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Christian Fuchs • John Goetz

Die Zelle

Rechter Terror in Deutschland

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Christian Fuchs / John Goetz

Christian Fuchs ist Reporter in Leipzig. Er beschäftigt sich seit Jahren mit der Neonazi-Szene in Deutschland. Der Absolvent der Henri-Nannen-Journalistenschule schreibt u.a. für «Die Zeit», den «Spiegel», den «stern», «brandeins», «Neon» und das «SZ-Magazin».

 

John Goetz ist NDR-Redakteur für investigative Recherche, angesiedelt im ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, und freier Autor der «Süddeutschen Zeitung». Er war an der Aufdeckung der CDU-Spendenaffäre sowie der Veröffentlichung des Skandals um die Geheimgefängnisse der CIA beteiligt. 2010 wurde er mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet.

Über dieses Buch

Das Buch erzählt die Geschichte der Zwickauer Terrorzelle, die sich «Nationalsozialistischer Untergrund» nannte. Es rückt ganz nah heran an die Biographien von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe.

Die Autoren beschreiben, wie aus drei ostdeutschen Mittelschichtskindern rechtsextreme Terroristen werden konnten, die über ein Jahrzehnt lang mordeten und im Untergrund lebten – ohne gefasst zu werden. In einer detailreichen Reportage schildern sie in beklemmenden Nahaufnahmen, wie die drei Extremisten ihre Taten verübten, wer ihnen half und wie sie ihren Alltag organisierten.

Parallel zur Geschichte der Zwickauer Terrorzelle beschreibt das Buch das gesellschaftliche Klima in Deutschland nach der Wende, in dem sich das Trio radikalisierte. Es zeigt auf, welche Umstände dazu führten, dass über ein halbes Jahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs wieder solch brutaler Terror von rechts gedeihen konnte.

«Fast 14 Jahre lang konnten sich Uwe Böhnhardt, Beate Zschäpe und Uwe Mundlos vor der Polizei verstecken. Zwischen den Morden, Anschlägen und Banküberfällen führte die Zelle ein überraschend normales und offenes Leben.» Der Spiegel

 

«Ein intensives Buch, ein spannendes Buch, das ein völlig neues Licht auf die Zwickauer Terrorzelle wirft. Ich kann es als ein großes Stück schonungsloser Aufklärung nur empfehlen.» Hans Leyendecker

Impressum

Aus juristischen Gründen wurden die handelnden Personen teilweise verfremdet.

Die Autoren und der Verlag danken der «Panorama»-Redaktion und dem Norddeutschen Rundfunk für die Kooperation bei der Entstehung dieses Buches.

 

Lektorat Christof Blome, Uwe Naumann und Frank Strickstrock

Karte Peter Palm, Berlin

 

Vorwort von Hans Leyendecker

 

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Juni 2012

Copyright © 2012 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung ANZINGER|WÜSCHNER|RASP, München

(Fotos: Picture-Alliance/dpa)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-498-02005-7 (1. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-02001-6

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-02001-6

«Wir haben die jetzt bekannt gewordenen Täter nicht wirklich verstanden. Wir haben die Dimension ihres Hasses ebenso unterschätzt wie ihren Willen zur Tat. Die Ermordung von Menschen aus dem einzigen Grund, weil sie als ‹fremdländisch› empfunden werden, passt in die Gedankenwelt der rassistischen Täter. Das wussten wir. Und wir konnten uns das als Bombenanschlag oder als Brandstiftung vorstellen, aber nicht als eine kaltblütige Exekution. Dabei hätte man es durchaus besser wissen können: Schließlich kennen wir die historischen Vorbilder dieser Leute.»

Heinz Fromm, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, am 27. November 2011

Das Desaster

Vorwort von Hans Leyendecker

Eine Zelle – in der Natur ist das ein hochkomplexer Organismus, mit einem Nukleus und mit einer Kernmembran, die ihr Plasma umschließt, und Poren an der Kernhülle, durch die genetische Informationen an ihre Funktionsorganellen weitergegeben werden. Zellen haben ein Eigenleben, sie sind dennoch an bestimmte Strukturen gebunden und abhängig von Wechselwirkungen mit ihrem Umfeld.

So ähnlich muss man sich das Verhältnis der Zwickauer Terrorzelle zur Neonazi-Szene vorstellen. Auf jeder Entwicklungsstufe der Organisation, die sich «Nationalsozialistischer Untergrund» nannte, tauchten Leute vom rechten Rand auf, die den Mördern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos behilflich waren. Da sind die Geldsammler, die Spender, die Beschaffer von Ausweispapieren, die Vermittler von Verstecken – und auch die Lieferanten der Waffen.Die Zelle hätte ohne die breite Unterstützung nicht leben können. Irgendwo war immer ein brauner «Mikroorganismus», der weiterhalf. Dass ein früherer Vize-Bundesvorsitzender der NPD die anwaltliche Vollmacht eines untergetauchten NSU-Mitgründers besaß, passt zur Zelle.

Es ist unfassbar: Die Zwickauer Terrorbande mit all ihren Helfern und Boten hat zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordet. Und schwer fassbar ist der Umstand, dass verschiedene Sicherheitsbehörden zwar mit riesigem Aufwand versucht haben, die Mordserie aufzuklären, aber bis zum Ende der Zelle im November 2011 nie eine Ahnung und schon gar keinen Durchblick hatten, was eigentlich vorging. Eine Neonazi-Bande konnte ungehindert mordend durch Deutschland ziehen, und die Ermittler erkannten die Mörder nicht.

Die Ermittler kamen früh auf einen Gedanken, der falsch war, und sie kamen nie mehr davon los. Sie leuchteten leere Höhlen aus, und statt eine neue Richtung zu suchen, verrannten sie sich immer mehr im selbstgewählten Höhlen-Labyrinth. Ganz kurz hatten sie mal die richtige Witterung aufgenommen, um dann wieder gewaltig in die Irre zu gehen. Elf Jahre lang hielten diverse Sonderkommissionen für einen Fall aus der tiefsten kriminellen Unterwelt, was sich am Ende als rechter Terrorismus erwies.

Das Versagen von Staatsdienern ist auch Staatsversagen.

Die krassen Fehlleistungen mehrerer Thüringer Sicherheitsbehörden ließen zunächst sogar den Verdacht aufkommen, es könnte eine Verflechtung zwischen den Ermittlern und den Mördern gegeben haben. Es war ein vorschneller Verdacht, aber die Behörden behinderten sich durch dieses Misstrauen zusätzlich selbst.

Richtig ist, dass auch die Medien, die über die Mordserie berichteten, über die Jahre beharrlich auf der falschen Spur blieben. Noch im Sommer 2011 warfen einige Blätter den Ermittlern vor, eine angebliche Spur zu vernachlässigen, die in das Milieu der organisierten Kriminalität führe. Medien waren es auch, wie in diesem Buch dokumentiert wird, die die in jeglicher Hinsicht furchtbar falsche Vokabel vom «Dönermörder» erfanden, die ein Unwort ist.

Aber es gibt Zuständigkeiten, und es gibt Verantwortung. Und zuständig waren nicht die Medien, zuständig war vor allem die Sonderkommission mit dem irreführenden Namen «Bosporus».

Verantwortlich sein heißt, die Bedingungen, Motive und Folgen unterschiedlicher Handlungsalternativen in Betracht zu ziehen und gegeneinander abzuwägen. Es fehlte nicht an gutem Willen und auch nicht an Einsatzbereitschaft – es fehlte an analytischem Vermögen und an Phantasie. So kam es zur Katastrophe.

Sie war kein Naturverhängnis, sie war nicht unabwendbar. Allerdings: War es nicht so, dass in den Parteien, Parlamenten und auch in den Medien, also in der Gesellschaft, die meisten sehr bald gelangweilt reagierten, wenn da jemand vor der Gefahr warnte, die von den vielen Neonazis ausgeht? Kennen wir, wissen wir. Neues Thema, bitte.

Es gibt seit einer Weile eine Kontroverse über die reale Zahl rechter Gewaltverbrechen seit der Wende. Journalisten, die sich mit dem Thema intensiv über Jahre beschäftigt haben, gehen von mindestens 148 Toten aus, darunter sind die zehn Opfer der aus Thüringen stammenden Terrorbande. Die Behörden zählen anders. Sie kommen auf 58 Morde. Die Fachleute beider Seiten streiten darüber, ob schwere Verbrechen, die Neonazis begangen haben, politisch motiviert waren oder nicht. Aber selbst 58 Opfer sind weit mehr, als der Terror der «Rote Armee Fraktion» (RAF) forderte, der das Land stark verändert hat.

Für Kriminalitätsbekämpfer ist das Verhältnis von Aufwand und Ertrag in kaum einem Bereich so ungünstig wie in der Sparte Terrorismus. Immer wieder mussten sich Fahnder verhöhnen lassen: «Sie wissen nicht viel über uns», spotteten RAF-Terroristen einst. «Sie haben nie wirklich durchgeblickt.» Seit 1985 konnten die Ermittler keinen der RAF-Anschläge mit insgesamt sechs Toten aufklären.

Spätestens nach den ersten vier Hinrichtungen türkischer Kleingewerbetreibender und dem Nagelbomben-Attentat in Köln im Sommer 2004 in einer Straße mit Geschäften türkischer Kleingewerbetreibender brauchte es allerdings nicht viel Urteilsvermögen, um in diesen Fällen Fremdenhass als mögliches Motiv zu favorisieren.

Die Beschreibung der Kölner Täter ähnelte jener im Fall Bosporus. Auch darüber hinaus gab es viele Ähnlichkeiten und sogar Parallelen. Aber die Erarbeitung einer Vergleichsanalyse zwischen dem Kölner Anschlag und der Mordserie wurde von den verantwortlichen Kriminalbeamten abgelehnt. Das war Ignorantentum: Man dürfe «Äpfel nicht mit Birnen» vergleichen, steht in einem der vielen Polizeipapiere. Anders als in den Mordfällen habe es sich bei dem Nagelbombenattentat «nicht um eine gezielte Aktion in Richtung Einzelperson» gehandelt; das Attentat sei «eine Art Globalverstoß gegen Türken» gewesen.

Das klingt fachkundig, war aber grundfalsch. Viele der Ermittler waren Spezialisten für die Bekämpfung organisierter Kriminalität. Und sie vermuteten, hinter den Mördern steckten Drahtzieher aus dem Bereich der organisierten Kriminalität.

Verantwortung verlangt auch die Fähigkeit, sich selbst immer wieder zu hinterfragen, Kritik zu ertragen und sich mit ihr produktiv auseinanderzusetzen. Aber schon der bloße Versuch, die These von der organisierten Kriminalität in Frage zu stellen, löste heftigen Streit unter den Ermittlern aus.

Antworten auf die vielen Fragen nach Vorgeschichte, Pannen und Ursachen, also nach einer irgendwie nachvollziehbaren Erklärung für das große Desaster, suchen Untersuchungsausschüsse des Bundestages und der Landesparlamente in Sachsen und in Thüringen. Es gibt viele Fragezeichen, weil – nicht nur im Nachhinein betrachtet – die Fehler der Fahnder offenkundig sind.

Vor allem das Fehlen von Bekennerschreiben dient den Ermittlern selbst als Erklärung, warum sie nicht hätten erkennen können, dass eine Terrorbande die Morde begangen hat. Die Zwickauer Mörder verzichteten nach dem Morden auf jede Erklärung und verweigerten derart auch jeden Versuch einer Rechtfertigung. Sie verschickten zwar an einige der braunen Kumpane ein Pamphlet mit dem Kürzel NSU, aber sie blieben schattenhafte Gestalten.

In der Geschichte des Terrors hat es viele Geisterarmeen gegeben, aber eine Verbrecherbande wie den Nationalsozialistischen Untergrund, die alle Welt im Unklaren lässt über ihre Urheberschaft und Ziele, das war in Deutschland tatsächlich neu. Auch der Schrecken hatte zuvor immer seine Rituale gehabt.

Die letzte Generation der Rote-Armee-Fraktion ging absolut konspirativ ans Werk. Um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, versiegelten die Mitglieder ihre Handflächen mit Wundspray. Trotzdem sollte jeder sofort erfahren, dass es die RAF war, die Tod und Schrecken verbreitete. Die Terroristen verschickten Bekennerschreiben mit der Sorgfalt deutscher Notare. Sie verwendeten Briefmarken, die Frauenmotive zeigten; bei den fiktiven Absenderangaben hatte die Tarnadresse mit Bäumen zu tun. Als Stempel benutzten sie den roten fünfzackigen Stern. Wie von Sinnen schrieb die RAF seitenlange Strategiepapiere in Kleinschreibung und schlechtem Deutsch. Wenn der RAF ein Anschlag von den Behörden oder den Medien zugeschrieben wurde, den sie nicht begangen hatte, meldeten sich die Terroristen aus dem Untergrund und machten klar, dass sie es diesmal nicht gewesen seien.

Auch der islamistische Terror, der Terror der IRA, der ETA und der Terror anderer Schattenarmeen maskierte sich gern mit öffentlichen Forderungen oder Verlautbarungen.

Aber der rechte Terrorismus, insbesondere der Terrorismus von Kleingruppen, verzichtet oft auf jegliche Rechtfertigung. Das war schon vor der NSU so. Die Tat, der Mord: das ist ihre Erklärung. Die Mörder freuen sich klammheimlich, wenn sie ihre Ideologie, den Fremdenhass, umgesetzt haben. Das reicht ihnen.

 

Dieses Buch entfaltet die Geschichte einer Terrorzelle mit vielen Details, auf deren Recherche die Autoren viel Energie und Sorgfalt verwandt haben. Sie berichten von Fanatikern und Wirrköpfen, aber auch davon, wie Gewalt entstehen und wohin sie führen kann, wie sich in einer Zeit des Umbruchs ein rechtsextremes Milieu herausbildet und die Herrschaft über öffentliche Räume übernimmt. Und wie Mittelschichtskinder aus ehedem geordneten Verhältnissen allmählich zu kaltblütigen Killern mutieren.

Auch wenn die Autoren sich mit Urteilen wohltuend zurückhalten, wird doch deutlich, dass der Staat und seine Organe in keiner Facette dieser Geschichte eine wirklich überzeugende Rolle spielten.

Manchmal sind sie gar zum Fürchten: Ein hessischer Verfassungsschützer ist zufällig bei einem der Mord in Tatortnähe und meldet sich nicht bei der Polizei als Zeuge. Angeblich hat er den Mord nicht mitbekommen. Als die Fahnder bei ihm daheim nachschauen, finden sie Abschriften von «Mein Kampf», auf denen Stempel aus dem Dritten Reich und Unterschriften Adolf Hitlers nachgezeichnet sind. In seinem Elternhaus verwahrt er vier Schießgeräte und mehr als hundert Schuss Munition. Und als ob das alles nicht seltsam genug wäre, finden die Ermittler bei ihm auch noch Haschisch. Die Karikatur eines Staats-Schützers.

Es gibt, auch das zeigt die Entstehungsgeschichte der Thüringer Terrorzelle, besondere Probleme im Osten, aber Rechtsextremismus ist nicht allein ein Ost-Phänomen. Wenn «national befreite Zonen» ausgerufen werden, müssen die Demokraten um die Rückeroberung des öffentlichen Raums für die Werte der Demokratie und der Toleranz kämpfen. Es ist verheerend, wenn Neonazis junge Leute mit Kameradschaftsabenden ködern können, weil sich sonst niemand um diese Jugendlichen kümmert. Diese Feststellung gilt nicht nur für den Osten, sondern auch für den Westen. Es braucht im Westen und im Osten den Aufstand der Anständigen und die Professionalität der Zuständigen.

Was die Autoren über die Zelle zutage gefördert haben und in diesem Buch nüchtern und erhellend zugleich erzählen, ist ein wichtiger Beitrag zur Entstehungsgeschichte von braunem Terror und zugleich die ebenso wichtige Zwischenbilanz einer Affäre, die vom großen Versagen des Staates handelt.

Teil Eins Die Flucht

1 Razzia

Es ist ein gewöhnlicher Montagmorgen im Januar bei Familie Böhnhardt in Jena. Der Vater ist schon auf dem Weg zur Arbeit, die Mutter liegt im Bett, und der 20-jährige Sohn Uwe Böhnhardt schläft noch fest. Alles ist ruhig in der Straße, als sie um 6:30 Uhr Sturm klingeln und mit den Fäusten gegen die Tür der Böhnhardts trommeln.

Davon überrascht öffnet die Mutter, Brigitte Böhnhardt, die Tür ihrer Wohnung in der 7. Etage eines Jenaer Plattenbaus. Vor ihr stehen sechs Polizisten der «Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus» des Landeskriminalamts Thüringen und der Kriminalpolizei Jena. Es geht wie immer um Uwe.

Als Uwe Böhnhardt von den Stimmen munter wird, erkennt er sofort, wer ihn da besuchen kommt. Sind sie jetzt also endlich gekommen, ihn zu holen. Seit 47 Tagen ist seine Jugendstrafe rechtskräftig. Zwei Jahre und drei Monate soll er absitzen.

Die Polizisten der Spezialeinheit für Terrorismusbekämpfung halten aber keinen Haftbefehl in der Hand, sondern nur einen Durchsuchungsbeschluss.

Sie suchen eine Bombenwerkstatt.

Die Fahnder interessieren sich für vier Garagen: zwei, die gegenüber dem Neubaublock liegen, in dem die Böhnhardts leben, und zwei weitere Garagen unweit der Kläranlage in Jena-Burgau. Die Ermittler glauben, dass alle vier Schuppen von Uwe Böhnhardt benutzt werden.

Die Polizei kennt jetzt also seine geheime Bombenbastlerbaracke. Böhnhardt weiß, was das bedeutet. Es ist nur noch eine Frage von Stunden, vielleicht Minuten, bis die Ermittler finden, wonach sie suchen: eine funktionsfähige Bombe und vier weitere fertige Sprengsätze.

 

Parallel zur Razzia in Böhnhardts Garagen gegenüber seiner Wohnung in der Richard-Zimmermann-Straße stehen an diesem Morgen auch uniformierte Polizisten vor einem Schuppen in einer Garagenanlage am Stadtrand.

Die Einsatzleitung beim Landeskriminalamt hatte durch eine Observation des Geheimdienstes erfahren, dass Böhnhardt in der Garage an der Kläranlage Material zum Bombenbauen lagert. Und dass er sich im Umfeld dieser Garage besonders konspirativ verhalten würde.

Aber die LKA-Ermittler fangen nicht dort mit den Durchsuchungen an. Die uniformierten Kollegen der Außensicherung müssen warten.

Es droht die Gefahr eines rechten Bombenanschlags in Jena. In immer kürzeren Abständen haben in den vergangenen Monaten Bombenfunde die Stadt erschüttert. Dabei handelte es sich um echte Bomben mit Zünder, die jedoch nicht funktioniert haben. Auch TNT-Sprengstoff wurde gefunden.

Die Terrorismusfahnder sind sicher, dass Mitglieder der rechten Szene hinter den abgelegten Bomben stecken. Die Observation von Uwe Böhnhardt hat ihre Vermutung bestätigt.

Kinder und Passanten fanden Bombenkoffer im Stadion, vor dem Theaterhaus und vor einem Denkmal. Drei Briefbomben erreichten eine Polizeiwache, das Ordnungsamt und die Lokalredaktion der Thüringischen Landeszeitung. Alle Bomben waren nicht zündfähig und wurden von der Polizei als Bombenattrappen eingestuft.

Die Bombenattrappen waren als Warnung zu verstehen. Was aber ist, wenn die nächste Bombe keine Attrappe mehr ist?

 

Die Polizisten der Terrorismus-Sondereinheit des LKA verlesen Mutter und Sohn Böhnhardt den «Durchsuchungsbeschluss». Danach verabschiedet sich Uwe Böhnhardt von seiner Mutter Brigitte Böhnhardt. Sie muss zur Arbeit. Die letzten Worte an ihren Sohn sind: «Uwe, pass auf, dass sie nicht irgendetwas finden in unserer Garage, was vorher nicht da lag.»

Böhnhardt zieht sich schnell eine Hose und ein T-Shirt an und begleitet die Polizisten dann über die Straße vor dem Neubauhochhaus auf die gegenüberliegende Straßenseite. Hier stehen unzählige Garagen in einer Reihe. Uwe Böhnhardt öffnet die Garage mit der Nummer 6.

Zuerst inspizieren die Polizisten den Kofferraum und das Wageninnere seines Autos. Dann bitten sie ihn, seinen roten Hyundai herauszufahren, damit sie Platz haben, um sich alle Gegenstände genau ansehen zu können.

Einem Teil des Durchsuchungstrupps soll Uwe Böhnhardt jetzt noch zur Garagenanlage an der Kläranlage folgen.

Es ist 8:15 Uhr am 26. Januar 1998.

2 Bombenwerkstatt

Während Uwe Böhnhardt in sein Auto steigt und vor den Polizeiwagen zur nächsten Garage fährt, bergen Polizisten und ein Sprengstoffsuchhund in seiner Garage ein Beweisstück. Es trägt die «laufende Gegenstandsnummer 4» und ist: eine Rolle Bindfaden.

Seit heute morgen 6 Uhr sind rund 20 Polizisten in ganz Jena im Einsatz. Das Landeskriminalamt hat Fahnder aus Erfurt geschickt, auch die Kriminalpolizei Jena ist dabei, um die großangelegte Razzia abzusichern. Die Aktion trägt das Aktenzeichen 7 Gs 31/98.

Um 9:30 Uhr öffnen die Polizisten des LKA die zweite Garage gegenüber von Uwe Böhnhardts Wohnhaus. Es ist die Garage mit der Nummer 7, genau neben dem ersten durchsuchten Schuppen.

Da Böhnhardt weg ist, rufen die Beamten einen Schlüsseldienst. Nachdem dieser das Schloss geöffnet und ein neues eingesetzt hat, filzen die Polizisten jeden Zentimeter des Raumes. Während der Durchsuchung macht ein Passant die Männer darauf aufmerksam, dass die Garage gar nicht Böhnhardt gehört – sondern einem anderen Mieter im gleichen Haus.

Die Beamten sind einer Falschinformation aufgesessen. Sie durchsuchen eine vollkommen belanglose Garage. Als sie das gemerkt haben, folgen die Ermittler ihren Kollegen zur dritten verdächtigen Garage.

 

Zur gleichen Zeit ist eine zweite Durchsuchungseinheit drei Kilometer entfernt bereits im Einsatz.

Ab 8:15 Uhr macht sich das Einsatzkommando, bestehend aus neun Polizisten, am Tor Nummer 5 im Garagenkomplex «An der Kläranlage» zu schaffen. LKA-Fahnder, Kripobeamte, Kriminaltechniker und ein Hundeführer mit einem Sprengstoffsuchhund haben sich vor dem Schwenktor «Nr. 5» versammelt.

Das Objekt hatten Agenten des Verfassungsschutzes entdeckt, als sie Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos zwei Monate zuvor beschatteten. Die beiden jungen Männer wurden damals dabei beobachtet, dass sie Brennspiritus und Gummiringe in der Garage einlagerten. Was die Geheimdienstmitarbeiter aber übersahen: Die Garage ist mit einem Sicherheits- und einem Vorhängeschloss gesichert. Den Polizisten fehlt der Schlüssel für das Vorhängeschloss. Darum beordert der Einsatzleiter die Feuerwehr zur Garagenanlage.

Mittlerweile sind drei Polizisten von der ersten Garagendurchsuchung in der Nähe von Böhnhardts Wohnung auch angekommen, im Schlepptau haben sie den verdächtigen Bombenbauer. Irgendwann in diesen Minuten raunt ein Polizist Uwe Böhnhardt zu: «Jetzt gehste ab, der Haftbefehl ist schon unterwegs.»

Böhnhardt weiß sofort, was das bedeutet. Es ist wahrscheinlich seine letzte Chance zur Flucht. Uwe Böhnhardt will nicht wieder ins Gefängnis, nachdem er als 15-Jähriger bereits einige Monate wegen Erpressung in Haft einsaß. In seinem Kopf ist nur ein Gedanke: «Lieber Untergrund als Knast.»

Er geht zu seinem Auto, steigt ein, drückt das Gaspedal durch – und rast davon.

Die Polizisten gucken ihm hinterher, wie er aus der Garagenanlage an der Kläranlage herausfährt und das Gelände verlässt. Uwe Böhnhardt ist weg.

Es ist 8:55 Uhr am 26. Januar 1998.

Nachdem ein Feuerwehrmann das Vorhängeschloss mit einem Bolzenschneider geknackt hat, öffnet sich das Tor von Garage 5. Als Erstes sehen die Fahnder ein Bild. Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß schaut sie aus einem Bilderrahmen an.

Was die Beamten dann entdecken, übertrifft all ihre Erwartungen: An einer Werkbank ist ein Schraubstock montiert, in dem ein Rohrstück festgeklemmt ist. Das Rohr ist am unteren Ende zugequetscht, oben gucken zwei Drähte heraus – genauso sah auch der Inhalt des Bombenkoffers aus, der vor einigen Wochen auf dem Jenaer Theaterplatz gefunden wurde.

In der Garage liegen 1,4 Kilogramm TNT-Sprengstoff, insgesamt vier Rohrbomben und eine Menge Nazipropaganda-Material.

Da es sich offensichtlich um gefährliche Sprengsätze handelt, müssen die Polizisten Spezialkräfte vom Dezernat 33 «Technische Unterstützung» des Landeskriminalamts aus Erfurt anfordern. Das Tor wird erst mal wieder verriegelt.

Gegen 9:30 Uhr sind sich die Polizisten sicher, dass sie TNT und die Bombenwerkstatt gefunden haben. Die Fahndung soll aber erst um 14 Uhr beginnen. Bis dahin vergehen viereinhalb Stunden.

Viereinhalb lange Stunden für Uwe Böhnhardt und seine Komplizen – um zu fliehen.

 

Uwe Böhnhardt fährt mit seinem roten Hyundai als Erstes zurück nach Hause in die Richard-Zimmermann-Straße im Stadtteil Lobeda, hier will er ein paar persönliche Sachen packen. Der sonst so impulsive Böhnhardt muss jetzt konzentriert und ruhig reagieren. Er öffnet die Wohnungstür, geht zum Telefon der Eltern und wählt die Nummer seiner 23-jährigen Freundin Beate Zschäpe.

Es geht los. Sie weiß, was dieser Anruf bedeutet.

In den vergangenen Wochen hatte sie öfter mit ihrem Freund Uwe Böhnhardt darüber gesprochen, wie sie reagieren werden, wenn die Polizei vor seiner Tür steht. Böhnhardt hatte für das richtige Verhalten in diesem Moment vor einigen Wochen sogar extra noch eine Rechtsberatung aufgesucht. Jetzt ist dieser Moment gekommen. Nach einem kurzen Gespräch legt Zschäpe auf und ruft den 24-jährigen Uwe Mundlos in Ilmenau an.

 

Überstürzt verlässt Mundlos sein Wohnheimzimmer, in dem er unter der Woche in Ilmenau lebt. Er lässt alles stehen und liegen, Papiere flattern auf den Boden, sein Bett bleibt so zerwühlt zurück, als ob der akkurate Abituranwärter gerade erst aus der Decke gesprungen wäre.

Uwe Mundlos setzt sich in seinen alten Ford und fährt aus Ilmenau weg.

 

Nachdem Beate Zschäpe Uwe Mundlos gewarnt hat, macht sie sich auf den Weg zu ihrer Oma. Sie hat nur wenig Zeit. Wie lange werden die Ermittler brauchen, um sie zu verhaften? Zschäpe benötigt dringend Geld für die Flucht. Sie erzählt ihrer Großmutter, dass sie verfolgt werde und erst einmal untertauchen müsse. Am Ende des Gesprächs steckt ihr die Oma ein paar Scheine zu.

 

Uwe Mundlos verlangt seinem gebrauchten Ford mit dem Kennzeichen J-AH 41 alles ab, als er das Auto über die A 71 lenkt. Eine Stunde liegt Ilmenau von Jena entfernt. Als er in seiner Heimatstadt ankommt, fährt er zum Rewe-Markt in den Stadtteil Winzerla. Auch er braucht Geld.

Im Supermarkt arbeitet seine Mutter. Geschockt und aufgewühlt erzählt ihr der Sohn von der hohen Strafe, die Böhnhardt und er zu erwarten hätten: sieben Jahre, hatte Beate Zschäpe heute Morgen am Telefon gesagt.

Die Mutter gibt ihm ihre EC-Karte.

Zum Abschied bittet sie Uwe Mundlos noch, dass er sich unbedingt von seinem Vater Siegfried verabschieden soll.

Gestern am Sonntagabend noch hatten Mundlos und seine Frau Siegfried ihren Sohn ein Stück in Richtung Ilmenau begleitet, wo Uwe zurzeit am Ilmenau-Kolleg sein Abitur nachholt. Zusammen waren sie nach Isserstedt in eine Gaststätte gefahren und hatten gemeinsam zu Abend gegessen. Jetzt, im Supermarkt, wirkt Uwe Mundlos wie ausgewechselt auf seine Mutter.

Am Wochenende war das Trio mit ein paar anderen Neonazis aus Jena auf einer Demonstration gegen die «Wehrmachtsausstellung» in Dresden gewesen. In einem Pulk von 1300 Rechten in Bomberjacken und Springerstiefeln waren sie durch die Stadt marschiert. Nach ihrer Rückkehr nach Jena saß die Gruppe um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe noch in der Wohnung eines Neonazikaders mit Ralf Wohlleben zusammen, dem führenden Neonaziaktivisten aus Jena. Bei diesem Treffen soll Uwe Mundlos der Freundin von Wohlleben den Schlüssel zu seiner Wohnung gegeben haben, sagt diese später.

Nach dem Besuch bei seiner Mutter hat Uwe Mundlos noch einen Termin in Jena. Er fährt in die Innenstadt. Hier ist die Praxis seines Hausarztes. Mundlos lässt sich ein letztes Mal untersuchen, bevor er in den Untergrund geht. Und er lässt sich von seinem Hausarzt eine Krankschreibung ausstellen, die er in der Schule vorlegen will. Vielleicht hat er nicht vor, lange wegzubleiben.

 

Es ist 11 Uhr, als die Bombenentschärfer vom Dezernat 33 des Landeskriminalamts aus Erfurt an der Garagenanlage in Jena eintreffen. Sie sichern die Rohrbomben und den TNT-Sprengstoff. Dann beginnt das Dutzend Kommissare und Polizisten, alle Beweisstücke einzusammeln. Am Ende stehen 61 Gegenstände auf dem «Sicherstellungsprotokoll». So finden die Fahnder in den Kastenregalen, Metallschränken und auf dem Boden:

4 vorbereitete Bomben

1 funktionsfähige Bombe

1 vorbereitete Zündvorrichtung

1 verdrahteten Funkwecker

1 Fotoapparat

5 Rohrstücke

Blechdosen mit schwarzem Pulver

Dochte

26 Disketten

mehrere Eimer, Pinsel, Strickrollen und Handschuhe sowie

Knetmasse.

 

In einem Pappkarton liegen Ausgaben der Skinhead-Fanzines «Foier frei!» und «Der Weisse Wolf», Naziliteratur wie «Henker, Heuchler und Halunken – Der Nürnberger Prozess» sowie Broschüren mit Titeln wie «Sonnenbanner – Nationalsozialistisches Schulungsblatt», «Neue Position. Den Widerstand aufbauen! Polizeiasse im Einsatz» oder «AMOK – Texte für terminale Täter».

An der Garderobe hängen zwei olivgrüne Bomberjacken, vor dem Küchenschrank steht ein gepackter schwarzer Rucksack. In dem Stoffsack befinden sich neben Mietunterlagen von Uwe Mundlos, neun Flugblättern des «Nationalen Widerstandes», einer Geldbörse, Fotos und Briefen auch sein Reisepass, eine Liste mit gesammelten Autokennzeichen von zivilen Polizeiwagen sowie ein Zettel mit 53 Telefonnummern von bekannten Neonazis.

Der ordentliche Mundlos hatte den Rucksack anscheinend so vorbereitet, dass alle wichtigen Gegenstände für ein Untertauchen an einem Ort sind, wenn sie einmal flüchten müssten.

 

Gegen 10:30 Uhr informiert ein LKA-Ermittler die Zentrale über den TNT- und Bombenfund. Die Staatsanwaltschaft Gera ordnet daraufhin die sofortige Festnahme von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe an. Es ist Gefahr im Verzug.

Die Suche beginnt.

Als die Beamten um 13 Uhr das Gelände der Garagenanlage «An der Kläranlage» mit dem Kofferraum voller belastender Asservate verlassen, sind sie zu 100 Prozent sicher, dass sie genug Beweise haben für eine Anklage des Trios.

Gegen 14 Uhr trommelt der Einsatzleiter des Landeskriminalamts alle Durchsuchungs- und Festnahmekräfte in einem Schulungsraum in der Polizeidirektion Jena zusammen. Gut eine halbe Stunde später schwärmen alle verfügbaren Beamten aus, um das Trio dingfest zu machen.

Es ist 14:40 Uhr am 26. Januar 1998.

3 Hausdurchsuchungen

Parallel ziehen mehrere Teams los, um zeitgleich die Wohnungen aller Verdächtigen zu durchsuchen und die Bombenbastler festzunehmen. Gegen 14:45 Uhr stehen die ersten Polizisten der LKA-Einsatzgruppe «Terrorismus/Extremismus» vor einer Wohnung, die sie heute Morgen schon einmal aufgesucht hatten. Sie wollen jetzt auch Uwe Böhnhardts Zimmer durchsuchen, nachdem sie vor ein paar Stunden nur den Durchsuchungsbefehl für die Garagen hatten.

Sie klingeln, aber keiner öffnet ihnen. Sie könnten die Tür aufbrechen, aber sie warten lieber, bis jemand nach Hause kommt.

 

Es ist 14:55 Uhr, als eine zweite Einheit an der Wohnung von Beate Zschäpe in der Schomerusstraße auftaucht. Nachdem ein Schlüsseldienst die Wohnung im sechsten Stock des Neubaus geöffnet hat, durchsuchen die Polizisten eine Stunde lang jeden Winkel in Wohnzimmer, Küche und Bad.

Sie stoßen auf ein Waffenlager. An der Wohnzimmerwand über ihrem Sofa und an einem Bettschrank über ihrem Bett hat Zschäpe gefährliche Waffen aufgehängt: eine Armbrust, einen Wurfanker mit Seil, ein Luftgewehr, einen Morgenstern, einen Wurfstern, ein Buschmesser, einen Dolch und eine Zwille.

Neben den Waffen hängen Plakate mit Hakenkreuzen und eine Reichskriegsflagge.

Unter der Wohnzimmercouch finden die Polizisten eine Ausgabe von «Pogromly» – eine selbstgebastelte rassistische und antisemitische Version des Gesellschaftsspiels «Monopoly». Anstatt des Feldes «Gefängnis» gibt es ein «Konzentrationslager»-Feld. Auf einer Spielkarte steht: «Du hattest auf ein Judengrab gekackt. Leider hattest du dir hierbei eine Infektion zugezogen.»

Das Einzige, was die Polizisten nicht finden, ist Beate Zschäpe selbst.

 

Die dritte Ermittlergruppe steht um 15 Uhr vor der Tür der Jenaer Wohnung von Uwe Mundlos. Die Polizisten wissen nicht, dass er sich eigentlich unter der Woche in Ilmenau aufhält.

Sie finden auch Mundlos nicht, aber eine Bekannte von ihm taucht fünf Minuten später auf. Sie hat einen Schlüssel und lässt das Durchsuchungskommando in die Wohnung. Auf die Frage, was die Frau in der fremden Wohnung wolle, antwortet sie: «Fernsehen.» Einen Fernseher gibt es in den Räumen aber nicht.

Die Frau in der Wohnung ist die Freundin von Ralf Wohlleben. Anscheinend hat jemand sie geschickt, um auszukundschaften, ob die Luft in Mundlos’ Wohnung noch rein ist.

Die Beamten finden nur ein Blatt mit Skizzen von Skinhead-Symbolen und ein paar Briefe an inhaftierte Neonazis. Darum fahren sie schnell weiter. Wo sich Uwe Mundlos gerade aufhält, konnten sie nicht herausfinden.

 

Parallel zu den Durchsuchungen bei den drei Hauptverdächtigen machen sich weitere Trupps auf, um auch die Freunde des Trios zu befragen. Zuerst schauen sie bei André K. vorbei – in der Wohnung, in der das Trio gestern Abend noch zusammensaß. Dann fahren die Polizisten zur Wohnung von Ralf Wohlleben, besuchen den großen Bruder von Uwe Böhnhardt und schauen auch bei einem Jugendclub vorbei, in dem die drei in letzter Zeit häufiger gesehen worden sein sollen.

Unterdessen schickt die Polizei in Saalfeld auch Beamte zur Gaststätte «Heilsberg». Die Kneipe ist das Zentrum der wichtigen Neonazikameradschaft «Thüringer Heimatschutz».

 

Um 16:53 Uhr kommt Brigitte Böhnhardt von der Arbeit zurück nach Hause. Sie lässt die Polizisten, die vor ihrer Tür warten, herein. Die finden in Uwe Böhnhardts Zimmer eine Telefonliste mit Namen von Neonazis, außerdem Knallpatronen und Diabolos – und ein 30 Zentimeter langes Rohrstück, das den Rohren gleicht, mit denen die Bomben gebaut wurden.

«Die waren schon überrascht, dass sie keine Reichskriegsflagge oder andere Nazipropaganda gefunden haben», erinnert sich Jürgen Böhnhardt, der Vater. Es ist ein gewöhnliches Jugendzimmer: Auf einer schwarzen Liege liegt ein Kissen mit Tigeroptik, und im weißen Bücherregal steht neben einem Blumentopf der Ghettoblaster «Super Whooper». «Es gab kein Bild von Hitler oder so was in seinem Zimmer, nur einen Schal vom FC Carl Zeiss Jena und ein paar Wimpel», sagt der Vater.

Die Beamten haben jetzt zwar neue Beweisstücke, aber der Verdächtige, Uwe Böhnhardt, ist weg. Mit dem Vater Jürgen Böhnhardt fahren die Fahnder noch zur Gartenlaube der Familie. Aber auch hier ist Böhnhardt nicht.

 

Am Ende des Tages, es ist jetzt schon 19:32 Uhr, geben die Ermittler die Durchsuchungen auf. Sie haben keinen der drei mutmaßlichen Bombenbastler schnappen können. Ihre letzte Hoffnung ist die Fahndung nach den Autos von Böhnhardt und Mundlos.

Um 21:20 Uhr kommt noch mal Hoffnung auf. Ein Streifenwagen funkt in die Zentrale, dass sie einen Hyundai mit dem Kennzeichen J-RE 76 gesichtet haben – das Auto von Böhnhardt. In dem PKW sitzt ein junger Mann. Die Polizisten stoppen das Auto und kontrollieren den Fahrer. Es ist leider nicht Uwe Böhnhardt, sondern ein anderer Neonazi.

 

Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt haben ihre Heimatstadt Jena längst verlassen. Mit dem Peugeot 205 von Ralf Wohlleben sind sie bereits aus dem Zugriffsgebiet des LKA Thüringen geflüchtet. Das Trio ist schon in Sachsen.

Es ist 22 Uhr am 26. Januar 1998.

4 Braune Hilfe

Ein Schlafsack und ein paar persönliche Papiere sind alles, was Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bei sich haben, als sie am Abend des 26. Januar 1998 in Chemnitz ankommen. Nach Sachsen hat das Trio in den vergangenen Jahren viele Kontakte aufgebaut. Auf der Telefonliste, die das LKA an diesem Tag in einer der Garagen findet, stehen auch zehn Telefonnummern von stadtbekannten Größen des «Blood & Honour»-Netzwerkes in der sächsischen Stadt.

Vorerst schlüpfen die drei Flüchtigen bei Thomas S. unter, einem guten Kumpel, dem Uwe Mundlos in den vergangenen Jahren stets pflichtbewusst Briefe in den Knast geschickt hatte, um ihn als «nationalen politischen Gefangenen» zu unterstützen.

Sie sind untergetaucht – nur 100 Kilometer von Jena entfernt.

 

Am nächsten Morgen gehen die Ermittlungen weiter. Um 8:26 Uhr erscheint ein wichtiger Zeuge bei der Kriminalpolizeiinspektion Jena. Die Ermittler haben den Besitzer der Garage an der Kläranlage vorgeladen. Sie hatten ihn vorher nicht befragt, weil er den gleichen Nachnamen wie die Großmutter von Beate Zschäpe trägt – der verdächtigen Mieterin der Garage. Sie wollten nicht riskieren, dass die Razzia eventuell verraten werden könnte. Der 51-jährige Mann, der jetzt auf dem Revier erscheint, ist ihr Kollege. Er arbeitet als Kriminalbeamter in Jena und erzählt seinen Kollegen davon, dass er Zschäpe nur einmal gesehen und dass sie die 70 Mark Miete meistens pünktlich bezahlt habe. Mehr kann er nicht beisteuern.

Der wichtigere Termin an diesem Tag findet aber in Erfurt statt. Im Landeskriminalamt. Der zuständige Staatsanwalt der Staatsanwaltschaft Gera ist in die Landeshauptstadt gereist, um sich mit dem LKA abzustimmen, wie es nach der Flucht der Verdächtigen weitergehen soll. Der Staatsanwalt trifft auf Kriminalhauptkommissar Georg Taßler von der «Ermittlungsgruppe Terrorismus/Extremismus» des LKA Thüringen.

So nah dran an den Bombenbastlern wie gestern war Taßler noch nie. Er arbeitet schon länger beim LKA, vor einem Jahr wurde er vom Kriminaloberkommissar zum Kriminalhauptkommissar befördert. Er weiß, dass die ersten Stunden nach einer Flucht entscheidend sind. Die Erfahrung hat den Ermittler gelehrt: Wenn Verbrecher nicht in den ersten Stunden und Tagen nach ihrem Verschwinden gefasst werden, wird es immer schwieriger, ihrer habhaft zu werden.

Warum hat der Verfassungsschutz nach der Beobachtung der Garagen 45 Tage gebraucht, die Information über die Bombenwerkstatt in Jena an das LKA weiterzuleiten? Warum konnte Böhnhardt vor den Augen von Georg Taßlers Kollegen verschwinden? Die Polizisten sind frustriert, dass Böhnhardt nicht schon längst festgenommen wurde, seine Haftstrafe ist bereits seit über einem Monat rechtskräftig.

Taßler kennt den Rechtsradikalen Uwe Böhnhardt. Er hat ihn noch vor drei Wochen vernommen. Nach dem Fund eines Bombenkoffers auf dem Nordfriedhof in Jena kurz nach Weihnachten 1997 wollte er die Alibis aller verdächtigen Neonazis aus der Jenaer Szene überprüfen. Böhnhardt war ihm bereits einmal davongerast, als dieser die Polizeiautos vor dem Haus seiner Eltern stehen sah. Aber am 6. Januar stand Georg Taßler wieder vor der Wohnungstür von Familie Böhnhardt. Er klingelte, Brigitte Böhnhardt, die Mutter, öffnete ihm und seinen Kollegen. Uwe Böhnhardt konnte nicht fliehen, er stand noch unter der Dusche. Als er das Bad verlassen hatte und die Polizisten ihn fragten, wo er in der Tatnacht war, blaffte er sie an: «Ich kann mich nicht erinnern.»

Daraufhin mischte sich Mutter Böhnhardt ein. «Sag doch, dass du mit drei Personen zusammen gewesen bist, das sind doch drei Zeugen.» – «Halt dich hier raus!», fuhr Uwe Böhnhardt seine Mutter an. Dann stand er auf und brach die Vernehmung ab.

Schon im Sommer 1997 hatte Georg Taßler die Ermittlungen in dem Fall der Jenaer Bombenbastler übernommen, nachdem Kinder einen Bombenkoffer mit Hakenkreuz im Bundesligastadion vom FC Carl Zeiss Jena gefunden hatten.

Taßler war es auch, der den Durchsuchungsbefehl für Böhnhardts Garagen bei der Staatsanwaltschaft beantragt hatte – gleich am Tag, nachdem er die Informationen von der Observation des Verfassungsschutzes bekommen hatte.

Zwei Wochen musste der Kommissar warten, bis der Antrag seinen bürokratischen Weg gegangen war – so kurz nach Jahresbeginn befinden sich auch Gerichte und Behörden noch ein wenig im Winterschlaf.

Heute erscheint zu dem Treffen mit der Staatsanwaltschaft nicht der Staatsanwalt, den Taßler gut kennt und der sich ansonsten um Neonazifälle bei der Staatsanwaltschaft Gera kümmert und lange Erfahrung mit der Klientel hat. Er ist kurzfristig krank geworden und hat eine Vertretung geschickt. Der angereiste Jurist kennt sich mit Neonazis nicht ganz so gut aus.

Kriminalhauptkommissar Taßler trägt die Erkenntnisse seiner Fahnder vor. Sie haben vier scharfe Rohrbomben, 1,4 Kilogramm TNT-Sprengstoff, einen Haufen rechtsextreme Hassliteratur und viele weitere belastende Beweise in den Garagen und Wohnungen in Jena gefunden. Außerdem sind die vermeintlichen Bombenbauer abgetaucht.

Die Polizeiexperten von der Ermittlungsgruppe Terrorismus sind schockiert über die Funde von Jena und wollen am liebsten schnell handeln. Dafür brauchen sie einen Haftbefehl von der Justiz.

Aber der Staatsanwalt ist nicht überzeugt von der Gefährlichkeit der Flüchtigen. Um einen Haftbefehl ausstellen zu können, muss ein Staatsanwalt abwägen, ob Fluchtgefahr besteht oder Verdunkelungsgefahr oder ob eine Tatwiederholung möglich ist.

Der Ersatz-Staatsanwalt sieht keine Fluchtgefahr – nur dass die drei mutmaßlichen Täter gestern nicht zu Hause anzutreffen waren, reicht ihm nicht aus. Und die Tat verschleiern oder wiederholen können sie nicht mehr, seitdem die Polizei gestern ihre Bombenwerkstatt ausgehoben hat.

Obwohl der Staatsanwalt mit Böhnhardts Flucht während der Garagendurchsuchung einen Grund hätte, Fluchtgefahr zu unterstellen, stellt er keinen Haftbefehl aus.

Am Ende des Gesprächs vermerkt der Protokollant: «Die Fahndungen zur Festnahme sind zu löschen.»

 

Während die Polizei die Fahndung löscht, ermittelt der Vater von Uwe Mundlos am selben Tag auf eigene Faust weiter. Siegfried Mundlos hofft, seinen Sohn noch in der Nähe finden zu können.

Er ist Naturwissenschaftler und glaubt nur, was er sieht. In den achtziger Jahren wurde er an der Universität Jena in Theoretischer Mathematik promoviert. Er hat eine Doktorarbeit geschrieben über periodische Funktionenräume, die Interpolationstheorie und elliptische Differenzialoperatoren. Nach der Wiedervereinigung bewarb er sich an zwei Fachhochschulen als Informatikprofessor und wurde an der FH Jena angenommen. Seitdem lehrt er Studenten im Grundstudium die Programmiersprachen, erklärt ihnen, was ein Betriebssystem ist, und führt sie in die Geheimnisse von Schleifen, Algorithmen und Strukturvariablen ein. Siegfried Mundlos ist ein Mann der Zahlen.

Seine Welt sind Labore und Beweise.

Heute will er den Polizisten beweisen, dass sein Sohn zu finden sein muss. Und: Er will sich wenigstens noch einmal von ihm verabschieden, wenn sich Uwe schon unbedingt dafür entschieden hat unterzutauchen.

Darum läuft Siegfried Mundlos all die Orte in Jena ab, an denen er seinen Sohn wähnt. Er geht in die Leipziger Straße 61 in Jena-Nord – zur letzten eigenen Wohnung seines Sohnes. Natürlich klingelt er auch in der Schomerusstraße 5 bei Beate Zschäpe und geht bei Böhnhardts in der Richard-Zimmermann-Straße in Jena-Lobeda vorbei. Nur wenige Türen werden ihm geöffnet. Erwischt er einmal einen Vater oder eine Mutter von einem der anderen beiden Flüchtigen, wissen auch sie nichts.

Fast zufällig passiert er auf seiner privaten Fahndung auch das Haus, in dem ein Freund seines Sohnes lebt – Ralf Wohlleben. Direkt vor dem Gebäude ein erstes Zeichen: Der rote Ford Escort mit dem bewusst gewählten Kennzeichen J-AH 41, das für Jena und Adolf Hitler steht, gehört seinem Sohn. Vater Mundlos überlegt nur kurz und holt dann den Zweitschlüssel für den Wagen von zu Hause. Noch am selben Tag fährt er den Ford auf einen Parkplatz vor dem sechsgeschossigen Haus, in dem er wohnt. Er hofft, seinen Sohn so wieder zu sich zu locken.

 

Die Ermittler müssen sich verhöhnt vorkommen, als am Nachmittag desselben Tages auf einmal Juliane W. auf dem Polizeirevier in Jena erscheint. Um 18:15 Uhr steht sie vor dem Tresen der Hauptwache.

Die Beamten hatten die junge Frau gestern noch zufällig in der Wohnung von Uwe Mundlos angetroffen. Jetzt verlangt die Freundin der drei, dass die Polizisten den Schlüssel zur Wohnung von Beate Zschäpe herausgeben sollen. Es ist offensichtlich, dass sie noch Kontakt zu den verschwundenen Bombenbauern hat, denn sie legt den Polizisten eine handschriftliche Vollmacht von Beate Zschäpe vor.

Als die Ermittler den Schlüssel nicht herausgeben wollen, erscheint kurz darauf noch André K., ein weiterer stadtbekannter Neonazi, auf dem Polizeirevier und fordert den Schlüssel zu Zschäpes Wohnung. Sofort! Als die Polizisten sich weiter weigern, droht er mit einem Anwalt.

Mindestens diese zwei Personen haben also offensichtlich noch Kontakt zu Mitgliedern des Trios. Aber die Polizei vernimmt weder Juliane W. noch den rechtsextremen André K.

Die offizielle Fahndung hatte der Staatsanwalt am Morgen für beendet erklärt.

Es ist 19 Uhr am 27. Januar 1998. Das Trio ist seit 34 Stunden verschwunden.

5 «Vati, ich verlasse euch für längere Zeit»

Am nächsten Morgen, dem 28. Januar 1998, klingelt es an der Tür von Familie Mundlos. Der Thüringer Neonazi Ralf Wohlleben steht im Hauseingang. Ein schlanker junger Mann, der kurze dunkle Haare und eine schwarze Lederjacke trägt. Er gilt als klug, einflussreich und angesehen in der rechten Szene.

Doch jetzt fängt Wohlleben zu jammern an: Wie konnte Vater Mundlos denn das Auto seines Sohnes einfach so wegfahren? Die drei seien mit seinem Peugeot geflüchtet, weil das Auto neuer war, soll er zu Mundlos gesagt haben. Der Uwe hätte ihm dafür seinen Wagen dagelassen. Uwes Vater solle ihm den Wagen zurückgeben, er müsse zur Arbeit kommen.

Wohlleben wird seit Oktober 1996 zum Lageristen ausgebildet. Er arbeitet in der Warenannahme eines Möbelhauses und gilt dort noch heute als «bester Lehrling in den vergangenen zwanzig Jahren». Er sei clever gewesen, habe eine schnelle Auffassungsgabe gehabt und sich mit allen Kollegen gut verstanden. «Eben Crème de la Crème», sagt sein damaliger Vorarbeiter.

Auf der Arbeit sei er nie politisch in Erscheinung getreten. Die ehemaligen Kollegen können sich einzig an einen auffälligen Auftritt ganz anderer Art erinnern. Für die Weihnachtsfeier 1997 hatte Wohlleben mit einem anderen Azubi ein Stück mit der Gitarre einstudiert. Zusammen sangen sie ein anzügliches Lied. Dazu trug Wohlleben ein braunes Jackett, einen roten Schlips, eine Schiebermütze – und riesige Schweinsohren aus Plastik. Ein paar Monate nach dieser Show wird er den NPD-Ortsverband Jena gründen.

Siegfried Mundlos versteht die Notlage des Freundes seines Sohnes an diesem Morgen sofort. Und er hofft, über Ralf Wohlleben an seinen Sohn heranzukommen.

Anstatt die Polizei zu informieren, fährt er Wohlleben mit seinem Auto die acht Kilometer bis nach Rothenstein. Gemeinsam kommen sie auf der B 88 durch hügeliges Bergland an Feldern und Nadelwäldchen vorbei und an Schafsgattern aus Holz. Dann passieren sie ein Industriegebiet mit Autohäusern, immer parallel zur Saale, die sich hier durch das Leutratal schlängelt. Der mutmaßliche Unterstützer des Terroristentrios und der Vater des Terroristen bilden eine Fahrgemeinschaft.

Auf der Fahrt versucht Vater Mundlos immer wieder zu erfahren, was Ralf Wohlleben weiß. Will sich sein Sohn ins Ausland absetzen? Wie lange will er wegbleiben? Wo sind die drei jetzt? Er nutzt die paar Minuten, um etwas aus Wohlleben herauszubekommen. Uwe soll sich unbedingt noch mal bei ihm verabschieden. Aber Ralf Wohlleben schweigt.

 

Am selben Tag werden die Kollegen der Ermittlungsgruppe Terrorismus des Landeskriminalamts Thüringen kreativ.

Am Morgen dieses 28. Januar erhalten sie neue Informationen, die in den Ermittlungen später nie wieder eine Rolle spielen werden – die ihnen aber jetzt helfen.

Durch die Auswertung der Post aus Uwe Mundlos’ Schreibtisch wissen die Kriminalpolizisten von Briefen, die Mundlos einem deutschen Neonazi geschrieben hat, der in die USA ausgewandert ist.

Ein LKA-Fahnder des Dezernats 61USA