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Für Elias und Anna, deren kindliche Neugier uns gelehrt hat, Vieles mit anderen Augen zu betrachten :-)

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© Hemma Häfele, Hartmut Häfele, www.lernpraxis.org

Lektorat: Kornelia Maier-Häfele
Layout & Satz: Hartmut Häfele

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN-13: 978-3-8448-7428-0

Inhalt

Vorwort

Einleitung

Erfolgreiche Legastheniker

Anmerkungen zur Handhabung dieses Buches

A. Die Leserechtschreibstörung (LRS)

1. Definition der LRS

2. Charakteristika der LRS (Übersicht)

3. Risikofaktoren und beeinflussende Rahmenbedingungen für die Entstehung der LRS

4. Zusammenhänge mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten

5. Psychische Begleitstörungen

6. Verlauf der Lese-Rechtschreib-Symptomatik

7. Langfristige Auswirkungen von LRS

B. Der Schriftspracherwerb

1. Schriftspracherwerb-Modell nach Uta Frith (1985)

2. Leseerwerb

2.1 Prozesse beim Lese-Erwerb

2.2 Das Dual-Route-Lesemodell nach Castels / Coltheart (1983)

2.3 Leseverständnis

3. Rechtschreib-Erwerb

3.1 Rechtschreibmodell nach Simon & Simon, 1973

C. Grundvoraussetzungen für den Lese-Rechtschreib-Erwerb

1. Die Zeitverarbeitung des Gehirns

2. Prosodie: Der Ton macht die Musik

3. Lauterkennung und -Unterscheidung

4. Phonologische Bewusstheit und Schriftspracherwerb

4.1 Erwerbs-Reihenfolge sprachlicher Einheiten

4.2 Einfluss der phonologischen Bewusstheit auf den Lese-Rechtschreib-Erwerb

5. Sprachliches Arbeitsgedächtnis

5.1 Das Arbeitsgedächtnismodell nach Baddeley (2000)

5.2 Entwicklung des Arbeitsgedächtnisses bei Kindern

5.3 Faktoren, die das sprachliche Arbeitsgedächtnis beeinflussen

D. Die sprachrhythmische Nutzung der Wort-Segmente Silbe, Morphem und Laut

1. Die Bedeutung der Silbe für den Erwerb des Lesens und Schreibens

1.1 Die Sprechsilbe ist nicht gleich der Schreibsilbe

1.2 Silbentypen (Maas, 1992, 1999)

1.3 Der Lautaufbau innerhalb der Silbe

1.4 Die Buchstaben-Laut-Zuordnung

1.5 Irreführende Strategien in der Silbenarbeit

2. Die Bedeutung der Morpheme für den Erwerb des Lesens und Schreibens

3. Zusammenfassung

4. Zukunftsvision

E. Der Lese-Rechtschreibstörung zugrunde liegende Störungen

1. Störung der zerebralen Zeitverarbeitung

1.1 Zusammenhang zwischen Zeitverarbeitungsdefiziten und der LRS

1.2 Beeinträchtigung der Sprach-rhythmischen Wahrnehmung

2. Funktionsstörungen der zentralen auditiven Wahrnehmung

2.1 Definition der Störung der zentralen Hörwahrnehmung

2.2 Einige Beispiele für auditive Teilleistungsstörungen und deren Folgen

2.3 Einige Daten zur Entwicklung einer regulären sprachlichen Verarbeitung

3. Einschränkung der phonologischen Informationsverarbeitung

3.1 Einschränkung der phonologischen Bewusstheit - eine Modesache?

4. Beeinträchtigungen im phonologischen Arbeitsgedächtnis

4.1 Arbeitsgedächtnis und Sprachentwicklung

4.2 Arbeitsgedächtnis und generelle Lernprobleme

4.3 Arbeitsgedächtnis und Schriftsprach-Erwerb

4.4 Arbeitsgedächtnis und Mathematik

5. Zentrale visuelle Verarbeitungsstörungen bei LRS

6. Störung des Zusammenspiels von Handpräferenz und Sprachdominanz

7. Motorische Störungen

8. Einschränkung der Wahrnehmung von Berührung und Bewegung

9. Funktionsdefizite im Kleinhirn (Cerebellum)

10. Aufmerksamkeitsdefizit

10.1 Exkurs: Aufmerksamkeitsstörungen

10.2 Ursachen bzw. Formen eines Aufmerksamkeitsdefizits

11. Defizite, die sowohl der Lese-Rechtschreib-Störung als auch der Spezifischen Sprachentwicklungsstörung zugrunde liegen

F. Defizite in den schulischen Leistungen

1. Charakteristische Probleme beim Lesen

1.1 Probleme in der Lesefertigkeit

1.2 Probleme im Leseverstehen

2. Charakteristische Probleme beim Rechtschreiben

2.1 Einschränkung des allgemeinen sprachlichen Wissens

2.2 Das geforderte Leistungsniveau bestimmt die Fehleranzahl

2.3 Fehlerart und Fehlerschwerpunkte

3. Probleme in anderen Fächern als Deutsch

3.1 Gemeinsames Auftreten von LRS und Rechenstörung (Dyskalkulie)

3.2 Schwierigkeiten beim Erlernen von Fremdsprachen

3.3 Schwierigkeiten in den Lernfächern

G. Vorhersage einer LRS

1. Screenings zur Vorhersage einer LRS

1.1 HASE – Heidelberger Auditives Screening in der Einschulungsuntersuchung (Brunner, Schöler, 2001/2002)

1.2 Screenings zur phonologischen Bewusstheit

H. Diagnostik der Leserechtschreibstörung (LRS)

1. Wann und bei wem sollte eine Diagnostik durchgeführt werden?

2. Ausschluss anderer Ursachen

3. Befragung von Eltern und Lehrkräften bezüglich der bisherigen Entwicklung des Kindes

4. Test-Diagnostik der LRS

4.1 Ein kleiner „Ausflug“ in die Welt der Statistik zum besseren Verständnis der Testwerte

4.2 Kriterien zur Diagnostik der LRS

4.3 Übersicht zur LRS-Testdiagnostik

4.4 Zusammenfassende Übersicht zur LRS-Diagnostik

4.5 Richtlinien zur Erstellung einer LRS-Diagnose

Exkurs: Rechenschwäche oder Dyskalkulie

1. Ursachen der kognitiven Einschränkungen bei Rechenschwäche

2. Rechenvorgänge benötigen eine Vielzahl an mentalen Fähigkeiten

3. Charakteristische Rechenprobleme

4. Folgeprobleme aufgrund der Rechenschwäche

5. Diagnostik der Rechenschwäche

Wie würden Sie entscheiden?

Jonas, 4. Klasse Primarschule, 10 Jahre

Fabio, 7;5 Jahre, 1. Klasse nach Vorschulbesuch

Samuel, 3. Klasse Primarschule, 9 Jahre

Sarah, 1. Klasse Realschule, 12 Jahre

Josef, 8;05 Jahre, Primarschule 3. Kl.

Arjana, 5. Klasse Primarschule, 11;04 Jahre

Noah, 3. Klasse Volksschule, 8 Jahre

Liane, 8;7 Jahre, abgeschlossene 2. Kl. Primarschule

Markus, 11 Jahre, 1. Klasse Gymnasium

Timotheus, 3. Primarschulklasse einer Montessorischule, 9;11 Jahre

Richard, 12 Jahre, 2. Klasse Gymnasium

Peter, 11 Jahre, 1. Klasse Sekundarschule

Humoristische Kurzzusammenfassung der Teilleistungsschwächen bei Legasthenikern

Nachwort

Titel und Inhaltsverzeichnis des 2. Bandes

Fragebogen zur Erfassung von Lernstörungen

I. Befragung der Eltern

II. Befragung der Lehrerinnen

Quellen

Literatur (Print- und Online-Medien):

Quellennachweis Abbildungen:

Stichwortverzeichnis

Vorwort

„Wir behalten von unseren Studien am Ende doch nur das, was wir praktisch anwenden.“ ~ Johann Wolfgang von Goethe

Die meisten Praktikerinnen unter Ihnen, die sich im Alltag um das Wohl lernproblematischer Kinder bemühen, werden sich vielleicht Folgendes denken: „Theorie? Hirngespinste weltfremder Wissenschaftler! Diagnose? Ist nur etwas für Fachleute, die nichts von der Praxis verstehen!“ Da wir - die Autorinnen dieser Buchreihe - selbst in der Praxis tätig sind, können wir dies angesichts vieler wenig praxisorientierter Theoretiker verstehen, wenn auch nur teilweise.

Die uns des Öfteren von Kolleginnen, Lehrerinnen oder Eltern gestellte Frage, warum wir uns im Zugriff auf bestimmte Therapiemethoden so sicher seien, wollen wir hier versuchen, möglichst kurzbündig zu beantworten: „Weil die zugrunde liegenden Theorien und Untersuchungen, die wir in diesem Buch darstellen, belegen, dass bestimmte Therapiemethoden wirksam und auch von uns in der Praxis erprobt sind“. So erleben wir beispielsweise immer wieder, dass die Förderung von Sprache den gesamten schulischen Erfolg der Kinder verbessert (Reich, Roth, 2003). Unsere theoretischen und praktischen Erkenntnisse geben uns recht, wenn wir uns bei Legasthenikern nur wenig mit der isolierten Förderung der Rechtschreibkompetenzen beschäftigen.

Die Theorie lehrte uns, in der Praxis das genau zu beobachten, was wir ohne dieses spezifische Wissen gar nicht wahrgenommen hätten. Umgekehrt dirigierten unsere praktischen Erfahrungen unsere Blickrichtung auf bestimmte Theorien und Diagnostik-Formen.

Am meisten aber lehrten und lehren uns die von uns betreuten Kinder, die uns immer wieder den Anreiz gaben, weiter nachzudenken und weiter auf innere und äußere „Forschungsreisen“ zu gehen. Manchmal auch erlebten wir ein „Wunder“, das wir durch die uns bekannten Theorien nicht erklären konnten, das uns aber bestärkte, Kindern, Eltern und uns selbst auch bei schwersten Defiziten die Hoffnung nicht zu nehmen und Selbstheilungskräfte wirken zu lassen.

Es ist durchaus verständlich, dass Praktikerinnen sich eher von der Theorie abwenden, da die Beschäftigung mit der „grauen“ Theorie häufig keinen großen Anreiz bietet und viel Zeit und Mühe beansprucht. Außerdem braucht es einigen Mut und auch Selbstüberwindung, lange und von vielen begangene und ausgetrampelte Pfade zu verlassen und neue Wege, auf denen man leicht straucheln kann, zu erkunden. Üblicherweise nimmt man vor allem nur die Informationen auf, die zu den bereits vorhandenen passen und betrachtet grundlegend Neues und Fremdes eher mit Argwohn und Ablehnung. Das liegt in der menschlichen Natur - dennoch rentiert es sich, neuen Ideen und Theorien kennen zu lernen, kritisch zu begutachten und bei Aussicht auf Bewährung anzuwenden, um eine Weiterentwicklung zu fördern und nicht an Ort und Stelle zu „trampeln“.

Durch die noch ständig zunehmende Masse an Therapieangeboten für den Lernerfolg unserer Kinder ist es für Praktikerinnen kaum mehr möglich, die Spreu vom Weizen zu trennen, bzw. schamanistische von fundierten Therapiemethoden mit reellen Erfolgschancen zu unterscheiden. In all den Jahren der therapeutischen Arbeit mit lernschwachen, sprachgestörten oder legasthenen Kindern waren wir sehr bemüht, anhand der Erkenntnisse der Wissenschaft und einer fundierten Diagnostik den Kindern mit einer dementsprechenden Therapie möglichst rasch und effektiv zu helfen. Dies ist uns in der Praxis - neben manchen Misserfolgen - häufig auch wirklich gelungen.

Daher wollen wir unsere Erfahrungen in allen drei Bereichen - Theorie, Diagnose und Praxis - vermitteln, um weiterhin und in weitläufigerem Ausmaß zu nützen. Sollte uns dies mit unserer Buchreihe gelingen, würde es uns erfüllende Augenblicke erleben lassen, zu welchen wir sagen möchten: „Verweile doch, du bist so schön!“ (Goethes Faust II).

„Ein Rabbi sagte: Viel habe ich gelernt von meinen Lehrern,
mehr noch von meinen Schulkollegen, am meisten von meinen Schülern“.
~ Aus dem Babylonischen Talmud (religiöse jüdische Gesetze).

Hohenems, Vandans, im Jänner 2009

Einleitung

„Also lautet ein Beschluss, dass der Mensch was lernen muss. Nicht allein das Abc bringt den Menschen in die Höh'. Nicht allein in Schreiben, Lesen übt sich ein vernünftig Wesen; nicht allein in Rechnungssachen soll der Mensch sich Mühe machen, sondern auch der Weisheit Lehren muss man mit Vergnügen hören.“

~ Wilhelm Busch

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Wilhelm Busch sagt uns hier - in einem Reim-Rhythmus, der für Lese-Rechtschreib-gestörte Kinder sehr förderlich ist - was wichtig wäre für den Bildungserwerb. Er stellt das Verständnis von „der Weisheit Lehren“ als Ziel des schulischen Lernens dar. Leider achten Lehrerinnen und Therapeuten häufig immer noch zu sehr auf gute Erfolge im Rechtschreiben und zu wenig auf das Lese- und Sprachverständnis des Kindes, damit das Kind „der Weisheit Lehren“ auch verstehen kann. Eine mangelhafte Rechtschreibung hat keine negativen Konsequenzen auf den Lernerfolg in den anderen schulischen Fächern. Ein mangelndes Leseverstehen oder gar ein eingeschränktes Sprachverständnis beeinflusst die gesamte Schulkarriere negativ, sondern auch die gesamte Lebenskarriere.

Leider weisen auch die Legasthenie-Erlässe im gesamten deutschen Sprachraum kaum darauf hin und legen ebenfalls den Schwerpunkt auf die Rechtschreibung; das Lese- und Sprachverständnis wird kaum erwähnt. Das ist umso problematischer, da es nur wenig Legastheniker gibt, die nur mit Problemen im Bereich der Rechtschreibung zu kämpfen haben. 50-70 % der Lese-Rechtschreib-Störung (LRS) gehen von einer frühkindlichen Sprachentwicklungsstörung aus, sodass sich in der Schule die Auswirkungen dieser Sprachstörung häufig als sehr folgenschwer für das gesamte Lernen erweisen. Aber auch Legastheniker ohne diese Vorgeschichte beherrschen wegen ihrer sprachlichen Merkschwäche die Grammatik ihrer Muttersprache für höhere schulische und berufliche Anforderungen nicht genügend. Ihr Ausdrucksvermögen, sowie das differenzierte Sprachverstehen sind nicht selten erheblich eingeschränkt.

Die PISA-Studie, welche die Basiskompetenzen von Schülern im internationalen Vergleich prüfte, enthüllte die ernüchternde Tatsache, dass der prozentuelle Anteil der deutschsprachigen Kinder mit extremen Leseschwierigkeiten überdurchschnittlich hoch ausfällt (Baumert et al., 2001). Eine Wiener Längsschnittstudie zeigte, dass die Fähigkeiten der schwächsten Leser am Ende der achten Klasse dem Stand eines unauffälligen Kindes in der ersten oder zweiten Klasse entsprechen (Klicpera, Gasteiger-Klicpera, 1993). Nicht allein der Schriftspracherwerb, sondern auch die Leistungen in mehreren anderen Fächern, wie vor allem auch in der Mathematik, bleiben nachhaltig beeinträchtigt (Baumert et al., 2001), sodass bei einer Leserechtschreibstörung nicht selten die gesamte schulische und berufliche Entwicklung markante Einbußen erleidet. Die Leistungsrückstände werden im Laufe der Schulzeit trotz normaler Intelligenz und guter sozialer Herkunft immer größer. Die Betroffenen schließen ihre Schullaufbahn seltener mit Abitur ab (Strehlow et al., 1992) und wählen überwiegend handwerkliche Berufe, die keine sprachlichen Kompetenzen erfordern. Auch Folgeprobleme in psychischen und zwischenmenschlichen Bereichen treten überzufällig häufig auf, wie z.B. Schul- und Versagens-Ängste, mangelnder Selbstwert, psychosomatische Symptome (wie häufige Kopf- und Bauchschmerzen), sowie Aggression und im schlimmsten Falle dissoziale Verhaltensweisen und kriminelle Aktivitäten (Warnke, Roth, 2000; Esser et al., 2002).

Immer wieder treffen wir in unserer Praxis auf Klienten, die die Schule nur mit Mühe durchlaufen und abgeschlossen haben und dann ständig versuchen, ihr „Manko“ bezüglich Leistung und Selbstwert zu kompensieren, indem sie meist als Erwachsene mehrere berufliche Ausbildungen absolvieren und im Beruf sehr ehrgeizig und leistungsfähig werden.

Eine junge Klientin, welche sich nach eigener Aussage in der Sekundarschule nur „durchgequält und durchgeschummelt“ hatte, soll hier als Paradebeispiel für einen typischen „legasthenen Weg“ angeführt werden. Die junge Frau hatte als Erwachsene nach einer bereits abgeschlossenen Spezialschule für Gartenbau die Ausbildung zur psychiatrischen Krankenschwester angefangen. Sie suchte unsere Hilfe auf, da sie „keine Sätze bilden könne“ und diese aus dem Internet „stehlen“ müsse, um ein Portfolio für die Schule anzufertigen. Die Diagnostik ergab nicht nur ein Problem in der Satzbildung, sondern auch ein höchst eingeschränktes Satzverstehen und ein mangelndes Satzgedächtnis. Beim Sätze Nachsprechen half sich die junge Frau, indem sie die Inhalte in innere Bilder umwandelte - eine Strategie, die für Legastheniker oft sehr hilfreich ist. Außerdem erzählte sie, dass sie in der Gruppenarbeit mit drei Kollegen einen wissenschaftlichen Text bearbeiten musste, diesen aber im Gegensatz zu ihren Mit-Studentinnen auch beim dritten Mal Durchlesen nicht verstanden hatte (Leseverständnis). Als wir ihr empfahlen, täglich Hörbücher zu hören, musste sie dies ablehnen, da sie dabei inhaltlich nicht folgen könnte. Wir konnten uns darauf einigen, dass sie neben der Therapie täglich Wilhelm-Busch-Verse lesen würde, um ihr sprachrhythmisches Empfinden und damit ihr Sprachgedächtnis zu fördern. Das Leseverständnis wird dort sehr durch die Bilder unterstützt, was auch verstehen lässt, dass Wilhelm Busch-Bücher immer die Lieblingslektüre der Klientin darstellten. Der in diesen Büchern verwendete Sprachrhythmus fördert das Sprachgedächtnis, das bei einem Großteil der Legastheniker stark reduziert ist und ihr gesamtes Lernvermögen beeinträchtigt. In der Verwandtschaft dieser jungen Frau fanden sich fünf Legastheniker, die alle unsere Praxis aufsuchten. Dass unsere Klientin selbst Legasthenikerin ist, ist ihr erst durch uns bewusst geworden und wurde während ihrer Schulzeit weder untersucht noch erkannt.

Legastheniker sind in unseren Schulen sehr gefordert, meistens überfordert. Ihr Lernaufwand übertrifft das von nicht legasthenen Altersgenossen um ein Vielfaches. Somit stellt die Leserechtschreibstörung eine enorme Belastung für Kinder, Eltern und Lehrkräfte dar, sodass Prävention, Förderung und Therapie in Wissenschaft und Forschung zu vordringlichen Themen werden sollten. Eine sehr früh ansetzende Förderung oder Therapie dieser Kinder - möglichst schon im frühen Vorschulalter - sowie eine adäquate schulische Förderung können zu einer Verringerung der oft schwerwiegenden Folgeprobleme mangelnder Sprach- und Schriftsprach-Kompetenzen beitragen (Hasselhorn et al., 2000).

Die Forschung im Bereich der Theorie und Diagnostik der LRS nimmt in den letzten Jahre kontinuierlich zu (Hasselhorn et al., 2000); die Forschung über Behandlungskonzepte hinkt jedoch leider stark hinterher, sodass Anspruch und Realität im Bereich der vorschulischen sowie schulischen Förderung weit auseinander klaffen (Marx, 2000).

Daher bemühen wir uns, sowohl in diesem, als auch in den folgenden Bänden zu den Themen Theorie und Handlungsmöglichkeiten bei Störungen des Sprach- und Schriftspracherwerbs und damit des schulischen Lernens, allgemein verständliche, wissenschaftlich begründete und hilfreiche Konzepte vorzustellen und damit eine Brücke zwischen Wissenschaft und Praxis zu schlagen.

Im vorliegenden Band beschäftigen wir uns mit der Definition und der ausführlichen Beschreibung der LRS und deren langfristigen - nicht selten auch schwerwiegenden psychischen - Auswirkungen, da die Irrmeinung immer noch weit verbreitet ist, unter Legasthenie oder LRS nur die Rechtschreibstörung und nicht realistischerweise eine allgemeine Lernstörung für die Mutter- und die Fremdsprachen, für Mathematik und alle Lernfächer zu sehen, die die Zukunftschancen dieser Kinder beträchtlich schmälert. Um dies wirklich zu verstehen und zu glauben, ist es notwendig, sich mit den Grundvoraussetzungen für einen ungestörten Lese-Rechtschreib-Erwerb und ein erfolgreiches Lernen auseinanderzusetzen.

Beginnend beim Ursprung unseres Denkens und Handelns - beim Gehirn und seinen Verarbeitungswegen wollen wir darstellen, warum und wie welche Therapiemethoden effektiv wirken können und welche eher in den Bereich der Esoterik einzuordnen sind. Das Wissen über die neuronale Plastizität, die Fähigkeit von Nervenzellen und deren Kontaktstellen, den Synapsen oder sogar von ganzen Hirnarealen, sich in Abhängigkeit von der Betätigung zu verändern oder neu zu bilden, zeigt neue Therapiewege auf, deren Effektivität sich in der Praxis beweist und beweisen wird.

Die Zeitverarbeitung des Gehirns ist in den letzten Jahren sehr in den Fokus des wissenschaftlichen - und leider auch kommerziellen - Interesses gerückt und scheint uns neue - bisher allerdings noch nicht abgesicherte - Möglichkeiten der Therapie zu eröffnen.

Die Sprachmelodie oder Prosodie stellt laut wissenschaftlichen Erkenntnissen einen wichtigen Grundpfeiler im frühkindlichen Spracherwerb dar, deren Eigenschaften wir uns - belegt durch mehrere Untersuchungen und Erfahrungen in der Praxis - in der Sprach- und Lerntherapie dank der Plastizität des Gehirns bis ins hohe Erwachsenenalter nutzbar machen können und sollen.

Die Lauterkennung und -unterscheidung ist bei sprachgestörten und legasthenen Kindern häufig eingeschränkt und stellt hiermit bei einem guten Teil der betroffenen Kinder einen wichtigen Therapie-Baustein dar.

Einen großen, vielleicht auch überbetonten „Schlager“ des letzten Jahrzehnts stellte der Bereich der (bei Legasthenikern eingeschränkten) Phonologischen Bewusstheit über den Laut- und Silben-Aufbau der Sprache dar. Nach unseren praktischen Erfahrungen wird diese Fertigkeit durch die Beschäftigung mit dem Hören von Reimen sehr verbessert, was sich dann auch in einem verbesserten sprachlichen Arbeitsgedächtnis ausdrückt.

Da die Verminderung des sprachlichen Gedächtnisses bei Legasthenikern und bei spezifisch sprachgestörten Kindern eine wichtige Begründung der Lernstörung darstellt, kann sich somit die gesamte Lernfähigkeit des Kindes erhöhen.

Über (zentrale) visuelle Verarbeitungsstörungen bei LRS gibt es noch wenig abgesicherte Erkenntnisse, wobei jedoch die sprachliche Störung bei Legasthenikern im Vordergrund zu stehen scheint und nach unseren Erfahrungen der visuelle Kanal häufig kompensatorisch in der Therapie genützt werden kann.

Inwieweit die Bevorzugung der rechten oder linken Hand, die Handpräferenz und der Zusammenhang zur Sprachdominanz im Gehirn einen Einfluss auf die Entstehung der Sprachstörung oder der Legasthenie hat, ist bislang nicht sichergestellt. Ebenso weiß man nicht, ob oder wie sehr motorische Störungen oder die Berührungs- und Bewegungs- Wahrnehmung, sowie Funktionsdefizite im Kleinhirn ursächlich mit der Legasthenie im Zusammenhang stehen. Therapieformen, die die Zusammenarbeit der beiden Hirnhälften oder die Funktionen einzelner Hirnbereiche stärken wollen, sind bislang nicht fundiert bewiesen und daher mit Vorsicht zu „genießen“.

Aufmerksamkeitsstörungen, sowie psychische und Verhaltens-Probleme kommen häufig noch als zusätzliche Schwierigkeiten hinzu und verdienen eine besondere therapeutische Rücksicht, da diese jede andere Förderung unwirksam machen können.

Die Vorhersage einer LRS sollte so bald wie möglich passieren, da frühzeitige therapeutische Interventionen die negativen Konsequenzen der Lernstörung sehr vermindern, ja manchmal vielleicht sogar vermeiden können.

Eine umfangreiche und durchdachte Diagnostik hilft uns, die Stärken und Schwächen des Kindes sozusagen im Zeitraffer mehr oder weniger umfassend und sicher kennen zu lernen um diese dann in der Therapie vorteilhaft zu nützen. Die Bestimmung des Intelligenzquotienten ist wohl nur für das Amt sinnvoll, für den Praktiker ergibt sich aber daraus der Vorteil, dass man bei der Testung die Arbeitsweise und die Ressourcen des Kindes in Erfahrung bringen kann. Eine sinnvolle Auswahl fundierter Tests ist natürlich für eine gute Diagnostik zwingend notwendig, um sichere Aussagen zu erhalten. Vor allem sollte eine fundierte Sprachdiagnostik bei der Beurteilung der (Schrift)Sprachstörung Legasthenie für eine effektive Lerntherapie im Vordergrund stehen. Dazu gehört auch eine genaue Untersuchung des Leseverständnisses, das ja für das Lernen weittragende Folgen hat. Die Begutachtung der Rechenfertigkeiten kann über die Gedächtnis- und Sprach-Kompetenzen und über die Wahrnehmungskanäle des Kindes Auskunft für eine hilfreiche Lerntherapie geben.

In Band zwei und drei wollen wir uns ausschließlich auf die praktische Anwendung der Legasthenie-Förderung konzentrieren - und zwar zuerst in einer allgemeinen Übersicht mit vielen praktikablen Hinweisen und dann im nächsten Band mit ganz konkreten Handlungsanweisungen in einer sehr einfach zu handhabenden Form - sodass die Anwender die beschriebenen Anleitungen gleichsam wie ein Rezept verwenden können.

Wir hoffen, mit unseren Werken möglichst vielen betroffenen Kindern in der Schule den Weg zu erleichtern. Die meisten unserer Lernhinweise können nicht nur legasthenen Schülerinnen zugute kommen, sondern auch nicht Lese-Rechtschreib- gestörten Kindern mit schlechten Schulleistungen. Auch mathematische und andere Lern- Probleme und entsprechende Fördertipps werden thematisiert. Viele der Anweisungen können von Lehrerinnen für die gesamte Schulklasse im Unterricht verwendet werden.

„Es ist des Lernens kein Ende.
~ Robert Schumann

Erfolgreiche Legastheniker

Zum Troste aller betroffenen Eltern und Kinder seien hier noch einige berühmte Personen angeführt, von denen man sagt, dass sie sprachgestört oder Legastheniker waren und trotz ihres Handicaps in sehr unterschiedlichen Berufen viel im Leben erreicht haben:

Die Kriminalautorin Agatha Christie, der Musiker John Lennon, der Politiker Winston Churchill, der Physiker Albert Einstein, das Universalgenie Leonardo da Vinci, der Bildhauer Auguste Rodin, der Sänger Harry Belafonte, der Filmproduzent Walt Disney und viele andere1.

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Albert Einstein, Leonardo da Vinci, Walt Disney

Anmerkungen zur Handhabung dieses Buches

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1 Dyslexia Association of Birmingham: www.da-bham.org/textcontent/success.pdf

2 Das Internationale Phonetische Alphabet ist eine Sammlung von Zeichen, mit deren Hilfe die Laute aller menschlichen Sprachen relativ genau beschrieben und notiert werden können. Es wurde von der International Phonetic Association entwickelt und ist das am weitesten verbreitete Lautschriftsystem.

A. Die Leserechtschreibstörung (LRS)

„Das menschliche Gehirn ist unvergleichlich komplexer als etwa ein Stern; und darum wissen wir auch so viel mehr über Sterne als über das menschliche Gehirn. Und der komplexeste Aspekt des menschlichen Gehirns ist seine Intelligenz.“
~ Isaac Asimov

1. Definition der LRS

Entsprechend internationaler Studien tritt in unserer Zivilisationsgesellschaft die Leserechtschreibstörung (LRS) in einer Häufigkeit zwischen 4 und 5 Prozent auf, wobei Jungen etwa 3-mal häufiger als Mädchen betroffen sind (Schulte-Körne, 2003). Die Dunkelziffer dürfte wahrscheinlich noch höher liegen. In der Literatur finden sich auch Untersuchungen, die eine Häufigkeit bis zu 15 % angeben (Schulte-Körne, Remschmidt, 2003).

Man spricht von einer LRS, wenn ein Kind über eine normale Intelligenz verfügt, aber deutlich schlechtere Lese-Rechtschreibleistungen aufweist als seine Mitschüler und als es seinem Alter und seiner schulischen Ausbildung angemessen ist. Dieses Maß liegt innerhalb fließender Grenzen, da es keine zwangsläufige Vorschrift gibt, wie stark eine Minderleistung ausgeprägt sein muss, um als leserechtschreib-gestört zu gelten (Klicpera et al., 2003). Die Angaben zur Häufigkeit einer LRS hängen natürlich davon ab, welche Grenzwerte man festlegt, das heißt - ab welchem Grenzwert eine schwache Leserechtschreibleistung als LRS definiert wird (Strehlow, Haffner, 2002).

Wie wir später sehen werden, hängt die Festlegung einer LRS- Diagnose bis zu einem gewissen Grad auch von der Art der jeweils eingesetzten Intelligenz- und Leserechtschreibtests ab (Reuter-Liehr, 2003). Dies spielt vor allem für die Kinder eine Rolle, deren Leistungsfähigkeit knapp oberhalb bzw. unterhalb der jeweils definierten Grenze liegt. Schon geringe Abweichungen der Testwerte vom definierten Grenzwert können die jeweilige Diagnose beeinflussen.

Es empfiehlt sich daher für den erfahrenen Diagnostiker, sich den statistischen Normwerten nicht allzu starr zu unterordnen (Deimel, 2002), sondern noch andere, später genauer zu besprechende Kriterien zur Erstellung einer Diagnose mit einzubeziehen.

Die Leserechtschreibstörung (LRS) gilt als eine Entwicklungsstörung des Lese-Rechtschreib-Erwerbs und stellt eine komplexe Störung mit meist vielfältigen Symptomen dar, unter welchen das Rechtschreibproblem nur einen und nicht den wichtigsten Stein im Mosaik bzw. im „neurowissenschaftlichen Puzzle“ (Njiokiktjien, 1994) des Gesamtbildes der Problematik darstellt. Neben der reduzierten Leserechtschreibleistung gibt es noch sehr unterschiedliche Teilleistungsdefizite, die sich sehr störend auf das Lernen auswirken, wie z.B. ein herabgesetztes sprachliches Gedächtnis.

Die Weltgesundheitsorganisation vertritt eine international verbreitete Definition der LRS, welche sich ausschließlich an den Defiziten im Lesen und Schreiben und an der Intelligenz orientiert. Eine Lese-/Rechtschreibschwäche (LRS / Legasthenie3) wird nach der internationalen Klassifikation psychischer Erkrankungen (ICD-10)4 als eine zentralnervös (= durch das Gehirn) begründete Entwicklungsstörung mit ausgeprägter Beeinträchtigung der Entwicklung der Leserechtschreibfertigkeiten definiert.

Durchschnitt:
IQ = 85 - 115

Die Diagnose einer LRS wird dann gestellt, wenn die Lese-Rechtschreib-Fertigkeiten weit unter dem Niveau der Altersgenossen (dies nennt sich Alters-Diskrepanz-Kriterium) bzw. unter dem Durchschnitt der Schulklasse und unter der durchschnittlichen Intelligenz (IQ 85-115)liegt (dies nennt sich Intelligenz-Diskrepanz-Kriterium). Allerdings wird schon seit Jahren über die Gültigkeit dieser schon veralteten Diskrepanzdefinition in verschiedenen Forschergruppen kritisch diskutiert. Die Größe dieser Diskrepanzen wird von unterschiedlichen wissenschaftlichen Gruppierungen unterschiedlich festgelegt5.

Die Erfassung der Intelligenz durch Tests ist natürlich nur ansatzweise möglich, da diese den weitaus komplexesten Aspekt unseres Gehirns darstellt und wir nur wenig über die Funktionsmechanismen des Gehirns wissen. Intelligenztests stellen also eine nur behelfsmäßige Maßnahme zur Einschätzung der intellektuellen Fähigkeiten einer Person dar. Leider müssen wir uns dennoch auf diese lückenhaften Instrumente bei der Erstellung einer Legasthenie-Diagnose stützen, da wir für Schulen, Ämter und Krankenversicherungen ein allgemein gültiges Kriterium zur Definition der Legasthenie brauchen. Für den Praktiker ist es jedoch wesentlich wichtiger, zu erfahren, auf welche Art ein Legastheniker welche Probleme löst, um dem Betroffenen adäquat helfen zu können. Dazu verhilft uns ein Stück weit die Durchführung eines breit angelegten Intelligenztests, mit welchem man mehrere Fähigkeiten und Fertigkeiten oder Schwächen eines Menschen darzustellen versucht.

Als Kriterien zum Ausschluss einer Leserechtschreibstörung gelten eine allgemeine intellektuelle Behinderung, massive Defizite im Hören und/oder Sehen, eine neurologische und/oder psychiatrische Störung oder eine unangemessene schulische Betreuung.

Intelligenz (lateinisch intellegere „verstehen“) bedeutet Einsicht, bzw. Erkenntnisvermögen und bezeichnet die Fähigkeit zum Erkennen von Zusammenhängen und zum Finden optimaler Problemlösungen. Die meisten Intelligenzdefinitionen beschreiben die Intelligenz als allgemeine Denk- und Problemlösefähigkeit, bzw. „die Art der Bewältigung einer aktuellen Situation (Binet, Simon, 1905) oder als die „zusammengesetzte oder globale Fähigkeit eines Individuums, zweckvoll zu handeln, vernünftig zu denken und sich mit seiner Umwelt wirkungsvoll auseinanderzusetzen“ (Wechsler, 1964).

Intelligenz stellt somit einen Sammelbegriff für die gesamten geistigen Fähigkeiten des Menschen dar, nämlich die Fähigkeiten zu verstehen, zu abstrahieren und Probleme zu lösen, sowie Wissen und Sprache anzuwenden.

2. Charakteristika der LRS (Übersicht)

LRS-Kinder bieten - für viele das eindrücklichste Symptom - eine Häufung von Rechtschreibfehlern. Dazu kommen meist eine verlangsamte Lesegeschwindigkeit und/oder Lesefehler und/oder ein mangelndes Leseverständnis. Es gibt Kinder, bei denen nur der Erwerb des Rechtschreibens oder nur das Erlernen des Lesens oder - und das ist die Mehrzahl - beides gestört ist. Das ICD-10 unterscheidet die Isolierte Rechtschreibstörung (ohne Lesestörung) und die Lese-Rechtschreib-Störung (wobei beides beeinträchtigt ist).

Mit zunehmender Schuldauer bekommen Legastheniker sehr häufig auch in anderen Fächern Probleme – sei es wegen dem eingeschränkten Leseverständnis, dem schwachen sprachlichen Arbeitsgedächtnis oder wegen der zusätzlichen geistigen Beanspruchung bei der schriftlichen Bearbeitung von Lernaufgaben.

Die Probleme bestehen von Anfang an und werden nicht erst später während der Schullaufbahn erworben. Erste Hinweise auf eine LRS kann man schon im Vorschulalter erkennen, wie beispielsweise ein reduziertes sprachliches Arbeitsgedächtnis (Schöler et al., 2003) und Schwächen in der phonologischen Bewusstheit, die eine Leserechtschreibstörung schon im Kindergartenalter zuverlässig vorhersagen lassen (Schneider, Näslund, 1993).

Charakteristika der Lese-Rechtschreib-Störungen
nach den diagnostischen Leitlinien nach ICD-106

-  Intelligenzstörung

-  Seh- oder Hörstörung

-  hirnorganische Erkrankung

-  emotionale Störung

-  anregungsarme Umwelt

-  mangelhaften Schulunterricht

-  Seh- oder Hörbehinderung

-  Psychiatrische Erkrankung

-  Sprachstörungen

-  Auditiven Wahrnehmungsstörungen

-  Wortschatzmängeln

-  Auditiven, visuellen und/oder feinmotorischen Schwächen

-  Psychischen Auffälligkeiten

Von einer Lese-Rechtschreib-Störung wird also nur dann gesprochen, wenn es sich um eine umschriebene Teilleistungsstörung im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens bei besseren sonstigen geistigen Fähigkeiten handelt. Bei Kindern mit einer Intelligenzstörung wird die Diagnose „Lese-Rechtschreib-Störung“ auch bei ausgeprägten Schwächen im Schriftsprachbereich nicht gestellt. Die Intelligenz von LRS-Kindern muss nach den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation definitionsgemäß im Normbereich liegen.

Die Überprüfung von Intelligenz und Sprache (!) sollte grundsätzlich bei allen Kindern mit Schwierigkeiten beim Erlernen der Schriftsprache erfolgen, damit weder Eltern noch Lehrkräfte die Fähigkeiten des Kindes über- oder unterschätzen. Eine falsche Einschätzung der Betroffenen kann leicht dazu führen, dass diese aufgrund unangemessener Anforderungen demotiviert werden und sich dann häufig auch psychische Probleme wegen möglichem Versagen und/oder Überlastung einstellen. Eine auf die individuelle Leistungsfähigkeit abgestimmte Förderung des betroffenen Kindes ist eine wesentliche Voraussetzung für dessen stabile Entwicklung.

Die Definition der Weltgesundheitsorganisation berücksichtigt allerdings nur die Intelligenz und die unterdurchschnittlichen schulischen Leistungen im Lesen und Schreiben. Würde man nur diese Kriterien in Diagnostik und Therapie beachten, so wäre das bei Weitem zu kurz gegriffen. Die LRS ist eine multifaktoriell bedingte Störung mit einer Reihe von Teilleistungsstörungen im auditiven und visuellen Bereich (Schulte-Körne, Remschmidt, 2003), ein Störungsbild, das die persönliche, emotionale und soziale Entwicklung der Betroffenen maßgeblich beeinflussen kann. Durch die hohe Stabilität der Störung wird die persönliche und soziale Entwicklung bis ins Erwachsenenalter ausschlaggebend geprägt. Etwa 8% der deutschen jungen Erwachsenen erreichen lediglich ein Rechtschreibniveau von durchschnittlichen Viertklässlern (Haffner et al., 1998).

Alle Legasthenie–Erlässe, die uns bekannt sind, berichten überwiegend über die Rechtschreibschwäche, die eher nur einen kosmetischen Fehler darstellt, aber kaum massive Folgekonsequenzen hat und lassen die mitbeteiligten Beeinträchtigungen mit oft schwerwiegenden Auswirkungen außen vor. Beschäftigt man sich in der einschlägigen Fachliteratur und in der Praxis näher mit der LRS, wird man bald merken, dass die mangelnde Rechtschreibung bei weitem nicht das einzige und eher das unwichtigste Problem in dieser spezifischen Entwicklungsstörung darstellt. So zeigte z.B. eine Gruppe von LRS- Kindern in einer Untersuchung Defizite in mehreren Bereichen der Automatisierung des Lernens unter vielen anderen auch bei Aufgaben, die das räumliche Vorstellungsvermögen beanspruchen (Vicari et al., 2005).

Die „Störung des schriftlichen Ausdrucks“ wird im Manual für mentale Erkrankungen der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft (DSM7-IV/315.2) als Subgruppe der Störung der Schriftsprachentwicklung eingeführt. Dabei kommt es beim freien Schreiben neben Rechtschreibfehlern und schreibmotorischen Unzulänglichkeiten zu grammatikalischen Fehlern, Fehlern des sprachlichen Ausdrucks und der Interpunktion. Im deutschen Sprachraum fehlen hierzu jedoch leider weitgehend die diagnostischen Instrumente. Diese gravierenden Defizite, die häufig weittragende negative Folgen für einen der Intelligenz angemessenen Schulerfolg nach sich ziehen, stellen und stellten wir bei einem Großteil der LRS-Betroffenen - auch noch im Erwachsenenalter - in unserer Praxis fest. Häufig liegt dieser Problematik eine spezifische Sprachentwicklungsstörung zugrunde.

Die Mehrheit der leserechtschreibgestörten Kinder hat unter einer häufig massiven Beeinträchtigung des sprachlichen Gedächtnisses für Fakten und Daten (wie z.B. eine Reihe von Buchstaben, Zahlen oder neuen Ausdrücken) zu leiden. Die Geschwindigkeit beim schnellen Benennen von Zahlen, Buchstaben, Farben, Bildern oder Dingen ist meist vermindert. Schwächen in spezifischen visuellen Aufgaben (Vergleich von buchstabenähnlichen Zeichen und Wortbildern) können ebenfalls den Lese-Rechtschreiberwerb erschweren.

Durch das eingeschränkte sprachliche Merkvermögen kann somit der gesamte Schulerfolg – trotz der meist außerordentlich erhöhten Anstrengung – gefährdet sein. Schwierigkeiten beim Lesen können zusätzlich noch eine eingeschränkte Wissensaufnahme in allen Lernfächern verursachen, weil sprachliche Informationen nicht im vorgegebenen Zeitrahmen aufgenommen bzw. niedergeschrieben werden können oder das Gelesene nicht präzise genug verstanden wird. Die grammatikalischen, sowie die Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten treten auch in allen später zu erlernenden Fremdsprachen auf.

Wir werden in späteren Kapiteln noch im Detail darstellen, wie die Einschränkung des sprachlichen Gedächtnisses und die häufig vorhandenen Lese- und Grammatikschwächen große und äußerst problematische Auswirkungen auf das gesamte schulische Lernen zur Folge haben können. An eine LRS ist also nicht nur bei Kindern mit Versagen im Deutschunterricht zu denken. Somit ist auch bei einem allgemeinen Schulversagen eine LRS in Erwägung zu ziehen und diese als Ursache auszuschließen.

Wir erleben in unserer Praxis immer wieder Kinder, die kaum mehr Freizeit haben und ihr Kindsein nicht leben können, da sie den größten Teil der Zeit am „Pauken“ sind – am stundenlangen Erlernen von schulischen Fakten und Daten, die sie nur mit viel Mühe in ihrem Gedächtnis behalten können. Namen wie z.B. Subersach, Rätoromanen, Partennen, Bezirkshauptmannschaft, Addition, Subtraktion oder das 1x1 werden zu allen möglichen Zeiten und Unzeiten - vor dem Schlafengehen, im Bett, beim Frühstück, beim Autofahren, über das Wochenende und über die Ferien - wiederholt, damit die Tests in der Schule ja gut ausfallen. Doch während der Leistungsüberprüfung in der Klasse ist es vielleicht für das Kind zu laut, die Angst zu groß..., nur mehr wenig ist noch abrufbar: „Ungenügend“ ist das Ergebnis! Dieses hier nachgezeichnete Stress-Szenario ist jedoch nicht fiktiv, sondern leider häufig bittere Realität und bedeutet viel Druck, Leid und Stress für das Kind und nicht selten für die ganze Familie.

Bei der LRS stehen Schwierigkeiten in der Verarbeitung sprachlicher Informationen im Vordergrund8:

Diese Defizite entstehen bei den betroffenen Kindern nicht erst, wenn sie das Lesen und Schreiben lernen, sondern sind bereits vor dem Schuleintritt angelegt. Die mangelnden Fertigkeiten im Bereich Sprache können mit der notwendigen Fachkompetenz eventuell schon im Kleinkindalter beobachtet werden (Snowling, 2000). Meistens jedoch werden diese entweder nicht bemerkt oder nicht ernst genommen. Ein verzögerter Sprechbeginn, ein eingeschränktes Sprachverständnis- und/oder -gedächtnis, Sprechschwierigkeiten, sowie Probleme beim Erkennen von Reimen sollten so früh wie möglich beobachtet und behandelt werden, um spätere Lernprobleme zu vermeiden oder abzuschwächen.

Werden diese sprachlichen Schwierigkeiten frühzeitig erkannt und behandelt, können Probleme im Schriftspracherwerb wenn auch nicht gänzlich verhindert, so doch vermindert werden.

3. Risikofaktoren und beeinflussende Rahmenbedingungen für die Entstehung der LRS

Als Risikofaktoren (Schulte-Körne, 2001b) für die Entstehung einer LRS gelten vor allem Sprachentwicklungsstörungen (mit Schwierigkeiten bei der grammatikalisch richtigen Produktion und dem Verstehen von Sprache und einem geringen Wortschatz), sowie Schwächen der phonologischen Bewusstheit (dem Wissen über Laute und der Umgang mit diesen in einem Wort, wie Reime erkennen usw.) und erbliche Faktoren; das heißt, wenn bei Eltern oder Geschwistern eine LRS vorkommt, ist dies als Risikofaktor anzusehen.

Risikofaktoren für die Entwicklung einer Leserechtschreib- Störung9

Zusätzliche ungünstige familiäre oder schulische Bedingungen, sowie biologische Risiken für eine optimale mentale Entwicklung - wie z.B. Erkrankungen der Mutter während der Schwangerschaft, Geburtskomplikationen und Erkrankungen des Kindes bis zu zwei Jahren nach der Geburt (z.B. häufige Mittelohrentzündungen) stellen verstärkende Faktoren dar.

Als beeinflussende, aber nicht verursachende Rahmenbedingungen gelten10:

4. Zusammenhänge mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten

Wie wir schon mehrfach betonten, stellt die LRS keine isolierte Schwäche dar. Häufig treten kombiniert mit der Leserechtschreibstörung ein Aufmerksamkeitsdefizit mit und ohne Hyperaktivität, sowie Entwicklungsstörungen der motorischen Funktionen, des Sprechens und der Sprache, sowie Rechenstörungen und anderes auf.

Die LRS steht in vielfältigen, miteinander verknüpften Zusammenhängen mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten, die hier anhand einer Untersuchung beispielsweise aufgezählt werden sollen (nach Schydlo, 1993):

5. Psychische Begleitstörungen

„Es gibt kaum etwas, das uns so erschüttert wie das eigene Versagen.“ ~ Brigitte Fuchs

Trotz intensiver Anstrengungen gelingt es LRS-Kindern viel schwerer als den anderen, Buchstaben und Zahlen zu erfassen, zu verarbeiten und schriftlich zu produzieren. Meist treten deshalb schon früh beim Umgang mit schulischen Anforderungen Selbstwertprobleme und Ängste auf - bis hin zur Schulangst mit Verweigerung.

Da LRS-Kinder in anderen Bereichen über gute Fähigkeiten und Fertigkeiten verfügen, wird das schulische Versagen in der Regel auf mangelnde Anstrengungsbereitschaft, Interesselosigkeit und Faulheit zurückgeführt. Die Kinder werden häufig ermahnt, intensiver und fleißiger zu üben,

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Volksschulkinder, die drei bis vier Stunden am Nachmittag mit Lernen beschäftigt sind, stellen nach unserer Erfahrung keineswegs Ausnahmen dar.

Wie alle Kinder wollen auch LRS- Betroffene - entsprechend ihrer natürlichen kindlichen Neugier - lernen und den Erwartungen von Eltern und Lehrern gerecht werden. Trotz aller Anstrengungen gelingt es ihnen aber viel schwerer als ihren Mitschülerinnen, sich Lesen und Schreiben oder auch Rechnen anzueignen und sich schulische Daten auswendig zu merken. Ihre mühevollen und wenig erfolgreichen Versuche, etwas schnell auswendig abzurufen, vorzulesen oder an die Tafel zu schreiben, werden nicht selten von ihren Klassenkameraden verspottet.

Die Schul- und Hausaufgabensituation gestaltet sich mit steigenden Anforderungen zunehmend problematischer, da die Betroffenen trotz häufigen Übens nur wenig oder keine schulischen Erfolge erzielen und Kinder wie Eltern frustriert und nicht selten schon ausgepowert und erschöpft sind. Als Schüler nehmen sie leichter eine Verweigerungshaltung ein, sobald es um für sie schwierige Aufgaben geht. Die Schul- und Hausaufgabensituation belastet oft die gesamte familiäre Atmosphäre.

Die Eltern – vor allem die meist mehr involvierten Mütter – entwickeln Ängste bezüglich schulischer und späterer beruflicher Zukunft ihrer Kinder und versuchen deshalb durch immer intensiveres und längeres Üben, den Rückstand aufzuholen. Dem Kind steht immer weniger Zeit zum Spielen, zur Erholung und zu einer stabilen Persönlichkeitsentwicklung zur Verfügung. Diese Überforderung führt des Öfteren zu einer Frustration bezüglich schulischer Anforderungen mit Schulängsten und körperlichen oder psychischen Beschwerden.

Das meist angespannte Verhältnis zwischen Schule und Elternhaus wird häufig durch gegenseitige Schuldzuweisungen immer mehr belastet und bietet so einen wenig fruchtbaren Boden für eine gute Entwicklung des Kindes.

Die Selbstzweifel der Kinder werden mit steigenden Schulstufen immer größer und die Betroffenen zeigen sich massiv verunsichert im Umgang mit schulischen Anforderungen. Sie erleben in vielen Fällen täglich massive Misserfolge und Frustrationen, halten sich schon ziemlich früh für dumm und geben sich irgendwann einmal innerlich auf.

Die Häufung psychischer Auffälligkeiten bei LRS-Kindern ist belegt und ist auch in unserer Praxis immer wieder festzustellen. Emotionale und soziale Schwierigkeiten stellen sich oft schon im frühen Schulalter ein. Nicht selten leiden die Betroffenen im Zusammenhang mit schulischen Anforderungen an Schlafstörungen, Übelkeit, Erbrechen, Bauch- und Kopfschmerzen, Einnässen oder Einkoten (Esser, 2002). LRS-Kinder reagieren vermehrt mit verstärkten Trotz- und Wutreaktionen, aggressivem Verhalten und sozialen Fehlentwicklungen. Die Begleitstörungen treten häufig schon im Laufe der ersten Schulklasse auf und sind meist an Wochenenden oder in Ferienzeiten geringer ausgeprägt. Bei bis zu 40 % der betroffenen Schülerinnen treten klinisch bedeutsame Störungen auf. Vorrangig finden sich AnpassungsproblemeRechenstörung