Wolf Schneider

Die Wahrheit über die Lüge

Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben

Inhaltsverzeichnis

1 Warum wir den Irrtum brauchen und die Lüge lieben

Die beliebtesten Irrtümer

2 «Die Sterne lügen nicht»

3 «Unser Wetter lenkt der Mond»

4 «Die Außerirdischen kommen!»

5 «Lotto macht Millionäre»

LEXIKON der Unwahrscheinlichkeiten

ZWISCHENFRAGE: Was folgt aus Fukushima?

6 «Schön war die alte Zeit»

7 «Schön wird die Zukunft sein»

PROGNOSE: Zeppeline beherrschen die Welt!

ZWISCHENFRAGE: Ist Optimismus realistisch?

8 «Und dieser wunderbare Goethe!»

Die törichtsten Irrtümer

9 Omen und Orakel

LEXIKON des Aberglaubens

10 Hexenwahn und Cargo-Kult

11 Die Lust am «Weltuntergang»

LEXIKON der Weltuntergänge

CHRONIK der Weltuntergänge

Die großen Irrtümer der Weltgeschichte

12 «Die Erde ist 6000 Jahre alt»

13 «Kolumbus hat Indien erreicht»

ZWISCHENSPIEL: Wo Goethe irrte – und warum er den Irrtum lobte

14 Die Frechheit des Kopernikus

15 Der Irrtum des Kopernikus

16 Wie Darwin die Bibel umstülpte

ZWISCHENFRAGE: Was ist Wahrheit?

Die zwielichtigen Irrtümer

17 Wo die Erwartung Wunder wirkt

ZWISCHENSPIEL: Der Aberglaube an den Aderlass

18 Was für die Schadenfreude spricht

19 Warum wir Vorurteile brauchen

Die Irreführung

20 Von der Werbung umschmeichelt

21 Von Schlagworten gegängelt

22 Durch Utopien betäubt

23 Von Journalisten eigenwillig informiert

ZWISCHENFRAGE: Gibt es die «objektive» Nachricht?

24 Von Journalisten beschummelt

25 Von Journalisten in Panik versetzt

26 Von Journalisten entmündigt

Die Lüge

27 Lügen haben lange Beine

ZWISCHENSPIEL: 73 Chancen, die Wahrheit zu umgehen

28 Das Lügen vor Gericht

ZWISCHENFRAGE: Lügen alle Kreter?

29 Die Lüge in der Politik

ZWISCHENSPIEL: «Im Lügen beweist sich die englische Liberalität»

30 Die elektronische Lüge

31 Die lohnende Lüge

32 Die abgeworfene Last

33 Lob der «Lebenslüge»

Namen- und Sachregister

1
Warum wir den Irrtum brauchen
und die Lüge lieben

Mein Gott, die Wahrheit! Wer kennt die schon – wer will sie auch nur hören! Die Gastgeberin, dass ihr Essen leider ungenießbar war? Die Ehegatten, die sich glücklich fühlen, solange der eine dem anderen die Wahrheit erspart? Die Trauergemeinde bei der Beerdigung? Der durchgefallene Bewerber, dass er an schierer Dummheit gescheitert sei?

Natürlich, es gibt üble Formen der Lüge: Meineid, Betrug, Verleumdung. Üble Formen der Wahrheit aber auch: Oft ist sie verletzend, manchmal brutal und meistens unbequem. Wir haben recht, sie nicht zu mögen. Es ist die Lüge, die uns wärmt. Ihr auszuweichen, ist sowieso unmöglich: «Alle Menschen sind Lügner», schrieb Paulus, der Apostel (Römer 3,4); wahrhaftig sei nur Gott.

Lügen also auch Kardinäle? Selbstverständlich! «Zwei Dinge sind im Vatikan absolut nicht zu haben», soll Johannes Paul I. gesagt haben, der 1978 am 33. Tag nach seiner Wahl zum Papst tot im Bett gefunden wurde: «Ehrlichkeit und eine gute Tasse Kaffee.» Politiker lügen natürlich, zumal im Wahlkampf – das bestreitet niemand. Wir alle lügen fast täglich im Büro, oft auf der Party und manchmal im Bett. Wir lügen mit Worten (130 Begriffe besitzen wir für die Spielarten der Lüge, auf S. 221 werden sie vorgestellt); wir lügen mit Gesten, viele auch mit Botox oder Silikon.

Dass wir die Wahrheit verfälschen, verhehlen und sie meist auch gar nicht hören wollen, ist indessen nur einer der zwei Gründe, warum sie eine so geringe Rolle spielt auf Erden. Die andere, die noch häufigere Ursache dafür lautet: Wir haben zwar nichts gegen die Wahrheit, aber wir kennen sie nicht – wir irren. Wer die Wahrheit nicht kennt, kann sie nicht verbiegen.

Da könnte man meinen, auf diese Weise werde die Zahl der Lügen sinnreich vermindert. Doch das wäre wiederum ein Irrtum. «Lüge»: Das ist kein objektiver Tatbestand; es ist vielmehr der Ausdruck unserer subjektiven Entscheidung, eine falsche Aussage über etwas zu machen, was wir für wahr halten.

Und was kommt da alles zusammen! Selbsttäuschung, Trugschluss, Missverständnis, Fehlurteil gehören zu unserm Alltag; Verwechslung, Verkennung, Über- oder Unterschätzung ebenso; vieles geschieht nur aus Versehen, wir verrechnen und verschreiben uns; keiner ist frei von Illusionen, und in Millionen Hirnen spuken fixe Ideen, Wahnvorstellungen und Hirngespinste. Unsere beliebtesten und hartnäckigsten Irrtümer nennen wir, durchaus kritisch, Vorurteile; aber Kapitel 19 wird beweisen, dass wir ganz ohne die nicht leben können.

Frei von Irrtum, «unfehlbar» unter allen sieben Milliarden Menschen ist nach katholischer Lehre allein der Papst – auch er aber nur, wenn er ex cathedra eine Glaubenslehre verkündet. Wir andern, wir alle taumeln fröhlich durch die Sümpfe der Ahnungslosigkeit. Welcher Lottospieler, der sich ans Steuer setzt, macht sich schon klar, dass er im Lauf eines Jahres zwölfmal wahrscheinlicher den Unfalltod erleiden als einen Sechser treffen wird? Was schadet es aber, wenn der sich irrt, der meint, er werde von einem guten Stern geleitet und diese oder jene Wundermedizin habe ihn geheilt? Goethe und andere schlaue Köpfe haben den Irrtum geradezu gepriesen (darüber später mehr).

Natürlich: Wie es kriminelle Lügen gibt, so gibt es auch verhängnisvolle Irrtümer – solche durch Piloten, Autofahrer und Chirurgen, Fehlleistungen, Patzer, Schnitzer und Pfusch. Nachteilige Irrtümer gibt es (wie die populäre Fehleinschätzung der Gefahren, die uns bedrohen); kostenpflichtige (wie den Glauben an die Mittelchen, die das Altwerden verhindern sollen) und historische, die uns nichts mehr angehen, aber uns amüsieren: wie der bis auf Darwin verbreitete Glaube, die Erde sei 6000 Jahre alt – oder die Prognose der amerikanischen Zeitschrift Popular Mechanics von 1946, man werde sicher noch Computer erleben, die nur eine Tonne wögen (30 Tonnen wog der ENIAC, der in Philadelphia gerade seine Arbeit aufgenommen hatte).

Sie alle werden angeleuchtet in diesem Buch. Seine Basis aber ist ein großes Staunen über die Angst, den Witz, die Phantasie, die den Irrtum und die Lüge beflügeln – und tiefe Sympathie für den Versuch von uns hinfälligen, bedrängten Menschen, uns mit dem Irrtum und der Lüge glimpflich durch dieses gefährliche Leben zu mogeln. Einen höheren Unterhaltungswert als die Wahrheit haben beide allemal.

Wie verwandt der Irrtum und die Lüge sind, zeigt am anschaulichsten das Sprichwort «Ehrlich währt am längsten». Wer das glaubt, der irrt sich. Wer’s sagt, aber nicht glaubt, der lügt schon wieder. Der Redlichkeit wird die schönste Ehre in der angeblichen «irischen Kaufmannsregel» erwiesen: «Das Geheimnis des Geschäftserfolgs ist Ehrlichkeit. Wer die vortäuschen kann, ist ein gemachter Mann!»

Die beliebtesten Irrtümer

2
«Die Sterne lügen nicht»

Warum sollten sie auch? Sie sagen ja nichts.

Die Astrologie ist die Stiefmutter aller Wissenschaften – auch derer, die wir heute so nennen. Sie ist fast 5000 Jahre alt, und anders als die primitiven Formen des Aberglaubens setzte sie bei unstreitigen Tatsachen an. Auf ihre Typologie («Typisch Widder!») vertrauen ganz unironisch viele Millionen, und selbst das Tageshoroskop («Folgen Sie Ihrer inneren Stimme», was ja nie ganz falsch sein kann) wird millionenfach gelesen, beschmunzelt, geglaubt. Die Astrologie ist der älteste kodifizierte, der am aufwendigsten gepflegte, der am hartnäckigsten verteidigte, der bis heute populärste Irrtum der Menschheit.

Es waren die Sumerer im alten Babylonien, denen im 3. Jahrtausend v. Chr. auffiel, dass sich unter den rund 5000 Himmelskörpern, die mit bloßem Auge sichtbar sind, fünf befanden, die sich übers Firmament bewegen, «Wandelsterne» also, die damals bekannten Planeten (Kapitel 14). Sollten das fünf Götter sein? Müssen wir ihnen nicht huldigen, ihren Willen zu erforschen versuchen, also ihren Weg berechnen?

Das war der Anfang aller Astronomie. Dass die etwas anderes als die Astrologie sein könnte, fiel bis ins 4. Jahrhundert nach Christus keinem ein. Für die Astrologie, schreibt Nietzsche, sei vielleicht «mehr Arbeit, Geld, Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden als bisher für irgendeine wirkliche Wissenschaft».

Der nächste Schritt der Sumerer war, den Planeten «Bedeutungen» zuzuweisen, dann ihre Stellung zur Stunde der Geburt eines Menschen zu berechnen (sein Horoskop) und daraus eine Beschreibung seines Charakters abzuleiten, ja eine Prognose für seinen Lebenslauf. Da hatten sie ihre durchaus respektable junge Wissenschaft hemmungslos mit dem schieren Aberwitz vermählt: Was die Venus angeblich bedeutet und bewirkt, das ging ja aus ihrer Position und ihrer Bewegung schlechthin nicht hervor. Doch hatte man die Planeten nach Göttern benannt – und so stand Mars, der Gott des Krieges, für Aktivität, Merkur, der Gott des Handels, für Klugheit, Saturn, der Gott der Ernte, für Erfahrung. Eine vierstufige Phantasterei also: Wir denken uns Götter mit bestimmten Eigenschaften aus, stülpen deren Namen den unschuldigen Planeten über, schreiben denen dann die Wirkungen zu, die wir für die Götter ersonnen haben – und bilden uns ein, diese Wirkungen könnten sie ausüben über Millionen Kilometer hin.

Im 3. Jahrhundert v. Chr. war die Astrologie in Griechenland populär: Da wurden günstige und verhängnisvolle Konstellationen definiert, vorteilhafte Zeitpunkte für Feldzüge und Eheschließungen ermittelt, der Ausgang von Kriegen vorhergesagt – auch nicht phantastischer, als das Orakel von Delphi (Kapitel 9) es vermochte.

Im 2. Jahrhundert n. Chr. milderte Ptolemäus von Alexandria, der die Kugelgestalt der Erde verkündete (Kapitel 13), ein verbreitetes Misstrauen gegen die Astrologie, indem er eine Weisheit in Umlauf setzte, auf die Astrologiegläubige sich noch heute gern berufen: «Die Sterne zwingen nicht, sie machen nur geneigt» – und es stehe in der Macht des Individuums, gegen diese Neigung anzuarbeiten. So war ein Horoskop nicht mehr zu widerlegen; ja, es war zu rühmen als Anstoß, auch und gerade gegen die Versuchung, durch die Sterne sein Schicksal zu meistern.

Anders wäre überdies gar nicht erklärbar, was in einem Flugzeug geschieht, wenn das Horoskop dem Piloten prophezeite: «Heute wird Sie ein großes Unglück heimsuchen.» Würden die Sterne ihn zwingen, müsste er abstürzen – und damit die vermutlich anders lautenden Horoskope seiner 200 Passagiere zur Farce machen; eine astrologische Katastrophe. Doch natürlich setzt sich der Pilot zur Wehr gegen die Geneigtmachung durch die Sterne, stürzt nicht ab und verhilft so den anderen 200 Horoskopen («Ein Kollege wird heute besonders nett zu Ihnen sein») zur Gültigkeit.

Die römischen Priester blieben misstrauisch gegenüber den Sterndeutern, schon um ihre eigene Methode der unfehlbaren Prognose, die Vogelschau, nicht zu gefährden – ja, Cicero unternahm 44 v. Chr. in seinem Buch «Von der Weissagung» einen Generalangriff auf die Astrologie: Sollten denn wirklich alle Menschen, die in derselben Minute geboren wurden, den gleichen Charakter und das gleiche Schicksal haben?, fragte er. (Auf die sieben Milliarden Menschen von heute bezogen, ist die Rechnung in der Tat kurios: 800 000 von ihnen müssen in derselben Stunde, 13 000 in derselben Minute, 222 in derselben Sekunde geboren sein.)

Und Cicero ging weiter: Er verglich das Horoskop dreier großer Römer, denen ein glorreiches Alter vorausgesagt worden war, mit ihrem Schicksal: Crassus wurde 53 v. Chr., 62 Jahre alt, im Krieg erschlagen; Pompejus, 58 Jahre alt, ermordet; und Cäsar war, 55-jährig, gerade kurz vor Erscheinen des Buches ermordet worden.

Im 4. Jahrhundert n. Chr. entschloss sich die christliche Kirche, das Erstellen von Horoskopen zu verbieten: In der Bibel kamen sie nicht vor, an Gottes unerforschlichem Ratschluss durfte nicht gerüttelt werden – und was blieb vom freien Willen eines Christenmenschen übrig, wenn alles in den Sternen stand? Wozu sollte er noch beten? Der oströmische Kaiser Justinian (gestorben 565 n. Chr.) nannte die Astrologie «Giftmischerei» und ließ auf das kirchliche Verbot das weltliche folgen.

Viele Astrologen flohen nach Persien. Mit den Kreuzrittern kamen sie wieder – und nun erst begann in Europa die große Zeit der Sterndeutung. Im 14. Jahrhundert wurden an den Universitäten von Bologna, Florenz und Paris Lehrstühle für Astrologie eingerichtet, in der Meinung, eben sie sei die perfekte Verschmelzung von Religion und Wissenschaft. Seit Julius II. (Papst von 1503 bis 1513) hielten sich mehrere Päpste einen Astrologen; die Sternkunde ließ sich ja auch christlich deuten: als Ausdruck der Harmonie der Schöpfung, im Geist des achten Psalms: «Wenn ich sehe die Himmel, deiner Finger Werk, den Mond und die Sterne, die du bereitet hast: Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst?»

Paracelsus (gestorben 1541) lehrte, der menschliche Körper sei ein Abbild des Firmaments und das Horoskop des Kranken begünstige die Diagnose und die Therapie. Luther wandte sich gegen die Astrologie und überwarf sich darin mit seinem engsten Mitstreiter, Philipp Melanchthon (1497 bis 1560), der sie an Universitäten lehrte; er mit der Begründung, sie entspringe dem Wunsch, den Willen Gottes vorauszusehen; sie sei also ein weiterer Weg zu Gott, dem Schöpfer der Gestirne.

Noch einmal waren Astrologie und Astronomie vereinigt in der Person des Johannes Kepler, der die Gesetze der Planetenbewegung entdeckte, insofern Kopernikus berichtigte und als Erzvater der modernen Astronomie betrachtet wird. Stets in Geldnot, gab er bei Bedarf den Astrologen. Kaiser Ferdinand II. empfahl ihn 1628 dem Feldherrn Wallenstein, dem er offenbar Kriegsglück verkündete. Schon im Jahr darauf zog Wallenstein ihm den italienischen Astrologen Seni vor. Der erteilte dem großen Mann, wenigstens bei Schiller, den realistischen Rat: «Flieh, Hoheit, eh’ der Tag anbricht! Die Zeichen stehen grausenhaft – lies es selbst in dem Planetenstand!»

Im 18. Jahrhundert ebbte die Begeisterung für Horoskope ab. Doch mit Horoskopen in Tausenden von Zeitungen und Zeitschriften, auch mit eigenen Publikationen haben die zeitgenössischen Astrologen einen größeren Markt als zu Zeiten Wallensteins. Und es ist ergreifend zu lesen, was da alles prophezeit und angeraten wird.

Zum einen brillieren sie mit der tausendfachen Produktion von Aphorismen zur Lebensweisheit: «Schauen Sie nach vorn, statt Ihre Kräfte in eine verlorene Sache zu stecken»/​«Lassen Sie in der Partnerschaft keine Routine aufkommen»/​«Eine Diät im richtigen Augenblick kann Wunder wirken». Wie wahr! Warnungen verbreiten sie ebenfalls: «Kein Tag für große Investitionen» zum Beispiel oder «Ein Kollege wartet, dass Ihnen ein Fehler unterläuft». Auch rätselhafte Diagnosen lassen sie durchgehen: «Sie verfügen im Juni über einen scharfen Verstand.» (Und worüber im Juli?) Dem Widder versprechen sie: «Ihre Lustpartner sind Stier, Jungfrau und Steinbock – Ihre Frustpartner Zwillinge, Schütze und Fische.»

In den Fachzeitschriften (die gibt es!) drucken sie ganzseitige Kästen mit 144 Kästchen für den Umgang jedes der zwölf Tierkreiszeichen mit den anderen (Wolken, Regen, Sonnenschein), ja mit 900 Kästchen für das Horoskop des Wassermanns an den nächsten 30 Kalendertagen, unterteilt nach den 30 möglichen Tagen seiner Geburt.

Und gern geben sie sich wissenschaftlich, immer noch: «Merkur steht in Konjunktion zum Mars. Zur gleichen Zeit läuft die Venus im Löwen ins Trigon zu Jupiter und Uranus. Dieses Mega-Kosmos-Setting weckt die Sinnlichkeit, eine Konstellation für reines Liebesglück.» Ein astrologisches Viagra! Schon im folgenden Monat aber drohen «durch das Quadrat zu Pluto im Steinbock große Fehlschläge (Jupiter – Pluto) und Massenkatastrophen (Uranus – Pluto)» – ein wahrhaft bedrohliches «Aspektgefüge».

Woher wissen sie das eigentlich? Erklären sie uns denn, auf welche Weise die Planeten das alles bewirken und bewegen über Millionen Kilometer hin – und warum überhaupt? Erklären können sie nichts. Aber ihre Behauptung, sie wüssten es, hält eine Gilde gewerbsmäßiger Sterndeuter im Geschäft: Zu stark ist die Neugier, zu beliebt das Gesellschaftsspiel, zu groß die Hoffnung auf einen Leitfaden durch die Ungewissheiten des Lebens.

Schopenhauer verspottete dies als «einen großartigen Beweis für die erbärmliche Subjektivität des Menschen»: indem er «den Gang der großen Weltkörper auf das armselige Ich bezieht, wie auch die Kometen am Himmel in Verbindung bringt mit den irdischen Händeln und Lumpereien». Man kann es milder sagen: Es ist eben ein schöner Wahn, zu glauben, wir Winzlinge seien in den Kosmos sinnreich eingebunden, mit fernen Himmelskörpern als Wächtern und Verbündeten.

Wofür, zum Beispiel, «steht» der Neptun? 17-mal so schwer ist er wie die Erde, von der Sonne 30-mal so weit entfernt wie wir, dem bloßen Auge unsichtbar – und doch mit uns beschäftigt! Er steht «für universelle Menschenliebe und ein hohes Maß an Hilfsbereitschaft» – wie schön, bei minus 200 Grad! Und wie sendet der ferne Planet seine Liebe aus? Liebt er uns – oder sorgt er dafür, dass wir einander lieben und helfen? Egal! Es ist so viel Güte im All. Solchen Glauben brauchen die meisten: Sie ertrügen es nicht, dass etwas nur sei und absolut nichts bedeute – dass der Neptun sinnlos durch den Weltraum saust (und das tut er), toter als tot.

Offen bleibt dabei die Frage, ob die Astrologen sich ihrerseits nur irren – oder ob sie es besser wissen und per Irreführung Geld verdienen. Das große Unglück, das diesem oder jenem ja durchaus widerfahren kann, prophezeien sie vorsichtshalber nie; sollten sie’s in den Sternen wirklich sehen, aber es verschweigen, dann lügen sie eben.

3
«Unser Wetter lenkt der Mond»

Ein Gott war er, die Phantasie beflügelt er seit Jahrzehntausenden, viel klarer als tags die Sonne steht er nachts am Himmel, ein riesiger Trabant mit einem Viertel des Erddurchmessers – und auf die Erde wirkt er, nach Meinung von Milliarden Menschen, noch heute segensreich herab. Überdies ist sein Rhythmus überschaubar: 29,5 Tage dauert ein Umlauf, exakt dem weiblichen Zyklus entsprechend.

Auf den Mond stützten sich folglich in den meisten Kulturen die ältesten Kalender, «Mond» und «Monat» sind in vielen Sprachen verwandt. Auch haben die Flecken auf seiner Oberfläche zu mancherlei Deutung eingeladen: in Indien ein Hase, bei uns ein Mann, bucklig oder mit einem Bündel auf dem Rücken; an ihn heftete sich die Sage, auf den Mond sei er zur Strafe für einen irdischen Frevel verbannt worden.

Die Babylonier hatten den Mondgott «Sin» zum Vater des Sonnengottes, zum obersten aller Götter erhoben. Die Bibel dagegen (1. Mose 16) und der Koran ebenso (Sure 10,6) warnen ausdrücklich davor, im Mond mehr zu sehen als das Licht der Nacht: Wer Sonne und Mond anbetet, soll gesteinigt werden! (5. Mose 17,3) – in demonstrativer Abwehr des Mondkults in Babylonien, auch in Ägypten, wo der Mondgott Thot der Götterbote und der Gott der Wissenschaften war; der alleinige, allmächtige Gott, den beide Religionen verehren, konnte keine Nebenbuhler dulden.

Die Wissenschaft aber wurde vom Mond beflügelt, von der Mondfinsternis zumal, dem einerseits unheimlichen und andererseits doch bald vorhersehbaren Ereignis: Schon im 9. Jahrhundert v. Chr. wurde in Babylonien errechnet, dass der Schatten der Erde den Mond in einem Zyklus von 6585 Tagen (gut 18 Jahren) verdunkelt. Inzwischen wissen wir überdies, dass der Trabant die irdischen Ozeane um bis zu fünfzehn Meter, ja die Kontinente bis zu einem halben Meter hebt; und mit seiner Masse verhindert er, dass die Erdachse taumelt – zum Segen alles höheren Lebens auf Erden.

Erstaunlich ist der Einfluss des Mondes also schon, der sichtbare und der unsichtbare; es wäre fast kurios, wenn er keinen Glauben oder Aberglauben provoziert hätte. Der zu seiner Zeit berühmte islamische Gelehrte Al Biruni (973  1048) lehrte, dass der Mond auf das Gehirn, das Knochenmark, die Körpersäfte wirke und die Köpfe derer reize, die im Mondschein schliefen; die Bauern wüssten, dass sie sich bei der Aussaat von Baumwolle, Gurken, Melonen und bei der Aufzucht von Tieren nach ihm zu richten hätten.

Unter den Bauern vieler Völker ist der Glaube an die Kraft des Mondes lebendig geblieben, unter Millionen Abendländern, zumal Frauen, ebenso; nach einer Umfrage von 2010 glauben 92 Prozent der Deutschen, dass der Mond Einfluss auf ihre Gesundheit habe, und «Mondkalender» erzielen Millionenauflagen. Zum Teil haben sie alte Bauernregeln fortgeschrieben; oft lehnen sie sich an die simple Analogie an, dass der zunehmende Mond alles Wachsen begünstige, der abnehmende aber alles «Abmachen», von der Gemüseernte bis zum Haareschneiden.

Hobbygärtner sind den Mondzyklen besonders herzlich zugetan, und wenn ihre Pflanzen in der Tat prächtig gedeihen, so schieben sie das eben darauf – und nicht auf jene liebevolle Zuwendung, für die der Glaube an die Kraft des Mondes bloß ein zusätzlicher Ausdruck war. Auch gibt es Chirurgen und Orthopäden, die ihre Patienten nur bei der richtigen Konstellation des Mondes behandeln; Bioläden und Reformhäuser, die Mineralwasser oder Bier zum doppelten Preis verkaufen, weil es bei Vollmond abgefüllt oder gebraut worden ist; und dass die Wetterlage sich an den Mondphasen orientiert, versteht sich von selbst.

Dies ist samt und sonders Aberglaube – wissenschaftliche Untersuchungen haben das mit zum Teil enormem statistischem Aufwand dutzendfach bewiesen. Die Mondgläubigen irritiert das nicht. Sie gewähren zu lassen, ist ja auch, anders als beim Orakel oder gar beim Hexenwahn (Kapitel 9 und 10), völlig ohne Risiko.

Dass der Mond zudem von menschlichen Wesen bewohnt sein könnte, hat, von utopischen Romanen bis zu ernsthaften Vermutungen, die Menschen schon im Altertum beschäftigt. Um 160 n. Chr. ließ der griechische Dichter Lukian einen anderen Dichter zum Mond fliegen, mit Adlerflügeln; dort traf er die Mondgöttin, die ihm klarmachte, dass die Erdmenschen ein streitsüchtiges und diebisches Gesindel sind.

1603 schickte Francis Godwin, Bischof von Bath in England, einen spanischen Abenteurer mit dressierten Schwänen in elf Tagen zum Mond. Ein halbes Jahr lang verweilte er dortselbst: in ewigem Frühling unter edlen Mondbewohnern, die keine Verbrechen kannten, doppelt so groß wie er selber. Der französische Dichter Cyrano de Bergerac eiferte 1657 Godwin nach mit seiner «Komischen Geschichte der Staaten und Reiche des Mondes»; bei ihm waren die Mondbewohner schon mit 16 Jahren viel schlauer als die Erdenmenschen. Ihn hielten sie für einen Affen und sperrten ihn ein.

1630 hatte Johannes Kepler in seinem letzten Lebensjahr beschrieben, wie er im Traum zum Mond reiste («Somnium seu astronomia lunaris») und ihn von Tieren besiedelt fand, die sich dem extremen Wechsel von Hitze und Kälte angepasst hatten. Der Hauptzweck dieses Büchleins aber war, für das noch immer unpopuläre kopernikanische Weltbild zu werben: Müssten die Mondbewohner nicht glauben, der Mond stehe still – und die Erde drehe sich um ihn? Ging sie nicht über dem Mond prächtig auf wie die Sonne über dem irdischen Horizont?

1686 publizierte Bernard de Fontenelle, Sekretär der französischen Akademie der Wissenschaften, den ersten ernstgemeinten Text über außerirdisches Leben: Der Mond müsse bewohnt sein, schrieb er, ebenso die Planeten Merkur, Venus, Jupiter und Saturn. Eine Reise zum Mond werde eines Tages möglich sein – allerdings erst, nachdem der Mensch das Fliegen erfunden habe.

1836 brüstete sich Franz von Gruithuisen, Ordentlicher Professor der Astronomie an der Universität München, viele deutliche Spuren der Mondbewohner, «besonders ein kolossales Kunstgebäude derselben», entdeckt zu haben. Zehn Jahre später fügte der Große Brockhaus vorsichtig hinzu: Da der Mond offenbar weder Wasser noch eine Atmosphäre besitze, müssten «die etwaigen Bewohner des Mondes (von denen nur Gruithuisen Spuren entdeckt haben will) ganz anders als die auf der Erde organisiert sein».

Jules Verne ließ 1865 drei Männer mit einer riesigen Kanone zum Mond schießen, kurioserweise von zwei Hunden und sechs Hühnern begleitet; 97 Stunden waren sie unterwegs. Aber die Schwerkraft des Mondes zwang sie in eine Kreislaufbahn, und nach der Rückreise platschten sie in den Pazifik, wie 104 Jahre später die Amerikaner. Arno Schmidt entdeckte 1960 in seinem Roman «Kaff auch Mare Crisium» den Mond als Zuflucht von ein paar tausend Russen und Amerikanern, die sich von der atomverseuchten Erde dorthin gerettet hatten.

1969 sahen wir dann wirklich zwei Menschen über den öden, staubigen Mond spazieren, 600 Millionen Menschen sahen ihnen zu. Seitdem wissen wir, wie hoffnungslos tot er ist – tot wie auch all die Milliarden, Billionen Sterne im All. Kann es denn wenigstens noch weitere bewohnbare Planeten geben irgendwo im grenzenlosen Universum? Durchaus. Aber ob wir ihre Bewohner jemals sehen werden?

4
«Die Außerirdischen kommen!»

Werden sie uns denn besuchen, die Bewohner ferner Planeten, die Millionen Gemüter bewegen, seit 1947 bei Roswell im US-Staat New Mexico zum ersten Mal der Absturz eines Ufos, einer «Fliegenden Untertasse» gemeldet worden ist? Mehr noch seit 1968, als der Schweizer Hotelier Erich von Däniken mit riesigem Erfolg verkündete, Außerirdische hätten in vorgeschichtlicher Zeit die Erde besucht; in Religionen und Mythen würden sie als Götter verehrt – und sie würden wiederkommen «und unsere selbstgefällige Seele erschüttern». Seit 1995 entdecken die Astronomen alljährlich Planeten außerhalb des Sonnensystems, Himmelskörper also, auf denen Leben denkbar wäre. Und 2010 hat sich der berühmte gelähmte Astrophysiker Stephen Hawking mit den Folgen eines Besuchs aus dem Weltall auseinandergesetzt.

Werden sie kommen? Die Antwort scheint einfach: Nein, nie – und darüber sollten wir froh sein. Die Antwort ist schwierig: Denn Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen hoffen auf solchen Besuch: Sie warten, wenn schon nicht auf Erlösung, so doch auf ein Wunder, auf ein Abenteuer, wie’s noch keines gab – und Fakten haben da keine großen Chancen. Die Wundergläubigen arbeiten mit sechs Unterstellungen; drei davon sind nicht einmal falsch.

  1. Erdähnliche Planeten mit irgendeiner Form von Leben auf der Oberfläche gibt es auch anderswo im All. (Sehr wahrscheinlich.)

  2. Auch höheres, intelligentes Leben hat sich auf solchen Planeten entwickelt. (Durchaus möglich – auf nicht weniger als 500 Millionen schätzte der NASA-Astrobiologe William Borucki 2011 ihre Zahl.)

  3. Solches höhere Leben würde dem unseren ähnlich sein – wir würden es also als solches erkennen und mit ihm kommunizieren können. (Das ist schon eher unwahrscheinlich.)

  4. Für eine solche Verständigung müssten die – mit Sicherheit winzigen – Zeitfenster höheren Lebens auf verschiedenen Planeten aufeinanderpassen, und dies trotz der unvermeidlichen Zeitverschiebung, durch die Entfernung, eine Million Lichtjahre beispielsweise. (Extrem unwahrscheinlich.)

  5. Den höchstentwickelten Lebewesen anderer Planeten könnten wir jemals leiblich begegnen. (Das aber ist, bei den Distanzen im Weltall, ausgeschlossen.)

  6. Dies sei sehr bedauerlich. (Nein! Es wäre entsetzlich, wenn die Außerirdischen wirklich kämen.) 

Der Reihe nach. Zu Unterstellung 1: Ja, es werden anderswo im Universum Planeten existieren, auf denen Leben möglich wäre. Nicht auf denen unseres Sonnensystems: Die sind zu heiß oder zu kalt oder haben keine feste Oberfläche. Planeten wiederum müssen es sein, damit Leben entstehen kann, wie wir es uns vorzustellen vermögen: erkaltete Trabanten anderer Sonnen, Exoplaneten genannt. Sie mit irdischen Fernrohren zu finden, ist schwierig, da sie nicht leuchten – nur errechnen lassen sie sich, durch Unregelmäßigkeiten in den Bewegungen ihrer Muttersterne.

Der erste Exoplanet wurde 1995 identifiziert, und dann setzte eine Welle ein: 1235 waren es schon 2011. Um aber nach unseren Vorstellungen halbwegs bewohnbar zu sein, müssen sie mindestens folgende Bedingungen erfüllen: Ihrer Sonne dürfen sie weder so nah sein wie bei uns der Merkur (bis 430 Grad heiß) noch so fern wie der Neptun (200 Grad kalt) – irgendwo dazwischen liegt die habitable Zone. Eine feste Oberfläche müssen sie haben, keine gasförmige wie der Jupiter. Groß genug müssen sie sein, um eine Atmosphäre festzuhalten, aber nicht so groß, dass die Schwerkraft alle Lebewesen zu Boden zerren würde.

2010 verkündeten amerikanische Astronomen, nun hätten sie wirklich einen erdähnlichen Planeten entdeckt. Gliese 581g wurde er getauft, im Sternbild der Waage, etwas größer als die Erde, 20 Lichtjahre von uns entfernt. Ob er eine Atmosphäre und eine feste Oberfläche hat, blieb zunächst unklar.

Viele Himmelskörper also, die dem unseren ähnlich sind – heißt das aber auch, dass sich auf ihnen höheres Leben in unserm Wortsinn entwickelt haben müsste? (Unterstellung 2.) Frühen Wissenschaftlern und Philosophen schien das ganz selbstverständlich. Der seinerzeit weltberühmte französische Naturforscher Georges Cuvier (1769  1832) schrieb die Entwicklung des Erdenmenschen einer Abfolge von Katastrophen zu; auf jede sei eine Neuschöpfung gefolgt, möglicherweise mit Hilfe «außerirdischer Einwanderer».

Immanuel Kant sagte in seiner «Allgemeinen Naturgeschichte und Theorie des Himmels» (1755): «Die meisten unter den Planeten» (die unserer Sonne, meinte er) «sind gewiss bewohnt, und die es nicht sind, werden es dereinst werden.» Nur wenn ein Himmelskörper der Besiedlung «natürliche Hindernisse entgegensetzt, so wird er unbewohnt sein – obgleich es an und für sich schöner wäre, dass er Einwohner hätte.» Schöner wäre! Ungeschminkt wird da jener Wunsch nach Gesellschaft im Weltall formuliert, der auch die Ufo-Legende am Leben hält.

Dem Mars und der Venus billigte der Philosoph ausdrücklich Bewohner zu, dem Jupiter noch nicht – aber wenn der größte der Planeten «dereinst» bewohnt sein werde, müssten seine Bewohner «desto vollkommener sein» an Körper, Geist und Moral, denn die größere Entfernung von der Sonne verlange von ihnen mehr Kraft und «feinere Bildung».

Ganz selbstverständlich also setzte Kant «bewohnt» gleich mit «von Menschenähnlichen» bewohnt; von Evolution hatte er, hundert Jahre vor Darwin, natürlich keine Ahnung, und ein Planet der Quallen und Lurche war ihm offensichtlich unvorstellbar – obwohl doch das etwaige Leben im All gerade so beschaffen sein könnte: In der Erdgeschichte ist der Mensch der allerkleinste Teil. (Vom Jupiter übrigens wissen wir inzwischen: Seine Oberfläche besteht aus Gasen von minus 138 Grad.)

Kant schloss mit der Hoffnung, es möchten sich «noch einige Kugeln des Planetensystems ausbilden, um nach vollendetem Ablaufe der Zeit, die unserem Aufenthalte allhier beschieden ist, uns in anderen Himmeln neue Wohnplätze zu bereiten». Ein uralter Traum also – und völlig ohne Chancen. Nicht erörtert hatte Kant eine Frage, der neuerdings einige Theologen nachgrübeln: Als Gott seinen Sohn auf die Erde schickte, damit er die Menschheit erlöse – kann er damit zugleich die Bewohner ferner Planeten von der Sünde befreit haben? Müssen wir uns nicht sogar einen zweiten Schöpfungsakt vorstellen?

Gerade erst drei Jahre vor Kant, 1752, hatte Voltaire seinen «Micromégas» auf einem Sonnenstrahl aus dem Weltall zur Erde reisen lassen: Er umschreitet sie in 36 Stunden, denn er ist «acht Meilen groß» und kann die Menschen überhaupt nur mit Hilfe eines Diamanten als Vergrößerungsglas entdecken; er findet sie dumm und dünkelhaft, schon weil vernunftbegabte Wesen auf einem solchen Himmelskörper gar nicht würden wohnen wollen. Da hatte Voltaire zwar phantasiert – war aber doch realistischer als Kant mit dessen Unterstellung, alles Leben im Universum müsse menschenähnlich sein.

Die Idee, auf den uns nahen Planeten könne es intelligentes Leben geben, tauchte 1877 wieder auf: Da behauptete der Leiter der Mailänder Sternwarte, Giovanni Schiaparelli, auf dem Mars habe er große Meere entdeckt, die durch canali miteinander verbunden seien. «Rinnen, Ströme» hätte man übersetzen können, aber «channels, Kanäle» setzten sich durch – und die konnten ja nur das Werk hochbegabter Lebewesen sein. So fand der englische Schriftsteller H. G. Wells ein ungeheures Echo, als er 1898 in seinem Buch «Der Krieg der Welten» bärengroße Marsmenschen auf der Erde landen ließ, mit einem grässlichen Bündel dünner Fühler am Kopf und sabbernder Schnauze, die mit Feuer und Gas ganze Armeen vernichteten.

Drei Jahre zuvor hatte der amerikanische Mathematiker Percival Lowell, ein reicher Unternehmer, in der Wüste von Arizona ein Observatorium eigens zum Studium der Marskanäle errichten lassen, und 1906 veröffentlichte er seine Erkenntnisse: Die Marsmenschen seien friedvolle, intelligente, den Erdmenschen weit überlegene Bewohner eines sterbenden Planeten; mit einem gigantischen Bewässerungssystem versuchten sie, ihre Ernährung mit Hilfe des Wassers der schmelzenden Polkappen noch eine Weile zu sichern.

1910 ließ sich der Mars so präzise fotografieren, dass die Kanäle sich als optische Täuschung erwiesen, und 1926 verabschiedete sich die Wissenschaft endgültig von allen Marsbewohnern. Doch der Aberglaube an ein bewohntes Universum, der Wunsch nach ihm sitzt tief – und so versetzte noch 1938 Orson Welles mit seinem berühmten Hörspiel nach H. G. Wells Millionen Amerikaner in Panik.

Im Sonnensystem gibt es also eindeutig kein höheres Leben. Was die Exoplaneten angeht, so gilt es zu unterscheiden: Irgendeine Form von Leben ist wahrscheinlich; viel wahrscheinlicher jedenfalls, als dass es sich zu höheren Formen entwickelt hat. Die Erde war die längste Zeit von Amöben, Bakterien, Zecken, Echsen besiedelt, ehe sich in ihrer allerjüngsten Phase der Mensch auf ihr breitmachte. Und mussten nicht vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier allesamt einer Naturkatastrophe zum Opfer fallen, damit die Säugetiere die Erde erobern konnten und an ihrer Spitze schließlich der Mensch?

Selbst auf «habitablen» fernen Planeten also ist intelligentes Leben unwahrscheinlich. Nur dass der Begriff «Wahrscheinlichkeit» in der Unendlichkeit des Universums jeden Sinn verliert. Nehmen wir zum Beispiel an, die Wahrscheinlichkeit, dass das Weltall noch einmal irgendwo so kluge Tiere hervorgebracht hätte wie uns, liege bei 1 : 1 000 000. Kein Problem – bei mindestens 100 Milliarden Sternen (mit vermutlich Milliarden Planeten) allein in unserer Milchstraße! Also dünnen wir die Wahrscheinlichkeit aus bis zur Unkenntlichkeit, zum Beispiel 1 : 1 000 000 000 000, eine Billion. Wieder kein Problem! Denn Milchstraßen, jede mit Milliarden Sternen, gibt es wiederum mindestens 100 Milliarden. Das heißt: Es ist überhaupt kein Grad von Unwahrscheinlichkeit denkbar, der nicht durch die unendliche Menge von Himmelskörpern in Wahrscheinlichkeit verwandelt würde. Ja: Vermutlich sind die Erde und schlaue Tiere auf ihr nicht einzigartig.

Doch da fährt Unterstellung 3 dazwischen: Das höhere Leben auf fernen Exoplaneten würde dem unseren ähnlich sein – wir würden es also erkennen und hätten die Chance, Signale auszutauschen. Und da nun sind die Astrobiologen tief gespalten.

Die einen sagen: Die Entwicklung vom Einzeller zum Menschen sei unerbittlichen, also jederzeit wiederholbaren Naturgesetzen gefolgt. Alle chemischen Reaktionen, die für das Leben nötig sind, bauen sich auf denselben Aminosäuren und Proteinen auf; ein oben getragener Kommandostand mit allen Sinnesorganen wie der Kopf ist in der Evolution ein klarer Vorteil, ebenso Greifwerkzeuge nach Art unserer Hände. Folglich: Wir würden die Herrentiere des fernen Planeten wenn nicht als unsere Brüder, so doch als ferne Verwandte erkennen, wie Pygmäen oder Eskimos. Höchstens, dass ein kleiner Planet (der Mars zum Beispiel) dünnbeinige Lebewesen wie die von H. G. Wells begünstigen würde, ein großer dagegen, mit seiner gewaltigen Schwerkraft, Vielbeiner mit Standsäulen wie ein Elefant, wenn nicht gar schildkrötenartige Intelligenzbestien.

Eben!, sagen die anderen. Vielleicht haben wir ja eine völlig bornierte Sicht? Der expressionistische Schriftsteller Paul Scheerbart erfand 1913 in seinem Roman «Lesabéndio» bizarre Lebewesen mit Saugfüßen auf einem Asteroiden im Sonnensystem; die Erdbewohner stellen sie sich als dessen «drolligste Lebewesen» vor. Etwas seriöser fragt Stephen Hawking: Könnte Intelligenz nicht auch in einem zotteligen Eisbären auftreten, einem kalten Planeten angemessen? Und müssten unsere Vettern im All überhaupt figürlich sein? Wie, wenn die Intelligenz in einem schleimigen Ozean wohnte?, fragt der polnische Science-Fiction-Guru Stanisław Lem, dem die Zunft durchaus wissenschaftliche Fundierung zubilligt.

Oder wie, wenn die Klugheit starr und stumm in einer Wüste ruhte, so, dass wir sie nicht einmal als lebendig erkennen würden?, fragt der englische Kosmologe Sir Fred Hoyle. Was aber die Verwandtschaft aufgrund der Aminosäuren angeht, schreibt der führende amerikanische Astrobiologe Carl Sagan: Selbst auf der Erde «würde kein Lebewesen auch nur von fern dem Menschen ähneln», wenn die Entwicklung des Lebens unter genau denselben Startbedingungen noch einmal von vorn begänne – zu groß sei die Rolle des Zufalls in der Evolution.

Folglich haben wir keine Ahnung, ob wir uns mit den fernen Brüdern überhaupt irgendwie verständigen könnten. Vielleicht kommunizieren sie ja mit Farbblitzen und würden sich über das «komplizierte Husten» der Erdenmenschen mokieren!, sagt Isaac Asimov, Biochemiker und Science-Fiction-Autor in einem. Oder vielleicht «schmienen» sie ja, schrieb die New York Times ironisch, aber realistisch (they smean) – und wer da fragte: Was soll das heißen? Dem antwortete das Weltblatt: Sind sie nicht eben von dieser Art, die Rätsel des Alls? Und selbst wenn sie sich einer Sprache bedienten, die unseren Gewohnheiten entspricht: Hat es nicht mehr als 400 Jahre gedauert, bis wir eine irdische Schrift halbwegs entziffern konnten – die der Maya nämlich?

Fazit der Unterstellungen 1 bis 3: Erdähnliche Planeten muss es viele geben; ja, auf manchen könnte sich höheres Leben entwickelt haben; aber wie wir uns das vorzustellen hätten, ob wir irgendwelchen Kontakt zu ihm finden würden: Davon haben wir keine Ahnung. Doch das ist noch ein geringes Problem, verglichen mit der Unterstellung 4: Die Zeitfenster müssten aufeinanderpassen. Und damit stürzen alle Hoffnungen auf Kontakt ins Bodenlose.

Leben gibt es auf der Erde seit dreieinhalb Milliarden Jahren – «Menschenartige» (Hominiden) seit etwa fünf Millionen. Außerirdische, die auf der Erde gelandet wären, hätten also mit der Wahrscheinlichkeit 1 : 700 keine Herrentiere vorgefunden. Menschen wie wir, Homo sapiens sapiens, begannen sich erst vor rund 100 000 Jahren auf der Erde auszubreiten; das ist dann nur noch der 35tausendste Teil der Geschichte irdischen Lebens.

Hätten die Aliens vor ihrem Besuch oder statt ihres Besuchs erst einmal Funkkontakt gesucht, so wäre das Zeitfenster noch dramatisch viel kleiner: Funken können wir erst seit 1896 – dem 862. Teil der Menschheitsgeschichte, vom Homo sapiens sapiens an gerechnet, oder der 30millionste Teil des Lebens auf der Erde.

Die Wahrscheinlichkeit eines Kontakts oder einer Chance dazu sinkt noch weiter, wenn wir die Distanz zwischen so winzigen Zeitfenstern einbeziehen. Käme ein Signal beispielsweise von Gliese 581g, so wäre es, mit der Geschwindigkeit des Lichts, 20 Jahre unterwegs, der Empfang einer Antwort also frühestens nach 40 Jahren möglich. 2012 zum Beispiel könnten wir eine Reaktion auf eine Botschaft von 1972 haben, damals, als Willy Brandt sich gegen das Misstrauensvotum von Rainer Barzel behauptete. Wer würde die noch haben wollen?

Und dabei ist Gliese erstaunlich nah! Da die Wahrscheinlichkeit, auf höheres Leben zu stoßen, erst eintritt, wenn wir Planeten im Abstand von Millionen Lichtjahren einbeziehen, sollten wir jeden Gedanken an den Austausch von Funksignalen ein für alle Mal vergessen. Den amerikanischen Astronomen Frank Drake

Die winzigen Zeitfenster müssten über unzählige Lichtjahre hinweg aufeinanderpassen. Das ist der Inbegriff irdischer Unwahrscheinlichkeit. Und nach alldem auch noch : Die Außerirdischen könnten uns oder wir sie jemals .

 Gliese 581g Reisejahre Mars

  Voyager 1 2   

 5-mal Lichtjahre Gliese 581g  Reisejahre      

new frontier 

Süddeutsche Zeitung.

Unterstellung 6 Steven Spielbergs  

 

New York Times

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