Titel

 

Angie Sage

 

SEPTIMUS HEAP

QUESTE

 

Aus dem Englischen von

Reiner Pfleiderer

 

Mit Illustrationen von

Mark Zug

 

Carl Hanser Verlag

 

Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Septimus Heap. Book Four: Queste bei Katherine Tegen Books, New York (Imprint von HarperCollins New York).

 

Published by arrangement with HarperCollins Children’s Books,

a division of HarperCollins Publishers, Inc.

 

Die Schreibweise in diesem Buch entspricht den Regeln der neuen Rechtschreibung.

 

 

ISBN 978-3-446-24211-1

© 2008 by Angie Sage

© Illustrationen Mark Zug 2008

Alle Rechte der deutschen Ausgabe:

© Carl Hanser Verlag München

2. E-Book-Auflage 2017

Umschlagillustration: Mark Zug

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

 

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Mehr über Septimus Heap gibt es unter www.septimus-heap.de

 

Datenkonvertierung E-Book:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

 

 

Für Katherine –

meine Lektorin,

danke

 

INHALT

 

7     Prolog: Nicko und Snorri

11  1 Nickos Entlassung

21  2 Endlich frei!

26  3 Der schwarze Index

40  4 Flucht aus den Ödlanden

52  5 Zum Dankbaren Steinbutt

60  6 Heim in die Burg

72  7 In Vertretung

81  8 Die Gewölbe

94  9 Ein Zimmer mit Ausblick

10510 Drachenpflege

11611 Drachenhüter

12112 Terry Tarsal

13113 Der Zauberschlitten

14014 Das Haus an der Schlangenhelling

14915 In der Dachkammer

15516 Snorris Karte

16717 Ärger

17918 In Fetzen

18619 Mr. Ephaniah Grebe

19620 Wieder zusammengesetzt

20421 Tertius Fume

21622 Gefeuert!

22323 Die Projektion

23124 Die Versammlung

24425 Belagerung

25526 Auf der Flucht

26627 Botenratten

27328 Das Questenschiff

28129 Silas im Wald

29130 Ein Versprechen

30331 Das Lager der Heaps

31332 Nächtliche Überfahrt

32333 Frühstück

33334 Waldwege

34135 Schnee

35036 Die Hütte

36137 Eine Einladung

37138 Aufgespürt

38239 Unter demSchnee

39240 Am Rande des Abgrunds

40141 Der Mautner

41042 Wieder vereint

41943 Die Brücke

43244 Der Türwächter

43945 Das Foryxhaus

44846 Ullrs Queste

45547 Septimus’ Queste

46948 Von Tür zu Tür

47549 In letzter Sekunde

485     Wie es weiterging mit …

PROLOG:
NICKO UND SNORRI

 

 

Auf der Zaubererallee ist Wochenmarkt. Ein Junge und ein Mädchen sind vor einem Heringsstand stehen geblieben. Der Junge hat blondes Haar, in das Zöpfe geflochten sind, wie sie Seeleute irgendwann in ferner Zukunft tragen werden. Seine grünen Augen haben

einen ernsten, fast traurigen Ausdruck, und er versucht, das Mädchen dazu zu überreden, sich von ihm eingelegte Heringe kaufen zu lassen.

Auch das Mädchen hat blondes Haar, nur ist ihres fast weiß, außerdem glatt und lang, und es wird von einem Lederstirnband zusammengehalten, wie es Nordhändler tragen. Ihre blassblauen Augen sehen den Jungen an. »Nein«, sagt sie. »Ich kann keinen Hering essen. Das würde mich zu sehr an zu Hause erinnern.«

»Aber du magst Hering doch«, sagt er.

Die Händlerin ist eine ältere Frau mit blassblauen Augen wie das Mädchen. Sie hat den ganzen Morgen noch keinen einzigen Hering verkauft und will sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. »Wenn du Hering magst«, schlägt sie dem Mädchen vor, »musst du meine unbedingt probieren. So sind sie richtig. So müssen sie eingelegt werden.« Sie schneidet ein Stück ab, spießt es auf ein spitzes Holzstäbchen und reicht es dem Mädchen.

»Na los, Snorri«, sagt der Junge, fast flehentlich. »Probier schon. Bitte

Snorri lächelt. »Na schön, Nicko. Dir zuliebe will ich probieren.«

»Und?«, fragt die Marktfrau. »Ist er gut?«

»Ja, gute Frau«, antwortet Snorri. »Sehr gut.«

Nicko ist stutzig geworden. Ihm ist aufgefallen, dass die Marktfrau wie Snorri spricht. Sie hat denselben singenden Tonfall, und sie spricht nicht diese alte Sprache, an die sich Snorri und er in den wenigen Monaten, die sie nun schon in dieser anderen Zeit leben, gewöhnt haben. »Bitte verzeihen Sie«, sagt er, »aber woher kommen Sie?«

Die alte Frau bekommt einen wehmütigen Blick. »Das würdest du nicht verstehen«, antwortet sie.

Nicko fährt unbeirrt fort. »Aber Sie sind nicht von hier. Das merkt man daran, wie Sie sprechen. Sie sprechen wie Snorri.« Er legt Snorri den Arm um die Schultern, und sie errötet.

Die alte Frau zuckt mit den Achseln. »Das stimmt, ich bin nicht von hier. Ich komme von weiter her, als du dir vorstellen kannst.«

Jetzt sieht auch Snorri die alte Frau prüfend an. Sie beginnt, in ihrer eigenen Sprache zu sprechen, in der Sprache ihrer Zeit.

Die Augen der alten Frau leuchten auf, als sie die Sprache hört, die sie als Kind gesprochen hat. »Ja«, antwortet sie auf die Frage, die ihr Snorri versuchsweise gestellt hat. »Ich bin Ells. Ells Larusdottir.«

Wieder stellt Snorri eine Frage, und die alte Frau antwortet argwöhnisch. »Ja, ich habe … oder hatte eine Schwester, die Herdis hieß. Woher weißt du das? Gehörst du zu diesen Gedankenräubern?«

Snorri schüttelt den Kopf. »Nein«, erwidert sie, immer noch in ihrer Sprache. »Aber ich bin eine Geisterseherin. Genau wie meine Großmutter Herdis Larusdottir. Und meine Mutter Alfrun, die noch nicht geboren war, als meine Großtante Ells durch den Spiegel verschwunden ist.«

Die alte Frau klammert sich so fest an ihren windschiefen Stand, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortreten, und Nicko fragt sich, was Snorri wohl zu ihr gesagt haben mag. Snorri hat ihm zwar ihre Sprache beigebracht, aber mit der alten Frau spricht sie viel zu schnell, als dass er mithalten könnte, und das einzige Wort, das er versteht, ist »Mutter«.

 

So kommt es, dass Großtante Ells Nicko und Snorri in ihr hohes, schmales Haus an der Burgmauer mitnimmt, ein großes Holzscheit in den Kachelofen wirft und ihnen ihre Geschichte erzählt. Viele Stunden später verlassen Snorri und Nicko das Haus von Großtante Ells, den Bauch voller Hering und das Herz voller Hoffnung. Denn sie tragen einen wertvollen Schatz bei sich: eine Karte, auf welcher der Weg zum Foryxhaus eingezeichnet ist, jenem Ort, an dem sich alle Zeiten begegnen. Noch am selben Abend fertigt Snorri zwei Kopien der Karte an und gibt eine Marcellus Pye, dem Alchimisten, in dessen Haus sie wohnen. In den folgenden Wochen sind sie Tag für Tag damit beschäftigt, ihre Reise ins Ungewisse zu planen.

Es ist ein grauer, regnerischer Morgen, als Marcellus Pye auf der Anlegestelle der Burg steht und ihrem Boot zum Abschied nachwinkt. Er fragt sich, ob er sie jemals wiedersehen wird. Er fragt es sich noch immer.

* 1 *
NICKOS ENTLASSUNG

 

 

Die Bootsbauerin Jannit Maarten war auf dem Weg in den Palast.

Jannit, eine große hagere Frau mit ausgreifenden Schritten und dem Pferdeschwanz eines Seemanns, hätte sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt, dass sie eines Tages ihr Ruderboot an der Schlangenhelling festmachen und zum Palasttor marschieren würde. Doch an diesem kühlen, grauen Frühlingstag tat sie genau dies, und ihr war mehr als nur ein bisschen mulmig zumute.

Ein paar Minuten später schaute Unterzauberin Hildegard, die heute im Palast den Türdienst versah, von ihrem Aufsatz zu dem Thema »Grundlagen, Praxis und Möglichkeiten der Transformation« auf, den sie für die Abendschule schreiben musste. Sie sah Jannit zögernd über die breite Bohlenbrücke kommen, die sich über den Zierwassergraben spannte und zum Palasttor führte. Froh über die Unterbrechung sprang Hildegard auf und grüßte lächelnd: »Guten Morgen, Miss Maarten. Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Sie wissen, wie ich heiße?«, fragte Jannit erstaunt.

Hildegard sagte Jannit nicht, dass sie sich vorgenommen hatte, alle Leute mit Namen zu kennen. Stattdessen antwortete sie: »Aber natürlich, Miss Maarten. Meine Schwester hat letztes Jahr auf Ihrer Werft ihr Boot reparieren lassen. Sie war mit der Arbeit sehr zufrieden.«

Jannit hatte keine Ahnung, wer die Schwester dieser Unterzauberin war, aber sie fragte sich unwillkürlich, um welches Boot es sich wohl handeln mochte. Für Boote hatte sie nämlich ein gutes Gedächtnis. Sie lächelte verlegen und nahm ihren zerbeulten Strohhut ab, den sie eigens für den Besuch im Palast aufgesetzt hatte. Der Strohhut war für Jannit, was für andere ein Ballkleid oder ein Diadem war.

»Damen dürfen ihre Hüte gern aufbehalten«, sagte Hildegard.

»Ach?«, erwiderte Jannit und fragte sich, was das mit ihr zu tun hatte. Sie hielt sich nicht für eine Dame.

»Wünschen Sie jemanden zu sprechen?«, fragte Hildegard, die Besucher gewohnt war, die keinen Ton herausbrachten.

Jannit drehte den Strohhut in den Händen. »Sarah Heap«, antwortete sie. »Wenn es recht ist.«

»Ich schicke einen Boten. Dürfte ich den Grund Ihres Besuchs erfahren?«

Nach einer langen Pause antwortete Jannit: »Nicko Heap.« Und starrte auf ihren Hut.

»Oh. Wenn Sie bitte einen Augenblick Platz nehmen würden, Miss Maarten. Ich hole jemanden, der Sie gleich zu ihr bringt.«

 

Zehn Minuten später saß Sarah Heap, die dünner als früher war, aber noch im Vollbesitz ihrer strohblonden Locken, an dem kleinen Tisch in ihrem Salon und sah mit ihren grünen Augen sorgenvoll Jannit Maarten an.

Jannit saß ihr gegenüber auf einem großen Sofa. Sie fühlte sich unbehaglich, aber das war nicht der Grund, warum sie nur auf der Sofakante saß. Sie saß deshalb auf der Kante, weil auf dem Sofa nicht mehr Platz war – der Rest war von dem Plunder belegt, der Sarah Heap überallhin zu verfolgen schien. Ein paar Topfpflanzen pikten sie in den Rücken, und ein schwankender Stapel Handtücher hatte sich gemütlich an sie gelehnt, und so saß sie stocksteif da und wäre fast vom Sofa gefallen, als plötzlich hinter einem Wäscheberg neben dem Kamin ein leises Schnattern hervortönte und eine rosahäutige, stoppelige Ente erschien, die ein buntes Jäckchen trug. Die Ente kam zu ihr herübergewatschelt und hockte sich vor ihre Füße.

Sarah schnippte mit den Fingern. »Komm her, Ethel.« Sofort stand die Ente wieder auf und wackelte hinüber zu Sarah, die sie hochhob und auf den Schoß nahm. »Einer von Jennas kleinen Lieblingen«, erklärte Sarah mit einem Lächeln. »Früher hat sie sich nie etwas aus Haustieren gemacht, und plötzlich hat sie zwei. Merkwürdig. Ich weiß nicht, wo sie die herhat.«

Jannit lächelte höflich, noch unschlüssig, wie sie mit dem, was sie zu sagen hatte, beginnen sollte. Verlegenes Schweigen trat ein, und nach einer Weile sagte sie: »Äh … eine große Wohnung haben Sie.«

»Oh ja, sehr groß«, erwiderte Sarah.

»Wunderbar für eine große Familie«, fügte Jannit hinzu und bereute es schon im nächsten Augenblick.

»Ja, wenn die Kinder bei einem wohnen wollen«, erwiderte Sarah bitter. »Aber nicht, wenn vier von ihnen lieber im Wald bei einem Hexenzirkel leben und nicht einmal auf einen Besuch nach Hause kommen. Gar nicht zu reden von Simon. Ich weiß, dass er etwas Unrechtes getan hat, aber er ist immer noch mein erstes Baby. Er fehlt mir sehr. Ich hätte ihn gerne hier bei mir. Es wird Zeit, dass er sich häuslich niederlässt. Er hätte es viel schlimmer treffen können als mit Lucy Gringe, ganz gleich, was sein Vater sagt. Hier wäre genug Platz für alle, auch für Kinder. Und was meinen kleinen Septimus angeht … Wir waren so viele Jahre getrennt, und jetzt steckt er die ganze Zeit oben im Zaubererturm bei dieser pingeligen Marcia Overstrand, die mich jedes Mal, wenn wir uns begegnen, fragt, ob ich nicht froh sei, Septimus so oft zu sehen. Eine Unverschämtheit! Sie hält das wohl für einen Scherz, denn in letzter Zeit sehe ich ihn kaum noch. Genau genommen seit Nicko …«

»Ach ja«, fiel ihr Jannit, die Gelegenheit nutzend, ins Wort. »Nicko. Seinetwegen … nun ja, Sie können sich wahrscheinlich denken, warum ich hier bin.«

»Nein«, erwiderte Sarah, die es sich sehr wohl denken konnte, aber nicht wollte.

»Ach.« Jannit blickte verlegen auf ihren Hut und legte ihn dann kurzerhand auf einen Haufen hinter ihr. Sarahs Mut sank. Sie ahnte, was jetzt kommen würde.

Jannit räusperte sich und begann: »Wie Sie wissen, ist Nicko nun schon seit sechs Monaten fort, und wie man hört, weiß niemand, wo er ist und wann er zurückkommt und ob er überhaupt jemals zurückkommen wird. Tatsächlich, und es tut mir sehr leid, das zu sagen, habe ich gehört, dass er niemals wiederkommen wird.«

Sarah stockte der Atem. Bislang hatte niemand gewagt, ihr das so offen ins Gesicht zu sagen.

»Es tut mir sehr leid, dass ich Sie so überfalle, Madam Heap, aber …«

»Oh, ich heiße Sarah. Bitte nennen Sie mich einfach nur Sarah.«

»Sarah. Es tut mir leid, Sarah, aber ohne Nicko bewältigen wir die Arbeit nicht mehr. Die Sommersaison steht vor der Tür, und dann wollen noch mehr übermütige Dummköpfe aufs Meer hinausfahren und auf Heringsfang gehen. Die wollen alle, dass ihre Boote bis dahin flottgemacht sind. Außerdem ist die Porter Fähre nach den monatelangen Unwettern schon wieder reparaturbedürftig – kurz und gut, auf uns kommt jede Menge Arbeit zu. Verzeihen Sie, aber solange Nicko noch bei mir Lehrling ist, kann ich nach der Ausbildungsordnung der Bootsbauergilde – an die ich mich halten muss, obwohl sie voller Tücken steckt – niemand anders einstellen. Ich brauche aber dringend einen neuen Lehrling, zumal Rupert Gringes Lehrzeit bald zu Ende geht.«

Sarah Heap hatte fest die Hände gefaltet, und Jannit bemerkte, dass ihre Fingernägel bis aufs Fleisch abgenagt waren. Sarah zitterte und schwieg eine Weile. Dann, gerade als Jannit dachte, sie müsste das Schweigen brechen, sagte sie: »Er wird zurückkommen. Ich glaube nicht, dass sie in der Zeit zurückgereist sind – niemand vermag das. Jenna und Septimus haben sich alles nur eingebildet. Es war irgendein böser, böser Zauber. Wie oft habe ich Marcia gebeten, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie könnte Nicko finden, das weiß ich genau, aber sie unternimmt nichts. Rein gar nichts. Das alles ist ein furchtbarer Albtraum!« Sarah hatte verzweifelt die Stimme gehoben.

»Das tut mir leid«, murmelte Jannit, »aufrichtig leid.«

Sarah holte tief Luft und versuchte, sich zu beruhigen. »Sie können ja nichts dafür, Jannit. Sie waren immer gut zu Nicko. Er hat sehr gerne bei Ihnen gearbeitet. Natürlich müssen Sie sich einen anderen Lehrling suchen. Nur hätte ich eine Bitte an Sie.«

»Aber gewiss«, erwiderte Jannit.

»Wenn Nicko zurückkommt, kann er dann die Lehre bei Ihnen fortsetzen?«

»Es wäre mir eine Freude.« Jannit lächelte, erleichtert, dass Sarah um einen Gefallen bat, den sie erfüllen konnte. »Und sollte ich bis dahin einen neuen Lehrling haben, kann Nicko in Ruperts Fußstapfen treten und mein neuer Geselle werden.«

Sarah lächelte wehmütig. »Das wäre wunderbar«, sagte sie.

»Und jetzt …«, nun kam der Teil, vor dem Jannit graute, »… muss ich Sie leider bitten, die Kündigung zu unterschreiben.« Sie stand auf, um eine Pergamentrolle aus ihrer Jackentasche zu ziehen, und der Stapel Handtücher, plötzlich seiner Stütze beraubt, fiel um und nahm ihren Platz in Beschlag.

Jannit räumte auf dem Tisch eine Ecke frei und entrollte das lange Stück Pergament, das Nickos Lehrvertrag war. Sie beschwerte es oben und unten mit Gewichten, die gerade zur Hand waren – einem zerfledderten Roman mit dem Titel Liebe auf hoher See und einer großen Tüte Kekse.

»Oh.« Sarah stockte der Atem, als sie unten auf dem Pergament Nickos krakelige Unterschrift sah – neben der von Jannit und ihrer eigenen.

Hastig legte Jannit die Kündigung, einen kleinen Pergamentstreifen, auf die Unterschriften und sagte: »Sarah, ich muss Sie als eine der Parteien, die den Vertrag unterzeichnet haben, bitten, die Kündigung zu unterschreiben. Ich hätte eine Feder, falls Sie … falls Sie keine finden.«

Sarah konnte keine finden, und so nahm sie die Feder und das Tintenfass, die Jannit aus der anderen Tasche ihrer Jacke gezogen hatte, tauchte die Feder in die Tinte und setzte ihren Namenszug auf das Pergament. Ihr war, als ziehe sie damit einen Schlussstrich unter Nickos Leben.

Eine Träne tropfte auf die Tinte und verschmierte sie. Beide Frauen taten so, als hätten sie es nicht bemerkt.

Jannit unterzeichnete daneben. Dann zog sie aus ihrer unerschöpflichen Jackentasche eine Nadel, in die ein dickes Segelgarn eingefädelt war, und nähte die Kündigung auf die alten Unterschriften.

Nicko Heap war jetzt nicht mehr Jannet Maartens Lehrling.

Jannit ergriff den Hut, der hinter ihr auf einem Haufen schwebte, und eilte davon. Erst als sie an ihrem Boot anlangte, bemerkte sie, dass sie versehentlich Sarahs Gärtnerhut erwischt hatte. Sie stülpte ihn sich trotzdem auf den Kopf und ruderte gemächlich zu ihrer Werft zurück.

 

Silas Heap und Maxie, der Wolfshund, fanden Sarah im Kräutergarten. Aus irgendeinem Grund, den Silas nicht verstand, trug Sarah einen Matrosenstrohhut. Außerdem hatte sie Jennas Ente bei sich. Silas war von der Ente nicht eben begeistert – beim Anblick der Federstoppeln bekam er immer Gänsehaut, und das gehäkelte Jäckchen nahm er als Zeichen dafür, dass Sarah allmählich den Verstand verlor.

»Ah, da bist du ja«, rief er und eilte den gepflegten Grasweg entlang zu dem Minzebeet, in dem Sarah traumverloren herumstocherte. »Ich habe dich überall gesucht.«

Sarah antwortete mit einem matten Lächeln, und als Silas und Maxie durch die wehrlose Minze trampelten, erhob sie nicht den leisesten Protest. Silas sah sorgenbeladen aus wie Sarah. Seine strohblonden Locken hatten in letzter Zeit einen Grauton angenommen, sein blauer Mantel eines Gewöhnlichen Zauberers schlackerte ihm um den Leib, und sein Zauberergürtel war ein oder zwei Löcher enger geschnallt als gewöhnlich. Umhüllt vom frischen Duft der zertrampelten Minze, trat er auf Sarah zu und setzte sogleich zu der Rede an, die er sich zurechtgelegt hatte.

»Es wird dir nicht gefallen«, sagte er, »aber ich habe einen Entschluss gefasst. Maxie und ich werden in den Wald gehen, und wir werden nicht wiederkommen, ehe wir ihn gefunden haben.«

Sarah nahm die Ente auf den Arm und drückte sie so fest an sich, dass der Vogel ein ersticktes Quak von sich gab. »Du bist stur wie ein Esel«, schimpfte sie. »Wie oft habe ich dir gesagt, dass du Marcia nur dazu überreden musst, etwas gegen diesen schrecklichen schwarzen Zauber zu unternehmen, der Nicko irgendwo festhält. Nicko wäre im Handumdrehen wieder da. Aber du willst ja nicht. Immerzu redest du von diesem blöden Wald …«

Silas seufzte. »Marcia glaubt nicht, dass schwarze Magie dahintersteckt. Das habe ich dir doch gesagt. Es hat doch keinen Sinn, sie immer wieder darum zu bitten.« Sarah blickte ihn so finster an, dass er es anders versuchte. »Hör doch, Sarah, ich muss etwas tun, sonst werde ich noch verrückt. Sechs Monate ist es jetzt her, dass Jenna und Septimus ohne Nicko zurückgekommen sind. Ich kann nicht länger warten. Du hattest denselben Traum wie ich. Du weißt, dass er etwas zu bedeuten hat.«

Sarah erinnerte sich genau an den Traum, den sie ein paar Monate nach Nickos Verschwinden gehabt hatte. In diesem Traum ging Nicko durch einen tief verschneiten Wald. Es dämmerte, und vor ihm schien ein gelbes Licht durch die Bäume. Bei ihm war ein Mädchen, etwas größer und älter als er, wie es schien. Sie hatte langes, weißblondes Haar und war in einen Wolfspelz gehüllt. Sie deutete auf das Licht vor ihnen. Nicko nahm sie bei der Hand, und zusammen liefen sie dem Licht entgegen. In diesem Augenblick hatte Silas zu schnarchen begonnen, und Sarah war aufgewacht. Am nächsten Morgen hatte ihr Silas aufgeregt erzählt, dass er von Nicko geträumt habe. Er erzählte ihr den Traum, und mit Erstaunen stellte sie fest, dass er dasselbe geträumt hatte wie sie.

Seit jenem Tag war Silas davon überzeugt, dass Nicko im Wald war, und wollte sich auf die Suche nach ihm begeben. Doch Sarah war dagegen. Der Wald in ihrem Traum, so sagte sie immer wieder zu Silas, sei nicht der Burgwald gewesen. Er habe anders ausgesehen, dessen sei sie sich sicher. Doch Silas widersprach. Er kenne den Wald genau und sei davon überzeugt, dass es der Burgwald gewesen sei.

Sarah und Silas waren beileibe nicht immer einer Meinung, seit sie zusammen lebten, doch meist begruben sie ihre Meinungsverschiedenheiten schon nach kurzer Zeit, spätestens dann, wenn Silas ein paar Wildblumen oder Kräuter für Sarah als Versöhnungsgeschenk mit nach Hause brachte. Diesmal freilich brachte er kein Versöhnungsgeschenk. Ihr Streit über das Thema Wald wurde immer erbitterter, und bald hatten sie beinahe den eigentlichen Grund für ihre Traurigkeit, nämlich Nickos Verschwinden, aus den Augen verloren.

Doch nun war Silas zufällig Jannit Maarten begegnet, als sie mit Nickos ehemaligem Lehrvertrag aus dem Palast kam. Und da hatte er einen Entschluss gefasst. Er wollte in den Wald gehen, um Nicko zu suchen, und niemand konnte ihn davon abhalten, am wenigsten Sarah.

* 2 *
ENDLICH FREI!

 

 

»Füttere die Magogs, lass die Finger von Spürnase und schnüffle nicht im Zimmer herum, verstanden?«, befahl Simon Heap seinem mürrisch dreinblickenden Gehilfen Merrin Meredith.

»Ja, ja«, grummelte Merrin, der lustlos in dem einzigen bequemen Sessel im Observatorium lümmelte. Sein zotteliges dunkles Haar hing ihm ins Gesicht und verbarg den dicken Pickel, der ihm über Nacht mitten auf der Stirn gesprossen war.

»Ob du verstanden hast?«, fragte Simon ungehalten.

»Ich hab doch Ja gesagt, oder etwa nicht?«, brummte Merrin und schwang seine langen, schlaksigen Beine, sodass sie mit aufreizender Regelmäßigkeit gegen den Sessel stießen.

»Und halte die Wohnung in Ordnung«, ermahnte ihn Lucy Gringe. »Ich möchte keinen Schweinestall vorfinden, wenn ich zurückkomme.«

Merrin sprang auf und machte eine gespielte Verbeugung. »Jawohl, gnädige Frau. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun, gnädige Frau?«

Lucy Gringe kicherte.

Simon Heap runzelte die Stirn. »Komm, Lucy«, knurrte er gereizt. »Ich möchte vor Einbruch der Dunkelheit in Port sein.«

»Warte eine Sekunde, ich muss noch meine …«

»Deine Tasche habe ich und deinen Mantel auch. Komm jetzt, Lucy.« Mit großen Schritten, die auf dem schwarzen Schiefer hohl klangen, durchmaß Simon das Observatorium und verschwand in dem Bogengang aus Granit, der zur Treppe führte. »Und Merrin«, hallte seine Stimme die Stufen herauf, »dass du mir keine Dummheiten machst.«

Merrin trat zornig gegen den Sessel, und eine Wolke von Staub und aufgescheuchten Motten stob in die Luft. Er war nicht dumm. Er war nicht dumm! In den ersten zehn Jahren seines Lebens hatte ihn DomDaniel, sein alter Meister, immer einen Dummkopf genannt, und er war es leid. All die Jahre war er irrtümlich für Septimus Heap gehalten worden, und so sehr er sich auch bemüht hatte, er war ein schlechter Ersatz für den echten Septimus gewesen. DomDaniel hatte nie seinen Irrtum erkannt und nie begriffen, warum sein unseliger Lehrling immer alles falsch machte.

Mit verdrossenem Gesicht warf sich Merrin wieder in den alten Sessel und sah zu, wie Lucy Gringe mit wehenden Zöpfen und Bändern umherwuselte und ihre sieben Sachen zusammensuchte.

Dann endlich war sie fertig. Sie ergriff den bunten Schal, den sie an langen Winterabenden in der Hafenkonditorei für Simon gestrickt hatte, und eilte ihm nach. Bevor auch sie in dem düsteren Granitbogengang verschwand, winkte sie Merrin noch kurz zu. Seine finstere Miene hellte sich auf, und er winkte zurück. Lucy brachte ihn immer zum Lächeln.

Das Observatorium war für Lucy der schaurigste Ort auf der Welt, und sie war so glücklich, von hier fortzukommen, dass sie schon nicht mehr an Merrin dachte, als sie den langen Abstieg antrat, der in die kalte, feuchte und mit Wurmschleim bedeckte Höhle hinabführte, in der Donner, Simons Rappe, stand.

Merrin lauschte ihren Schritten nach, bis sie in der Ferne verhallten und drückender Stille wichen. Dann sprang er auf, ergriff eine lange Stange und ließ geschwind die schwarzen Rollos an der hohen Glaskuppel des Raumes herunter – die Glaskuppel war der einzige Teil des Observatoriums, der aus dem spärlich mit Gras bewachsenen Gestein an der Spitze der hohen Schieferbrüche herausragte und oberirdisch zu sehen war. Merrin ließ ein Rollo nach dem anderen herunter, und langsam verdunkelte sich der riesige Raum, bis schummriges Zwielicht herrschte.

Merrin ging hinüber zu der Camera obscura – einer großen, nach innen gewölbten Scheibe in der Mitte des runden Raumes – und blickte gespannt darauf. War die Scheibe zuvor, als das Licht der Morgensonne durch die Glaskuppel geströmt war, noch flächig weiß gewesen, so war nun das bunte, gestochen scharfe Bild einer Landschaft darauf zu sehen. Verzückt beobachtete Merrin Schafe, die lautlos in einer Reihe über eine Felsspitze am Rand der Schlucht trotteten, und rosa Wolken, die hinter ihnen am Himmel schwebten.

Er fasste nach oben, ergriff den langen Balken, der vom Mittelpunkt der Glaskuppel herabhing, und drehte ihn. Ein unwilliges Quietschen ertönte von der kleinen, in die Spitze der Kuppel eingesetzten Linse, die das Bild auf die Scheibe darunter warf. Während Merrin die Linse einmal im Kreis drehte, veränderte sich das Bild vor ihm und zeigte ein stummes Panorama der Außenwelt. Nur zum Spaß drehte er sie noch einmal um 360 Grad, dann suchte er die Stelle, die er sehen wollte. Er ließ den Balken los, und das Quietschen verstummte. Sich die schwarzen Zotteln aus den Augen streichend, beugte er sich vor und betrachtete aufmerksam die Szene vor ihm.

Die Scheibe zeigte einen langen, schmalen Pfad, der sich zwischen Felsen zu Tal schlängelte. Zu seiner Rechten war eine tiefe Schlucht zu sehen, zu seiner Linken erhoben sich steile Schieferwände mit vereinzelten Geröllhalden oder herabgestürzten Felsbrocken dazwischen. Merrin wartete geduldig, bis Donner endlich ins Bild kam. Der Rappe setzte bedächtig einen Huf vor den anderen, vorsichtig gelenkt von Simon, der gegen die morgendliche Kühle den schwarzen Umhang übergeworfen hatte. Außerdem trug er den Schal von Lucy, die sich das andere Ende selbst um den Hals gewickelt hatte. Sie saß, eingemummt in ihren kostbaren blauen Mantel, hinter Simon und hatte die Arme fest um seine Taille geschlungen. Grinsend sah Merrin zu, wie das Pferd lautlos über die Scheibe stapfte. Da zogen sie hin, genau wie von ihm geplant, und er beglückwünschte sich dazu, wie er die ganze Sache eingefädelt hatte. Vor ein paar Wochen war Lucy Gringe hier aufgetaucht – dabei hatte sie eine Nervensäge von Ratte, die er mit einem gezielten Tritt davongejagt hatte –, und noch am selben Tag hatte er begonnen, einen Plan zu schmieden. Seine Gelegenheit kam schneller, als er erhofft hatte. Lucy wünschte sich einen Ring, und nicht irgendeinen alten Ring, sondern einen Diamantring.

Er hatte sich gewundert, wie schnell und wie oft Simon Lucys Meinung übernahm. Sogar was Diamantringe anging. Er hatte die Gelegenheit beim Schopf gepackt und sich erboten, auf das Observatorium aufzupassen, falls Simon mit Lucy nach Port reisen wollte, um einen Ring zu kaufen. Simon war darauf eingegangen, denn er trug sich mit der Absicht, beim Räumungsverkauf in Drago Mills Lagerhaus vorbeizuschauen, von dem die Ratte des Langen und Breiten erzählt hatte. Nach dem Ableben des Lagerhausbesitzers hatte der Ausverkauf vor einer Woche begonnen, und allem Anschein nach konnte man dort erstaunlich günstige Käufe tätigen. Lucy Gringe hatte freilich andere Vorstellungen. Ihr schwebte ein Ring vor, der keine Wünsche offenließ, und den gab es ganz bestimmt nicht beim Räumungsverkauf in Drago Mills Lagerhaus.

Nun endlich wurde Merrins Geduld belohnt. Gespannt sah er zu, wie Donner die beiden Reiter aus dem Bild auf der Scheibe trug, und als gleich darauf auch der Schwanz des Rappen verschwand, stieß er einen lauten Jauchzer aus. Sein Leben lang hatte er sich von anderen vorschreiben lassen müssen, was er zu tun hatte. Endlich, endlich war er frei!

* 3 *
DER SCHWARZE INDEX

 

 

Aus seinem Geheimversteck unter der Matratze zog Merrin ein schmales, in Leder gebundenes und mit Eselsohren verunziertes Buch hervor, auf dessen Deckel in verblassten schwarzen Lettern Der schwarze Index stand. Er grinste. Endlich konnte er darin lesen, ohne es vor dem Schnüffler Simon Heap und der lästigen Lucy verstecken zu müssen. Sie war noch schlimmer als er. Den lieben langen Tag fragte sie ihn Sachen wie »Was tust du, Merrin?« oder »Was liest du denn da, Merrin? Zeig mal. Ach komm, Merrin, sei doch nicht gleich eingeschnappt«.

Seit er das Buch hinten in einem verstaubten Schrank, den er auf Simons Geheiß entrümpeln und putzen sollte, gefunden hatte, war er davon gefesselt. Der schwarze Index sprach ihm aus dem Herzen. Er begriff seine Zauberformeln und Regeln, und ganz besonders gefiel ihm der Teil, der davon handelte, wie man die Regeln brach. Das Buch hatte jemand geschrieben, den Merrin verstand.

In seiner kleinen Zelle, die mit einem Vorhang vom Observatorium abgetrennt war (denn Jenna hatte die Tür einst in Schokolade verwandelt), hatte er oft stundenlang unter der Bettdecke beim Schein einer Glühraupenlampe gelesen. Einmal hatte Simon das Licht bemerkt und ihn damit aufgezogen, dass er sich im Dunkeln fürchte, doch im Unterschied zu sonst hatte sich Merrin nicht von ihm reizen lassen. Ihm war daran gelegen, dass Simon sich nicht weiter um das Licht kümmerte, das bis in die frühen Morgenstunden brannte. Sollte Simon doch glauben, was er wollte. Eines Tages würde er schon dahinterkommen, dass er, Merrin, keine Angst vor der Dunkelheit hatte – oder vor Schwarzer Magie.

Jetzt entzündete Merrin alle Kerzen, die er finden konnte – Simon knauserte mit Kerzen und duldete nicht, dass mehrere gleichzeitig brannten –, und verteilte sie im weiten Rund des Observatoriums. Das Halbdunkel, in das die Rollos den Raum getaucht hatten, wich warmem Kerzenlicht. Merrin redete sich ein, er tue das nur, weil er Licht zum Lesen brauche. Aber ein wenig hatte Simon schon recht: Er mochte die Dunkelheit nicht, schon gar nicht, wenn er allein war.

Merrin beschloss, es sich ein wenig gemütlich zu machen. Er ging in die kleine Küche und suchte die restlichen Pasteten zusammen, die Lucy gebacken hatte. Er fand zwei mit Fleisch und Niere, eine mit Huhn und Pilzen und eine zermatschte Apfeltasche. Dann goss er sich einen großen Becher von Simons Apfelmost ein, stellte alles auf den kleinen Tisch neben seinem schmalen Bett mit der klumpigen Matratze und legte ein paar muffig schmeckende Stücke von der Schokoladentür dazu, die er in einer schmutzigen Ecke unter dem Bett gefunden hatte. Zu guter Letzt holte er die dicke Wolldecke von Simons Bett. Er fror nicht gern, tat es hier aber meistens, weil im Observatorium, das tief in das Schiefergestein gehauen war, immer eine eisige Kälte herrschte.

Er freute sich darauf, den ganzen Tag nur das zu tun, wozu er Lust hatte. Er wickelte sich in die Decke, legte sich auf das Bett, ohne vorher die Schuhe auszuziehen, und fiel über seinen Essensberg her. Am späten Vormittag lag Merrins Buch auf dem Boden, und er selbst schlief tief und fest inmitten von Pastetenkrümeln, schimmligen Schokoladenklumpen und verschmähten Nierenstücken. Seit Simon ihm erklärt hatte, was Nieren eigentlich taten, ekelte er sich davor.

Nacheinander brannten alle Kerzen im Observatorium herunter, doch Merrin schlief weiter, bis das Zischen der letzten erlöschenden Kerze ihn aus dem Schlaf riss. Panische Angst ergriff ihn. Die Nacht war hereingebrochen. Es war stockfinster, und er konnte sich nicht erinnern, wo er war. Er sprang aus dem Bett und stieß gegen den Türpfosten. Im Zurücktaumeln bemerkte er einen dünnen Mondstrahl, der durch einen Schlitz zwischen den Rollos drang und auf die weiße Scheibe der Camera obscura fiel. Wieder etwas ruhiger, zog er seine Zunderbüchse hervor und zündete frische Kerzen an. Bald erstrahlte das Observatorium wieder in warmem Kerzenlicht und verströmte fast einen Hauch von Behaglichkeit. Doch was Merrin nun plante, hatte mit Gemütlichkeit so wenig zu tun, wie man sich nur vorstellen konnte.

Er hob den Schwarzen Index vom Boden auf und schlug die letzte Seite auf, deren Überschrift lautete:

 

Wie man mit der Macht des doppelgesichtigen Ringes

das Schicksal eines anderen verdunkelt

oder seinen Feind zugrunde richtet.

Eine bewährte und vom Verfasser

mit großem Erfolg angewandte Methode.

 

Merrin kannte diesen Abschnitt auswendig, aber er hatte noch nie weitergelesen, denn in der nächsten Zeile stand:

 

Lies nicht weiter, eh du zum Handeln bereit,

Sonst droht dir Unheil noch vor der Zeit.

 

Merrin schluckte. Jetzt war er zum Handeln bereit. Er hatte ein trockenes Gefühl im Mund und leckte sich die Lippen. Sie schmeckten unangenehm nach alter Pastete. Er holte sich ein Glas Wasser, trank es in einem Zug leer und fragte sich, ob er die ganze Sache nicht lieber auf morgen Abend verschieben sollte. Doch die Aussicht auf einen weiteren trostlosen Tag allein im Observatorium war wenig verlockend. Außerdem konnten Simon und Lucy jederzeit zurückkommen. Nein, er musste es jetzt tun. Und so las er mit einem mulmigen Gefühl im Magen weiter:

 

Zuvörderst beschwörst du dein Helfergespenst.

 

Merrins Herz begann zu klopfen. Das Helfergespenst beschwören! Das hatte nicht einmal Simon gewagt. Doch nun, da er angefangen hatte, hatte er nicht den Mut, wieder aufzuhören. Die Buchseite war unten so nach innen gefaltet, dass sie eine Tasche bildete. In diese Tasche griff er nun hinein und zog so vorsichtig, als hole er eine besonders giftige Spinne aus ihrem Versteck, den Charm hervor, den er für die Beschwörung benötigte. Der Charm war ein oblatendünner schwarzer Diamant und fühlte sich kalt an wie Eis. Der Anweisung folgend, hielt Merrin den Diamanten an sein Herz, und während die Kälte des Steins sich tief in seine Brust senkte, sprach er die Beschwörungsformel. Doch nichts geschah. Kein Windstoß, kein Knistern in der Luft, keine huschenden Schatten, nichts. Die Kerzen brannten ruhig weiter, und das Observatorium erschien ihm so leer wie immer. Merrin versuchte es noch einmal. Wieder nichts.

Ein schrecklicher Verdacht beschlich ihn – es stimmte, er war wirklich dumm. Wieder las er die Worte, langsam diesmal. Doch abermals geschah nichts. Er wiederholte die Worte immer wieder, überzeugt, dass er etwas übersehen hatte, irgendetwas Offensichtliches, das jeder halbwegs vernünftige Mensch sofort bemerkt hätte. Aber es erschien kein Gespenst, kein gar nichts. Jetzt wurde er zornig und brüllte die Zauberformel – nichts. Er flüsterte sie, sprach sie in flehentlichem, dann in schmeichelndem Ton, und in seiner Verzweiflung schrie er sie rückwärts. Alles ohne den geringsten Erfolg. Erschöpft und enttäuscht sank er zu Boden. Er hatte alles versucht, was ihm eingefallen war, und nichts hatte geklappt – wie üblich.

Was Merrin nicht ahnte: Seine Beschwörungen hatten sehr wohl funktioniert, und zwar jede einzelne. Das Observatorium wimmelte jetzt förmlich von Gespenstern. Das Dumme war nur, dass er sie nicht sehen konnte.

Gespenster waren im Allgemeinen unsichtbar, und das war auch gut so, denn sie boten keinen schönen Anblick. Die meisten hatten eine menschenähnliche Gestalt, freilich keine eindeutig männliche oder weibliche. Für gewöhnlich waren sie groß, dürr und klapprig wie ein Gerippe, und ihre Kleider waren nichts weiter als schwarze Lumpen. In ihren Gesichtern lag Trauer und manchmal Verzweiflung, hinter der sich tiefe Bosheit verbarg, sodass empfindsame Seelen, die das Pech hatten, ihrem Blick zu begegnen, danach noch wochenlang todunglücklich waren. Merrin hatte eine Tante Edna, auf die diese Beschreibung genau zutraf. Er kannte Tante Edna nicht, und dennoch hätte er sie leicht von jedem Gespenst unterscheiden können, denn Gespenster sahen immer tot aus.

Jetzt las Merrin den zweiten Teil der Anweisungen:

 

Nun sprich zu dem Gespenst.

Verlange, dass es sichtbar werde

Und sich dir zeige auf der Erde.

 

»Iiiih!«, schrie Merrin, der mit einem Schlag begriff, was geschehen war. Wutentbrannt pfefferte er das Buch an die Wand. Woher sollte er wissen, dass Gespenster unsichtbar waren? Warum hatte das nicht schon weiter vorne in dem Buch gestanden?

Eine halbe Stunde später hatte er sich wieder beruhigt. Er wusste, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als weiterzumachen, und so hob er das Buch auf, schlug es an der zerknitterten Seite auf und ging daran, die Anweisungen auszuführen. Er sprach den Sichtbarkeitszauber, schloss die Augen und zählte bis dreizehn. Dann schlug er mit einem beklommenen Gefühl die Augen wieder auf – und schrie erneut.

Er war von Gespenstern umringt. Sechsundzwanzig Gespenster sahen ihn gekränkt und vorwurfsvoll an, als wollten sie sagen: »Warum hast du nicht mich allein gerufen? Bin ich dir etwa nicht gut genug?« Sie bewegten die Lippen, murmelten und stöhnten, gaben sonst aber keinen Laut von sich. Sie waren viel größer als er und blickten so durchdringend auf ihn herab, dass er, obwohl er nicht gerade als empfindsam galt, tiefe Traurigkeit in sich aufsteigen spürte. Wieder einmal ging alles gründlich schief, sagte er sich. Simon hatte recht, alle hatten recht. Er war dumm. Doch jetzt gab es kein Zurück mehr. Er musste weitermachen, sonst drohte ihm Unheil, wie es in dem Buch hieß. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen las er die nächste Anweisung:

 

Nun nimm das Gespenst und begebe dich

Auf die Suche nach dem Ring mit dem Doppelgesicht.

 

Merrin bekam einen Schreck, als er die Worte las: Ring mit dem Doppelgesicht. Dieser Ring verursachte ihm bis heute Albträume.

Ein paar Monate war es jetzt her, dass Simon schlecht gelaunt im Observatorium aufgeräumt und sich laut über die Unordentlichkeit seines Gehilfen beklagt hatte. Merrin selbst hatte sich in der Speisekammer versteckt und vertilgte gerade still und leise einen Geheimvorrat kalter Würstchen, als er Simon plötzlich aufschreien hörte. Beinahe wäre ihm der Bissen im Hals stecken geblieben – Simon schrie sonst nie. Nach Atem ringend und hustend stürzte er ins Observatorium, und dort bot sich ihm ein wahrhaft furchterregender Anblick: Ein Haufen Knochen, die wie aus Gummi aussahen und von schwarzem Schleim glänzten, verfolgte Simon langsam staksend durch das Observatorium. Einen Müllsack wie einen Schutzschild vor sich hinhaltend, wich Simon vor ihm zurück, einen Ausdruck tiefsten Entsetzens im Gesicht.

Merrin wusste sofort, wem die Knochen gehörten – seinem alten Meister DomDaniel. Es war der Ring, der es ihm verriet. Der klobige, doppelgesichtige Ring aus Jade und Gold, den DomDaniel stets am Daumen getragen hatte, stach leuchtend von den schwarz glänzenden Knochen ab. »Dieser Ring«, hatte DomDaniel einmal zu ihm gesagt, »ist unvergänglich. Wer ihn trägt, ist unsterblich. Ich trage ihn, also bin ich unsterblich. Denk immer daran, Junge!« Er hatte gelacht und mit seinem dicken rosigen Daumen vor Merrins Gesicht herumgewackelt.

Merrin beobachtete, wie der Haufen Knochen den entsetzten Simon in die Enge trieb. Er lauschte. Aus dem Innern des Haufens drang ein eintöniger Vernichtungsgesang, der direkt gegen Simon gerichtet war. Am liebsten hätte sich Merrin sofort zu einer Kugel zusammengerollt, ohne dass er wusste, warum. Zu seinem Glück erinnerte er sich nicht an jenen Tag in den Marram-Marschen, an dem DomDaniel genau denselben Gesang gegen ihn gerichtet hatte.

Während der Gesang sich unerbittlich seinem Ende zuneigte – bei dem Simon wie ein Schatten vergehen würde –, sah Merrin, wie mit Simon Heap eine Veränderung vor sich ging. Aber nicht die von DomDaniel beabsichtigte. Plötzlich wich die Angst in Simons Augen unbändiger Wut. Merrin kannte diesen Blick und wusste, dass er nichts Gutes bedeutete.

Und tatsächlich. Mit der blitzartigen Geschwindigkeit eines Schmetterlingssammlers, der ein Prachtexemplar erhascht, schleuderte Simon seinen Müllsack gegen die Knochen und stieß dazu eine magische Verwünschung aus. Die Knochen fielen in sich zusammen, und ein paar kullerten über den Fußboden, doch der Gesang verstummte nicht. In panischer Angst sammelte Simon die verstreuten Knochen ein und warf sie in den Sack, so wie er es Minuten zuvor noch mit dem Unrat getan hatte. Der schwarzmagische Gesang hielt an, nun gedämpft durch den Sack.

In wilder Verzweiflung warf Simon den letzten Knochen in den Sack. Dann rannte er, als ginge es um sein Leben – was es ja auch tat –, quer durch das Observatorium, riss die Tür zum Endlosschrank auf, schleuderte den Sack hinein, knallte die Tür wieder zu und verriegelte sie mit einem Zauber. Dann knickten, sehr zu Merrins Freude, seine Beine unter ihm ein, und er fiel wie ein nasser Sack zu Boden. Merrin hatte damals den Augenblick genutzt, um die Würstchen vollends aufzuessen.

Aber jetzt sollte er diese scheußlichen Knochen wiedersehen. Und ihnen, was noch schlimmer war, den Ring abnehmen. Doch am allerschlimmsten war, dass er dazu in den Endlosschrank gehen und nach ihnen suchen musste. Davor grauste es ihn. DomDaniel höchstpersönlich hatte den Endlosschrank gebaut. Er diente der Beseitigung schwarzmagischer Gegenstände, die man nicht mehr benötigte oder die sich nicht entzaubern ließen. Der Schrank schlängelte sich tief in das Innere des Gesteins, und wenn er in Wirklichkeit auch nicht endlos war, so reichte er doch kilometerweit.

Merrin schluckte schwer. Er wusste, was er zu tun hatte. Jetzt gab es kein Zurück mehr. Zitternd murmelte er den Entriegelungszauber, griff nach dem unscheinbar aussehenden Messingknauf der Schranktür und zog daran. Die Tür ging auf. Merrin taumelte zurück. Eiskalte Luft schlug ihm entgegen, und mit ihr ein übler Gestank nach nassem Hund und faulendem Fleisch mit einer Spur verbranntem Gummi. Er würgte und spuckte angeekelt aus.

Mit einem unheilvollen Gefühl spähte er in das Dunkel. Der Schrank schien leer, doch er wusste, dass er nicht leer war. Der Endlosschrank konnte Gegenstände verschieben und beförderte diejenigen, die am stärksten magisch verseucht waren, tief in das Innere des Berges. Merrin mochte gar nicht daran denken, wie weit er wohl die Knochen fortgeschafft hatte.

Er hob die Kerze über seinen Kopf und trat hinein. Der Schrank wand sich durch das Gestein wie eine Ranke. Je weiter Merrin kam, desto kälter wurde es. Nach zehn oder zwölf Schritten begann die Kerze in der schlechten Luft zu flackern, doch er zwang sich weiterzugehen, tiefer in den Schrank hinein. Die Flamme wurde kleiner, und bald brannte sie nur noch mit einem matten roten Schein. Merrin bekam es mit der Angst zu tun. Wenn für die Flamme zu wenig Luft da war, dann war bestimmt auch für ihn zu wenig Luft da. Er verspürte eine leichte Benommenheit und vernahm ein hohes Sirren in den Ohren. Er tat noch ein paar Schritte, dann erlosch die Kerze. Einen kurzen Augenblick noch sah er ein rotes Glimmen an der Spitze des Dochts, dann war stockfinstere Nacht.

Merrin schnürte es die Brust zusammen. Er öffnete den Mund weit und wollte Luft holen, doch es war keine da. Er begriff, dass er aus dem Schrank hinausmusste, und zwar schnell. Keuchend machte er kehrt – und lief direkt in ein Gespenst hinein, das reglos hinter ihm stand. In blindem Schrecken zwängte er sich an ihm vorbei, doch da stand schon das nächste im Weg, und dahinter noch eines. Entsetzt begriff er, dass er in der Falle saß. Der lange schmale Schrank war vollgestopft mit Gespenstern, und wahrscheinlich versuchten immer noch welche hereinzukommen. Und so war es auch. Draußen drängte sich eine erregte Menge von Gespenstern, die sich gegenseitig stießen, kratzten und schlugen, weil jedes als nächstes hineinkommen wollte. Panische Angst ergriff Merrin, und dann geschah etwas Seltsames: Der Boden des Schrankes sprang zu ihm herauf und stieß gegen seinen Kopf.

Als Merrin wieder zu sich kam, lag er auf den kalten Schieferfliesen im Observatorium.

Benommen schlug er die Augen auf, und sechsundzwanzig Gespenster starrten auf ihn herab. Normalerweise genügte der Blick von sechsundzwanzig Gespenstern, um einen Menschen in tiefste Verzweiflung zu stürzen, doch Merrins Blick war noch getrübt. Er sah nur eine verschwommene wogende Masse, die ihn umgab wie eine hohe Dornenhecke.

Langsam wurde Merrin gewahr, dass etwas neben ihm auf dem Fußboden lag. Er drehte den Kopf, was ihm Schmerzen verursachte, und sein Blick fiel auf einen schmutzigen Leinensack. Einen Müllsack. Und in dem Sack bewegte sich etwas, wie ein Wurf Kätzchen.

Mit einem Mal hellwach, sprang Merrin auf, packte den Sack und stülpte ihn um. Ein Knäuel weicher, schleimiger Knochen purzelte heraus, und der kleine dicke Knochen, an dem der Ring steckte, glitt mit einem metallischen Klirren über den Boden. Merrin starrte ihn entgeistert an. Was sollte er jetzt tun? Neben seinem Fuß zuckte ein Knochen. Er schrie auf. Wie blinde Würmer ringelten sich die Knochen am Boden, jeder auf der Suche nach seinem Nachbarn. Sie setzten sich wieder zusammen!

Ein knochiger Finger stach ihn in die Rippen, und wieder schrie Merrin auf. DomDaniel stieß ihn an. Er würde steeerben! Der schwarze Index wurde ihm vor das Gesicht gehalten, und mit Erleichterung erkannte Merrin, dass der knochige Finger einem Gespenst gehörte. Gehorsam las er die Stelle, auf die der Finger des Gespenstes deutete:

 

Zieh den Ring mit dem Doppelgesicht

Vom Daumen dessen,

Der ihn besessen.

Doch andersrum entferne ihn,

Dann wird er dein sein fürderhin.

 

Merrin trat zu dem kleinen schleimigen schwarzen Knochen, an dem der doppelgesichtige Ring steckte, und blickte voller Abscheu auf ihn hinab. Er musste all seinen Mut zusammennehmen, um ihn aufzuheben. Eins, zwei, drei – er konnte es nicht tun. Doch, er konnte, er musste es tun. Eins … zwei … drei … Igitt! Er hatte ihn. Der Daumenknochen war weich – wie Knorpel. Es war eklig. Er musste würgen.

Ein paar Sekunden später ergriff Merrin, mit einem schlechten Geschmack im Mund, den doppelgesichtigen Ring. Er wusste, dass er ihn über das untere Ende des Knochens abziehen musste – andersrum. Er zog. Der Ring blieb an dem breiteren Knochenwulst hängen, dort, wo einst das Gelenk war. Merrin kämpfte gegen die aufkommende Panik an. Das Ding wollte nicht abgehen. Bald würde sich DomDaniel zusammengesetzt haben und Hackfleisch aus ihm machen. Mit dem Mut der Verzweiflung zückte er sein Taschenmesser, legte den Daumenknochen auf den Boden und sägte den Wulst hinten ab. Eine zähe schwarze Flüssigkeit quoll aus dem Knochen, und der doppelgesichtige Ring fiel herunter.

Mit fasziniertem Grauen hob Merrin den Ring auf und betrachtete den Reif aus Gold mit den in Jade geschnitzten boshaften Gesichtern, die in entgegengesetzte Richtungen blickten. Mit zitternden Händen zog er den Schwarzen Index zurate:

 

Auf den Daumen der Linken,

Den einzig richtigen,

Steck nun den Ring,

Den doppelgesichtigen.

 

Zitternd stülpte er sich den Ring auf den Daumen und verscheuchte jeden Gedanken daran, dass eines Tages jemand versuchen könnte, ihn andersrum von seinem Daumen zu ziehen. Zu Anfang saß der Ring locker an seinem dürren, schmutzigen Daumen mit dem abgebissenen Nagel und dem dicken Knöchel, aber nicht lange. Er spürte, wie sich das Gold immer mehr erwärmte, bis es fast unangenehm heiß wurde – und dann zog sich der Ring zusammen. Bald passte er wie angegossen, aber so blieb er nicht. Er wurde noch heißer und zog sich weiter zusammen. Der Daumen begann zu schmerzen.

Merrin geriet in Panik. Er hüpfte hin und her, schüttelte die Hand, schrie und stampfte vor Schmerz mit den Füßen. Der Ring zog sich immer enger. Die Spitze seines Daumens lief rot, dann lila und schließlich dunkelblau an. An dieser Stelle hörte Merrin auf zu schreien und sah ihn entsetzt an: Er wusste einfach, dass sein Daumen gleich platzen würde. Würde er knallen wie ein Korken, fragte er sich, oder würde er mit einem platschenden Geräusch explodieren? Er wollte es gar nicht wissen. Er schloss die Augen. Und im selben Augenblick, als er die Augen schloss, lockerte der Ring die Umklammerung, das Blut strömte zurück, und der Daumen schwoll ab. Jetzt passte der doppelgesichtige Ring, obgleich er immer noch fest saß, so fest, dass er ihn an seine Gegenwart erinnerte. Merrin wusste, dass er jetzt ihm gehörte, solange er lebte – zumindest solange sein linker Daumen lebte.

Langsam begann Merrin zu begreifen, das Schwarze Magie nicht unbedingt zum Wohle derer wirkte, die sie ausübten. Aber jetzt konnte er nicht mehr aufhören. Er saß in der Falle und musste sich an den letzten Teil des Zaubers machen – und das Schicksal eines anderen verdunkeln. Und dies musste in der Burg geschehen, denn dort lebte dieser andere, in der Spitze des Zaubererturms, wo er selbst einst gelebt hatte. Und unter demselben Namen, den er selbst einst getragen hatte: Septimus Heap.