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Band 14

 

Die Giganten von Pigell

 

von Wim Vandemaan

 

 

 

Im August 2036 brechen Perry Rhodan und seine Begleiter zum ersten interstellaren Flug der Menschheit auf – doch dieser führt ins Chaos eines Krieges. Die Menschen erreichen das System der blauen Sonne Wega, wo die echsenartigen Topsider die Welten der Ferronen angreifen. Rhodans Raumschiff wird abgeschossen, seine Gruppe getrennt.

Für Rhodan und seine Begleiter beginnt ein erbitterter Kampf ums Überleben, andere Menschen werden gefangen genommen. Bei ihrer Flucht über verschiedene Planeten nutzen sie Transmitter, mit denen man ohne Zeitverlust riesige Entfernungen zurücklegen kann. So landet die Gruppe auf der geheimnisvollen Dschungelwelt Pigell, die ein schreckliches Geheimnis birgt.

Auf der Erde sind die fremdartigen Fantan nicht zu stoppen: Sie rauben, was ihnen gefällt, während die Menschen der außerirdischen Technik hilflos gegenüberstehen. Alle Hoffnung ruht auf Rhodans Rückkehr ...

Prolog

Die Erde, später

 

»Wissen Sie.« Er schaut vor sich hin und denkt nach. Für einen Augenblick sieht er direkt in die Kamera. Er weiß natürlich, dass er nicht in die Kamera blicken soll. Er ist es aber nicht gewohnt, dass Kameras auf ihn gerichtet sind.

Noch nicht.

»Ja?«, fragt sein Gegenüber.

»Lassen Sie es mich so sagen. Als Kind hatte ich den Traum, nach Tokio zu fahren. Tokio war für meine Mutter und mich zu weit, die Reise zu teuer. Ich wollte im Lärm der Pachinko-Hallen stehen, krachende, laute Militärmusik, wollte mich in den unterirdischen Märkten von Shinjuku verlaufen, ich wollte natürlich mit der Yamanote-Linie fahren, immer im Kreis, denn ich kannte ja die Melodie jeder einzelnen Station. Ich wollte sogar zum Hafen, in den Admiral Perry mit seiner schwarzen Flotte eingelaufen ist und den Kokon aufgesprengt hat, in dem Japan gelegen hatte.« So lächelte. »Ist das nicht witzig, dass es wieder ein Perry ist, der unseren Kokon aufsprengt? Wieder mit Schiffen? Auch wenn es diesmal Raumschiffe der Arkoniden sind?«

Sein Gegenüber nickt. Sie verbindet nichts mit Admiral Perry.

»Irgendwann habe ich es tatsächlich geschafft. Ich bin in Tokio gewesen. In einer Pachinko-Halle habe ich die Summe Geld, die ich mir selbst dafür bewilligt hatte, innerhalb einer halben Stunde verloren; da habe ich ein paar Kugeln vom Boden aufgehoben – ich weiß, sehr ungehörig –, aber mit diesen Kugeln habe ich eine ganze Schale voll Kugeln gewonnen und sie eingetauscht gegen ein paar Tüten Ramen, eine Dose Rambutan mit Ananas, für meine Mutter. Ich war im Viertel der Glücksgötterschreine, im Kiyosumi-Garten, wo immer irgendetwas blüht. Und ich bin natürlich mit der Yamanote-Linie gefahren. Aber ...«

Er unterbricht sich. »Was ich sagen will: Es war alles so wirklich. Es hat sich gar nicht angefühlt, als wäre ich in der Stadt meiner Träume. Im Gegenteil hatte sich in Tokio mein Fukushima in eine Traumwelt verwandelt. In ...«

Er unterbricht sich wieder.

»... in eine Albtraumwelt«, hilft sein Gegenüber aus.

Tako Kakuta lächelt. »Nein«, sagt er leise, aber in einem definitiven Ton, der seinem Gegenüber deutlich macht: Das Thema ist beendet.

Sein Gegenüber – eine Reporterin der BBC – spürt in diesem Moment, dass von dem kleinen, schmächtigen Mann etwas ausgeht. Etwas, das mit seiner Kindheit zu tun hat, dort, in der stillen Hölle von Fukushima. Eine Landschaft, die für ihn, wie ihr jetzt aufgeht, nicht der Ort der Verdammnis war, als der er in den europäischen Medien dargestellt worden ist.

Etwas von diesem Ort steckt in ihm. Etwas, das ihn auf unfassbare Weise näher an die Topsider heranrückt, an die Ferronen, an diese fremdartige Welt unter einer Sonne, gegen die das Gestirn der Erde wie ein Miniaturmodell erscheint.

Etwas. Aber was?

Es liegt ihr auf der Zunge, aber sie kann es nicht auf den Begriff bringen. Das ärgert sie. Es ist ihr Geschäft, Dinge auf den Begriff zu bringen. Sie ist gut in diesem Geschäft.

Normalerweise.

Er sagt: »So ähnlich ist es im Wega-System gewesen. Es hat nichts Unwirkliches gehabt, nichts Traumhaftes. Es war einfach meine Gegenwart. Das Unwirkliche, der Traum – das war mit einem Mal die Erde.«

»Ich verstehe«, sagt die Reporterin.

»Ja«, sagt er, und da wird ihr klar, dass sie gelogen hat.

Sie lässt ihm Zeit. Sie lässt auch sich Zeit. Sie weiß plötzlich, dass er die richtigen Worte finden wird.

Sie ist endlich bereit, ihm zuzuhören.

Er sagt: »Wissen Sie, hier auf der Erde stellen sich zum Beispiel viele die Topsider vor wie aufrecht gehende Krokodile. Wie die Orgel spielenden Krokodile in diesem Disney-Film, nur, dass sie eben keine Orgel spielen. Fabelwesen.«

Sie nickt. Sie denkt: Sind sie das nicht?

»Tatsächlich sind sie Echsen. Krokodile. Aber das ist nur eine vage Annäherung. Nicht einmal das. Dieses Bild ist ein matter Abglanz.«

Er schaut sie ratlos an. Sie nickt ihm zu. Er schweigt. Sie nickt noch einmal. Er sagt: »Sie sind ganz anders.«

Was für ein leerer Satz, denkt sie, aber zugleich spürt sie, wie sich ihr die Nackenhaare aufrichten. Sie denkt: Er hat ja recht. Er ist der Mann, der den Topsidern in die Augen gesehen hat. Den Fremden.

Er scheint nicht weiterzuwissen. Sie räuspert sich. »Was hat Sie am meisten beeindruckt, Herr Kakuta?« Im selben Moment möchte sie sich Ohrfeigen für diese Anfängerfrage geben. Aber diese Anfängerfrage lässt sich nicht zurücknehmen. Die Kamera läuft. Sie sind auf Sendung. Live.

Er sagt: »Dass ich überlebt habe.« Er lächelt schief. Es ist das erste Mal, dass sie ihn lächeln sieht. »Im Dschungel von Pigell.«

Sie nickt und will damit sagen: Diese Antwort gilt nicht. Die Frage steht noch im Raum. Er nickt zurück und sagt damit: Das weiß ich.

»Es waren vielleicht gar nicht die Topsider«, sagt er. »Es war – nein, es war auch nicht die unglaubliche Dunkelheit am Grund des Dschungels.« Er schließt die Augen.

Sie denkt: Jetzt ist er wieder da. Da draußen. Unter einer anderen Sonne. Lichtjahre von hier weg. Kein Mensch ist weiter fort von der Erde gewesen als er.

Er öffnet die Augen wieder und sucht ihren Blick. Unwillkürlich muss sie lächeln. Sie ist schön. Sie hat ihre Erfahrungen mit den Männern gemacht. Sie denkt: Wenn sie dir so in die Augen schauen, lügen sie am unverschämtesten.

Aber warum soll er lügen?

Er hat sich entschieden: »Was mich am meisten beeindruckt hat, das waren die Giganten von Pigell.«

Sie nickt. Sie hat keine Ahnung, wovon er redet. Sie fragt: »Mögen Sie unseren Zuschauern etwas erzählen von diesen Giganten?«

»Ja«, sagt er. Er lächelt sie an und schließt erneut die Augen.

1.

Endstation

Pigell, im Wega-System

 

An diesem Tag würde Tako Kakuta Bechia Yuaad zum ersten Mal sehen. Die Ferronin, die sich selbst als einen Appell bezeichnete, war klein, vielleicht eineinhalb Meter, und sie war schmächtiger als die meisten ihrer Art. Ihre Haut war von einem blassen, fast keramischen Blau. Das kupferfarbene Haar trug sie kurz und ruppig geschnitten. Ein breit-ovales, fast rundes Gesicht. Ihre Stirn sprang weniger weit vor als sonst bei Ferronen.

Sie würde ihn aus grünen, gläsernen Augen anschauen.

Sie würde ihn studieren.

Er würde stillhalten, aber sein Gesicht würde er undurchsichtig halten.

Sie und Anne Sloane würden kurz miteinander reden. Nach einer Weile würde sie sich abwenden und an den Rand der Lichtung gehen, wo einer der Giganten stand und die Regenfälle leckte.

Da würde Kakuta sehen, dass sie leicht hinkte.

Er würde keinen Verband bemerken, keine Beinschiene. Wahrscheinlich keine Verletzung, würde er denken. Sie geht selbstverständlich, sie ist ihr Hinken gewohnt. Ein angeborener Fehler. Oder eine früh erworbene Beeinträchtigung.

Aus irgendeinem Grund würde sie sich noch einmal umdrehen und ihn ansehen.

Und der Tag würde eine neue Wendung nehmen.

 

»Wir werden langsamer«, sagte Conrad Deringhouse leise. Er war der Jüngste ihrer Gruppe, mit 24 Jahren sogar noch ein Jahr jünger als Tako Kakuta selbst. Kakuta warf ihm einen besorgten Blick zu. Die Schmerzmittel hatten angeschlagen. Gestärkt hatten sie Deringhouse nicht. Hatten sie ihn sogar empfindlicher gemacht?

Wo im Wega-System, Lichtjahre von der Erde entfernt, sollten sie Hilfe finden? Die Topsider würden sie jagen. Immerhin war Kakuta, Deringhouse und den beiden Frauen die Flucht aus dem Gefangenenlager auf Ferrolia gelungen. Sie hatten den Mond hinter sich gelassen.

Und sie hatten Nyssen hinter sich gelassen. Tot.

»Wir werden langsamer? Bist du dir ganz sicher?«, fragte Anne Sloane.

Deringhouse nickte mühsam.

»Er hat recht«, sagte Darja Morosowa.

»Wie nah mögen wir der Planetenoberfläche sein?« Sloane schaute Kakuta an.

Er schüttelte abwehrend den Kopf und sagte: »Sicher zu hoch. Viel zu hoch zum Springen.«

»Du könntest dich anstrengen.«

Er wandte stumm den Kopf ab. Er war Teleporter. Seine Paragabe ermöglichte es ihm, über höchstens zwei Kilometer zu springen, ohne jeden Zeitverlust. Nach dem Sprung aber musste er sich erholen. Die Regeneration konnte je nach Anstrengung eine halbe Stunde dauern.

Sie schwiegen. Es war kein angenehmes Schweigen. Kakuta spürte den bohrenden Blick Sloanes am Hinterkopf. Wächter des Nordens!, dachte Kakuta beschwörend.

»Wir landen«, hörte er Deringhouse murmeln.

Tatsächlich spürte auch Kakuta jetzt, dass sich der Truppentransporter senkte. Oder täuschte er sich? Jedenfalls musste Wega VI – Pigell – nun schon sehr nahe sein.

Die Topsider hatten das Wega-System mit ihrer Armada unter Kontrolle gebracht. Die Ferronen hatten den etwa 500 Schiffen der Invasoren – darunter etliche der 250 Meter langen Kriegsschiffe, aber auch 800 Meter messende Riesenschiffe, die den Truppen- und Frachttransport besorgten – im All nichts Nennenswertes entgegenzusetzen.

Die Eroberung der besiedelten Planeten stellte aber auch die überlegenen Topsider vor andere militärisch-logistische Probleme als die Herrschaftssicherung im Weltraum.

Nachdem sie Ferrol eingenommen hatten, würden sie darangehen, den ferronischen Widerstand auf den anderen Planeten zu brechen.

Auch auf Pigell. Soweit Kakuta wusste, handelte es sich bei Pigell, ihrem Flugziel, um eine dampfende, brodelnde Dschungelwelt. Ganze Kontinente lagen unter wochenlangem Dauerregen, der nicht unbedingt Kühlung brachte.

Sie hatten sich in einem Container an Bord des Transporters schmuggeln lassen. Darja Morosowa war auf die Suche nach einem geeigneten Objekt gegangen, das sie von Ferrolia fortbrachte. Sie sprach ein wenig Topsidisch und verstand noch ein wenig mehr. Ihre Kenntnisse hatte sie mit einer fast intuitiven Leichtigkeit erworben.

Der Container war für einen Einsatz auf Pigell bestimmt – weit weg von Ferrol, weit weg vom Lager.

Kakuta war sich sicher, dass die Russin diesen Container und dieses Schiff auch deswegen gewählt hatte, um Anne Sloane einen gewissen Abstand zu ermöglichen. Sloane hatte den Tod von Rod Nyssen noch lange nicht verwunden. Sein Tod hatte etwas wie einen bitteren Schatten auf sie geworfen.

Er hatte beobachtet, wie Sloane eine von Nyssens Packungen Zigaretten eingesteckt hatte – ein in seiner Profanität fast mitleiderregendes Andenken.

Sloane hatte Schloss und Siegel des Containers mit ihren telekinetischen Kräften geöffnet, sie hatte einen großen Teil des Inhalts mit dieser Paragabe ergriffen und hinausgefegt.

Trotzdem stand der Container noch voll: In gläsernen Fässern lagerten flüssige Nährstoffe, die einen Grundbestandteil der topsidischen Speisen bildeten. Einige Kanister voll von pharmazeutischen Produkten; einige Säcke mit Sand oder Staub, von dem Morosowa glaubte, dass die Topsider ihn zu rituellen Zwecken benutzten.

Keine Waffen, keine Schutzschildprojektoren.

Es war Kakuta gelungen, wenigstens einen Bottich mit Frischwasser an Bord zu teleportieren. Und die beiden leeren Eimer und das Hygienematerial, um das Morosowa gebeten hatte.

Schließlich wussten sie nicht, wie lange der Flug nach Pigell dauern würde.

Anne Sloane hatte den Container dann telekinetisch verschlossen, das Siegel außen wiederhergestellt.

Der Transporter begann zu vibrieren, dann schüttelte es ihn stärker. Heftige Schläge folgten. Es klang, als würde ein altes Passagierflugzeug das Fahrwerk ausfahren.

»Eintritt in die Atmosphäre«, kommentierte Deringhouse. Kurz darauf wurde der Flug wieder ruhiger.

Dann setzte das Schiff auf.

»Pigell. Endstation«, sagte Anne Sloane. »Aussteigen.«

Kakuta blickte zu Darja Morosowa. Sie nickte. »Natürlich sollten wir jetzt aussteigen. Wie sieht es aus, Tako? Kannst du springen?«

Kakuta nickte zurück. »Ja. Die Frage ist, wie sinnvoll ein Sprung ist. Wir wissen nicht, wo wir gelandet sind. Mitten auf einem Raumhafen der Topsider? In einem Lager? Dann springen wir direkt in Gefangenschaft. Oder sind wir irgendwo im Dschungel? Was dann?«

»Wie lautet denn dein Vorschlag? An Bord bleiben und uns zurückfliegen lassen?« Sloanes Stimme klang ätzend.

Morosowa hob fragend die Brauen.

»Es ist ein Transporter«, sagte Kakuta. »Es sind Truppen an Bord und Ausrüstungsgegenstände. Wahrscheinlich auch einatzbereite Kampfgleiter. Mit einem Kampfgleiter wären wir mobil. Wir hätten eine« – er suchte nach Worten – »eine Herberge. Einen neuen Tank voller Wasser. Nahrung. Kleidung.«

Anne Sloane starrte ihn an. »Vor allem hätten wir die Topsider am Arsch. Es dürfte ihnen beträchtlich leichter fallen, einen Gleiter zu lokalisieren als vier Personen, die im Dschungel untertauchen.«

»Vielleicht«, gab Kakuta zu.

»Also« – sie wies auf Morosowa und Deringhouse – »bring die beiden nach draußen, ich halte hier noch eine Weile aus.«

Kakuta sagte: »Teleportier du sie doch.«

Sie schüttelte missbilligend den Kopf. »Du bist ein Feigling.«

Statt zu antworten, teleportierte er, aber allein.

 

Eine halbe Stunde später kam er zurück. »Ich habe einen Gleiter gefunden. Es gibt einen Hangar, da stehen drei dieser Geräte. Offenbar als Eingreifreserve. Ein Großteil der Truppen hat das Schiff verlassen.«

»Sind es unbewachte Gleiter?«, fragte Deringhouse.

»Eine Wache. Für alle drei Gleiter.«

»Klingt vernünftig«, sagte Deringhouse. Morosowa nickte.

Anne Sloane presste die Lippen aufeinander. Endlich nickte sie. »Versuchen wir es.«

Sie warteten, bis Kakuta sich erholt hatte. Dann sprang er mit Sloane zusammen in den Gleiter. Sloane blickte sich um. »Wo ist der Topsider?«

»In einem der beiden anderen Gleiter, vermute ich«, sagte Kakuta. »Vielleicht hat er den Hangar inzwischen verlassen.«

Sie hörten ein Geräusch aus der winzigen Hygienezelle des Fahrzeugs. Die Tür öffnete sich, und eines der Echsenwesen trat heraus, während es etwas Reinigungspuder von den Händen klopfte.

Der Topsider starrte die beiden an. Dann sackte er lautlos zusammen.

»Hast du ihn umgebracht?«, fragte Kakuta Sloane.

»Unsinn. Sie ist nur bewusstlos. Ich habe ihr die Blutversorgung des Gehirns abgedrückt. Sie wird wieder aufwachen.«

Kakuta nickte, obwohl er seine Zweifel hatte. Was wusste Sloane schon, welche Auswirkungen dieser telekinetische Eingriff auf ein topsidisches Gehirn hatte?

»Wie kommst du darauf, dass es eine Sie ist?«

Sloane schaute ihn an wie einen Idioten. »Natürlich weil ich ihre Organe gespürt habe.«

Er versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, wenn die Telekinetin in einen Körper eingriff. Wenn sie ihn abtastete. Wenn sie das Herz anhielt. Wächter des Nordens!, dachte er. »Ich hole die beiden jetzt«, sagte er und sprang zurück in den verschlossenen Container.

Conrad Deringhouse war froh, in einem der beiden Pilotensessel der Kanzel zu sitzen. Die Aussparung der unteren Rückenlehne spürte er kaum. Der Pneumosessel war auch für einen Menschen wunderbar bequem. »Meine Hochachtung vor den topsidischen Ergonomikern.« Er grinste.

Zusammen mit Morosowa hatten sie die Bedienung der Steuerkonsole bald durchschaut.

»Alles im Griff?«, drängte Sloane.

»Alles bereit für unsere erste Flugstunde«, sagte Morosowa.

Deringhouse wies aus dem Panoramafenster der Kanzel auf die beiden anderen Gleiter und fragte Morosowa: »Kannst du die beiden flugbereit machen?«

»Willst du mit drei Gleitern fliehen?«, fragte Sloane.

Deringhouse schüttelte den Kopf. »Wenn möglich, möchte ich die beiden anderen in Fernsteuerung nehmen. Falls man auf uns schießen sollte, wird man das Feuer dann nicht auf einen Gleiter konzentrieren.«

»Guter Plan«, sagte Sloane und nickte Morosowa auffordernd zu.

Kakuta sah mit ein wenig Missbilligung, wie Morosowa den Gleiter verließ. Hatte Sloane jetzt das Kommando?

»Passt dir etwas nicht?«, fragte Sloane.

»Ja«, sagte er. »Was ist, wenn der Hangar videoüberwacht wird? Bislang hat man uns nicht gesehen. Aber jetzt ...«

Jetzt gellte der Alarm durch das Schiff. Morosowa drehte sich um und rannte zu ihrem Gleiter zurück.

Die Topsiderin an Bord gab leise, pfeifende Laute von sich. Sie versuchte, sich aufzustemmen. Kakuta war mit einem Schritt bei ihr, teleportierte mit ihr nach draußen und legte sie neben dem Eingang zum Gleiter ab. Morosowa stürmte an ihm vorbei. Er folgte ihr hinein.

»Bravo«, sagte Sloane. »Spätestens jetzt wissen die Topsider, dass sie es mit einem Teleporter zu tun haben.«

Morosowa warf sich in den Sessel des Piloten. Kakuta setzte sich neben Sloane. Die Sicherheitsbügel schoben sich aus der Rückenlehne, umfassten Kakutas Brustkorb, ohne zu eng zu werden.

Der Antrieb des Gleiters summte auf. Deringhouse fuhr rasch über die Sensortasten. Das Hangarschott teilte sich, die Teile glitten auseinander. »Los geht's!«, sagte Morosowa.

Die Beschleunigung drückte Kakuta in den Sitz.

 

Die Lichtung, die als Landefeld für den Truppentransporter diente, sahen sie nur kurz. Morosowa zog den Gleiter steil nach oben. Unter ihnen breitete sich das grüne Meer der Baumkronen aus.

Kurz darauf klatschte Regen ans Fenster und nahm ihnen fast sofort die Sicht. Kakuta hatte das Gefühl, als flögen sie in einer grünen Choya-Flasche.

Der Regen prasselte. Niemand sprach. Kakuta ertappte sich dabei, wie er die Luft anhielt.

Das Funkgerät aktivierte sich. Kakuta hörte die Stimme eines Topsiders.

»Was will er?«, fragte Sloane.

Morosowa, die ein wenig Topsidisch sprach, sagte: »Den Tageskode, Auskunft darüber, wohin wir fliegen, warum wir unseren Flug nicht angemeldet haben.«

Morosowa gab Vollschub. Kakuta fühlte sich noch einmal tiefer in den Pneumosessel gepresst.

»Vier Kampfgleiter hinter uns«, meldete Deringhouse. »Schutzschirm steht.«

Eine neue Funkbotschaft. »Wir sollen stoppen und landen«, übersetzte Morosowa.

Der erste Treffer schüttelte den Gleiter durch, kurz danach kassierte der Schirm Treffer Nummer zwei, drei und vier.

»Sie schießen sich ein«, sagte Deringhouse. »Zwei weitere Gleiter im Anflug aus acht Uhr. Das wird zu viel, Kinder.«

»Bring uns raus«, forderte Sloane.

Kakuta schaute sie verwirrt an. »Raus? Wohin denn?«

»Irgendwohin«, sagte sie.

»Wen? Dich? Und was ist mit den beiden?« Er zeigte auf die Piloten. »Wenn ich uns beide rausbringe, ist der Gleiter bei diesem Tempo sofort außer Reichweite. Oder? Deringhouse, wie schnell sind wir?«

»1500 Kilometer die Stunde«, sagte Deringhouse. »Etwas mehr als das.«

»Dann habe ich nur ein paar Sekunden!«, protestierte Kakuta.

Morosowa flog einige Manöver, die ihre Verfolger kurzzeitig verblüfften. Aber die Topsider hatten sich bald auf ihre fliegerische Signatur eingestellt. Sloane übernahm wortlos das Geschütz des Gleiters. Kakuta konnte nicht verfolgen, ob sie einen Treffer landete. An gute Erfolgsaussichten glaubte er nicht. Die gegnerischen Gleiter waren technisch ebenbürtig.

»Schutzschirm ausgefallen.« Deringhouse klang abwesend. »Vier weitere Gleiter im Anflug von zwei Uhr.«

 

Ein Schlag; ihr Gleiter sackte durch. Morosowa fing ihn auf. Kakuta legte eine Hand auf den Arm von Sloane, zögerte, wen von den beiden Piloten er berühren und gegebenenfalls aus dem Gleiter teleportieren sollte.

Deringhouse sagte: »Kinder und Frauen zuerst.«

Morosowa sagte, ohne ihren Kopf zu wenden: »Wenn ich deine Hand auf meiner Schulter spüre, Tako, beiße ich.«

In diesem Moment durchzuckten grelle Blitze das Flaschengrün des Regens. Etwas krachte, explodierte.

»Was ist los?«, schrie Sloane.

Morosowa blieb ruhig: »Die neu hinzugekommenen Gleiter schießen auf unsere Verfolger. Man hatte dort die Energieschilde minimiert oder ganz ausgeschaltet – wir waren ja geschlagen. Die Angreifer haben leichtes Spiel.«

»Werden wir auch angegriffen?« Sofort erkannte Kakuta, wie unsinnig diese Frage war.

»Nein«, sagte Deringhouse. »Wir schauen nur zu. Die Fans der unbekannten Kavallerie.«

»Lange halten wir uns nicht mehr in der Luft«, warnte Morosowa.

Es knackte und wisperte im Funkgerät, dann wurde die Stimme klarer: »Hier spricht Huuqer, Ferrone. Folgen Sie uns!«

»Sonst?«, fragte Sloane leise.

»Kein sonst«, sagte die Stimme und unterbrach die Verbindung.

Morosowa seufzte. »Fliegen wir ihnen nach. Es ist sowieso ein blödes Wetter für einen Luftkampf.«

2.

Der gute Wächter

MYRANAR

 

Reginald Bull musterte das Geschöpf, das vor ihnen auf dem Boden hockte. Er überlegte, ob dies nun doch die Strafe war für ihren letztlich misslungenen Fluchtversuch. Wer kannte sich schon mit der Psychologie der Fantan aus, ihrem möglichen Hang zu verdeckten Grausamkeiten? Entführt, geflohen, wieder eingefangen und in diese Weltraumstation verschleppt – und nun das. Das Wesen mochte etwas über einen Meter groß sein und ähnelte einem Biber (komplett mit Biberschwanz), dem man – wie bei den Verschiebebildchen, mit denen man Bull in den wenig glorreichen Tagen seiner Kindergartenzeit gequält hatte – den Kopf einer Maus oder einer Ratte aufgesetzt hatte. Aus dem Mausemaul stach ein einzelner, prominenter Zahn hervor, spitz und, wenn man es genau besah, ein wenig degenförmig.

»Ein Vampirbiber«, raunte Bull Manoli zu. »Ein Bibermausvampir.«

Manoli nickte, aber so, dass Bull merkte, wie wenig Aufmerksamkeit er diesen biologischen Hypothesen schenkte. Manoli war an etwas anderem interessiert. »Wieso spricht er unsere Sprache?«

Bull räusperte sich. Das Geschöpf ähnelte mit seinem seidig schimmernden Fell einem Tier, aber die Art, wie es saß – die Beine im Schneidersitz gekreuzt, an den Füßen einfache Sandalen –, gab ihm etwas ganz und gar Untierisches.

Das Geschöpf stand auf. Bull sah, dass es eine weit geschnittene, kurze Hose trug, deren Beine über die Hälfte seiner Oberschenkel reichten. Die beiden Hosentaschen wirkten ausgebeult. Der Oberkörper war unbekleidet.

»Gucky also«, sagte Manoli.

Die Kreatur machte eine etwas linkische Verbeugung und sagte: »Gucky und Retter des Universums. Ich muss leider darauf bestehen.«

Er macht sich über uns lustig, dachte Bull.

»Gucky«, sagte Gucky. »Vielleicht habt ihr die Freundlichkeit, euch vorzustellen? Gesetzt, dass Individuen eurer Art etwas wie Eigennamen führen? Andernfalls nummeriere ich euch gerne durch. Nummer eins«, sagte er und wies auf Manoli. »Zwei, drei«, er tippte mit dem Finger in Richtung Sue Mirafiore und Sid González. Dann warf er Bull einen nachdenklichen Blick zu. »Elf«, sagte er. »Ich werde dich Elf nennen.«

»Das werden Sie nicht«, sagte Bull streng. »Und ich wüsste auch nicht, dass Ihnen irgendwer gestattet hätte, uns so vertraulich zu behandeln.«

»Erlaubnis hiermit erteilt«, verkündete die Kreatur großzügig.

»Ich wäre es dann ja wohl, der eine solche Erlaubnis erteilen müsste. Nicht du. Sie.«

»Gucky«, tadelte die Kreatur ihn. »Gucky, nicht Dusi.« Er wandte sich an Manoli. »Plagen Elf diese Artikulationsschwierigkeiten schon länger?«

»Wieso fragen Sie mich das?« Manoli zog die Augenbrauen hoch. »Warum nicht sie?« Er zeigte auf Mirafiore.

Gucky machte einige Schritte auf die junge Mutantin zu. Sein Gang wirkte zugleich unbeholfen, ein fast kleinkindliches Watscheln, und selbstsicher. Umstandslos griff das Wesen nach dem linken Arm des Mädchens, der in einem Stumpf endete. »Hm«, sagte er. Mirafiore ließ es geschehen. Dann nahm er den gesunden, voll ausgebildeten Arm und hielt beide nebeneinander. »Dich mag ich gern«, verkündete er.

»Danke schön«, sagte Sue. Ihre Stimme klang noch matt.

Insgesamt hatte die Therapie gegen die Transitionsschocks gut angeschlagen, der Fulkar sie unterzogen hatte. Dieser Arzt, der wie ein Mensch aussieht, aber kein Mensch sein kann. Trotzdem. Sie ist noch nicht gesund. »Vorsicht«, mahnte Bull. »Der Alien könnte gefährlich sein.«

Der alleinstehende Zahn der Kreatur blitzte auf. »Könnte? Ich fasse dieses zweiflerische könnte als Beleidigung auf. Ich könnte nicht gefährlich sein, ich bin es. Wäre es nicht unter der Würde und Weihe eines Besun Erster Klasse, müsstest du ein Duell gewärtigen, Elf.«

»Nichts dagegen«, sagte Bull und hob probehalber die Fäuste.

»Wenn du die Waffen wählst, wähle besser nicht die Peitsche der Redekunst«, riet Manoli und grinste Bull an. »Unser neuer Freund scheint nicht auf den Mund gefallen zu sein.«

Gucky machte eine bescheiden abwehrende Geste.

Manoli sagte: »Was uns zurückführt zu der Frage: Warum spricht ein Besun-Fundstück auf einer Fantan-Station Englisch?«

»Ihr sprecht es doch auch«, sagte Gucky und schaute Bull abschätzig an. »Jedenfalls mehr oder weniger.«

»Wenn ihr meine Theorie hören wollt«, begann Bull, »dann ist diese Kreatur nicht real. Die Fantan haben irgendwo unsichtbar einen Hypnoseprojektor installiert, saugen uns den Stoff unserer Albträume aus dem Kopf und führen uns unsere eigenen Schreckgespenster vor Augen. Mit einem Holoprojektor.«

»Mit einem Hypnoseholotraumextraktorprojektor«, verbesserte Gucky. Er seufzte. »Das war übrigens auch meine Theorie, als ich euch zum ersten Mal gesehen habe. Allein, das Licht der Vernunft leuchtet hell in mir. Deswegen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ihr womöglich real sein könntet.« Er ließ wieder seinen Zahn blitzen – wie immer er das anstellte.

Vielleicht, überlegte Bull, sitzen in diesem Zahn biolumineszente Bakterien, die er einschalten kann, um seine Beute abzulenken.

»Er ist Telepath«, sagte Sue. »Er hat unsere Sprache telepathisch abgelauscht. Vielleicht kann er sie noch gar nicht wirklich sprechen. Er entnimmt unseren Köpfen nur die Worte, die er braucht.«

»In eurer Art sind die Weibchen offenbar geistig reger als die Männchen«, lobte Gucky.

»Da wir von Arten sprechen«, sagte Manoli. »Zu welcher Art gehörst du?«

Gucky machte eine unbestimmte Geste. »Meine Feinde zählen uns zu den Unarten. Ich selbst zu den Eigenarten. Ich bin Ilt.«

Sid González hatte die Szene aus dem Hintergrund beobachtet. Er räusperte sich leise. »Wenn Sue recht hat, haben wir da ein schlaues Kerlchen vor uns.« Er grinste Gucky an. »Ich jedenfalls könnte das nicht.« Er tippte sich kurz an die Stirn. »Eine Sprache mal eben so durch Gedankenlesen entnehmen.«

»Das Ganze hier ist ein Test«, sagte Bull. »Oder eine öffentliche Vorführung. Wahrscheinlich sitzen an Bord der Station überall Fantan vor ihren Holoschirmen und glotzen, was sich hier zu ihrer Belustigung tut.«

»Wenn das so ist, dann haben sie Geschmack, diese Fantan«, sagte Gucky und nickte in einer menschlich wirkenden, möglicherweise ihren eigenen Gedanken entnommenen Geste. »Was man an der Auswahl der Besun sieht.« Er warf Bull einen Blick zu. »Von einigen Geschmacksverstauchungen einmal abgesehen.«

»Er will dich provozieren«, sagte Manoli, laut genug für alle im Raum.

Bull nickte langsam.

»Er will spielen«, hielt Sue dagegen.

»Das ist ja auch ein Ort, der zu Spiel und Spaß einlädt«, ätzte Bull und sah sich demonstrativ um.

Der Raum – oder Saal – war halb oval geschnitten. Die Tür, durch die sie eingetreten waren, befand sich exakt in der Mitte der geraden Längsseite, die sich über sieben oder acht Meter erstreckte. In der nach außen geschwungenen Rückseite gab es in regelmäßigen Abständen voneinander drei weitere, geschlossene Türen.

Der Raum war, soweit Bull sehen konnte, unmöbliert. Die Decke, deutlich über vier Meter hoch und sanft nach oben gewölbt, leuchtete insgesamt in einem gedämpften Licht.

Dort, wo sich die gebogene Wand mit der geraden Linie traf, befand sich eine Senke, vielleicht die Schlafmulde der Gucky-Kreatur.

Im Raum verteilt standen einige Kübel, aus denen erbärmliche Pflanzen wuchsen, dürre, kahle, blutrote Gewächse.

Gucky hatte bemerkt, wie Bull den Raum musterte. »Mi casa es su casa«, sagte er.

»Er spricht ja auch Spanisch!« González klang begeistert.

»Er ist überhaupt ganz großartig«, knurrte Bull. »Ein Goldstück von einem Besun.«

Bull durchmaß den Raum bis zur konvexen Wand. Er warf einen Blick über die Schulter und sah, dass die geradlinige Wand nicht mit der Decke abschloss. Unmittelbar vor der Wand stieg die Decke steil an und eröffnete so zwischen sich und der Wand einen mehr als zwei Meter hohen Freiraum, der verglast war – ein Fenster, so lang wie das ganze Zimmer.

Hinter dem Glas entdeckte Bull einige Fantan. Sie machten einen hoch konzentrierten Eindruck.

»Wir sind in einem Guckkasten. In einem Theater«, sagte Bull. »Besun-Theater für die Fantan.« Wenn sich nicht noch ganz andere Aliens auf der Station aufhalten.

Während Manoli und die beiden jungen Leute sich umdrehten, um die verglaste Galerie anzusehen, ging Bull weiter auf die Türen zu.

Erst aus nächster Nähe entdeckte er zwischen den Türen etwa in Hüfthöhe schmale Leisten, die sich farblich in nichts von der Wand unterschieden, in die sie eingelassen waren. In diesen vertieften Leisten war eine Art von Brailleschrift zu sehen, eine Blindenschrift: Leicht erhobene Punkte standen zu fingernagelgroßen Gruppen sortiert.

Bull streckte die Hand danach aus, schwenkte dann aber zu den Türen um. Er öffnete nacheinander die drei Türen in der Rückwand. Alle drei führten in schmale, vier bis fünf Meter tief reichende Räume, deren Boden sich nach hinten deutlich senkte. Das letzte Viertel des Bodens stand eine Handbreit unter Wasser. Das Wasser roch unnatürlich, desinfiziert. Die Hygieneräume, vermutete Bull. Vielleicht für die Geschlechter getrennt: Männer, Frauen, Gucky. Obwohl ihm nicht ganz klar war, wie man diese Toiletten handhabte, überkam ihn ein Gefühl von Erleichterung. In diesen Kabinen konnten sie immerhin ungestört sein, privat.

Vorausgesetzt, es waren dort keine Beobachtungsgeräte versteckt.

»Wo werden wir schlafen?«, fragte Bull laut in den Raum, nachdem er seine Inspektion beendet hatte.

Gucky spazierte zu seiner Schlafkuhle, sortierte angestrengt seine Decken und sagte: »Eine interessante Frage.«

Plötzlich setzte ein Summton ein. An verschiedenen Orten des Raums senkte sich der Boden ab und bildete neue Kuhlen. Vier, zählte Bull.

»Fehlen die Decken«, beklagte er sich laut genug, dass ihre Gastgeber es hören mussten.