Cover

Wolfgang Schmidbauer

Die heimliche Liebe

Ausrutscher, Seitensprung, Doppelleben

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

Über Wolfgang Schmidbauer

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1968 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis.

Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch Erzählungen, Romane und Berichte über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.

Er ist Mitbegründer der «Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse» und der «Gesellschaft für analytische Gruppendynamik».

Über dieses Buch

Wolfgang Schmidbauer hat als Psychoanalytiker und Gruppentherapeut täglich mit dem Thema «sexuelle Außenbeziehung» zu tun. Bei weitem die meisten Klientinnen und Klienten kommen zur Therapie, weil sie Beziehungsprobleme haben. Und Beziehungsprobleme nehmen ganz überwiegend die Form von realen oder phantasierten Liebesverhältnissen neben der legitimierten Liebe in Ehe oder Partnerschaft an.

Hier tut sich das Schlachtfeld des Lebens auf. Obwohl das sexuelle Tabu an Macht verloren hat, werden auch heute noch viele Liebesbeziehungen geheim gehalten. Warum?

Klatsch, Intrigen, Spionage, Detektive kommen ins Spiel. Oder umgekehrt: Das Geheimnis wird verraten. Warum? Wer verfolgt welche Ziele durch seinen Verrat? Die verheimlichte Liebe gehorcht bestimmten Spielregeln, die in diesem Buch transparent gemacht werden.

Schmidbauer plädiert für eine «gefühlsfreundliche Vernunft», die etwas ganz anderes ist als Zweckmäßigkeit, Kontrolle, Triebfeindlichkeit oder Konsequenz.

Impressum

Rowohlt Digitalbuch, veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2012

Copyright © 1999 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung Werner Rebhuhn

(Abbildung: Ary Scheffer, 1855/Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin)

Schrift DejaVu Copyright © 2003 by Bitstream, Inc. All Rights Reserved. Bitstream Vera is a trademark of Bitstream, Inc.

ISBN Buchausgabe 978-3-499-61129-2 (6. Auflage 2012)

ISBN Digitalbuch 978-3-644-01881-5

www.rowohlt-digitalbuch.de

ISBN 978-3-644-01881-5

Fußnoten

1

Glückliche Paare, die ein Ritual entwickeln, das an diese Frühzeit erinnert; ich kenne einen Fall, in dem beide seit fünfzehn Jahren zum Tag des Beginns ihrer damals heimlichen Liebe in der Kneipe von damals essen und danach gegen Mitternacht verstohlen in das Büro der Frau gehen, um in aller Unbequemlichkeit die Erotik des Anfangs wiederzubeleben.

2

Giovanni Boccaccio (13131375), Il Decamerone. Übers. «Das Decameron» v. Johannes von Guenther, München (Wilhelm Goldmann Verlag) 1955, S. 290293.

3

Erst im 18. Jahrhundert wurde der von Boccaccio kühn vorweggenommene Gedanke durch Rousseau systematisch formuliert, dass Gesetze denen dienen sollen, die unter ihnen leben, und durch den Konsens der Bürger geändert werden können.

4

Vgl. Norbert Elias, Der Prozess der Zivilisation, Frankfurt (Suhrkamp) 1973.

5

Margret Mahler, Symbiose und Individuation, Frankfurt (Fischer) 1972.

6

Die Rede ist hier von der Eifersucht Rinaldos, einem begründeten und doch zu irrationalen Racheimpulsen führenden Affekt. Seltener, aber auch erheblich schwieriger zu verarbeiten ist der Eifersuchtswahn, in dem zum Beispiel eigene homosexuelle Wünsche projiziert und eine sozusagen unschuldige Partnerin von einem Mann verdächtigt wird, mit jedem hübschen Kellner zu flirten und jede unbeaufsichtigte Stunde einen Liebhaber zu treffen. Bekannt ist auch der Eifersuchtswahn von Trinkern, der häufig mit ihrer beeinträchtigten Potenz zusammenhängt.

7

Wolfgang Schmidbauer, Die Angst vor Nähe, Reinbek (Rowohlt) 1986.

8

«Am wenigsten ist bei Frauen eine Neigung zum Zusammenschlusse vorhanden, da Frauen, ihrem tiefsten Wesen entsprechend, in den Angehörigen des eigenen Geschlechts mehr Nebenbuhlerinnen als Genossinnen zu sehen pflegen. Und andrerseits sind Frauen doch auch wieder nicht imstande, durch offenen Kampf zu gegenseitiger ritterlicher Achtung und zu anderer in seinem Werte geltenlassender Anerkennung sich hindurchzuringen.» W.-E. Peuckert, Geheimkulte, Heidelberg (Carl Pfeffer) 1951, S. 26.

9

Ich folge in dieser Wortwahl der häufigsten gesellschaftlichen Situation, wonach die Verantwortung für die frühe Sozialisation weit überwiegend Aufgabe der leiblichen Mutter ist. Ich halte diesen Zustand jedoch weder für naturnotwendig noch für wünschenswert; die psychologischen Defizite der Kleinfamilie ließen sich mildern, wenn sich Väter in gleichem Maß um Babys kümmern würden wie Mütter.

10

Wer solche Paare in späteren Stadien ihrer Beziehung beobachtet, kann oft nicht mehr entscheiden, welche Seite mit der Entsexualisierung begonnen hat.

Der Mann beklagt sich darüber, dass seine Frau nie Lust hat, mit ihm zu schlafen; die Frau fühlt sich von ihrem Partner nicht anerkannt. Die anale Entgleisung liegt darin, dass ein (häufig nicht bewusster) Sadismus die Fähigkeiten zur Einfühlung blockiert. Der Mann «meint es nur gut», wenn er seine Frau darauf hinweist, dass sie den Kühlschrank nicht geputzt hat und Äpfel kauft, obwohl doch noch welche aus dem eigenen Garten im Keller liegen. Die Frau «denkt sich nichts dabei», wenn sie abends zu müde ist oder Kopfweh hat.

11

Die älteste Fassung dieser Geschiche findet sich in Homers Odyssee, VIII, S. 266367. Vgl. auch Robert von Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. I, S. 57.

12

Oskar Maria Graf, Bolwieser, München 1926. Anders als in den klassischen Ehebrecherinnen-Romanen des 19. Jahrhunderts, Fontanes «Effi Briest» und Flauberts «Madame Bovary», ist es hier der Mann, der in einem kleinstädtischen Ehebruchsdrama den Kürzeren zieht. Graf erfasst sehr genau die Dynamik einer der Aufsteiger-Ehen der Moderne, in denen nicht mehr der Mann eine Frau aus einfachen Verhältnissen an sich zieht. Umgekehrt kommt hier der Mann aus bäuerlichen Verhältnissen und ist im Beamtendienst zu einer stabilen, kleinbürgerlichen Existenz aufgestiegen. Als Bahnhofsvorsteher hat Xaver Bolwieser die Tochter eines reichen Brauereibesitzers geheiratet. Die Hassliebe, welche in Edward Albees Stück «Wer hat Angst vor Virginia Woolf?» so meisterhaft inszeniert ist, gehört ebenfalls zu diesem Beziehungstypus. Der aufstrebende junge Professor heiratet die Tochter des Dekans und verzweifelt in einer kinderlosen Ehe daran, dass er immer am Vorbild seines Schwiegervaters gemessen wird.

13

Vgl. Wolfgang Schmidbauer, Vom Umgang mit der Seele. Psychotherapie zwischen Magie und Wissenschaft, München (Nymphenburger) 1998.

14

In dem Artikel «Wenn Ich ein Plural ist» («Die Zeit», Nr. 3/1995, S. 33) greift Jochen Paulus diese Debatte auf. Er verweist auf die großen nationalen Unterschiede in den Diagnosen der multiplen Persönlichkeit – Befürworter schätzen sie in den USA auf drei Prozent der Bevölkerung (etwa 7 Millionen Menschen), während in der Schweiz neunzig Prozent der Psychiater noch nie einen solchen Kranken gesehen haben. Während Skeptiker betonen, dass solche Patienten durch entsprechende Bemühungen ihrer Therapeuten gezüchtet werden und in der multiplen Persönlichkeit eine bequeme Rechtfertigung für persönliche Probleme finden, weisen die Befürworter auf Fehldiagnosen (Schizophrenie, Borderline-Persönlichkeit) hin. Allerdings fühlt sich der Betrachter gedrängt, auch über die Störung der Behandler nachzudenken, wenn er liest, dass der Präsident eines Verbandes der Multiple-Persönlichkeits-Therapeuten überzeugt ist, solche Kranke seien Opfer einer Verschwörung der CIA, die sie in psychotechnischen Zentren produziere. Nicht viel glaubhafter sind andere Autoren, die behaupten, dass satanische Messen mit ritualisiertem Kindesmissbrauch die Ursache sind. In Hypnose «erinnern» sich Kranke in der Regel an das, wovon der Hypnotiseur glaubt, dass sie es erlebt haben. Daher ist es auch Unfug, in suggestiven «Rückführungstherapien» konstruierte Inzest- oder Missbrauchserlebnisse ohne kritische Prüfung und weitere Beweise als juristisch relevante Fakten anzuerkennen. Vgl. Elisabeth Loftus und Katherine Ketcham, The Myth of Repressed Memory: False Memories and Allegations of Sexual Abuse, New York (St. Martins) 1995, sowie Mark Pendergast, Victims of Memory: Incest Accusations and Shattered Lives, New York (Upper Access) 1995.

15

«Sie geben sich Gegensuggestionen!» S. Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse, G. W. XIII, S. 9.

16

Mr. Hyde ist vom englischen hide, «verbergen», abgeleitet. Eine feminine Variante dieses Themas schildert der französiche Film «La belle du jour»: Eine wohlanständig verheiratete Frau beginnt, von masochistischen Sexualphantasien verfolgt, heimlich in einem Bordell zu arbeiten.

17

Sigmund Freud in einem Brief an Sándor Ferenczi vom 1011910, in: Briefwechsel, ed. E. Brabant et al., Wien (Böhlau) 1993, S. 195.

18

Eheberatung und Ehetherapie sind oft nicht genau voneinander abzugrenzen. Der Unterschied liegt vielfach nicht in der inhaltlichen Arbeit, die meist in der einen oder anderen Schule der Familientherapie wurzelt (die von psychoanalytischen, lerntheoretischen, integrativen und systemischen Modellen ausgehen), sondern in der Legitimation. In Deutschland arbeiten in den (vielfach von kirchlichen Trägerverbänden unterhaltenen) Eheberatungsstellen Psychologen und Ärzte, die ihre Tätigkeit Therapie nennen, neben Personen mit anderen Vorbildungen. Diese müssen ihre Arbeit, rechtlich gesehen, als Beratung deklarieren, obwohl sie nicht selten dieselbe Zusatzausbildung absolviert haben wie die Therapeuten.

Wer selbständig therapeutisch arbeitet, muss in Deutschland gegenwärtig die Approbation als Arzt oder psychologischer Psychotherapeut haben. Wer berät, kann Jurist, Lehrer, Theologe, Sozialpädagoge, Krankenschwester usw. sein. Ehetherapeut wie Eheberater sollten eine Ausbildung in Familientherapie absolviert haben, die gegenwärtig von verschiedenen privaten oder öffentlich-rechtlichen (kirchlichen) Trägern in unterschiedlicher Qualität angeboten wird.

19

Gedicht an Charlotte von Stein: «Warum gabst du uns die tiefen Blicke …» (1441776).

20

Ich beziehe mich auf meine in der Zeitung «Die Woche» am 321995 veröffentlichte Typologie.

21

Die wichtigste Asymmetrie: Einer der heimlich Liebenden lebt in fester Bindung, der andere nicht. Oder: Eine Frau hat bereits Kinder, ihr Partner wünscht sich noch welche. Oder: In einem Paar werden Liebschaften offen gehandelt, in einem anderen verschwiegen («Du kannst jederzeit bei mir anrufen – wieso darf ich dich nicht zu Hause anrufen?»).

22

Margaret Atwood, «Die blaurote Luftmatratze», Erzählung, SZ-Magazin Nr. 30/1996, S. 5.

23

Vgl. K. S. Pope und J. C. Bouhoutsos, Als hätte ich mit einem Gott geschlafen. Sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und Patienten. Hamburg (Hoffmann und Campe) 1991. Über die Hintergründe der aktuellen Debatte über ein anderes Feld heimlicher Liebe siehe K. Rutschky, Erregte Aufklärung. Kindesmissbrauch: Fakten und Fiktionen. Hamburg (Klein) 1992. Der Strafrahmen für sexuelle Beziehungen in einer Psychotherapie ist 1998 erweitert worden: Strafbar ist, wer Abhängigkeitsverhältnisse ausnutzt. Vgl. W. Schmidbauer, Wenn Helfer Fehler machen, Reinbek (Rowohlt) 1997.

24

Das ist auch der Plot typischer Ausbrüche von Gewalt zwischen Mann und Frau: wenn Frau spielt, während Mann ein «ernstes» sexuelles Angebot wahrnimmt, sie festhalten will, worauf sie sich losreißen möchte, was seinen Einhalt brutal werden lässt.

Einleitung

Kein Feuer, keine Kohle

Kann brennen so heiß

Als heimliche Liebe,

Von der niemand nichts weiß.

Das Volkslied ist mir, wie vielen anderen, die es einmal gehört haben, im Gedächtnis geblieben. Näher betrachtet ist es jedoch gar nicht einfach, zu verstehen, was hier mit heimlicher Liebe gemeint ist. Handelt es sich um ein Gefühl, das noch nicht einmal dem genau bekannt und bewusst ist, der es in sich trägt, noch viel weniger irgendeinem Zweiten? Das sich nun den Weg nach außen frei brennt und dabei auch den nicht schont, der es in sich trägt?

Der Beginn solcher heimlichen Schwärmereien liegt in der Pubertät und Adoleszenz. Die heimliche Liebe ist sozusagen eine Probeliebe, ein Versuch, in der Phantasie mit Bindungen und Loslösungen zu spielen. Vielleicht hängt das Volkslied auch mit einem Aberglauben zusammen, der gebietet, Liebesglück vor dem Neid Dritter zu verbergen. Im Notenbüchlein der Anna Magdalena Bach steht ein Lied:

Willst du dein Herz mir schenken,

So fang es heimlich an,

Dass unser beider Denken

Kein Mensch erraten kann.

Dieses Gebot erinnert an die Sitte, von Kindern niemals zu sagen, dass sie schön und gesund sind, weil dadurch der Neid von Hexen ausgelöst wird, die dafür sorgen, dass die so Gerühmten erkranken und sterben. Die Verheimlichung bietet eine Möglichkeit, den bösen Blick abzuwehren. Wenn sich Liebende kennenlernen und anziehend finden, unternehmen sie Anstrengungen, sich zurückzuziehen: aus der erleuchteten Diskothek in die Dunkelheit, aus der Cocktailparty in eine intime Bar, aus dem Hörsaal in die Studentenbude. Menschen, die im Dunkeln keine sexuellen Hemmungen spüren, fühlen sich im Licht unfähig zur physischen (das heißt auch: wahrnehmbaren) Liebe.

Liebende sind gewissermaßen gezeichnet, Eros und nur Eros ist es, der sie verbindet. Wenn sie sich nicht als Kollegen, Sportskameraden oder in anderer harmloser Beziehung tarnen können, müssen sie sich verbergen. In der Öffentlichkeit des bisherigen Freundeskreises oder der Familie fürchten sie, beschämt oder gar ihres Glücks beraubt zu werden.

Solche Bedenken können unrealistisch sein. Es drohen gar keine wirklichen Gefahren, die Vorgesetzten, Arbeitskollegen oder Nachbarn haben nichts gegen das sexuelle Verhältnis. Niemand würde die Liebenden kränken oder berauben, und doch fürchten sie sich davor. Das liegt daran, dass unsere soziale Umwelt fast immer Eltern-Projektionen trägt. Frischbekannte Liebespaare warten häufig eine gewisse Festigkeit und Verlässlichkeit der Bindung ab, ehe sie sich den Gleichaltrigen vorstellen. Bei den Eltern dauert es oft noch weit länger, ehe sie von einer erotischen Beziehung ihrer Söhne oder Töchter erfahren.

Sehr häufig sind die Verheimlichungsgründe aber durchaus realistisch. Bereits gebundene Liebende fürchten um ihren Ruf, haben Angst, von ihrem Partner kritisiert oder durch Liebesentzug bestraft zu werden. Nach wie vor ist die ungeordnete Sexualität neben Korruption und Sucht der zentrale Vorwurf, mit dem Prominente zu rechnen haben. Ein Politiker, der Präsident werden möchte, muss zumindest in den USA nicht lange darauf warten, dass seine Fähigkeiten, Liebschaften zu verheimlichen, einer harten Probe unterzogen werden.

Stellen wir uns vor, dass Flugreisen geheim gehalten werden und die geräuschlosen Maschinen nur nachts verkehren. In dieser Situation erfahren wir von solchen Reisen nur dann, wenn wir selbst in einem Flugzeug sitzen oder wenn wir davon erfahren, dass eines abgestürzt ist. Diese Metapher hat ihren Zweck erfüllt, wenn sie anschaulich macht, dass sehr viel an heimlicher Liebe ohne jede Auffälligkeit abläuft. Wenn eine heimliche Liebe bekannt wird, ist sie bereits aus dem Geheimnis herausgefallen. Jede Öffentlichkeit nimmt der heimlichen Liebe den Reiz der symbiotischen Zelle, der Überlebenskapsel von Sehnsucht und Grenzenlosigkeit im Alltag. Wohlwollende und begrenzte Mini-Öffentlichkeiten einer Beratungssituation werden oft verdächtigt, sich wenig von bösartigen Formen wie Tratsch in der Nachbarschaft, unter den Kollegen oder (bei Prominenten) in den Medien zu unterscheiden.

1 Lust im Verborgenen

Erotische Lust ist nicht nur eine der mächtigsten Befriedigungsquellen aus dem eigenen Körper. Sie bezieht sich bei den meisten Menschen auf ein Gegenüber. Diesen Lustmöglichkeiten entspricht eine starke Bindung an Menschen, welche mit dieser Lust verknüpft werden. Im Orgasmus entgleitet dem bewussten Ich für einige bedeutungsvolle Augenblicke die Kontrolle. Diese Empfindung ist ebenso fesselnd wie im Grunde ängstigend. Die Selbstvergessenheit lässt einen Verlust der Selbstkontrolle fürchten. Sie führt dazu, dass viele Menschen den Orgasmus durch hektische Anstrengungen haben wollen, bevor er sie hat.

Abhängig zu sein von einem autonomen, seelisch-körperlichen Erregungsprozess verknüpft sich mit der Abhängigkeit von den Partnerinnen und Partnern der Intimität. Der Partner kann die Sexualität vertiefen, vielleicht sogar erst erlauben; er kann sie aber auch lähmen und abtöten. Im ersten Fall ist ein erotisierender Regelkreis in Gang gekommen: die Enthemmungs- und Lustzulassungsschritte des einen Teils stoßen analoge Schritte beim anderen an, welche zurückwirken und so die Erlebnisintensität steigern. In einem positiven Entwicklungsprozess bestätigen sich die Partner in ihrem erotischen Selbstbewusstsein. Sie vertiefen den Glauben an die eigene Potenz, ein Gegenüber zufrieden zu stellen und in diesem Prozess auch selbst befriedigt zu werden.

Diese Interaktion kann aber auch ganz anders ausgehen. Ein Partner fühlt sich nicht bestätigt, sondern entwertet. Der primär Leidenschaftlichere, an einer Steigerung der sexuellen Intensität Interessierte steht dann vor einem Scheideweg. Seine Wahl entscheidet oft über das erotische Schicksal der Beziehung. Er kann, wenn ihn das Zögern des Gegenübers entmutigt und sein eigenes erotisches Selbstvertrauen gering ist, sich wie ein Bittsteller fühlen, die Rolle des Verweigernden höher schätzen als die des Begehrenden und anfangen, seinerseits weniger Wünsche zu haben, um nicht das erleiden zu müssen, was er als Blamage und Absage an seine Anziehungskraft erlebt. Oder aber er kann auf seinen Wünschen bestehen, um sie werben, und so ein zögerndes und unsicheres Gegenüber vielleicht doch noch an einer gemeinsamen Entwicklung interessieren.

Der zweite Fall beschäftigt den Ehetherapeuten kaum, der erste jedoch häufig. Er lernt nicht selten seine Spätstadien kennen, wenn die sexuelle Beziehung eines Paares schon seit Jahren scheinbar unbemerkt eingeschlafen ist und nur noch durch starke Reize – wie einen Seitensprung, eine Trennungsabsicht oder einen Kinderwunsch – aufgeweckt wird. Er sieht auch manchmal chronisch in einem Zustand der Unzufriedenheit und projizierter Schuldzuschreibung lebende Paare, die nie über die sexuellen Themen sprechen, sondern diesen Konflikt indirekt austragen. Beispiel: Die Frau leidet unter der Nörgelei des Mannes an ihrer Haushaltsführung oder Kindererziehung. Der Mann leidet an ihrer Zurückweisung. Er führt seine Nörgelei auf ihr erotisches Desinteresse zurück; sie erklärt ihr Desinteresse durch seine Nörgelei.

Fast alle Liebenden der Moderne suchen mehr in ihren Partnerschaften als sexuelle Befriedigung und wirtschaftliche Hilfe («Bauer und Bäuerin»). Es geht auch um Elternersatz, um narzisstische Bestätigung, Geborgenheit, Sicherheit. Man kann im Einzelfall oft genau erkennen, wie die sexuelle Befriedigung der Sicherheit geopfert wird, wie Eltern-Kind-Elemente, wechselseitig genommen und gegeben, die leidenschaftlichen Elemente aus dem Feld verdrängt haben. Wenn Kinder heranwachsen sollen, schleicht sich nicht selten nach einigen Jahren auch in den Anredeformen diese Dominanz ein: Die Frau sagt nun «Vater» zu ihrem Mann; der Mann erwidert mit «Mutter», so wissen die Kinder, wer gemeint ist.

Nicht zu unterschätzende Probleme entstehen durch die Zwänge der modernen Liebe, Werte zu teilen, um sich abzugrenzen. Paare entwickeln hier grobe oder subtile Strategien – die einen werden zu Feinschmeckern, die Zweiten sind sportlich, die Dritten gehen zu Kunstauktionen und legen gemeinsam oder im Wettbewerb eine Sammlung an, die Vierten konzentrieren sich auf den Garten, andere auf Fernreisen oder eine religiöse Sekte. Und immer, wenn die alten Freunde eingeladen werden, findet das alternde Paar nach dem Besuch ein Stück Aufwertung darin, dass die Gäste sozusagen stehen geblieben sind, immer noch nicht das Geringste von französischen Rotweinen, turkmenischen Teppichen, altem Porzellan oder Rosenzucht verstehen.

Solche Wertgemeinschaften sind aber nicht nur ein befreiendes und abgrenzendes Entwicklungsfeld. Sie können zu einer drückenden Enge führen, wenn einer der Partner sich darin unterlegen fühlt, ohne aber genügend Distanz und Durchsetzungskraft zu haben, diese Unterlegenheit offen auszutragen.

Eine typische Sozialgenese solcher latenten Konflikte ist die Aufsteigerehe. Ich skizziere eine Entwicklung, die solche Paare in eine Krise führt. Nehmen wir an, ein Mann aus einer Arbeiter- oder Bauernfamilie hat in eine gebildete Schicht eingeheiratet. In den Anfangszeiten der Beziehung ist für den beruflich erfolgreichen und ehrgeizigen Aufsteiger alles in schönster Ordnung. Die Felder des Berufs, der Freizeit und der Erotik beherrscht er so gut wie seine Partnerin.

Wird aber ein gemeinsamer Haushalt aufgebaut, sollen Kinder erzogen werden, dann hat es der Mann oft sehr schwer standzuhalten. Er findet viele der Dinge, an die seine Frau ihr Herz hängt, eher nebensächlich und nicht selten reine Zeitverschwendung.

Das Aufwachsen der gemeinsamen Kinder reizt ihn zu ständigen Vergleichen mit der eigenen Kindheit. Er kann weder mit den – so scheint es ihm – verwöhnten Ansprüchen der Kinder zurechtkommen noch akzeptieren, dass seine Frau nicht nur nichts tut, um sich gegen diese abzugrenzen, sondern sie auch noch fördert.

Ballettkurse, Klavierstunden, Reitunterricht, er hat das nicht gebraucht, wozu soll es gut sein? Nicht selten bildet sich dann eine Einheit aus der Mutter und den Kindern; die Freizeitgestaltung von einst – der Sport etwa – ist durch die Verpflichtungen der Kindererziehung ohnehin erschwert.

Der Vater zieht sich auf das Feld zurück, in dem er immer seine größte Bestätigung fand: die Berufsarbeit. Die Mutter nimmt mit leisem Groll zur Kenntnis, dass Elternabende und Kinderarztbesuche ihr zufallen. Aber sie tut ihre Pflicht, auch wenn ihr Mann findet, dass sie ihre Fürsorge übertreibt. Von ihm mehr getadelt als bestätigt, nähert sie sich oft wieder ihrer Ursprungsfamilie, ihrem eigenen Vater oder einer vertrauten Freundin, die ihre Wertvorstellungen mehr teilen als ihr bisher so wichtiger Partner. Sie findet es anstrengender, ihren Partner für solche Aktivitäten zu motivieren, als sie ihm abzunehmen. So entfremden sich die Eheleute. Wenn unter diesen Bedingungen auch die gemeinsame Erotik leidet, ist die Wahrscheinlichkeit recht groß, dass sich der Mann beim nächsten Betriebsausflug oder auf der nächsten Messe von einer unverheirateten Kollegin ungleich mehr bestätigt und angezogen fühlt als von seiner Frau.

Die Geburt eines Kindes, die das Verhältnis von Bauer und Bäuerin stabilisierte, ist eine charakteristische Krisenquelle in den modernen, individualisierten Beziehungen. Sie belastet fast immer die Fähigkeiten eines Paares, den gewohnten Austausch an Zärtlichkeit, Lust, Bestätigung aufrechtzuerhalten. Das Kind schreit Bedürfnisse unabweisbar hinaus, auf deren Befriedigung ein Erwachsener stumm zu warten pflegt und die er nicht einmal sich selbst eingesteht. Es liegt wie ein Magnet im Zimmer, der an sich reißt, was bisher zwischen den Erwachsenen hin und her floss.

In jeder Liebesbeziehung begegnet der Mensch paradoxen Situationen, die der Mathematik des Rechts spotten. Die eigene Eifersucht ist quälend und schreit nach Rücksicht; die Eifersucht des anderen ist lästig und sollte verschwinden. Ich will gerne meinen Partner immer haben, wenn ich ihn brauche – aber weshalb belästigt er mich schon wieder mit seinen Ansprüchen? Ich bin schüchtern und ängstlich, ich würde so gerne erobert und verführt werden – wieso kapiert meine Partnerin nicht, was sie da tun müsste, andere Frauen erraten doch auch die Wünsche der Männer! Ich hätte gern einen Mann, der weiß, was er will, und nicht einen Flunsch zieht, wenn ich wieder nicht die Initiative ergreife …