Eric-Emmanuel Schmitt
Hotel zu den zwei Welten
Theaterstücke
Aus dem Französischen von Annette und Paul Bäcker
Fischer e-books
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in St.-Foy-les-Lyons, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten. Er lebt heute in Brüssel. Seine erste Prosapublikation in deutscher Sprache ›Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran‹ (Fischer Taschenbuch Band 16117) begeisterte Hunderttausende von Leserinnen und Lesern und wurde mit dem Deutschen Bücherpreis 2004 als »Publikumsliebling des Jahres« ausgezeichnet. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Für seine Theaterstücke wurde Eric-Emmanuel Schmitt u.a. 2001 mit dem Grand Prix du Théâtre de l’Académie française ausgezeichnet. Zuletzt erschien in deutscher Übersetzung: ›Die Träumerin von Ostende‹, Frankfurt 2011.
Die deutschsprachigen Aufführungsrechte für alle Stücke in diesem Band in der Übersetzung von Annette und Paul Bäcker werden vom Theater Verlag Desch GmbH, München vergeben.
© Eric-Emmanuel Schmitt c/o Theater Verlag Desch (München) durch Édition Albin Michel, Paris
Für diese Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Covergestaltung: bürosüd°, München
Coverabbildung: Cathérine Cabrol
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402244-4
Es gibt immer ein erstes Mal …
Mein erstes Mal erlebte ich als Zehnjähriger im Theater Célestins in Lyon, meiner Heimatstadt. Meine Mutter setzte meine große Schwester und mich, mit den Eintrittskarten in der Tasche, auf der Freitreppe ab und versprach, uns drei Stunden später wieder abzuholen.
In dem vollbesetzten, von Flüstern erfüllten Saal brachte uns eine mürrische Platzanweiserin in die erste Reihe, was meiner großen Schwester gar nicht gefiel. »Von hier aus können wir den Schauspielern ja direkt in die Nasenlöcher schauen! Wir bekommen ihre ganze Spucke ab!«, maulte sie und drückte sich an die Rückenlehne. Noch bevor sich der Vorhang hob, war ich fasziniert.
Wovon? Von eben diesem Vorhang. Es handelte sich um ein Ölgemälde, das wie voluminöser, durch viele Falten aufgebauschter Samt wirkte, mit vergoldeten Stickereien am Rand und mit Raffhaltern, von Perlen besetzt. Diese Mogelei fand ich armselig und prachtvoll zugleich – armselig, da ich genau sah, dass der gemalte Stoff zweidimensional war und nur prunkvoll wirkte, weil er einen üppigen Faltenwurf vortäuschte. Dadurch, dass ich die Augen zusammenkniff und das Bild durch die halb geschlossenen Lider betrachtete, meinen Blick mal unscharf, mal präziser fokusierte, versuchte ich, auf den Trompe l’oeil-Effekt hereinzufallen. Vergebens! Die einzige Möglichkeit, mich selbst hinters Licht zu führen, ergab sich nicht durch Sehen, sondern rührte vom Kopf her: man musste sich auf die Täuschung einlassen. Noch ehe das Stück angefangen hatte, ahnte ich, dass jedes Vergnügen, das ich haben würde, ebenso stark von mir selbst abhing wie von dem, was sich auf der Bühne abspielte.
Der Vorhang schwang sich zum Schnürboden empor, wo ich die Kulissen in Form von bemalten Leinwänden entdeckte. Wieder saugte sich meine Aufmerksamkeit an den Details fest: Auch wenn ich glauben konnte, dass es Perspektiven gab, Tiefen, so würden sich, wenn jemand eine Tür zuschlug, die Bühnenbilder leicht bewegen und somit verraten, dass sie flach waren. Der Gipfel wurde im zweiten Akt erreicht, der in einem Laden spielt: Dort hingen an alten Holzbalken Schinken aus Pappe, die mich restlos faszinierten! Innerhalb einer einzigen Sekunde schwankten diese Schinken zwischen echt und falsch; mal hielt ich sie aufgrund ihrer Formen und ihrer Farben für echt, mal aufgrund ihrer hohlen Leichtigkeit für unecht; doch sobald ich sie für unecht hielt, erschienen sie mir plötzlich echt. Kurz und gut, ich erlag dem Reiz des Bühnenzaubers, diesem ständigen Hin und Her zwischen wahr und falsch. Diese Schinken aus Pappe waren es, die mir den Zugang zum Theater erschlossen – diesem Ort, an dem die Realität die Hilfe der Einbildungskraft braucht, um existieren zu können. Ja, während ich das Theater nicht brauchte, brauchte das Theater mich, denn auf diese trügerische Welt fällt nur herein, wer sich täuschen lassen will. Ich freute mich unbändig, dass mir eine Rolle zufiel.
Und das Stück selbst? Nun, wie die Bühnenwirksamkeit brauchte es zwei Akte, um mich in seinen Bann zu ziehen – und Cyrano de Bergerac hat zum Glück fünf Akte! Die Tatsache, dass die Personen auf der Bühne in Versen sprachen, überraschte mich keineswegs: im Gegenteil. Ihre künstliche Sprache passte in meinen Augen bestens zu dieser Welt der Illusionen. Warum hätten sie wie jedermann sprechen sollen, diese bunt gemischten Männer und Frauen, die sich ohnehin nicht in einem normalen Universum bewegten? Ihre Sprache – präzise, ausgefallen, poetisch –, ihre Brillanz, die virtuose Schlagfertigkeit gehörten mit zum Schauspiel. Jede sprachliche Banalität hätte die Kontinuität der Verzauberung gebrochen.
Als Nächstes fesselte mich die Handlung. Der großartige Cyrano, der glaubt, dass er nicht in der Lage ist, eine Frau zu verzaubern, überraschte mich: Als er begreift, dass die vornehme Roxane seinen Rivalen Christian bevorzugt, verbirgt er seine Enttäuschung und unterstützt Christian, der ebenso gutaussehend wie dumm ist. Anstelle des dümmlichen Schönlings ersinnt er des Nachts Sätze der Liebe und bringt am Rande des Schlachtfelds feinsinnige Briefe an das geliebte Wesen zu Papier. In atemloser Spannung verfolgte ich mit, wie Christian bei der Belagerung von Arras stirbt und Cyrano überlebt. Zwanzig Jahre später gesteht ihm Roxane, sich kaum noch an Christians hübsche Züge zu erinnern, dass sich aber jedes einzelne Wort, das er ihr jemals schrieb, ins Herz eingebrannt habe. Der bereits mit dem Tode ringende Cyrano erkennt, dass er sehr wohl hätte geliebt werden können, und vor allem, dass Roxane in Wahrheit ihn liebte. Doch es ist bereits zu spät; er stirbt.
Hatte ich anfangs noch über Cyranos Possen gelacht, so kämpfte ich bald schon gegen meine Ergriffenheit an, je mehr sich das Geschehen verdüsterte. Irgendwann konnte ich mich dann nicht länger beherrschen und begann zu schluchzen; und zu meiner Beschämung brach ich sogar in Tränen aus.
Welch sonderbare Tränen … so schmerzlich und so angenehm zugleich … Zum ersten Mal in meinem Leben weinte ich nicht um mich, sondern um einen Anderen. Ich, ein Kind, das sich ohne Zweifel geliebt fühlte, war plötzlich voller Empathie, gab meine bisherige Sichtweise auf, ließ meinen Egoismus hinter mir, fühlte mit einer fremden Person mit; ich verspürte das Leid und das Mitgefühl, von dem Aristoteles spricht, oder vielmehr den Kummer des Mitgefühls. Meine Tränen hatten einen Namen; es waren altruistische Tränen, philanthropische Tränen. Ein bislang unbekanntes Gefühl der Brüderlichkeit mit einer Person aus einem früheren Jahrhundert, mit der ich absolut nichts gemeinsam hatte, erweiterte mein Bewusstseinsfeld der Anteilnahme.
Als im Saal die Lichter angingen, dachte ich, die anderen Zuschauer – allen voran meine Schwester – würden sich über mein verheultes Gesicht lustig machen. Doch als ich es dann wagte, mich umzublicken, sah ich nur gesenkte Blicke, verquollene Augen und gerötete Nasen.
Diese Entdeckung versetzte mich in einen euphorischen Zustand. Meine Tränen hatten mich nicht nur gewandelt, ich teilte sie auch mit achthundert Erwachsenen. Während ich von der Menschenmenge zum Ausgang geschoben wurde, gelobte ich mir, so bald wie möglich an diesen magischen Ort zurückzukehren.
Meine Mutter erwartete uns im Foyer und war gerührt, als sie unsere bestürzten Mienen sah. Sie beugte sich herab und nahm mich in die Arme.
»Und, hat es dir gefallen?«
»Ja. Sehr. Später will ich das auch machen.«
»Was – das?«
»Alle zum Weinen bringen.«
»Du willst Schauspieler werden wie Jean Marais?«
Sie dachte an ihr großes Idol, den Schauspieler Jean Marais, den Geliebten des Dichters Cocteau, der die Rolle des Cyrano gespielt hatte.
Ich schüttelte den Kopf, blickte zum Plakat und las, was darauf stand: »Nein, ich will Edmond Rostand werden.«
Zwar haben mich in der Folgezeit andere Schriftsteller geprägt und noch tiefgehender inspiriert – Sophokles, Molière, Marivaux, Pirandello, Shaw, Anouilh, Ionesco…, doch Edmond Rostand bleibt für mich eine Quelle, zu der ich immer wieder zurückkehren kann.
Cyrano de Bergerac ist ein Paradebeispiel für ein Theaterstück, das populär ist und zugleich bildet. Obwohl es seit seiner triumphalen Generalprobe Millionen von Zuschauern gefesselt hat, ist es in erster Linie ein Schauspiel in Versform, von einem Dichter geschrieben und einem anderen Dichter gewidmet. Edmond Rostand hat bewiesen, dass man auch mit Kultur die Massen bewegen kann, sofern man sie wirklich vermitteln will. Wenn elitäre Inhalte nicht auf den kleinen Kreis der geistigen Elite beschränkt werden, können sie jeden berühren. Indem ich in einige meiner eigenen Stücke – Der Besucher, Der Freigeist, Hotel zu den zwei Welten – philosophische Inhalte einbrachte, habe auch ich diesen Versuch unternommen.
Dieser Cyrano war der Grundstein, auf den mein ganzes Theaterleben aufbaute: Ich habe ihm nicht nur meine erste Erfahrung mit dem Theater zu verdanken, sondern auch mein erstes Erlebnis des Humanismus, das mich im Gleichklang schwingen ließ mit Personen, die mir so fernstanden. Ich verließ die Vorführung mit einem Gefühl der spirituellen Bereicherung.
Das Theater ermöglicht eine humane Erfahrung. Aber aufgepasst, ich spreche mit Absicht von »humaner Erfahrung«, da es sich um eine aktive Teilnahme handelt, nicht um eine Lektion, die einem erteilt wird. Der Zuschauer spürt das Humane, diese schicksalhafte Verbindung, die man mit anderen teilt, mittels Freude und Ergriffenheit.
Später, während meines Philosophiestudiums und nachdem ich es abgeschlossen hatte, konnte ich den Humanismus als Geisteshaltung benennen und darüber diskutieren. Doch nichtsdestotrotz hatte ich ihn zuvor auch gespürt … Und genau das unterscheidet die Kunst von der Philosophie.
Die Philosophie erklärt, das Theater präsentiert.
Philosophie urteilt, Theater erzählt.
Philosophie regt zum Diskutieren an, das Theater zum Fühlen.
Philosophie will überzeugen, das Theater will die Menschen berühren.
Das Theater bedient sich der Gefühle, um die Grenzen des Geistes zu verrücken; die Philosophie bedient sich der Logik. Sie wendet sich nur an einen Teil des Geistes, an den Intellekt, während das Theater den gesamten Menschen anspricht – Intellekt, Herz, Vorstellungskraft, Körper.
Beide, Philosophie und Theater, erweisen sich als Fiktionen, doch in dem einen Fall handelt es sich um eine Fiktion mit Argumenten, im anderen um eine Fiktion ohne Argumente.
Heute, rund vierzig Jahre nach meinem ersten Theaterbesuch und nach zwanzig Jahren des Schreibens, weigere ich mich, eine Hierarchie zwischen Theater und Philosophie zu erstellen, den beiden Leidenschaften meines Lebens; ich begnüge mich damit, die Unterschiede hervorzuheben und mich zu freuen, wenn sie auf der Bühne manchmal zusammentreffen und denselben Werten dienen.
Denn diese beiden Praktiken haben einen Nutzen. Weit davon entfernt, sich selbst zu genügen, ist unser Leben ihre Bestimmung. Sie dienen dazu, uns zu besseren Menschen zu machen, unsere Ängste zu mildern, uns einander näherzubringen, das Geheimnis des Menschseins erträglich, oder besser gesagt, es bewohnbar zu machen.
Ohne diese Ansprüche ist »alle Philosophie nicht eine Stunde der Mühe wert«, wie Blaise Pascal sagte. Dem möchte ich hinzufügen, dass das Theater, solange es nur als reines Vergnügen daherkommt, es auch nicht verdient, dass man ihm eine Stunde widmet, und sei sie noch so vergnüglich.
Eric-Emmanuel Schmitt
(Hôtel des deux mondes)
»Nichts ist so sicher wie das Unsichere.«
François Villon
Julien Portal
Magier Radschapur
Doktor S…
Präsident Delbec
Laura
Marie
Ein junger Mann in Weiß
Eine junge Frau in Weiß
Eine Dekoration
Am Anfang ein äußerst seltsames Geräusch, es erinnert an einen kräftigen Luftzug …
Dieser Wind scheint eine unendliche Kraft zu haben, eine Energie, als könne er beim Durchzug alles einsaugen, alles, was auch immer, auf den Flügeln seines Sogs hinwegtragen: Menschen, Schiffe, Bäume, Häuser …
Immer stärker wird dieses Brausen, es schwillt an, wird brüllend, immer lauter, bis hin zur Unerträglichkeit, ebbt dann in ein paar Sekunden ab – und in seinem letzten Säuseln hört man, wie ein Fahrstuhl anhält.
Die Bühne wird hell.
Die Empfangshalle eines Hotels.
Dezent, aber mit allem Komfort ausgestattet, gedämpftes künstliches Licht, die für diese Art Empfangshallen üblichen Sessel und niedrigen Tische, ein Empfangsschalter – im Moment noch leer – zwei Flure, die zu den Zimmern der potentiellen Gäste führen, einer ist mit dem Buchstaben »F«, der andere mit dem Buchstaben »U« gekennzeichnet.
Das Leuchtzeichen über dem Fahrstuhl zeigt an, das gerade jemand angekommen ist. Ein leises Klingeln. Die beiden Schiebetüren des Aufzugs öffnen sich.
Ein wenig benommen, als stünde er unter Schock, reibt sich Julien, ein noch junger Mann, bekleidet mit einem hellen Regenmantel, mit einer Hand den Kopf, mit der anderen hält er sich an der Wand des Fahrstuhls fest. Nachdem er sich die Stirn massiert hat, sammelt er seine Kräfte und geht langsam über die Schwelle. Er geht noch etwas unsicher, als hätte er soeben einen Unfall gehabt, der ihn aus dem Gleichgewicht gebracht hat.
Er schaut sich einen Moment lang um, geht dann zur Rezeption. Sofort erscheint ein Angestellter, ein feingliedriger und ganz in Weiß gekleideter junger Mann, der ihn freundlich anlächelt.
Julien hält sich am Rezeptionstisch fest.
JULIEN:
Wo bin ich? (Als einzige Antwort reicht ihm der Mann sanft einen Schlüssel, den Julien an sich nimmt.) Sie haben recht, ich werde mich ausruhen. (Der Mann macht ein Zeichen. Eine junge Frau, auch ganz in Weiß, ebenso anmutig, ebenso schweigsam, erscheint und geht zu Julien. Als hätte sie zu Julien gesprochen, antwortet er ihr.) Ja, ich habe Gepäck, es ist in meinem Wagen, aber … (Er sucht in den Taschen seines Regenmantels nach den Schlüsseln, findet sie aber nicht, entmutigt.) Vergessen Sie’s, das regeln wir später … (Die Angestellte nimmt ihn am Arm und führt ihn zum Korridor »F«. Plötzlich bleibt Julien stehen und dreht sich um.) Vielleicht brauchen Sie meinen Namen …, falls jemand für mich anruft … (Der junge Mann zeigt ihm das Gästebuch.) Ach … Sie haben ihn schon eingetragen … gut … (Er scheint ziemlich verwirrt.) Ja, Sie haben recht, ich werde mich ausruhen …
Die Angestellte stützt ihn und beide gehen im Flur »F« ab.
Aus dem Flur »U« kommen zwei andere Personen, zuerst der Magier Radschapur in einem seidenen Morgenmantel, er schaut um die Ecke.
MAGIER:
Ich sag’s Ihnen, ein Neuer ist angekommen!
Ihm folgt der Präsident, ein ziemlich hagerer Mann, konservativ, distinguiert gekleidet wie Herren, die sich vor allem selbst für Ehrenmänner halten.
PRÄSIDENT:
Aber nein, ich habe nichts gehört.
MAGIER:
Klar, Sie sind ja auch taub wie ein Küchentopf.
PRÄSIDENT:
(beleidigt) Bitte?
MAGIER:
Da, sehen Sie! (Er wendet sich an den Angestellten am Empfang.) Raphael, da ist doch gerade jemand angekommen, nicht wahr? (Der junge Mann lächelt. Der Magier interpretiert das als »Ja«.) Na also, dann habe ich mich doch nicht geirrt!
PRÄSIDENT:
(überrascht) Sie nennen ihn Raphael? Ich nenne ihn Gabriel.
MAGIER:
Und antwortet er Ihnen?
PRÄSIDENT:
Selbstverständlich.
MAGIER:
Dann haben wir also beide recht.
PRÄSIDENT:
Ganz und gar nicht. (wendet sich zum Empfang) Gabriel, heißen Sie Raphael oder Gabriel? (Aber der junge Mann ist bereits wortlos verschwunden.)
MAGIER:
(setzt sich) Wieso können Sie nicht ertragen, dass wir beide recht haben?
PRÄSIDENT:
Weil Sie das eine sagen und ich das andere.
MAGIER:
Und?
PRÄSIDENT:
Weil die Wahrheit naturgemäß das eine ist oder das andere, aber nicht beides zusammen. Entweder. Oder. Entweder haben Sie recht und ich habe unrecht. Oder ich habe recht und Sie unrecht.
MAGIER:
Ihre Wahrheit kann also die meine nicht tolerieren?
PRÄSIDENT:
Richtig.
MAGIER:
Verstehe … Ein bisschen wie eine Ehefrau: Die teilt man auch nicht gern.
PRÄSIDENT:
Ich habe Frau Präsident nie, mit wem auch immer, geteilt.
MAGIER:
Das glaub ich gern. Vor allem, nachdem Sie mir gestern ihr Foto gezeigt haben.
PRÄSIDENT:
(beleidigt) Bitte?
MAGIER:
(wiederholt, als würde er zu einem Schwerhörigen sprechen) Sie haben mir gestern ihr Foto gezeigt! (Der Magier faltet seine Zeitung auseinander und fängt an zu lesen. Was den Präsidenten nicht davon abhält weiterzureden.)
PRÄSIDENT:
Haben Sie heute schon Doktor S… gesehen? (Der Magier will antworten.) Ich noch immer nicht. Dabei habe ich ausdrücklich für heute früh um einen Termin gebeten, und bisher hat man mir darauf keine Antwort gegeben. Behandelt man so einen Menschen? Ich frage Sie? (Der Magier will antworten.) Das ist völlig indiskutabel. Über jeden von uns wurden schließlich genaue und präzise Unterlagen angelegt, daher müsste Doktor S… doch wissen, mit wem er es zu tun hat. Glauben Sie, dass dieser Doktor überhaupt kompetent ist? (Der Magier will antworten.) Ich stelle fest, dass Ärzte heutzutage höchst unzureichend ausgebildet werden, man stopft sie mit Fachwissen voll wie eine Weihnachtsgans, aber das Wichtigste bringt man ihnen nicht bei: Manieren. In der modernen Medizin hat man es nicht mehr mit gebildeten Menschen zu tun, sondern mit ausgebildeten Barbaren. Meinen Sie nicht auch? (Der Magier macht den Mund auf.) Natürlich hat das mit der Verkommenheit dieser Generation zu tun, die weder Hunger, Kälte noch Krieg gekannt hat, die seit ihrer Geburt mit dem Arsch in der Butter hockt. Was kann man da schon erwarten!
MAGIER:
Präsident, schätzen Sie eigentlich die Antworten, die ich auf Ihre Fragen gebe?
PRÄSIDENT:
Bitte?
MAGIER:
(wieder wie zu einem Schwerhörigen) Ob Sie meine Antworten mögen?
PRÄSIDENT:
Was reden Sie denn da? Natürlich schätze ich eine Konversation mit Ihnen, aber, verdammt noch mal, ich wünsche keine Unterbrechung, wenn ich rede.
Der Magier stößt einen Seufzer aus und nimmt die Zeitung wieder hoch.
MAGIER:
Das Geräusch, das ich beim Lesen mache, das stört Sie doch hoffentlich nicht?
PRÄSIDENT:
Bitte?
In diesem Augenblick kommt Marie herein.
MARIE:
Viermal hab ich mein Bett gemacht, fünfmal das Waschbecken geputzt, dann die Falten von meinen Gardinen glatt gestrichen, weiß jetzt wirklich nicht mehr, was ich weiter mit mir anfangen soll. Haben Sie nicht zufällig irgend’ne kleine Arbeit für mich, weiß nicht was, Knöpfe annähen oder so?
PRÄSIDENT:
(zu Marie) Haben Sie Doktor S… gesehen?
MARIE:
Nein. Obwohl ich drum gebeten hab.
PRÄSIDENT:
Das ist unerträglich. Man behandelt mich wie eine Putzfrau!
MAGIER:
(entsetzt) Präsident!
MARIE:
Er hat recht, ich bin wirklich Putzfrau.
MAGIER:
Herr Präsident, hier gibt es für keinen Privilegien.
PRÄSIDENT:
Gleichmacherei, nehme ich an? Diese republikanische Pest hat bereits alles infiltriert. Kein Mensch achtet mehr darauf, wer wer ist. Der Wert eines Menschen hat keine Bedeutung mehr.
MAGIER:
Für mich liegt der Wert eines Menschen darin, dass er ein Mensch ist, mehr nicht.
PRÄSIDENT:
Schwachsinn! Gefährlicher Schwachsinn!
MARIE:
(zum Magier) Der Herr hat recht: Man kann doch ’nen Präsidenten nicht mit ’ner Putzfrau vergleichen.
PRÄSIDENT:
Da, sehen Sie! Sogar sie gibt das zu! Und was, liebe Frau, ist Ihrer Meinung nach der Unterschied?
MARIE:
Ähm …
PRÄSIDENT:
Doch, doch, ich bestehe darauf. Um unseren Freund hier aufzuklären … (lauter) … und Doktor S…, falls er uns zuhört! Also, was ist, Ihrer Meinung nach, der Unterschied zwischen einem Präsidenten und einer Putzfrau?
MARIE:
Meiner Meinung nach? Na ja, erst mal eine Frage des Büros …
PRÄSIDENT:
(ermutigt sie) Ja?
MARIE:
Der Präsident macht sein Büro dreckig, die Putzfrau macht es sauber.
MAGIER:
(amüsiert) Und was noch?
MARIE:
Na ja, die Art, wie man redet. Der Präsident redet mit allen Leuten, als wären sie Scheiße, die Putzfrau dagegen, als wär sie selbst Scheiße.
MAGIER:
Und weiter?
MARIE:
Ein Präsident hat einen ganzen Rattenschwanz von Titeln, die er vor und hinter seinem Namen herumschleppt: der Herr Präsident von Dingsbums, der Herr Generaldirektor der Immobiliengesellschaft der Aktien von Dingenskirchen, Mitglied des Aufsichtsrats von Dingsda, Offizier der Ehrenlegion … Eine Putzfrau hat bloß ihren eigenen Namen und noch nicht mal den, weil sie den nämlich ganz schnell verliert und dann nur noch ’nen Vornamen hat. Und vielleicht noch nicht mal den …, daher ist es schon besser, gleich Marie zu heißen, weil man …, da die Herrschaften meist ein schwaches Gedächtnis haben, ganz schnell zu Marie wird.
MAGIER:
(wendet sich an den Präsidenten) Wirklich, höchst erstaunlich, dass Doktor S… Sie trotz dieser wesentlichen Unterschiede nicht empfangen hat.
Julien kommt herein. Es scheint ihm ein wenig besser zu gehen.
JULIEN:
Guten Morgen.
Die anderen erheben sich, um ihn zu begrüßen.
JULIEN:
Gestatten, Julien Portal.
MAGIER:
Darf ich Sie mit dem Herrn Präsidenten Delbec bekannt machen, Frau …
MARIE:
… Marie, wie’s sich gehört, Marie Martin.
MAGIER:
Und ich bin der Magier Radschapur.
JULIEN:
Entschuldigen Sie, ich werde Ihnen blöd vorkommen: Ich weiß nicht so recht, was ich hier zu suchen habe. Ich kann mich nicht daran erinnern, in diesem Hotel ein Zimmer reserviert zu haben, und trotzdem, als ich hier ankam, stand mein Name bereits im Gästebuch. Wo ist der Direktor? Wo genau befinden wir uns?
MAGIER:
Was meinen Sie mit genau?
JULIEN:
Welche Stadt? Welche Straße?
MAGIER:
Keine Ahnung.
JULIEN:
Wie? Sind Sie auch erst gerade angekommen?
MAGIER:
Oh, nein. Ich bin der dienstälteste Pensionär in diesem Hotel. Ich habe mich vor sechs Monaten hier einquartiert.
JULIEN:
Entschuldigen Sie, ich bin heute Morgen ein bisschen konfus im Kopf, es gelingt mir nicht, mich richtig verständlich zu machen. Wie heißt dieses Hotel?
Die drei Gäste schweigen. Julien schaut von einem zum anderen. Keiner sagt etwas. Julien massiert sich den Schädel. Marie legt ihm eine Hand auf die Schulter.
MARIE:
Hatten Sie einen Autounfall?
JULIEN:
Ja …, nein … (Er denkt angestrengt nach.) Ich weiß es nicht. Ich war auf der Autobahn, ja, es war Nacht. Auch wenn ich beim Abendessen etwas zu viel getrunken hatte, ich hatte meinen Wagen voll unter Kontrolle, ein Parodéo, neuestes Modell, C6, kennen Sie den?
MAGIER:
Ich kenne nur zwei Arten von Autos: die mit Taxischild auf dem Dach und die ohne.
JULIEN:
Ich bin zwar schnell gefahren, aber ich habe meinen Wagen beherrscht. Ich war auf dem Weg nach Hause.
MARIE:
Hat jemand auf Sie gewartet?
JULIEN:
(senkt den Kopf) Nein.
MARIE:
Es sollte immer einer auf einen warten …, das einzige Mittel, Unfälle zu vermeiden.
JULIEN:
(empört) Aber ich hatte keinen Unfall. (Sie schauen ihn freundlich, aber skeptisch an. Er protestiert.) Ich hatte keinen Unfall! Ich hatte keinen Unfall!
(Sie schweigen. Julien setzt sich.) Ich bin in dieses Motel gekommen, um mich auszuruhen, weil ich gemerkt haben muss, dass ich am Einnicken war.
MAGIER:
Motel! Sehr komisch! Ein Motel!
Alle drei müssen lachen.
In diesem Augenblick geht der junge Mann in Weiß durch den Raum. Er schaut sie kurz mit einem zärtlichen Lächeln an. Sofort hören sie auf zu lachen.
MARIE:
(ein wenig verlegen) Sie haben recht, Emmanuel, es ist nicht nett von uns, sich über ihn lustig zu machen.
PRÄSIDENT:
(überrascht) Sie nennen ihn Emmanuel?
Aber der Angestellte ist bereits wieder verschwunden.
JULIEN:
Können Sie mir helfen?
MAGIER:
(zu Julien) In Wahrheit haben Sie, glauben Sie meiner Erfahrung, nur eine einzige Möglichkeit zu begreifen, wo Sie sind, nämlich jeden von uns nach seiner letzten Erinnerung zu befragen, bevor er hierher kam.
Der Präsident und Marie nicken.
JULIEN:
Das ist doch absurd …
MAGIER:
Eine andere Möglichkeit gibt es nicht.
MARIE:
Er hat recht. (zu Julien) Fragen Sie mich. (Julien reagiert nicht.) Nun fragen Sie schon, verdammt noch mal. (Julien schaut Marie erstaunt an, was sie für eine Aufforderung hält.) Er hat mich gefragt. (Hocherfreut beginnt sie mit ihrer Erzählung.) Marie. Meine Eltern haben mich Marie genannt. Wirklich ’ne tolle Idee. Ich war die Älteste. Es gab noch zwölf nach mir. Ich habe mein ganzes Leben lang geputzt und gewischt! Die haben mir diesen Namen Marie direkt auf die Stirn gepappt, weil sie wohl wussten, dass Besen, Schwämme und Scheuerlappen mein Schicksal sein würden. Papa war Landarbeiter, ein schöner Mann, schwarzes Haar, sehr behaart, morgens säuberlichst rasiert, hatte er bereits mittags wieder jede Menge Stoppeln, und Sie wissen ja, was das heißt: all die Haare, die wachsen und sprießen, sind ein Zeichen von Männlichkeit, was bedeutet, dass er voller Saft ist, und das heißt, dass er ständig Liebe machen muss. Und prompt warf Mama jeden Frühling ein kleines Brüder- oder ein kleines Schwesterchen. Also musste ich ihr ständig zur Hand gehen, weil ich die Älteste und sie stets ein bisschen müde war. Glücklicherweise hat Papa – weil Pascalito, der Dreizehnte, nicht ganz normal war, sein Gesicht war flach wie ’ne Sonnenblume, und er kam mit den anderen nicht so richtig mit, die Eltern erzählten überall herum, das käme davon, dass er von einem Rübenwagen gefallen wäre –, also hat Papa danach stets Kondome benutzt. Ich glaube, dass durch die häufige Benutzung Mamas Backform am Ende einen Sprung hatte.
PRÄSIDENT:
(entsetzt) Machen Sie’s kurz, machen Sie’s doch kurz.
MARIE:
Das kann ich nicht. Da man mich nie was sagen lässt, kann ich, wenn ich zufällig mal rede, nicht mehr aufhören. Kurz, vom ersten Hahnenschrei bis zum letzten Bäuerchen des Jüngsten putzte und wischte ich, hatte nie ’ne Sekunde Zeit für mich, nie Zeit zum Träumen, sodass ich, als ich achtzehn wurde, dem erstbesten Kerl, der mir beim Tanzen ans Höschen ging, erlaubte, mich in seiner alten Klapperkiste flachzulegen, und dann von zu Hause wegging und mit meiner Kleinen zu ihm zog. Ich hatte ihn ausgesucht, weil er Papa so ähnlich war, aber das betraf nur die Haare, denn Papa konnte schuften, konnte all seine Kinder ernähren, die ihn das Jucken zwischen seinen Schenkeln mit Mama zu machen drängte, aber der Meinige, das war ein Taugenichts. So faul wie der ist man normalerweise bloß, wenn man bereits tot ist. Und zack, fing das Ganze wieder von vorne an: Ich musste putzen gehen, um ihn zu ernähren, und dazu die zwei, die später kamen; ich hab nur Mädchen gekriegt, zu was Besserem war ich wohl nicht in der Lage, und als Gegenleistung von ihm, nie ein Dankeschön, nix, nie eine Zärtlichkeit, nicht mal die kleinste Bumserei, nix, selbst dazu war er zu faul. Ist schon was dran, dass sich ’ne Frau durch ’ne kleine Nummer, selbst wenn’s bloß eine auf die Schnelle ist, wie eine Frau fühlt.
PRÄSIDENT:
Fassen Sie sich kurz!
MARIE:
Kann ich nicht, hab ich doch gesagt!
PRÄSIDENT:
Das Ende bitte, nicht den Anfang.
MARIE:
Mein Leben ist nicht besonders erzählenswert, also, wenn ich Ihnen schon was erzähle, erzähl ich alles, hätten mich ja nicht zu fragen brauchen. Nun, eines schönen Tages ist er weg, um Zigaretten zu holen, und ist nie mehr wiedergekommen. Was eigentlich nicht so schlimm war, höchstens, dass es nicht dazu beitrug, mich attraktiver zu fühlen. Die Töchter wurden erwachsen. Ich weiß nicht, nach wem die drei kamen, vielleicht nach ihrem Großvater, auf alle Fälle hatten sie jede Menge Feuer unterm Hintern, war kaum zu glauben, die wechselten die Männer schneller als ihre Schlüpfer, und ich hatte größte Mühe, sie unter die Haube zu bringen, damit sie damit aufhörten, hinter jedem Würstchen her zu rennen. Und dann, vor einem Monat, bin ich endlich in die Frührente. Mein ganzes Leben lang hatte ich mir geschworen, dass ich meinem letzten Chef an meinem letzten Tag »Scheiße« sagen würde. Stattdessen fühlte ich mich, als ich Besen und Schaufel an den Nagel hängte, plötzlich irgendwie ganz schwer, bekam ’ne Art Schüttelfrost, und plötzlich, einfach so, mitten im Wohnzimmer, das nicht mal meins war, schlug ich der Länge nach auf dem Teppich hin und streckte alle viere von mir. Im Krankenhaus waren sie sehr nett. Ich konnts kaum glauben, dass ein Krankenhaus so was Schönes ist. Ganz sauber, ganz weiß, ohne dass ich es schrubben und putzen musste. Die Mahlzeiten wurden serviert. Junge Leute, die einen anlächelten. Ich glaube, die schönsten Tage meines Lebens hab ich wohl in diesem Krankenhaus verbracht. Sie haben mir gesagt, dass mein Herz ermüdet wäre, verbraucht, nicht normal für mein Alter. Sie haben mich in eine Reha eingewiesen. Als ich dort in La Ferronnière ankam, ein ehemaliges Schloss mitten in einem Park, mit all den Leuten, die sich aufmerksamst um mich kümmerten und mich stets mit Gnädige Frau anredeten, da dachte ich wirklich, ich wär ’ne Prinzessin geworden. Sogar der Gärtner brachte mir jeden Morgen eine Rose aufs Zimmer und machte einen so tiefen Bückling, dass ich ganz rot wurde. Als ich dann neulich die Freitreppe runterging, mich dabei fest am Geländer hielt, dachte ich, hier geht’s dir endlich gut, endlich kannst du mal über all das nachdenken, wozu du nie Zeit gehabt hast, über das Leben, den Tod, Gott, und so weiter … Ich hatte das Gefühl, klarer zu sehen, viel mehr Luft zu bekommen, dass ein neues Leben beginnen würde, alles um mich herum vibrierte, als würde ich die Dinge atmen hören. Da sagte ich mir: »Das muss es sein, das Glück«, und bums!
JULIEN:
Bums?
MARIE:
Ein neuer Anfall.
JULIEN:
Und seitdem?
MARIE:
Bin ich hier.
JULIEN:
Dann ist das hier eine Klinik? Kein Hotel?
MAGIER:
Warten Sie’s ab. Präsident, Sie sind dran.
PRÄSIDENT:
Ich werde mich kurz fassen. Meine letzte Erinnerung, bevor ich mich hier wieder fand, stammt von vorgestern. Wie jeden Morgen ging ich Punkt acht aus dem Haus. Habe das Gartengatter aufgemacht und sah rechts einen Radfahrer kommen. Auf dem Bürgersteig. Ein Halbwüchsiger. Natürlich. Er klingelte mit seiner lächerlichen Fahrradklingel. Ich dachte, dieser dumme kleine Bengel wird schon anhalten, ist doch verboten, auf dem Bürgersteig zu fahren! Bin zwei Schritte gegangen, wurde plötzlich hochgehoben, gegen eine Bank geschleudert, habe noch gespürt, wie mein Schädel gegen die Rücklehne aus Stein krachte. Ja, das war’s.
MAGIER:
Ein Opfer der Verbote.
PRÄSIDENT:
Ich habe stets alle Gesetze respektiert. Es war dieser hirnlose Pedaltreter, der sie nicht befolgt hat.
JULIEN:
(zum Magier) Und Sie?
MAGIER:
Zuckerkoma.
JULIEN:
Wenn wir in einer Klinik sind, wo sind dann die Ärzte, die Pfleger? Wieso sind dann unsere Zimmer nicht mit den entsprechenden Geräten ausgestattet?
MAGIER:
Wir sind in keinem Krankenhaus.
JULIEN:
Wo dann!
MAGIER:
Denken Sie nach.
MARIE:
Auf welchem Flur sind Sie. »U« oder »F«?
JULIEN:
In dem da.
MAGIER:
»F«? Dann hatten Sie keinen Unfall!
JULIEN:
Natürlich hatte ich keinen Unfall, das habe ich Ihnen doch gesagt. (denkt nach) Was bedeutet Flur »F«? Und wieso heißt der andere »U«?
MAGIER:
Sie werden bestimmt Doktor S… sehen …
JULIEN:
Sie haben mir gesagt, wir wären hier in keinem Krankenhaus und trotzdem gibt es einen Doktor.
MARIE:
S… Doktor S…
JULIEN:
Ich will ihn sofort sehen.
MAGIER:
Oh, mein Teuerster, Doktor S… sieht man nicht einfach so. Selbst wenn man’s versucht, schafft man’s nicht, als geschähe es aus Absicht.
MARIE:
Sind Sie sicher, dass Sie sich nicht aus Absicht um die Platane gewickelt haben?
JULIEN:
Was für eine Platane? Wovon reden Sie?
MAGIER:
Wirklich nicht? Haben Sie noch immer nicht begriffen? Nach all dem, was wir erzählt haben? Koma … Herzanfall … Verkehrsunfall … Sehen Sie wirklich keinen Zusammenhang zwischen all unseren letzten Erinnerungen?
JULIEN:
(steht auf und sieht sich um) Wollen Sie damit sagen, dass …
(Alle nicken.)
MAGIER:
Unsere letzten Erinnerungen sind alle leider … letzte Erinnerungen.
JULIEN:
(wagt kaum zu sagen, was er denkt) Also hier? (Alle nicken.) Wir sind … tot?
(Die drei anderen bekommen einen Lachanfall. Er fängt an zu schreien.) Tot! Ich bin tot! (Die drei lachen wieder. Er schüttelt den Magier.) Antworten Sie mir, verdammt noch mal! Ich bin tot und Sie lachen.
MAGIER:
Na, wenn Sie’s sind, sind wir’s doch auch.
Und die drei anderen Gäste können vor Lachen kaum mehr an sich halten.
JULIEN:
Ich bin unter Irren gelandet, ich bleibe keine Sekunde länger hier.
MARIE:
Gleich geht wieder was zu Bruch.
Julien drückt hektisch auf den Fahrstuhlknopf.
JULIEN:
Ich will hier raus.
MAGIER:
Der Fahrstuhl kommt nicht, wenn man ihn ruft.
JULIEN:
(wütend) Sehr gut. Dann nehm ich den Dienstbotenaufgang.
MAGIER:
Den gibt es nicht.
JULIEN:
Sie gehören alle in eine geschlossene Abteilung.
MAGIER:
(fröhlich) Ist schon geschehen!
Neues irres Gelächter der Gäste.
Julien rennt in einen Korridor.
MARIE:
(weiterlachend) Bei Beerdigungen hab ich mich immer totgelacht. Ist halt so, wenn man ein kleiner Spaßvogel ist.
Vor Wut schäumend kommt Julien zurück.
JULIEN:
Ich finde ihn! (rennt in den anderen Korridor ab)
MAGIER:
(zuckt mit den Schultern) Er muss es versuchen.
MARIE:
Völlig normal, dass er’s nicht glaubt. Er hat sich ja nicht draufgehen sehen …
MAGIER:
Die erste Nacht, in der ich hier war, habe ich versucht, in den Fußboden meines Zimmers ein Loch zu buddeln.
Außer Atem und verschwitzt kommt Julien in die Empfangshalle zurück.
JULIEN:
Das ist ein Skandal! Keine Ausgänge, undurchsichtige Fenster, die man nicht öffnen kann. Wenn Sie mir nicht sofort sagen, wo der Ausgang ist, schlage ich die Scheiben ein und werde hinabspringen.
MAGIER:
(ohne sich zu ihm umzudrehen) Aber sicher.
MARIE:
Ich hab’s ja gesagt, es geht was zu Bruch!
Julien verschwindet im Flur »U«, rennt in sein Zimmer, und man hört, wie die Möbel, die er gegen das Fenster wirft, kaputtgehen.
PRÄSIDENT:
Die Möbel werden kaputtgehen, aber die Scheiben werden standhalten.
MARIE:
Ich mag’s nicht, wenn was zu Bruch geht. Das bricht mir das Herz. Können doch nix dafür, die armen Sachen.
MAGIER:
Na und?
MARIE:
Ist bei mir so ’ne Art Berufskrankheit. Als Putzfrau ist man dermaßen daran gewöhnt, allein in den Häusern zu sein und so vorsichtig mit den Sachen umzugehen, dass man schließlich sogar mit ihnen spricht. Putzt man das Silber, denkt man, dass man es wäscht. Wachst man einen Tisch ein, hat man das Gefühl, dass man ihn füttert. Zerbricht man was, hat man das Gefühl, man hätte einem Menschen wehgetan, man entschuldigt sich, man druckst herum, man bringt die Scherben zum Mülleimer und fühlt sich schuldig.
Julien stürzt herein, erschöpft, aufgelöst.
JULIEN:
Das kann nicht wahr sein! Bin ich im Gefängnis, oder was? Diesen Ort hier gibt es doch nicht wirklich!
MAGIER:
Sie sind nicht aus freien Stücken hergekommen, Sie werden ihn auch nicht aus freien Stücken verlassen.
Julien bekommt plötzlich einen Schwächeanfall. Der Magier steht auf, um ihm zu helfen.
MAGIER:
Nun, nun …
JULIEN:
(blass) Das ist nicht wahr … Ich bin nicht tot … Ich bin nicht tot …
MARIE:
Langsam fängt er an zu kapieren.
Sie setzen ihn in ihre Mitte.
JULIEN:
(wie im Fieber) Ich lebe doch, ich lebe.
MAGIER:
Oh, Sie haben bestimmt schon seltsamere Situationen erlebt. In Ihren Träumen leben Sie doch auch, Sie haben einen Körper, Sie baden im blauen Meer, aber dennoch liegen Sie nackt im Bett.
JULIEN:
(befühlt sich) Ich lebe …
MAGIER:
Um zu beweisen, dass Sie leben, müssten Sie sich töten: ja. Gelingt Ihnen das, bedeutet es, dass Sie davor wirklich gelebt haben. Sollte Ihnen das allerdings nicht gelingen, kann das wiederum zweierlei bedeuten: entweder Sie sind schon tot oder unsterblich.
JULIEN:
Ich werde noch verrückt.
MAGIER:
Auch eine Lösung.
Plötzlich treten der junge Mann und die junge Frau so ein, als würde hinter ihnen eine wichtige Persönlichkeit hereinkommen.
MAGIER:
Aha, gleich kommt Doktor S…
PRÄSIDENT:
(steht auf) Ich habe einen Termin!
Der junge Mann und die junge Frau schauen mit Nachdruck auf den Magier, Marie und den Präsidenten. Anscheinend haben die drei etwas gehört.
MARIE:
(enttäuscht) Na gut.
MAGIER:
(ebenso) Einverstanden.
PRÄSIDENT:
(empört) Ich war aber vor diesem Herrn da. (dreht sich böse zu Julien um) Was sind Sie von Beruf?
JULIEN:
(tonlos) Chefredakteur einer Sportzeitung.
PRÄSIDENT:
Soso! Meinen Sie nicht, dass der Präsident von drei Unternehmen mehr wert ist als ein Chefredakteur? Nein?
Die Angestellten bestehen auf ihrem Anliegen.
Die drei alten Gäste erheben sich. Der Magier beugt sich freundschaftlich runter zu Julien.
MAGIER:
Doktor S… will mit Ihnen sprechen.
JULIEN:
Wer hat Ihnen das gesagt?
MAGIER:
(unisono) Raphael!
PRÄSIDENT:
(unisono) Gabriel!
MARIE:
(unisono) Emmanuel!
Sie verlassen den Raum. Der junge Mann und die junge Frau folgen ihnen. Julien wartet ab.
Eine Frau kommt herein. Sie ist von schlichter Eleganz, hat in der Hand ein Dossier mit Unterlagen, wie ein Arzt, der in einem Krankenhaus Visite macht.
DOKTOR S…:
Julien Portal?
JULIEN:
Ja?
DOKTOR S…:
Guten Morgen, ich bin Doktor S… (Julien ist fassungslos. Um ihm seine Befangenheit zu nehmen, lächelt ihn Doktor S… an, macht dann eine Geste, dass er sich setzen soll. Dann sanft:) Haben Sie Angst?
JULIEN:
Ein bisschen.
DOKTOR S…:
Haben Sie verstanden, wo Sie sich befinden?
JULIEN:
Sagen Sie mir, dass es nicht wahr ist!
DOKTOR S…:
Sie sind mit zweihundert Kilometern in der Stunde von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt.
JULIEN:
(zweifelnd) Ich kann mich nicht im Geringsten daran erinnern.
DOKTOR S…:
Natürlich, Sie waren ja eingeschlafen. (blättert in ihrem Dossier) Lassen Sie mich in Ihren Unterlagen nachschauen.
JULIEN:
(zu sich) Ein Baum … Mein Ende, zerquetscht an einem Baum. Zum Glück war ich allein …
DOKTOR S…:
(automatisch) Ein Pluspunkt für Sie.
Julien, als würde er aus einer Betäubung erwachen, schaut nun aufmerksam Doktor S… an. Er sieht ihre strahlende Schönheit, und seine Augen, die eines Mannes, der die Frauen liebt, beginnen zu leuchten.
JULIEN:
So habe ich Sie mir nicht vorgestellt.
DOKTOR S…:
Was soll das heißen?
JULIEN:
So schön.
Sie lächelt und vertieft sich wieder in das Dossier.
DOKTOR S…:
Vierzig Jahre alt. Aus begüterter Familie stammend. Gutes Studium. Keine größeren chirurgischen Eingriffe. Keine schwerwiegenden Erkrankungen.
JULIEN:
(zynisch) Tod bei bester Gesundheit.
DOKTOR S…:
Verschiedene berufliche Wechsel. Eine gewisse Labilität lässt Sie alle zwei Jahre den Arbeitsplatz wechseln. Nicht verheiratet.
JULIEN:
Nehmen Sie mich trotzdem?
DOKTOR S…:
Ich fälle kein Urteil, ich ziehe Bilanz. (Sie schlägt die Beine übereinander.)
JULIEN:
(schaut sie mit Begierde und Erstaunen an) Hätte ich gewusst, dass mein Tod so schöne Beine haben würde …
DOKTOR S…:
Versuchen Sie mich zu verführen?
JULIEN:
Was hätte ich davon?
DOKTOR S…:
Nicht auf diese Tour mit mir. In Ihren Unterlagen steht, dass Sie wie besessen den Frauen nachgelaufen sind …
JULIEN:
Die laufen schnell.
DOKTOR S…:
Sie noch schneller. Sie liefen Ihnen nach und dann, wenn Sie sie gehabt hatten, vorne weg. Sie haben sie alle verlassen.
JULIEN:
Es ist ungerecht, dem die Schuld an einer Trennung zu geben, der zuerst merkt, dass die Beziehung keine Zukunft hat.
DOKTOR S…:
(ironisch) In allem schnell.
JULIEN:
Ich habe nie eine Frau kennengelernt, durch die ich treu geworden wäre.
DOKTOR S…:
Als würde das von ihr abhängen.
JULIEN:
(ungeduldig) Ich habe viel Freude bereitet und auch viel Kummer, was ja irgendwie zusammenhängt. Die meisten Frauen, die ich traf, wollten keine Liebe, sondern Liebesgeschichten. (steht plötzlich wütend auf) Worüber reden wir eigentlich? Sie werden mir doch keine Zensuren geben wollen? Sie werden mir doch nicht einreden wollen, dass sie existiert, diese alte Mär vom Paradies, von der Hölle, von gewogenen Seelen und vom Jüngsten Gericht? Ich nehme Ihr Urteil nicht an. Ich bin tot. Reicht das nicht?
DOKTOR S…:
Sie irren sich, und wie. (ruhig) Erstens, ich bin Doktor S… Zweitens, Sie sind nicht tot.
JULIEN:
(erschüttert) Was?
DOKTOR S…:
Selbstverständlich.
JULIEN:
(überschwänglich) Ich hab’s gewusst. Ich hab’s gewusst. Verdammt noch mal! (boxt wie gegen einen unsichtbaren Gegner) Ich lebe! Lebe! (und scheint plötzlich wieder wie zwanzig zu sein)
DOKTOR S…:
(schaut ihm amüsiert zu) Das wiederum habe ich nun auch nicht gesagt.
JULIEN:
Was?
DOKTOR S…:
Dass Sie leben.
Julien verschließt sich. Er will nichts mehr hören.
JULIEN:
Hören Sie, ich will nicht mal mehr versuchen, das zu verstehen, was man hier alles erzählt. Da ich mich auf meinen zwei Beinen halten kann, kann ich doch gehen?
DOKTOR S…:
Das hängt nicht von Ihnen ab.
JULIEN:
Wollen Sie mich daran hindern?
DOKTOR S…:
(sanft) Auch nicht von mir.
JULIEN:
Hören Sie, Doktor Dingsbums, ich habe keine Ahnung, wie ich in Ihre Klinik gekommen bin, wahrscheinlich bin ich am Steuer eingeschlafen, bin gegen einen Baum gedonnert und war bewusstlos, als man mich hierher transportierte. Jetzt fühle ich mich wieder ganz in Ordnung, ich brauche Sie also nicht mehr und ich ziehe meinen Hut und tschüss. (Er drückt hektisch auf den Knopf vom Fahrstuhl.) Und sagen Sie Ihrem Fahrstuhl, er soll endlich kommen.
DOKTOR S…:
Wollen Sie wieder von vorn anfangen? Fahrstuhl? Treppen, die nicht zu finden sind? Scheiben, die nicht zu Bruch gehen?
Auf ein Zeichen von Doktor S… hin erscheinen die beiden Gehilfen, jeder stellt sich an einem Korridoreingang auf, um zu verhindern, dass Julien wegläuft. Sie deutet ihm an, dass er sich setzen soll, was er aber kategorisch ablehnt.
JULIEN:
Das ist doch verrückt! Bin ich in einem Gefängnis, oder was?
DOKTOR S…:
Sie sind in Gefahr, Julien, in großer Gefahr. Wir müssen darüber reden. Dann werden Sie verstehen. (Wieder auf ein Zeichen von ihr gehen die beiden Angestellten in den hinteren Teil des Raums. Sie schieben ein Stück der Wand weg, dahinter erscheint eine Leuchttafel, eine merkwürdige Armatur, die vom Publikum nicht ganz genau gesehen werden kann.) Vor etwa einer Stunde ist Ihr Wagen mit mehr als zweihundert Kilometern in der Stunde gegen einen Baum gerast. Ich ziehe es vor, Ihnen nicht den Zustand der Karosserie, auf die Sie so stolz waren, zu beschreiben. Ich ziehe es auch vor, Ihnen nicht Ihren Zustand zu beschreiben.
JULIEN:
Was erzählen Sie da bloß!
Doktor S… nimmt ihn an der Hand und führt ihn nach hinten zur Leuchttafel.
DOKTOR S…:
Der Krankenwagen hat sie gerade bewusstlos, verschwollen, mit gebrochenen Knien, eingedrückten Rippen in die Notaufnahme des Krankenhauses Descartes gebracht. Ein hoch qualifiziertes Team von Ärzten bemüht sich, Ihnen das Leben zu retten. Sehr optimistisch sind sie nicht. Sie halten den Atem an, um den Ihren zu erhalten. Die tun ihr Bestes. (Sie zeigt auf die Leuchttafel, auf der man aufblinkende Punkte ahnt, Kurven, die auf- und absteigen.) Alle Männer und Frauen, die hier Quartier genommen haben, sind gerade dabei, auf der Erde entscheidende Stunden durchzumachen. Überwacht von Ärzten, Krankenschwestern oder ihren Angehörigen, angeschlossen an Schläuchen, Infusionen, Elektroden befinden sie sich in dem Zustand, den ihr dort unten Koma nennt. Also zwischen Leben und Tod. Also hier. (Sie führt ihn zu den Sesseln zurück. Er bewegt sich wie ein Schlafwandler.) Sie haben hier abzuwarten, hier im Hotel zum Koma. Hier sind Sie frei von all den Schmerzen, die Ihr Körper dort unten durchmachen muss.
JULIEN:
(beinahe überzeugt) Ich glaube Ihnen nicht. Sie wollen mir einreden, dass sich mein Körper woanders befindet?
DOKTOR S…:
Tut Ihnen Ihr Knöchel weh? Sie hatten sich doch vor zwei Tagen eine schlimme Verstauchung zugezogen, er war so geschwollen, dass Sie kaum auftreten konnten. Tut er Ihnen jetzt weh?
Julien realisiert, dass er seinen Fuß sehr gut bewegen kann.
DOKTOR S…:
Sehen Sie. Ihr Körper aus Fleisch und Nerven, Ihr verletzter Körper liegt auf einem Operationstisch in der Intensivstation. Hier sind Sie, um abzuwarten.
JULIEN:
Was abzuwarten?
DOKTOR S…:
Dass sich Ihr Schicksal entscheidet. Entweder Sie werden gerettet, und der Fahrstuhl bringt sie runter, damit Sie wieder auf der Erde aufwachen. Oder Ihre Reanimation misslingt, und der Fahrstuhl fährt mit Ihnen nach oben.
Julien hat diese Erklärung aufgenommen wie einer, der einen Schlag auf den Kopf bekommen hat. Zögernd schaut er sich um.
JULIEN:
Was ist da oben?
DOKTOR S…:
Genug Neuigkeiten für den Augenblick.
JULIEN:
Der Tod?
DOKTOR S…:
Das, was Sie den Tod nennen.
JULIEN:
Also nichts mehr?
DOKTOR S…:
Sozusagen die Aufhebung des hiesigen Lebens. (Pause.) Mein Job ist es, Ihre Durchreise zu organisieren, Ihnen so wenig Information wie möglich zu geben.
JULIEN:
Wer hat Sie angestellt?
Doktor S… geht zur Leuchttafel, andere Aufgaben warten bereits auf sie.
DOKTOR S…:
Sie müssen mich entschuldigen. Da ist etwas im Gange, betrifft den Patienten auf Zimmer »U2«. (Sie will gehen.)
JULIEN:
Eine letzte Frage, was bedeutet Flur »U« und Flur »F«?
DOKTOR S…:
Wie? Noch nicht erraten? Flur »U« ist für Unfälle, Flur »F« für »Freiwillige«, oder anders gesagt: für Selbstmörder.
JULIEN:
Das ist doch Unsinn. Sie haben mich auf Flur »F« einquartiert. Ich habe mich nicht umbringen wollen, ich hatte einen Unfall.
DOKTOR S…:
Ah ja?
JULIEN:
Ich bin nicht freiwillig gegen diesen Baum gefahren!
DOKTOR S…:
Ah ja? (laut) Herr Julien Portal, nicht nur, dass Sie vorhin Alkohol im Blut hatten, Sie sind seit Jahren Alkoholiker. Sie haben es auch mit anderen Drogen versucht, sanfteren, stärkeren, selteneren, aber stets war es der Alkohol, der Ihnen die Flucht vor sich selbst am besten ermöglichte. Alle ihre Unternehmungen waren dabei zusammenzubrechen, Ihre Zeitung stand vor der Pleite, was Ihnen vollkommen egal war, in den Augen Ihrer Mitarbeiter erschien Ihr Verhalten immer absurder, seit Monaten hatten Sie alle Brücken hinter sich abgebrochen und steuerten sichtlich auf Ihren Untergang zu. Sie werden also verstehen, dass man an dem Morgen, als man Sie voll wie eine Haubitze mit zweihundert Sachen um einen Baum gewickelt findet, zu dem Schluss kommt, dass das ein Selbstmord ist, ein langer und geplanter Selbstmord.
Julien sitzt mit offenem Mund da.
JULIEN:
Ein langer, geplanter Selbstmord? Ich?
DOKTOR S…:
Ja, durch Alkohol! Der Selbstmord der Feigen. (Sie bricht das Gespräch ab.) Ich bitte Sie jetzt um Entschuldigung, ich muss mich um einen Patienten kümmern.
Sie geht ab.
Julien bleibt sitzen, gebrochen, stumm, geschockt durch das, was er gerade hat hören müssen.
Der Magier streckt seinen Kopf in den Raum. Er hat jetzt einen orientalischen Turban mit einem Mondstein auf dem Schädel, prüft, ob Julien allein ist, geht dann zu ihm und hält ihm seine Visitenkarte hin.
MAGIER:
»Magier Radschapur, Weissagungen aller Art, Hellsehen auf Bestellung, Astrologie, Ahnenkonsultation, Tischrücken, Beschau von Hühnergedärm, transzendentale Meditation, Magier Radschapur, alle tausendjährigen Lehren des Vorderen und Mittleren Orients.« (Pause.) Selbstverständlich ist mein richtiger Name Marcel. Marcel Pelucha. Geboren in der Rue des Filles du Calvaires, Paris, im Viertel République. Wie konnten sich bloß die Chromosomen und Eizellen, diese kleinen intelligenten Biester, so irren? (Pause.) Soll ich Ihnen die Zukunft voraussagen?
Wütend erwacht Julien aus seiner Niedergeschlagenheit.
JULIEN:
Sie nehmen mich auf den Arm.
MAGIER:
Ein bisschen. Aber es gibt Leute, die das wünschen. Die mich sogar dafür bezahlen.
JULIEN:
Ganz bestimmt nicht hier.
MAGIER:
Sogar hier! Sie können sich gar nicht vorstellen, was für ein hübsches Sümmchen ich mir hier seit sechs Monaten beiseite legen konnte. Das einzige Problem ist, dass mir dieses Geld momentan nichts nutzt und dass die Zukunft ungewiss ist. Aber immerhin, es beschäftigt mich.
Julien schlägt mit Fäusten gegen die Wände.
JULIEN:
Es ist empörend!
MAGIER:
(bezieht das auf sich) Na ja, sechs Monate Koma entschuldigt schon einiges, oder?
JULIEN:
Nein, ich meine diesen Ort hier! Dieses Warten!
MAGIER:
Was soll’s! Dieses Gefängnis oder ein anderes, wo ist der Unterschied? Von hier oder von woanders kann man auch nur durch das Fenster des Todes fliehen, und man weiß nie, wohin es führt.