem Bodensitz auf einem Felsköpferl nach einiger Zeit eingeschlafen war. Vielleicht waren aber grad an diesem Morgen die Sauen da und dachten beruhigt, was da so schnarcht, das kann nur ein Artgenosse sein.

Ziemlich übernächtig trieb mich der Hunger zurück zum Gasthaus. Ich stapfte die knarzende Treppe zu meinem Zimmer hinauf, da ertönte daraus ein markerschütternder Schrei:

„A Viech, a Viech, Hilfe, a Viech!“

Ich stürzte in meine Kemenate. Das Bild war umwerfend komisch. Der längst erstarrte Rehbock war von seinem Kleiderhaken an der Türe gerutscht und zu Boden gefallen. Dort war er auf allen Vieren gelandet, in einer Stellung, als lebte er und würde sich gerade zum Sprung ducken. Davor stand zitternd und bebend, mit vor Schreck weit aufgerissenen Augen das Stubenmädel, wie gebannt von dem „Untier“, unfähig zu fliehen.

„Da, da!“

Sie deutete mit zitterndem Finger auf den im Halbdunkel Liegenden.

Erst erschrak auch ich, doch dann lachte ich, lachte Tränen. Und das löste die Schreckstarre der Haustochter.

Die Tröstung aus der eh schon schmalen Reisekasse tat ihrer „erschütterten“ Mädchenseele gut, aber vielleicht waren es auch unsere gemeinsamen Polkas und Landler der letzten Nacht, die sie nun verzeihend und milde stimmten.

Mein Niederwildrevier

Ein stiller Sommerabend geht zur Neige. Im Westen vollendet der rotglühende Ball der Abendsonne den heißen Julitag. Letzte Grillen schrippen und schrillen müd im Wiesenhang. Mauersegler am Abendhimmel jagen mit grellem Gekreisch ihre Insektenbeute. Langsam steigt die Kühle des Bachgrundes unter meinem luftigen Auslug zu mir herauf. Der Abendhauch trägt mir den Duft des reifenden Korns zu. Die Singdrosseln im nahen Wald haben schon seit einiger Zeit ihren Sang, der mir im Frühjahr das Herz höher schlagen lässt, beendet.

Hoch auf der Ansitzleiter an einer alten Erle blicke ich gen Westen, hinüber in mein Revier. Hier bei meinem Jagdnachbarn Hubertus passe ich auf einen Rehbock, den mir der Freund frei gegeben hat. Unter mir schlängelt sich träge ein kleines Bächlein durch die Erlenzeile mit dichtem Unterwuchs von Schilf und Brennnesseln. Vor mir steigt das Gelände leicht hügelig an und ich kann weit über Wiesen und reife Kornfelder schauen. Zu Füßen der Leiter liegt mein junger Schweißhund, die Silva. Ab und zu höre ich, wie sie den Behang beutelt, die Mücken sind eine rechte Plage. Ich hätte meine Hündin deswegen gerne im Wagen gelassen, aber sie wollte unbedingt mit. So ist es sicher besser, denn im Auto lernt sie nichts außer Geduld, aber die hat sie ohnehin. Mit dem Spektiv schaue ich zu, wie an einer breiten Schleife des kleinen Gewässers eine Stockente ihr Schoof ausführt. Ab und zu platscht in meiner Nähe eine Bisamratte, die junge Hündin dreht erstaunt ihren edlen Kopf. Zu gern würde sie nachschauen gehen.

Immer wieder leuchte ich mit dem Glas die umliegenden Felder ab. Langsam werden die Schatten länger. Da taucht ganz weit drüben, jenseits der Jagdgrenze, in meinem Revier das Haupt eines Rehs aus dem blonden Korn. Das Spektiv zeigt einen noch nie geschauten Bock. Doppelt luserhoch die enggestellten Stangen, keine Vorderenden, dafür zacken die Hinterenden gut fingerlang. Grau der Grind, der Herzschlag beschleunigt sich, je länger ich den Bock in den Linsen halte. Es ist sehr weit bis dort hinüber, gut fünfhundert Meter. Ich will’s mit einer lauten Musik probieren. Den möchte ich zu gern hier herüber locken. Das wäre eine besondere Freude. Wie immer zur Blattzeit habe ich ein paar Buchenblätter unterm Hutband. Hier stehen keine Buchen, die pflücke ich daheim von der Blutbuche, man weiß ja nie.

Ich blase wie nicht gescheit hinein, und siehe da, der Rote merkt auf. Also nochmals ein Angstgeschrei in den Sommerabend hinaus gegellt, und schon setzt er sich eilig mit hohen Sprüngen in Bewegung. Immer wieder, wenn er verhoffend innehält, muss ich ihn neu ermahnen, dass hier ein Nebenbuhler um eine Schöne wirbt, immer aufs Neue kommt er mir näher und näher. Schon ist er, hurra! diesseits der Jagdgrenze, doch immer noch zu weit für mein Rohr. Ein schmaler Maisstreifen trennt ihn noch, dann verschluckt ihn eine kleine Senke. Durch ein Weizenfeld schlängelt er sich nun, hoch stehen die Ähren und verdecken den Wildkörper bis zum Träger. Endlich verhofft er auf einem Wiesenstück und sichert zu mir her. Ein erregendes Bild. Nein, auf den Stich will ich das Wild nicht ohne Not schießen. Zu arg sind die Verwüstungen, die eine Kugel da anrichten kann. Letztendlich ist so ein Reh ja ein Nahrungsmittel, so profan das auch klingen mag. Als er keine weiteren Locktöne vernimmt, dreht er ein wenig enttäuscht ab. In dem Augenblick fasst ihn die Kugel und wirft ihn in die Wiese.

Meine kleine „Rote Hündin“ äugt zu mir nach oben. Gut ist’s gegangen, jetzt heißt’s erst einmal beruhigen. Für Herrn und Hund.

Nach einer Viertelstunde bäume ich ab, nehme die Hündin an den Riemen, wir springen über den Bach und steigen dann auf zu der Wiesen- und Felderebene. Ich gehe um den Erlegten herum und lege die Silva überm Wind ab. Sie darf von ferne zuschauen, aber nicht ans Reh heran, zu verlockend, zu prägend könnte der Eindruck auf die junge Hündin sein. Zu leicht wird ein unerfahrener Hund rehnarrisch.

Dann darf ich mich wirklich freuen. Der Bock ist reif und gut und gern übers sechste Jahr hinaus, die endshohen Stangen geperlt bis in die milchweißpolierten Enden hinauf. Und ist endgültig der Letzte aus meinem Revier.

In dieser Geschichte fehlt nur zweimal das Wort „ehemalig“. Ich saß auf einem Hochstand in meinem „ehemaligen“ Nachbarrevier und schaute hinüber in mein „ehemaliges“ Jagdrevier.

Am gestreckten Wild sitze ich, und die Gedanken gehen mehr als zwei Jahrzehnte zurück in die Vergangenheit, als ich den ersten Bock in meinem damals neuen, jetzt endgültig ehemaligen Revier erlegte.

Bei einem Ansitz im Mai – seinerzeit war’s noch in der Schonzeit – da entdeckte ich ihn. Er trug ein undefinierbares Gewächs auf dem Haupt, als wären ihm mehrere Stangen zugleich entwachsen. Ein Abnormer, ein Wunschtraum eines jeden Rehbockjägers. Mein erster Gedanke: Das ist ein Bock für meinen Freund Peter. Das wäre eine gute Gelegenheit, mich für unzählige großzügige Einladungen auf Gams und Hirsch zu revanchieren. Ein Anruf beim Freund rief große Freude hervor. Noch am Abend des letzten Maitages saßen wir miteinander auf dem Hochstand. Aber wie sah der Peter aus? Er war eingegipst von der Schulter bis zur stützenden Halskrause. Vor einigen Tagen hatte er sich mit seinem Auto überschlagen und war wie durch ein Wunder nicht noch schwerer verletzt worden. Er versuchte einen Probeanschlag mit meiner Büchse.

„Nein“, sagte er, „es geht nicht, ich kann das Gewehr nicht an die Schulter bringen. Es ist nicht möglich, einen sicheren Schuss abzugeben“.

Er bat mich dringend, nicht zu warten, bis er wiederhergestellt sei. Solch einen raren Bock solle ich baldigst selbst erlegen. Als der Abnorme sich uns zu später Stunde dann tatsächlich prahlend präsentierte, beschwor mich der Freund, gleich am nächsten Morgen mein Glück zu versuchen. Er selbst würde im Laufe des Jahres sicher noch genug Böcke bei mir finden, die ihn freuen würden.

Als der Bock sich äsend verzogen hatte, schlichen wir uns leise davon.

Jetzt stand ich unter Strom, einen so abnormen Bock, dem ein Bündel von Stangen wie lodernde Flammen aus der Stirne sprossten, den durfte ich nicht verpassen.