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Peter Dempf

Das Vermächtnis des Caravaggio

Historischer Roman

hockebooks

Biografische Daten zu Caravaggios Leben

„Ob das, was ich geschrieben habe,
mit der Realität übereinstimmt oder nicht,
ist mir egal. Denn der Romancier
erfindet die Realität … andererseits,
interessieren tut es mich.“

Alain Robbe-Grillet

Ein Roman ist nicht unbedingt an die historische Wahrheit gebunden. Dies unterscheidet ihn wesentlich von wissenschaftlichen Werken. Trotzdem habe ich versucht, Michelangelo Merisis Leben so wahrheitsgetreu wie möglich zu schildern, was umso schwieriger war, als viele unterschiedliche Versionen seines Lebensweges existieren. Dort, wo ich es für die Dramaturgie des Romans notwendig hielt, bin ich von der Historie abgewichen. Damit der Leser Wahrheit von Fantasie unterscheiden kann, habe ich im Folgenden zumindest die wenigen faktisch belegten Ereignisse aus dem Leben Caravaggios zusammengetragen.

28./29. September 1571 (Datum ungesichert): Geburt Michelangelo Merisis, vermutlich in Mailand; die Eltern sind Fermo Merisi, Baumeister und Architekt des Marchese di Caravaggio, Colonna, und Lucia Aratori, mit der er in zweiter Ehe verheiratet ist.

1576: Michelangelo wächst mit den jüngeren Geschwistern Giovan Battista, Giovan Pietro (starb 1588) und Caterina in Caravaggio und Mailand auf.

6. April 1584: Michelangelo Merisi wird vom Mailänder Maler Simone Peterzano als Lehrling angenommen. Der Vertrag besitzt eine verabredete Dauer von vier Jahren.

1589–92: Jedes Jahr wird ein Aufenthalt Michelangelo Merisis in Caravaggio nachgewiesen; manche Autoren stellen für diese Zeit einen einjährigen Gefängnisaufenthalt fest; er soll bei einem Duell jemanden getötet haben.

1592: Michelangelo Merisi geht nach Rom und nennt sich fortan Caravaggio; er wohnt bei „Monsignor Insalata“, dem Monsignor Pandolfo Pucci, der für seine kargen Mahlzeiten bekannt war; sein Bruder Giovan Battista folgt ihm kurze Zeit später nach.

1593–94: Er arbeitet mit seinem Freund Mario Minniti aus Syrakus für den sizilianischen Maler Lorenzo; bald darauf malt er für Giuseppe Cesari, der Cavaliere d’Arpino genannt wurde; weil er vom Pferd eines Adligen getreten wird, muss er eine Zeit im Ospedale della Consolazione verbringen; danach bricht er mit dem Cavaliere d’Arpino, wechselt die Wohnung und zieht bei Monsignor Fantino Petrignani ein.

1595: Kardinal Francesco Maria Del Monte nimmt ihn in seine Dienste auf; Caravaggio zieht in den Palazzo Madama; dort wohnt und malt er in einem der engen Mansardenstübchen.

1596: Caravaggio gestaltet im Casino dell’Aurora (heute Villa Ludovisi) die Decke des Studierzimmers, während Kardinal Del Monte das Haus bezieht.

1597–1600: Verschiedene Aufträge verschaffen dem Maler ein einträgliches Einkommen, darunter Bilder für die Contarelli-Kapelle und die Cerasi-Kapelle in Santa Maria del Popolo; noch immer lebt er im Palazzo Madama, befreit sich aber langsam von der Vorherrschaft Del Montes.

1601: Ein Prozess gegen Caravaggio wird durch Order des Gouverneurs von Rom niedergeschlagen; Umzug in den Palazzo des Kardinals Gerolamo Mattei.

1602: Kontrakt für die „Berufung des Heiligen Matthäus“ für die Contarelli-Kapelle, später wird er für eine zweite Version bezahlt, da die erste nicht gefallen hat.

1603: Bartolomeo, Caravaggios Diener, verlässt seinen Dienst; Gründe werden nicht genannt; wegen Spottversen auf römische Maler wird Caravaggio ermahnt; wegen eines anderen, nicht näher benannten Vergehens kommt er ins Gefängnis Tor di Nona; der Gouverneur von Rom lässt ihm die Freiheit, nachdem der französische Botschafter für ihn Partei ergreift und bürgt.

1604: In einer Osteria schleudert er einem Kellner einen Teller ins Gesicht; weil er Steine auf Ordnungshüter der Stadt Rom wirft, wird er wiederum eingesperrt; außerdem trägt er illegal Waffen in der Stadt; als einziger Freund gilt ein schwarzer Hund, der ihm zugelaufen ist.

1605: Weil er weiter verbotenerweise Waffen trägt und Frauen belästigt, wird er zweimal kurz hintereinander inhaftiert; es kommt zu einer Auseinandersetzung mit dem Notar Pasqualone wegen eines Mädchens namens Lena; er verletzt den Notar; Caravaggio flieht deshalb nach Genua, bis er unter der Aufsicht Kardinal Scipione Borgheses mit dem Notar Pasqualone einen Ausgleich erreicht; zwischendurch wird er wieder wegen eines Degenkampfes eingesperrt; seine ehemalige Hauswirtin, der er die Miete nicht bezahlt hat, beschwert sich, dass er mit Steinwürfen ihre Fensterläden ruiniert; er malt mehrere Bilder, darunter den „Tod Mariä“; er ist bekannt dafür, dass er Prostituierte als Modelle für seine weiblichen Heiligen verwendet.

1606: Bei einem Ballspiel auf dem Campo Marzio tötet er seinen Gegner Ranuccio Tomassoni und wird dabei selbst schwer verwundet; Caravaggio flieht aus Rom; er verbringt mehrere Monate mithilfe Don Marzio Colonnas in den Sabiner und Albaner Bergen (Paliano, Zagarolo, Palestrina); trotz Verwundung malt er.

1607: Der Niederländer Rubens kauft in Rom das Bild „Tod Mariä“ für den Herzog von Mantua; zu Ende des Jahres befindet sich Caravaggio in Neapel; Caravaggio erhält Aufträge und schart eine kleine Schule von Malern um sich.

1608: Caravaggio befindet sich auf Malta; dort malt er Bilder für den Großmeister Alof de Wignacourt; er wird in den Johanniter-Orden aufgenommen, allerdings nur als Ehrenritter, kurz danach wird er in die Festung Sant’Angelo geworfen, weil er mit einem Malteser Ritter Streit angefangen hat; er entspringt daraus spektakulär, indem er sich aus einem Fenster abseilt, und flieht nach Syrakus; er wird offiziell aus dem Orden ausgestoßen; in Syrakus malt er weitere Bilder, gibt sich aber weiter als Ritter des Johanniter-Ordens aus; er fühlt sich seither von einem Unbekannten verfolgt.

1609: Caravaggio verlässt Syrakus und begibt sich nach Messina; dort lebt er unter dem Schutz der Familie Lazzari; als er homosexueller Neigungen beschuldigt wird, weil er am Hafen Kinder skizziert und dabei einen Lehrer verprügelt, muss er erneut flüchten; von Messina aus flieht er nach Palermo; sein Aufenthalt dort ist nur kurz; schließlich reist er überstürzt zurück nach Neapel; er schlüpft im Palazzo Cellammare der Familie Sforza-Colonna in Chiaia unter; in Neapel wird er im Herbst nach dem Besuch der Taverna del Cerriglio so schwer im Gesicht verwundet, dass man ihn nicht mehr wiedererkennt; Caravaggio malt in Neapel verschiedene Werke, die sein eigenes Leiden zum Thema haben; er lässt sich das bereits fertige Bild „Geißelung Christi“ erneut holen und malt die einzige Figur auf, die den Betrachter direkt anschaut: seinen Verfolger? Diese Figur ähnelt einer ganzen Reihe ähnlicher Figuren, die er die Jahre zuvor gemalt hat.

1610: In der Hoffnung auf einen Dispens und die Rückkehr nach Rom verlässt er Neapel in Richtung Rom; mit im Gepäck befinden sich mehrere Bilder für Kardinal Scipione Borghese; in Palo wird er mit jemand anderem verwechselt, vom spanischen Festungskommandanten vom Schiff herunter verhaftet und drei Tage eingesperrt; die Feluke mit seinen Habseligkeiten und den Bildern fährt ohne ihn weiter; wieder frei, folgt er ihr auf dem Landweg nach Port’Ercole; auf dem Weg dorthin erkrankt er an einem unbestimmten Fieber.

18. Juli 1610 (Datum ungesichert): Caravaggio erliegt in Port’Ercole seinem Fieber; mittlerweile ist die Todesursache durch einen überraschenden Quellenfund belegt; kurze Zeit später geht der Dispens des Papstes Paul V. an Caravaggio ab; Michelangelo Merisi, genannt Caravaggio, wird in der Kirche in Port’Ercole bestattet; sein Grab ist heute nicht mehr auffindbar.

Danksagung

Ein Werk wie dieses bedarf der Mühe vieler Menschen.

Besonders danken möchte ich meiner Frau, die mich als Erstleserin und Korrektorin immer ermunterte.

Roman Hocke, meinem Agenten und Ratgeber, bin ich zu großem Dank verpflichtet. Ohne ihn gäbe es diesen Roman nicht. Ihn faszinierte die Idee sofort. Er half mir durch Vorschläge beim Schreiben, bei allen formalen Angelegenheiten und als Kenner Italiens und insbesondere Roms mit so manchem Detail.

Dank gebührt auch meinem Lektor, Matthias Bischoff, der mich mit wertvollen Ratschlägen zu Dramatik und Textaufbau versorgte.

Meinem Bruder Gerhard, der mit Ideen, Hinweisen und Kritik nie sparte und mich auf den Boden des Erzählbaren zurückbrachte, möchte ich ebenfalls auf diesem Wege danken.

Daneben halfen mir viele hier nicht Genannte in endlosen Gesprächen und Diskussionen, die Struktur des Romans zu entwickeln.

Der Autor

Peter DempfPeter Dempf

Peter Dempf, geboren 1959 in einem Augsburger Vorort, begann bereits als Zwölfjähriger mit seinen ersten Schreibversuchen: Auf dem Dachboden fand er eine zerfledderte Heftchenroman-Serie, deren fehlende Seiten er selbst ergänzte. Nach seinem Studium der Germanistik, Geschichte und Sozialkunde war er als Dozent für Deutsch als Fremdsprache sowie als Trainer für Körpersprache und Rhetorik für Industriebetriebe tätig, bevor er Lehrer an einem Gymnasium wurde.

Peter Dempfs Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, wie 2001 mit dem „Kunstpreis des Landkreises Augsburg für Literatur“, und auch die Augsburger Allgemeine sagt: „Peter Dempf kann wunderbar erzählen.“

Der Autor will mit seinen Romanen nicht nur spannende Lektüre bieten und unterhalten, sondern darüber hinaus Wissen vermitteln und seinen Lesern einen fundierten Zugang zu den geschilderten Zeiten ermöglichen.

Peter Dempf lebt mit seiner Familie in Stadtbergen bei Augsburg.

21.

„Wie konntet Ihr meinen Wunsch, meinen Befehl missachten? Dieser Caravaggio ist ein einziger Unruheherd und ein beständiges Ärgernis. Keines seiner Bilder atmet den religiösen Geist unserer Zeit, alle speien diesen reformatorischen Feuerhauch, der unsere Kirche zerreißt und einen Krieg nach dem anderen gebiert.“

Mit langen Schritten tobte Camillo Borghese vor Scipione her durch einen der grünen Innenhöfe des Vatikanpalastes, weiß wie eine aufgescheuchte Gans, und in dieser aufgebrachten, kleinkrämerischen Stimmung schwand für Scipione Borghese, der im Kardinalspurpur vor seinem Oheim erschienen war, der Papst zu einem alten Mann, der um das Ansehen einer morschen Institution besorgt war.

„Ihr irrt, Eure Heiligkeit“, schmunzelte Scipione ob seiner kühnen Formulierung. „Gerade Caravaggios Bilder atmen den Geist unserer Zeit in besonderem Maße. Allein die Madonna dei Palafrenieri, eine Anna-Selbdritt-Darstellung, auf der Maria, Anna und das Christuskind zu sehen sind, beweist, dass er auf dem Weg des rechten Glaubens wandelt. Hat nicht Papst Paul III. in der Bulle ‚Licet ab initio‘ selbst bestimmt, dass Maria und das Christuskind das Haupt der Schlange, als Sinnbild des Bösen, gemeinsam zertreten, und hat nicht Caravaggio eben dies dargestellt und sich damit eindeutig gegen die Häresie dieses Augustinermönchs Luther gestellt?“

„Oh, Ihr nehmt diesen Schmierfinken auch noch in Schutz. Natürlich, weil Ihr das Bild gekauft habt, weil Ihr Euch an der Darstellung dieser … dieser Maria weidet …“

„… die unsere ehrwürdige Mutter Kirche in ihrer jugendlichen Kraft nach dem Sieg über den teuflischen Protestantismus verkörpert …“

„… Schweigt! Sie wurde als Hetäre gemalt und zum Vorbild nahm er eine stadtbekannte Hure. Und um das Maß vollzumachen, stellte er das Christuskind als Apoll dar, nein, noch schlimmer, als Cupido, was ein ganz anderes Licht auf diese sogenannte Maria wirft! Schändlich! Statt den Akt des Zertretens – wenn man dem Manne noch Verständnis entgegenbringen will – in den Mittelpunkt zu rücken, wurde ihr Dekolleté, die Fruchtbarkeit der Mütter, durch das Licht hervorgehoben. Doppelt schändlich und ketzerisch.“

Hinter vorgehaltener Hand musste Scipione lachen. „Ich habe das Bild von den Palafrenieri geschenkt bekommen und nicht gekauft!“, versuchte er einen versöhnlichen Ton zu finden und sein Lachen so elegant wie möglich zu verstecken, was ihm nur unzureichend gelang. Was er hier hörte, waren Fantasien und Hirngespinste eines alternden Mannes. Regte der Frühling, der allenthalben im besten Safte stand, auch die Säfte des Kirchenoberhaupts an und kämpfte er gegen diese Versuchung an? Versah Romina Tripepi, seine Hetäre, ihre Aufgabe nicht?

„Muss mich das interessieren?“, konterte Camillo Borghese.

„Aber, Oheim, selbst Peter Paul Rubens hat Caravaggio gelobt und sich für den Erhalt des Marientodes eingesetzt, der von den Karmelitern abgelehnt wurde. Aus Dankbarkeit für die religiöse Bewältigung des Themas und als Beispiel für alle jungen Künstler ließ er das Bild öffentlich ausstellen.“

„Unsinn, er wollte damit verhindern, dass es zerstört wird, und Ihr wisst das genau. Das Schlimmste daran ist die Haltung meiner Kardinäle. Statt das Bild zu verteufeln, streiten sie sich darum, wer es sein nennen darf, Barberini, Del Monte, Ihr. Bemühe ich mich um die Ausgestaltung der Peterskirche zum Zentrum unseres Glaubens, indem ich das hinauswerfen lasse, was ich als ketzerisch betrachte, damit ich mir mit diesem Caravaggio wieder eine Laus in den Pelz setze? Nein. Beseitigt ihn, Scipione, oder ich lasse ihn beseitigen!“

Durch den Innenhof des Vatikanpalastes liefen sie nebeneinander her im Kreis um einen Brunnen. Sein Plätschern verhinderte, dass ihr Gespräch belauscht werden konnte. Das erste Grün roch bereits herb und die Blumen des aufbrechenden Frühlings sandten ihren Duft aus. Bienen summten um die Blüten, eine erste Libelle jagte in eleganten Schwüngen die Sträucher entlang und über eine Mauer herüber erklang das Gebell von Hunden.

„Ihr übertreibt, Oheim. Schüttet das Kind nicht mit dem Bade aus.“

„Keineswegs, Scipione.“ Bedrohlich leise klang die Stimme Camillo Borgheses. Offenbar beschäftigte ihn dieser Maler mehr, als Scipione bewusst war. „Ich hatte ein knappes halbes Jahr Geduld mit Euch und mit diesem Irrwisch, auch weil Ihr an diesem Menschen einen Narren gefressen habt und Kardinal Del Monte als einer seiner Gönner mich immer wieder bedrängt hat. Man sieht seinen Steigbügelhaltern durchaus Fehler nach. Aber in diesem halben Jahr hat sich Caravaggio eine Entgleisung nach der anderen geleistet. Manchmal kommt es mir vor, als verbringe er mehr Zeit im Gefängnis, auf den Polizeiwachen und in den Gerichtssälen Roms als hinter seiner Staffelei. Schlägereien, Pöbeleien, unerlaubtes Tragen von Waffen, Messerstechereien, Beleidigungen, Unruhestiftung, wenn er betrunken ist, und die Liste wäre noch längst nicht zu Ende. Was ist der Kerl, ein notorischer Säufer und Wegelagerer oder ein Künstler? Man spottet schon über mich, dass ich über den Hurenbauch der Maria Caravaggios den Stuhl Petri bestiegen hätte.“

Mit einer nachlässigen Bewegung hielt Scipione Borghese eine Hand in den Strahl des Brunnens und spritzte sich kühlendes Wasser aufs Gesicht. Sein Oheim hatte zweifellos recht. Wie einen Spielball warf es Caravaggio die letzten Monate hin und her und er ergötzte sich an Ungehobeltheiten und Raufereien. Aber mit einem hatte sein Oheim keineswegs recht. Caravaggio malte, malte im Auftrag aller möglichen Institutionen die schönsten Werke – und er, Scipione Borghese, versuchte, sie seiner Sammlung einzuverleiben. Unzufriedene stillte er aus seinem persönlichen Säckel – und seine Galerie erweiterte sich um wertvollste Gemälde, die von den Dummköpfen seiner Umgebung nur nicht als solche erkannt wurden: einen weiteren Hieronymus, einen David, der das Haupt des Goliath in Händen hielt, und einen Johannes den Täufer als Hirten. Ja, dieser Caravaggio lebte ein ungestümes Leben, ein Leben, das nicht in den geordneten Bahnen verlief, die man seinem eigenen gerne gab.

„Er ist alles zusammen. Ich denke mir, Oheim, dass nur Menschen, die aus jeglicher Form herausfallen, die alles Normale einfach über Bord werfen, zu ungewöhnlichen Leistungen befähigt sind. Nur sie weisen in die Zukunft.“

„Dann sieht Eure Zukunft düster aus, Scipione. Ein Ort, an dem der Mensch dem Menschen ein Wolf sein wird, indem er den anderen erschlägt. Ein dauerhaftes Kriegstreiben, das von der Angst genährt wird, die Straße zu überqueren, weil aus dem Dunkel eines Eingangs der nächste Mörder hervorspringen und einen niederschlagen kann. Da lobe ich mir doch die Doktrin der Kirche, die darauf baut, dass nur die Angst der Gläubigen vor der ewigen Verdammnis ausreichend geschürt werden muss, damit hienieden Ruhe herrscht.“

Scipione, dem das Lamentieren des Oheims auf die Nerven ging, musterte ihn neugierig. Seit er ihn nicht mehr gesehen hatte, musste er gut zu leben verstanden haben. Die üppige Kost des Kirchenoberhaupts hatte aus dem abgemagerten Gesicht in den letzten Monaten ein feistes und rundes geformt. Die tiefen Einschnitte auf den Wangen waren einer beinahe faltenlosen Haut gewichen. Von der Warte des Satten und moralisch Gefestigten aus ließ sich leicht über Grenzgänger wie Caravaggio urteilen. Was wusste sein Oheim außerdem von seinen Versuchen, die Exzesse Caravaggios einzudämmen, ihn in den Griff zu bekommen, damit er arbeitete? Seine Intelligenz ließ der Maler ebenso spielen wie seinen Jähzorn. Niemand, buchstäblich niemand konnte ihn dazu zwingen, ein Bild zu malen, selbst wenn er am Hungertuch nagte. Einen Krug Wein, der ihm zum Leben offensichtlich ausreichte, erbettelte er sich allemal.

Und dann wieder konnte er, wie Pater Leonardus erzählte, ganze Nächte hindurch vor der Leinwand sitzen, ohne den Pinsel abzusetzen, sodass er irgendwann erschöpft zusammenbrach und inmitten seiner Farben einschlief.

„Oheim, wir sollten noch über ein anderes Problem miteinander reden. Es betrifft Caravaggio nur indirekt.“

Sein Oheim nahm auf einer steinernen Bank Platz. So konnten sie sich an dem vom Sprühregen eines Brunnens gebildeten Regenbogen erfreuen. Die Tritonen, aus deren geöffnetem Maul feine Wasserfontänen spritzten, erschienen Scipione Borghese wie die Verkörperung des Schweigens. Aus diesen Mündern konnte kein Wort entspringen.

„Worum geht es?“, Paul V. runzelte die Stirn, als Scipione zögerte. „Sprecht, Scipione, egal was es sei.“

Scipione Borghese wusste nicht recht, wo anfangen. Sein Problem konnte er nicht einfach so erklären, weil er es selbst nur am Rande miterlebte und eigentlich nicht recht dran glauben konnte.

„Ich habe Euren Befehl missachtet und Caravaggio unterstützt. Jedenfalls habe ich versucht, ihm Aufträge zu verschaffen, z. B. die Madonna dei Palafrenieri oder den Auftrag des Herzogs von Modena. Caravaggio hat sich dieser Angebote unterschiedlich angenommen.“

Selbst jetzt verspürte Scipione keine Lust, dem Oheim alle seine Schliche zu offenbaren, einige wenige würden für sein Vorhaben ohnehin genügen.

Paul V. schlug sich wütend auf den Schenkel.

„Noch ein Grund, diesen Caravaggio aus Rom hinauszuschaffen. Wie kommt er dazu, Geld von einem meiner treusten Parteigänger anzunehmen und dann das Bild nicht zu malen und den Herzog von Modena immer wieder zu vertrösten? Masetti, das Ohr des d’Este an meinem Hof, ist längst bei mir aufgetaucht und hat um Beschwerde eingereicht.“

Scipione Borghese erhob sich. Er wollte nicht wieder in dieses Fahrwasser geraten, sich aber auch nicht von der allzu lieblichen Regenbogenansicht des Brunnens betören und ablenken lassen.

„Bleibt sitzen, ehrwürdiger Vater, ich kann im Gehen besser denken. Dass ich an manchen dieser Kontakte beteiligt war, habt Ihr vielleicht geahnt, jetzt wisst Ihr es. Der junge Gonzaga behauptet nun, durch eine zuverlässige Quelle erfahren zu haben, dass ich die Gerüchte über Caravaggios Lebensweise und über seine Schwesternschändung in die Welt gesetzt habe. Außerdem will er gehört haben, dass die Menschen auf der Straße Euch dafür verantwortlich machen, dass Caravaggios Bilder abgelehnt werden.“

Plötzlich hielt es auch Camillo Borghese nicht mehr auf der Steinbank aus.

„Das ist doch Unsinn. Das sind Verleumdungen, pure Lügen.“

„Und doch hört dieses Ohr Gonzagas mehr, als wir zu träumen wagen.“

„Ein billiger Lauscher, der sich sein Gehörtes erfindet!“

„Zumindest wäre es schädlich, wenn eine angesehene Familie wie die des Herzogs von Mantua diese Vermutungen weiterverbreiten würde. Stellt Euch den Verlust Eurer Glaubwürdigkeit vor, wenn Ferdinando Gonzaga an der rechten Stelle auch nur einen in Zweifel gehüllten Verdacht äußern würde, Oheim.“

Jetzt hielt Camillo Borghese eine Hand in den Sprühregen, den der Brunnen verbreitete, und fuhr sich damit übers Gesicht.

„Das Volk liebt diesen lombardischen Wilden, Scipione?“

„Vermutlich wegen seiner Kapriolen in den Osterias und Hurenhäusern der Stadt. Aber dem Volk gefallen auch die Bilder. Sie sind frisch und neu und nahe am Denken und Sehen der Menschen.“

„Des Pöbels!“

„Außerdem bezieht er das Volk in seine Bilder mit ein. Am Rande zumindest.“

„Müssen wir uns dem Pöbel beugen?“

„Dem Pöbel nicht, wohl aber einer Reihe von Kardinälen, die liebend gern die neu errungene Herrschaft der italienischen Fraktion stürzen wollen – und das mit spanischem Geld. Stellt Euch vor, ein Caravaggio, mit spanischem Gold finanziert und gefüttert mit all den Schändlichkeiten, die ein Gonzaga unter die Römer zu streuen vermöchte.“

Mit einer verzweifelten Geste warf Camillo Borghese die Arme in die Luft und raufte sich die Haare unter seinem Hütchen.

„Soll das heißen, dass dieser Wirrkopf von Caravaggio weiterhin die Gassen Roms unsicher machen darf?“

„Nein, Eure Heiligkeit, es gibt noch eine andere Möglichkeit. Erhebt den Gonzaga zum Kardinal! Damit steht er in Eurer Schuld und wird – verzeiht meine Direktheit – den Teufel tun und Euch verleumden.“

Camillo Borghese hustete plötzlich los, als wäre ihm der Gedanke daran im Hals stecken geblieben.

„Diesen Jüngling zum Kardinal erheben, Scipione?“

„Wisst Ihr eine bessere Lösung?“

22.

Nerina sprang sofort aus dem Bett. Von der Straße herauf drang Neros Winseln. Ein Dutzend Füße polterte die Treppen hoch, flüsternde Stimmen wisperten im Aufgang, dann wurde die Tür aufgestoßen.

„Schnell, Nerina, einen Verband!“

Als Erster schlich Nero ins Atelier, den Schwanz zwischen die Beine geklemmt, den Kopf geduckt, mit angelegten Ohren. Im Hemd stand Nerina da und betrachtete das, was die fünf Männer bis nach oben geschleppt hatten: einen Männerkörper. Michele. Blutüberströmt legten sie ihn auf den Tisch inmitten des Ateliers, der dazu verwendet wurde, Leinwand zuzuschneiden. Nero versteckte sich darunter. Sie stieß einen Schreckensschrei aus und presste ihre Faust gegen den Mund. Wasser stieg ihr in die Augen. Mit der anderen umklammerte sie ihr Amulett und begann zu beten.

„Er lebt!“, flüsterte der Jüngste von ihnen, in dem Nerina den Architekten Onorio Longhi erkannte, der mit Michele des Öfteren Ball spielte. Ein Sauf- und Raufkumpan.

Kaum erkannte Nerina Micheles Gesicht, so stark blutete er aus einer großen Wunde an der Schläfe. Sein Hemd war durchtränkt von Blut aus einer weiteren Wunde am Arm. Zuerst fühlte sie sich wie gelähmt, konnte keinen Fuß vor den anderen setzen. Ihre Beine fühlten sich eisig an, wie angefroren, bis Onorio sie ansprach.

„Rasch, einen Verband, Nerina. Er verblutet sonst.“

Jetzt erst löste sich ihre ganze Erstarrung. Hastig lief sie zur Kochnische, entnahm ein Messer und ging damit auf Michele zu. Die Männer wichen zurück und nur Onorio Longhi fiel ihr in den Arm.

„Was willst du damit?“

Erstaunt sah Nerina ihn an, dann riss sie sich verärgert los und trat zu Michele.

„Wenn ich ihm das Messer in die Brust hätte stoßen wollen, dann müsste ich das nicht vor Zeugen tun!“

Entschlossen begann sie, seine Kleidung aufzutrennen, schnitt ihm das Hemd vom Leib und öffnete die Hose mit energischen Schnitten. Beim Reißen des Stoffes stieß Nero unterm Tisch fiepende Laute aus, die ihr ans Herz fassten.

Insgesamt fünf Wunden zählte Nerina, aus denen Michele blutete. Sie untersuchte alle sorgfältig. In zweien erkannte sie eindeutig Stichwunden eines Degens, die tief in seine Eingeweide gefahren waren. Sie ordnete an, dass zwei Männer die restlichen Kleidungsstücke, soweit sie brauchbar waren, in Streifen schnitten, und nahm dann ein leinenes Unterhemd, das zum Trocknen aufgehängt war, um daraus einen Verband anzufertigen. Zwei weitere beauftragte sie damit, Wasser zu holen und es heiß zu machen, damit sie die Wunden reinigen konnte.

„Hat er sich duelliert?“, fragte sie barsch.

Stumm folgten die Männer ihren Anweisungen, vermieden aber, ihrem Blick zu begegnen, und sahen betreten zu Boden. Nur Onorio räusperte sich. Die beiden Wasserholer kamen eben mit dem gefüllten Eimer zurück und setzten ihn auf dem Boden ab. Nero winselte und bellte verhalten, getraute sich aber nicht unter dem Tisch hervor, sondern blieb dort liegen, als fühle er sich schuldig am Zustand Micheles.

„Schlimmer, Nerina, viel schlimmer.“

„Was kann schlimmer sein, als dass zwei Wunden mit Nadel und Faden geschlossen werden müssen und Michele daran sterben könnte, weil ich nicht weiß, wie viel im Inneren verletzt worden ist? Was ist schlimmer, als einen blutüberströmten Mann auf dem Tisch liegen zu haben, von dem man nicht weiß, ob er die Nacht überleben wird? Was ist schlimmer, als diese Wunden selbst behandeln zu müssen, ohne einen Arzt hinzuziehen zu können, weil das Geld dazu fehlt, einen Wundarzt kommen zu lassen?“ Sie war lauter geworden mit jeder Frage und bedauerte jetzt, die Männer so angefahren zu haben. Spöttisch betrachtete sie die Kerle um sich herum und ging zu einer kleinen Truhe, aus der sie Nadel und Zwirn holte. „Also? Erzähl mir, Onorio, was ist schlimmer?“

Nervös trat Onorio von einem Fuß auf den anderen.

„Wir haben Pallacorda gespielt, draußen, auf dem Campo Marzio, in der Gegend des Palazzo Firenze.“

Nerina sah Onorio nicht an, sondern versorgte Micheles Wunden. Den Faden schmierte sie mit dem Fett ein, das sie zum Polieren von Rahmen benutzten.

„Sprich weiter! Und zünde mir eine Kerze an!“

Sofort gehorchte Onorio. Als sie die Nadel in die Kerzenflamme hielt und danach einfädelte, fühlte sie, wie ihre Hände zitterten. Michele atmete schwach, aber wenn sie seine Wunden berührte, zuckte er in seiner Bewusstlosigkeit leicht zusammen. Um die tieferen Schnitte herum begannen die Blutungen zu stocken, aber jede Bewegung Micheles, jedes Drehen oder Drücken ließ wieder dunkles Blut aus den Öffnungen quellen. Über allem lag ein süßlicher Duft. Nerina biss die Zähne zusammen. Die Tatsache, dass sie seit drei Jahren Micheles Streitereien und Duelle miterlebte, hatte sie zu einer passablen Wundärztin gemacht. Wie man Stichwunden verband, Schnitte nähte und Blutungen stillte, wusste sie. Deshalb sorgte sie sich auch um die Degenstiche in seinem Bauch. Wenn sie größere Blutgefäße verletzt hatten, würde Michele innerlich verbluten. Sie hatte so einen Tod schon einmal miterlebt, bei ihrem Stiefbruder, als der, gerade siebzehnjährig und ein begnadeter Schauspieler, einem Edelmann in die Quere gekommen und niedergestochen worden war. Hilflos hatte sie mit ansehen müssen, wie er trotz eines geringen Einstichs in der Magengegend innerlich verblutete. Dem Wasserstrahl eines Brunnens ähnlich war damals sein Lebenssaft aus der Wunde gequollen. Unaufhörlich, unstillbar. Wie Kerzen, deren Talg verbraucht war, verloschen diese Leben.

„Vom Ballspielen holt man sich diese Wunden nicht, Onorio“, spottete Nerina und versuchte, den bitteren Unterton, den sie an sich hörte, zu dämpfen. Vermutlich konnte der Junge nichts für dieses Unglück. An Auseinandersetzungen, die solche Wunden nach sich zogen, war Michele meist selbst schuld. Sie nahm all ihren Mut zusammen und setzte den ersten Stich. Als Michele zusammenzuckte, schrie sie die Männer an: „Haltet ihn wenigstens fest!“

Verlegen griffen Onorio und die anderen nach Micheles Armen und Schultern.

„Wir spielten Ball mit einem gewissen Ranuccio Tomassoni da Terni und seiner Mannschaft, jeweils fünf Mann. Wir alle hatten Geld auf Micheles Sieg gesetzt, ziemlich viel Geld.“

Sichtlich schwer fiel es Onorio, ihr die Wahrheit über das Geschehen mitzuteilen. Nerina versuchte nicht, ihn zu drängen. Immer ruhiger nähte sie die Wunden Micheles, von denen sich die Kopfwunde nach der Säuberung als die schlimmste erwies, weil sogar der Knochen an der Schläfe verletzt war. Vorsorglich hob sie ein Lid Micheles. Seine Augäpfel darunter verdrehten sich noch nach oben. Sie ahnte, dass es lange dauern würde, bis er das Bewusstsein wiedererlangte, wenn dies je wieder der Fall war.

Onorio räusperte sich, reichte Nerina einen weiteren Fetzen Stoff, mit dem sie einen Druckverband anlegte, und fuhr fort:

„Es ging um tausend Scudi.“

Überrascht sah Nerina Onorio an.

„Und Michele hat mitgewettet?“

Schuldbewusst nickte Onorio. Woher nahm Michele so viel Geld? Tausend Scudi? Das war mehr, als er für jedes seiner Bilder erhalten hatte. Wieder begannen ihre Hände zu zittern, als sie sich an ihre Arbeit zwang.

„Es ging um den Sieg. Die Gegner spielten zumindest so stark wie wir und der letzte Ball musste entscheiden. Jedenfalls hatte dieser Ranuccio Tomassoni seinen Ball verfehlt. Michele beanstandete, dass er den Ball zweimal berührt hätte. Ranuccio bestritt dies …“

„… Michele verlor die Kontrolle und sie haben sich geprügelt und schließlich duelliert!“, ergänzte Nerina die Erzählung Onorios ungeduldig.

„Ja, beinahe, Nerina. Plötzlich hatte dieser Ranuccio eine Waffe in der Hand und bedrohte Michele. Hauptmann Antonio Bolognese, der in unserer Mannschaft mitgespielt hatte, warf sich dazwischen und wurde …“ Onorio zögerte und schluckte, bis Nerina auffuhr und ihn anschrie:

„Jetzt erzähl endlich Kerl oder muss ich bis morgen warten?“

Vor ihrem Zorn wichen die Männer bis zur Tür zurück. Nur Onorio blieb stehen, wo er war, und bohrte seinen Schuh in den Dielenboden.

„… Antonio wurde dabei schwer verletzt. Er starb in Micheles Arm. Und dann hat Michele durchgedreht. Mit bloßen Fäusten ist er auf Ranuccio losgegangen und hat auf ihn eingeprügelt. Natürlich hat sich Ranuccio gewehrt und ihm so den Hieb auf den Kopf verpasst.“

„Er hat sich auf ihn gestürzt, obwohl er keine Waffe bei sich hatte?“

„Ich weiß es nicht. Ranuccios Mitstreiter sind ihm beigesprungen und plötzlich hat dieser Ranuccio Tomassoni geröchelt und ist zusammengebrochen. Ein Stich mitten ins Herz.“

Schweigen breitete sich aus, in dem nur Micheles unregelmäßiger Atem und Neros Winseln zu hören waren. Jeder Luftzug rasselte.

Nero. Natürlich, er hätte doch seinem Herrn helfen müssen.

„Und wo war Nero? Nero muss ihn doch beschützt haben?“

Wieder sah Onorio zu Boden.

„Wir hatten ihn angebunden, weil er sonst das Ballspiel gestört hätte!“

Mit der Hand befühlte Nerina ihre Stirn. Waren sie denn alle wahnsinnig geworden? Nero anbinden, statt ihn frei herumlaufen zu lassen, vor allem dann, wenn Michele ohne Waffen unterwegs war. Nerina drehte sich um ihre eigene Achse, suchte das Zimmer ab und fand schließlich, wonach sie suchte. An einem Nagel an der Tür hingen Micheles Waffen, sofern sie von der Witwe Bruna nicht versteigert worden waren, ein Degen und ein kurzer Runddolch.

„Es war ein Herzstich. Ranuccio war sofort tot.“

Ihr brannten die Augen, der Kopf brummte und in den Ohren sauste ihr Blut rauschend und pulsend. Sie konnte nicht fassen, was ihr Onorio eben erzählt hatte. Wie konnte Michele einen Menschen töten, wenn doch seine Waffen an der Tür hingen? Mit ausgestreckter Hand wies sie auf die Waffen.

„Sie hängen noch an der Tür!“ Onorio drehte sich vor Verlegenheit um, was Nerina nur in einem Tränenschleier erkennen konnte. „Wie soll das gehen?“

„Er hat eine andere Waffe benutzt. Genau gesehen hat es keiner, aber Ranuccio brach zusammen, als Michele auf ihn eindrosch und von den anderen davon abgehalten wurde. Daran besteht kein Zweifel.“

Nerina schluckte. Michele ein Mörder. Diesmal würde kein Gericht Gnade walten lassen. Diesmal würden sie seiner Waffennarrheit überdrüssig sein und niemand würde ihm glauben, dass er keinen Dolch, keinen Degen getragen hatte.

„Michele kann keiner Fliege etwas zuleide tun!“, verteidigte sie Michele, wusste aber, dass all seine sogenannten Freunde, die jetzt mit hängenden Köpfen und wie belämmert im Zimmer herumstanden, innerlich lachten. Niemand würde Michele glauben, wenn er versicherte, den Dolch nicht geführt zu haben. Jeder kannte seine Vorliebe für Handwaffen im Herrschaftsbereich des Papstes, in dem keinerlei Waffen getragen werden durften. Zu oft schon war er in den letzten Jahren in Händel und Duelle verwickelt gewesen und hatte sich diesbezüglich mit dem Hauptmann der Vatikan- und Stadtwachen angelegt.

Nerina ging in die Hocke und griff unter den Tisch. Sie fühlte Neros Fell, fuhr seinen Rücken entlang, strich ihm über den Kopf. Der Hund leckte ihre blutigen Hände sauber und legte dann den Kopf auf seine Pfoten. Dieser Tölpel von Michele hatte eines Ballspiels wegen sein Leben verpfuscht, hatte einer Wette wegen seinen guten Namen weggeworfen, hatte seinem Aufstieg unter die besten Maler Roms ein theatralisches und unrühmliches Ende gesetzt. „Michelangelo Merisi“, dachte sie, und der Schmerz darüber fuhr ihr in den Bauch, sodass sie einen Moment lang glaubte, ihre nächsten Monatsblutungen kündigten sich an, „du bist in den Augen der Menschen dieser Zeit zum Mörder geworden.“

Plötzlich fuhr sie auf und scheuchte die Männerbrut aus dem Raum, die ohnehin nur unnütz herumstand und Löcher in die Luft gaffte. Selbst Nero erhob sich und begann leise zu kläffen, so als wolle er seinen Herrn nicht aufwecken.

„Raus, raus hier, verschwindet, elendes Volk. Euch hat er es zu verdanken, Euch Gesindel, raus, fort, weg!“, schrie sie, ohne auf Michele zu achten. Allein sein wollte sie, wollte allein dabei zusehen, wie der Mann verblutete, der als Einziger in Rom ihr als Frau eine Chance gegeben hatte, ihre Fähigkeiten zu entwickeln. Bis dahin hatte sie nur gelernt, wenn sie zufällig einem Kulissenmaler zusehen konnte, den ihr Vater beschäftigt hatte. Michele hatte ihr Talent erkannt, sie zu sich genommen, sie ausgebildet, hatte sie die Wissenschaft der Farben gelehrt, hatte ihr seine Geheimnisse verraten und ihre Entwürfe korrigiert und verbessert. Unter seiner Anleitung war sie zur Künstlerin herangewachsen – und jetzt lag er mehr tot als lebendig vor ihr und sie befürchtete das Schlimmste.

Nerina bemerkte noch, wie die Tür von außen geschlossen wurde, als Onorio als Letzter noch einmal öffnete und meinte:

„Nerina, wenn es bekannt wird, dass Michele jemanden getötet hat, und lange kann es nicht dauern, bis alle Welt davon erfährt, dann werden sie ihn verhaften. Du solltest fliehen, mit ihm oder ohne ihn.“

Willenlos sank Nerina an einem der Tischbeine entlang zu Boden. In ihr summten die Gedanken. Mit müden Bewegungen schleppte sich Nero zu ihr, legte seinen Kopf in ihren Schoß, schloss die Augen. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Michele diesen Ranuccio getötet hatte. Vielleicht hatte ein anderer die Situation ausgenutzt, vielleicht hatte jemand zugestoßen, der in Ranuccios Partei mitgekämpft hatte und Michele belasten wollte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto abenteuerlicher erschien ihr diese Idee, bis sie selbst den Kopf schüttelte über dieses Hirngespinst und zugeben musste, dass ihre Gedanken alle unwahrscheinlich klangen und es vermutlich auch waren. Das Schlimmste dabei war, dass sie sich ebenfalls vorstellen konnte, wie Michele eine kleine Stichwaffe im Wams verborgen und mit dieser zugestochen hatte.

23.

Jetzt zappelte Caravaggio in seinen Fängen. Der römische Gerichtshof hatte schnell gehandelt, als die Nachricht von Michelangelo Merisis Duellmord bekannt geworden war. Lachen musste Scipione Borghese, als er an den Mord dachte und an die Verurteilung des Malers. Besser konnte der Zufall nicht in seine Hand spielen. Jetzt musste er nur noch mit Caravaggio sprechen, bevor ihn die Häscher holten und ins Gefängnis warfen. Schließlich nützte er ihm nichts hinter den Mauern des Tor di Nona oder im Gefängnis des Senats. Er, Scipione Borghese, hatte ganz andere Pläne mit ihm und für deren Verwirklichung musste Caravaggio frei sein, persönlich frei – und abhängig von seinem Willen.

Fröhlich beschwingt überquerte Scipione Borghese die Piazza Colonna. Sein Triumph würde so vollständig sein wie der Kaiser Marc Aurels über die Germanen an der Donau, der auf der Colonna Antonina, der Marc-Aurel-Säule, eingemeißelt prangte. Blinzelnd blickte er hinauf zum heiligen Paulus, der die Säule bekrönte, und fühlte den Furor des Überlegenen.

Das Haus des Rechtsgelehrten Andrea Ruffetti, in dem sich Caravaggio einquartiert hatte, war nicht leicht zu finden gewesen, aber die Nachforschungen Pater Leonardus’ in den Trattorien und Weinschenken der Stadt hatten bald Erfolg gezeitigt. Jetzt eilte er selbst mit leichtem Schritt auf das Gebäude zu und wunderte sich nur, dass mitten am Tag die Läden zum Atelier offen standen. Eine Ahnung beschlich ihn, ob er nicht doch bereits zu spät gekommen war, ob der Magistrat den Maler nicht bereits hatte abholen lassen. Plötzlich schwitzte er unter seinem Gewand in der Sonne, die bis auf den Grund der Häuserschlucht hinunter brannte. Mit Gewalt stieß er die Tür zum Aufgang auf und jagte in langen Schritten die Treppen hinauf. Völlig außer Atem stand er vor der offenen Tür des Ateliers. Nur kurze Zeit ließ er sich, um auszuschnaufen, dann zog Scipione Borghese den Hut vom Kopf und betrat den Raum. Seine Schritte hallten. Das Atelier gähnte ihm leer entgegen. Keine Leinwand, kein Raumteiler, keine Staffelei, nur der Geruch nach Leinöl, Eiweiß und Terpentinöl hing noch wie ein Nebelschleier im Raum. Hatte Pater Leonardus ihn getäuscht? Caravaggio hatte das Weite gesucht. So sah kein Raum aus, der von den Schergen der Regierung durchsucht, aus dem ein Delinquent in den Tor di Nona abgeführt worden war. Hier zeigte sich eine ordnende Hand, hier war systematisch ausgeräumt worden, als wäre gezielt ein Umzug oder eine Flucht geplant worden.

Wie ein Kartenhaus fiel sein triumphales Gefühl zusammen und sackte durch bis zur Erde.

Wo befand sich der Maler? Wer hatte ihm geholfen? Nerina? Unmöglich. Die Frau konnte doch in so kurzer Zeit nicht eine Flucht planen und durchführen. Zudem besaß Caravaggio kein Geld mehr. Beim Ballspiel hatte er die letzten Scudi gesetzt, das wusste er. Ohne Geld kam er aber nicht weit. Wie und wohin also war er geflohen?

Scipione Borghese fühlte, wie sich seine Überheblichkeit in Panik verwandelte. Wenn er seinem Oheim mitteilen musste, dass er keinerlei Ahnung davon hatte, wohin sich Caravaggio abgesetzt hatte, wenn er selbst auf weitere Bilder aus der Hand dieses Malers verzichten musste, dann schwand sein Einfluss.

Mit langen Schritten durchquerte er den Raum, um nach möglichen Hinweisen zu suchen, die Caravaggio hinterlassen hatte. Nach dem, was er gehört hatte, musste der Maler schwer verletzt worden sein. Umso mehr bewunderte er seine Zähigkeit und Energie, trotzdem die Flucht zu wagen. Auf dem Boden inmitten des Raumes entdeckte er schwarze Blutflecken. Mit seiner Sandale stieß er dagegen und pfiff durch die Zähne. Die Menge, die hier verloren worden war, deutete auf eine erhebliche Verletzung. So sehr er sich auch bemühte, das ehemalige Atelier gab das Geheimnis des Ziels von Caravaggios Flucht nicht preis.

Scipione Borghese trat an eine der Fensteröffnungen und blickte hinaus auf die Straße. Grell stach die Sonne vom Himmel und füllte die Gasse mit ihrem weißen Licht. Wie Milch wirkten die hellen Fassaden und der sandige Boden. Die Fuhrwerke und Lastenträger, Bauern und Marktfrauen, die an diesem Morgen die Gasse durchquerten, wirbelten Staub auf, der sich gegen die Hitze und den Glast der Sonne stemmte und wie ein Schleier über die Dinge legte. Diebe schlichen sich vorsichtig wie Katzen durch das Gewühl. Es wimmelte zu sehr von Menschen, als dass darin eine Pferdekutsche oder Sänfte mit einem Kranken und einer Frau aufgefallen wäre. Scipione Borghese biss sich auf die Lippen und verwünschte seine Nachlässigkeit, mit der er den Lauf der Dinge abgewartet hatte. Aber er würde Caravaggio finden, er musste ihn finden!

21.

Die frische Brise und das Schaukeln des Bootes taten ihm gut. Seekrank wurde Enrico nicht, das wusste er. Im Gegenteil, er fühlte sich wie gewiegt und konnte seine Gedanken schweifen lassen, wenn er aufs vorüberziehende Festland oder noch lieber auf das horizontlose Meer sah. Dort hinten konnte man Land ahnen, Sardinien, Sizilien, das afrikanische Festland, Orte, die Halt boten oder dies zumindest vorgaukelten. Den Gedanken legte sich kein Hindernis in den Weg, sie konnten frei schweifen, einen Tagtraum träumen.

Er reiste im Auftrag und das versetzte ihn in eine gewisse Hochstimmung. Ferdinando Gonzaga schickte ihn nach Neapel, um Caravaggio ausfindig zu machen und ihm Bilder abzukaufen, und so Scipione Borghese zuvorzukommen. So konnte er endlich Nerina wiedersehen und ihr von den Ergebnissen seiner Nachforschungen berichten.

Die eineinhalb Tage bis Neapel wollte er im Schiff zurücklegen, da es schneller und bequemer ging, jetzt, im Frühsommer, die Küste entlangzufahren, als mit holprigen Ochsenkarren die Via Appia nach Süden zu nehmen.

Er saß in einer Rolle Ankertau und träumte von Nerina. Wie mochte es ihr ergangen sein? Wie mochte sie die Flucht mit Caravaggio bewältigt haben? Inwiefern hatte sie sich verändert? Hatte sie ihn bereits vergessen? Das war es, was er am meisten fürchtete, dass sie ihn aus dem Gedächtnis verloren hatte, wie man beim Reisen einen Handschuh verlor oder eine Stiefelschnalle, aus Unachtsamkeit und zufällig. Schließlich hatte er es sich verboten, ihr zu schreiben, da er zu Recht vermutete, dass seine Korrespondenz überwacht wurde. Jetzt befand er sich persönlich auf dem Weg zu ihr und hoffte. Er hatte das Schiff genommen, weil er der einzige Passagier auf der Galeone war, die Öl nach Neapel brachte, um Wein von dort wieder mitzunehmen.

Der Himmel, der über ihm schwebte wie weiße Gaze, besaß die Elfenbeinfarbe von Julias Haut. An ihre letzte Begegnung erinnerte er sich. In einer Seitengasse nahe dem Palazzo Madama, hinter San Luigi dei Francesi hatte er auf sie gewartet. Erst als die Sonne beinahe senkrecht in die Gasse hinunterleuchtete und er beinahe einem Hitzschlag nahe war, war sie aufgetaucht, nur gekleidet in ein duftiges Leinen, das Falten über der Brust warf und von einem Schal lose über der Hüfte zusammengehalten wurde. Ihre Füße staken in polierten Holzschuhen und sie hatte sich Bänder ins Haar geflochten.

„Lass uns in die Pincio-Gärten gehen. Um die Mittagszeit ist dort niemand!“

So hatte sie ihn begrüßt, ihn untergefasst und in Richtung Piazza del Popolo gezogen. Ihre Brust hatte sich an seinen Arm gedrückt. Sie hatte ihm kurz den Kopf auf die Schulter gelegt. Enrico hatte gefühlt, dass sie unter dem Leinenkleid weiter nichts trug. Ein verliebtes Paar, waren sie die Via Ripetta hinaufgeschlendert, hatten die Piazza überquert und waren zu den Gärten hochgestiegen, in denen die Weinreben erste Triebe ansetzten und sich an manchen Stellen zu einem beinahe undurchdringlichen Dickicht verwoben.

Auf dem Weg dorthin hatte er versucht, Julia unauffällig zu befragen.

„Warum hat dich Del Monte Kardinal Borghese überlassen? Das Essen kann nicht der einzige Grund gewesen sein.“

Sie sah ihn von der Seite her an.

„Mit den römischen Gepflogenheiten seid Ihr noch nicht vertraut, Enrico. Kardinal Del Monte, Giovan Battista Merisi, Cavaliere d’Arpino, sie alle gehören derselben Gemeinde an. Sie pflegen die Männerliebe.“

„In diese Runde passte keine … schöne Frau!“

Enrico ergänzte den Satz. „Eine Frau mit üppigen Formen“, hatte er sich nicht zu sagen getraut, obwohl er wusste, dass Julia heute nichts dagegen gehabt hätte.

„Ja. Sie pflegen ein anderes Schönheitsideal als füllige Brüste und runde Hüften. Michele bemerkte es erst nicht. Sein Interesse galt den Bildern, nicht den Knaben, die er dafür als Modell benutzte. Ihn interessierten Knaben anfänglich nicht. Ich weiß es. Schließlich hat er mir nachgestellt und unter den Rock gegriffen.“

Vor ihrem Aufstieg in die Pincio-Gärten hätten sie Wasser und Wein mitnehmen sollen. Enricos Zunge klebte trocken am Gaumen. Allein der Gedanke daran, wie Michele Julias Haut berührt hatte, ließ ihn schlucken.

„Dann ist er vom Regen in die Traufe geraten.“ Enrico leckte sich über die Lippen, die sich rau und spröde anfühlten. „Als er sich mit dem Cavaliere d’Arpino auseinandergelebt hatte und zu einem ernst gemeinten Konkurrenten herangewachsen war, wollte er den Dunstkreis des männerliebenden Malers verlassen und geriet in die Höhle des Löwen. Des Mannes, der Männerliebe auch in seinen künstlerischen Ausprägungen lebte.“

Deshalb die Angst des Cavaliere d’Arpino vor der päpstlichen Inquisitionsbehörde, deshalb seine Vorsicht, was die Bilder anbelangte. Als Enrico das begriffen hatte, war ihm leichter zumute. Damit konnte sein Herr etwas anfangen, damit konnte er arbeiten und vermutlich seine Anwartschaft auf eine Kardinalsstelle untermauern. Wenn er dann noch einige Bilder Caravaggios anbot und den Sammler Scipione Borghese damit köderte, konnte es ihm gelingen.

Julia holte ihn aus seinen Überlegungen. Sie zog ihn unter einige überhängende Zweige und einen kleinen Hügel hinauf. Bereits nach wenigen Schritten waren sie vom Weg her nicht mehr zu sehen. Noch etwas erhöht durch den ansteigenden Hang, drehte sie sich um, sodass ihr Gesicht etwas über das seine hinausragte, und zog seine Lippen zu den ihren. Dafür musste sie sich leicht nach unten beugen. Ihre Brüste berührten seine Schlüsselbeine und er fühlte durch das dünne Leinen hindurch ihre festen Warzen.

Unter dem Licht des Tyrrhenischen Meeres rekelte sich Enrico faul, als er an das Liebesspiel dachte, das sich an diesen Kuss angeschlossen hatte. Wie ein Feuer hatten sie sich verzehrt. Wie ein Sturm war Julia über ihn gekommen und er hatte sich nicht gewehrt, obwohl er an Nerina gedacht und sich für einen kurzen Moment schuldig gefühlt hatte.

Er selbst hatte sich aus Rom fortgeschlichen wie ein elender Verräter. Niemandem, schon gar nicht Julia, hatte er davon erzählt, dass er nach Neapel aufbrechen würde.

Hinter dem feinen Strich des Horizonts, an dem der elfenbeinerne Himmel in ein nur unmerklich dunkleres Wasser überging, stauten sich Wolken. Sardinien, vermutete Enrico. Dorthin und weiter nach Westen, und all diese Intrigen, die Verfolgungen, diese Kabalen wären vorüber. Auf dem Meer fühlte er, dass er sich von der Enge der menschlichen Natur befreien konnte, dass er sich zu lösen vermochte von den Ketten des Daseins.

Dabei bildete er selbst nur ein Glied in der Kette der Ereignisse. Seine Mission in Neapel diente mehreren Zwecken: Einmal wollte er natürlich Nerina wiedersehen, zum anderen aber musste er Michele von einem Plan überzeugen, den Ferdinando Gonzaga entwickelt hatte und den er selbst für höchst interessant hielt.