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Lindita Arapi

Schlüsselmädchen

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Lindita Arapi

Schlüsselmädchen

Roman

Aus dem Albanischen von

Joachim Röhm

Herausgegeben von

Nellie und Roumen Evert

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Die Herausgabe dieses Werks wurde gefördert durch TRADUKI, ein literarisches Netzwerk, dem das Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten der Republik Österreich, das Auswärtige Amt der Bundesrepublik Deutschland, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, Kultur-Kontakt Austria, das Goethe-Institut, die Slowenische Buchagentur JAK und die S. Fischer Stiftung angehören.

Bibliografische Information der Deutschen
Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über >http://dnb.ddb.de< abrufbar.

ISBN 978-3-937717-85-2

eISBN 978-3-943941-04-3

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2012
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
»Vajza me çelës në qafë«, Botimet Ideart, Tirana 2010
Lektorat: Bettina Hesse
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

www.dittrich-verlag.de / www.culturcon.de

Für Fiona und Floria

PROLOG

Ich bin ein Opfer ohne Namen und ohne Grab! Fortgegangen aus dieser Welt an irgendeinem Tag irgendeines Monats in irgendeinem Jahr. Ohne Namen, weil mein Name belanglos geworden ist. Ohne Grab, weil mein Leichnam nicht gefunden werden sollte.

Sie warfen mich an jenem Tag einfach in ein Loch wie einen verendeten Köter. Rosen zu meinem Gedenken? Welch eine Idee! Niemand weinte mir eine Träne nach.

Nun bin ich auf ewig dazu bestimmt, als Nichts im Nirgendwo zu verweilen, nach der Erde riechend, die auf mir lastet, vom Regen durchnässt, mein Leib ein Garten für die Würmer, ohne Aussicht darauf, dass jemand kommt und mich beweint. Aber was am schlimmsten ist: »Aas« plärrend, rollten sie mich mit Fußtritten zu der Grube, in die sie mich stießen. Sie gaben sich Mühe, die Erde dort zu verwischen, denn keine Spur sollte von mir bleiben auf dieser Welt, keiner, der vielleicht suchte, sollte mich finden.

Einst war auch ich einer von euch Menschen, mit Stärken und Schwächen wie alle, und wünschte mir, dass mein Ende dereinst so friedlich wie möglich sein möge. Ich habe mit den anderen gelacht, ihnen, wenn ich konnte, Gutes getan, sie gestützt, wenn ihnen das Gehen schwerfiel.

Nun nennt man mich Opfer. Und ich sage euch: Als Opfer von dieser Welt gehen zu müssen, ist das schlimmste Unglück!

Sie nehmen sich heraus, deinen Schicksalsfaden einfach durchzuschneiden, aber du nimmst das Recht mit dir fort. So, wie der Tod unwiderruflich ist, lässt sich auch Unrecht nicht ungeschehen machen.

Hier drüben kommen viele an, für die meisten war die Uhr abgelaufen, andere tötete man aus Lust am Töten. Und manchen Bedauernswerten brachte eine kleine Unaufmerksamkeit hierher, ein Fehler, über den er sich nur bei Gott beklagen kann. Aber die Unglücklichsten, die am meisten Verachteten sind wir.

Darum mögen wir das Wort Opfer nicht.

Wenn du dich als Opfer bezeichnest, gestehst du ein, dass du an jenem Tag des Jahres X zu schwach warst, um dein Leben zu verteidigen. Du weckst Mitgefühl, du tust den Leuten leid, obwohl du gar kein Mitleid möchtest.

Es ist uns bestimmt, zu vergehen, Erde zu werden. Aber ich kann nicht zerfallen, für die Blumen zur Nahrung werden. Darum seufze ich, auch wenn sie mich nicht hören. Man kann ihnen keinen Vorwurf machen. Die über mir auf der Erde gehen, sind Lebende und Überlebende, die Sprache unserer Welt verstehen sie noch nicht.

Ich möchte endlich zerfallen. Meine Uhr ist schon vor so langer Zeit stehengeblieben, aber ich bin noch nicht verwest.

Das Pfand, das ich auf der anderen Seite zurückgelassen habe, verhindert es. Als ich meinen letzten Seufzer von mir gab, entwich es mit der Seele. Es war ein tiefer Seufzer, stellt euch nur vor, wie sich der Seufzer von jemandem anhört, der für nichts und wieder nichts eure Welt verlassen muss.

Deshalb belästige ich euch mit meinem Schwatzen und Murren. Das Pfand muss eingelöst werden.

Mehr will ich nicht. Jedenfalls mich nicht einmischen in die Geschäfte der Oberwelt. Ich weiß ja, die Erinnerungen eines Opfers sind lästig und unangenehm. Ich will nur verwesen!

Das Pfand, das ich zurückgelassen habe, geistert weiter bei euch herum. Bis es eingelöst ist, warte ich.

Ich bin nicht ruhig, so wenig wie ihr in eurer Welt. Wer es mit dem Pfand zu tun bekommt, ist nicht zu beneiden, Tag für Tag drückt es ihm mehr auf die Seele. Jeden, den es auswählt, bringt es um den Schlaf, um den Verstand, er irrt ohne Orientierung durch die Welt, ohne zu wissen, was er eigentlich sucht. Selbst die Luft wird schwer von dem Gewicht des Pfands. Es will niemanden erschrecken, die Lebenden haben einfach Angst vor Gespenstern, und das Pfand ist sprachlos, es kann dem, den es erwählt hat, nicht sagen, wie es eingelöst werden möchte.

Der Verfolgte begreift nicht, dass er erwählt ist, sondern hält sich für verflucht! Jene aber, die vom Dämon nicht besessen sind, halten den Armen für verirrt und setzen ihm übel zu.

Welch ein Durcheinander!

Aber ich kann den Knoten in der Welt dort oben nicht entwirren. Und das Pfand nicht zurückholen, ehe es eingelöst ist.

Es will keine Rache, es will kein Blut. Es verlangt nicht, dass der Mörder verurteilt wird, ob ihr es tut, bleibt euch überlassen. Aber selbst wenn man ihn zur Rechenschaft zöge, wenn dem Recht Genüge getan würde, ich hätte nichts davon. Was nützen mir Entschuldigungen? Man hat nur ein Leben.

Das Pfand will nicht die Welt verbessern, es predigt keine Brüderlichkeit und beruft sich nicht auf die zehn Gebote: Dass der Mensch keinen andern Menschen töte, dass er ihm nicht grausam und gegen alles Recht das Leben wegnehme. Doch das predigen wir schon seit zweitausend Jahren. Geändert hat sich nichts. Gar nichts. Schaut euch nur mein Beispiel an!

Was mich angeht, so steht das Pfand für meinen letzten, ganz einfachen Wunsch, der Niemandem schadet. Dort, wo der Schleier des Vergessens über die Vergangenheit gebreitet wird, wo die Tragödien unter Verschluss gehalten werden, lässt es sich nicht frei atmen, die Luft riecht nach Erde. Wir wollen, dass ans Licht kommt, was geschehen ist, dass unsere Geschichten von Generation zu Generation weitergegeben werden, dass sie nicht dem Vergessen zum Opfer fallen.

Mein Pfand wird bleiben, bis ein Mund erzählt, eine Hand aufschreibt, was damals vorfiel.

Nur wenn das geschieht, kann es verfallen. Versöhnung gibt es nur, wo eine Tat ins Gedächtnis eingeht. Das Pfand hat dann bei euch nichts mehr zu suchen. Es kehrt zu mir zurück.

Damit ich endlich zu Erde werden kann!

ERSTER TEIL

1

Die Ellbogen auf dem Sims des Küchenfensters und das Gesicht in die Handflächen gestützt, so dass die runden Wangen zusammengedrückt wurden, wartete Lodja Lemani, die Zehnjährige mit Pagenkopf und der freundlichen Miene einer Großmutter, geduldig auf die langsam eintreffende Dämmerung. Das kleine Fensterquadrat ging auf ein holpriges Sträßchen hinaus, das sich im Partisani-Viertel von D. zwischen den einstöckigen Häusern hindurchwand. Die kleine Stadt war eine der jüngsten im sozialistischen Staat, in freiwilligen Arbeitseinsätzen erbaut von der Belegschaft einer eben in Betrieb genommenen Kunstdüngerfabrik.

Das Fenster, Lodjas Verbindung zur Welt, befand sich an einer strategisch günstigen Stelle. Von dort aus, ein wenig versteckt und geborgen wie ein Kätzchen im Korb, belauschte sie voller Neugier die Gespräche der bekannten und unbekannten Passanten.

So erfuhr sie eine Menge von dem, was sich jenseits der Haustür abspielte, vor allem, wenn sich abends die Frauen des Viertels auf der Gasse versammelten: Wo der Haussegen schief hing, wer sich gerade mit wem überworfen hatte, wer von den Nachbarn für die Staatsmacht spionierte oder besonders linientreu war, bei wem die Fernsehantenne in Richtung Italien zeigte, und wer heimlich Hühner hielt. Dazu den ganzen Tratsch über Liebschaften und bevorstehende Hochzeiten im Viertel. Sie hörte das meist fröhliche, manchmal auch bedrohliche Geschrei der Kinder und versuchte daran festzustellen, welches Spiel draußen gerade gespielt wurde.

Gelegentlich gelang es ihr, aus dem Getuschel ein Geheimnis herauszufischen, doch das war schwierig, weil die Sprache oft unverständlich klang; fast hätte man glauben können, die Nachbarn wetteiferten wie Schulkinder darin, wer die Worte am schnellsten rückwärts aufsagen konnte.

Von ihrem Fenster aus unternahm sie viele Reisen zu unbekannten Orten und Ländern, die wahrscheinlich wirklich existierten, für Lodja aber so unerreichbar waren wie der Mond. Sie versuchte sich das Leben auf anderen Planeten vorzustellen, doch ihre Phantasie versagte, sobald sie bei den Grenzen der Stadt ankam. Dann blieb ihr nichts anderes übrig, als in ihrem Winkel am Fenster in Träume versunken auf die Dämmerung zu warten.

Deren Ankunft wurde von den Hausfrauen des Viertels bekannt gegeben, die nacheinander die Türen ihrer Häuser so heftig hinter sich zuschlugen, als wollten sie den ganzen angestauten Ärger bei den verblassten Flügeln abladen, die schon kaum in ihren rostigen Angeln hielten, wenn man sie offenstehen ließ.

Lodja konnte die Frauen aus der Nachbarschaft mittlerweile am Geräusch der zufallenden Haustüren erkennen und sogar sagen, welche von ihnen den schlimmsten Tag gehabt hatte.

Sie presste die Handflächen noch fester an ihre Pausbacken, pustete sich die Haarsträhnen aus den Augen, froh, keine Tür zu sein.

Sie freute sich schon auf den letzten Akt ihres allabendlichen Rituals.

In den winzigen Küchen der einstöckigen Häuschen gingen nacheinander die Lichter an, man entnahm den in Form und Farbe identischen Küchenschränken Gläser und Teller, breitete die Tischdecken aus, wies Kinder zurecht, die sich an den noch nicht aufgetragenen Speisen vergriffen, und wenn dann alles für das Mahl bereit war, wurden die letzten Säumigen barsch herbeizitiert, ehe man mit einer schroffen Bewegung die Vorhänge zuzog und Lodja aussperrte.

Der tat es weh, so ohne Gutenachtgruß verjagt zu werden, sie flehte die Hausfrauen heimlich an, die Vorhänge wenigstens einen Spalt offen zu lassen und nicht einfach ruck-zuck den einzigen Fernsehapparat, der ihr ein wenig Einblick in die Welt gab, auszuschalten.

Doch nach einigen Minuten Stille, in denen alles in der mal blauen, mal schmutziggrauen Dunkelheit versank und sie auf die Ruhe lauschte, die sich über die flachen Giebel des Viertels legte, verflog ihr Kummer und sie freute sich, dass die Nachbarsfrauen nach Stunden, in denen die Wände mit ihrem Fett und Schweiß durchtränkt worden waren, endlich die Straße draußen freigegeben hatten. Hätten ihre Eltern es erlaubt, so wäre sie hinausgerannt, um auf dem nahegelegenen Platz allein oder mit den Hunden zu spielen, die gerade dabei waren, in der Dämmerung in den Mülltonnen zu wühlen.

Doch sie hoffte vergebens, denn diese Regel wurde nie gebrochen. Lodja durfte nicht vor die Tür, um mit den anderen Kindern zu spielen, und so beschränkte sie sich darauf, die warme Sommerluft tief einzuatmen und zu überlegen, was ihr eigentlich lieber gewesen wäre: Dass die Sommerferien so rasch wie möglich vorübergingen und die Schule samt den Schwatzereien mit Genc, ihrem Klassenkameraden, wieder begann, oder dass der Winter so rasch wie möglich kam und den Nachbarinnen die Kälte in die Glieder trieb, damit das Sträßchen leer blieb.

2

Die Tratschliesen, wie Lodjas Mutter die Frauen aus der Nachbarschaft nannte, drängten mit dem anbrechenden Abend heraus auf die Gasse. Es begann ein allgemeines Zusammentrommeln, die eine schrie, die andere schlug gegen die Tür. Wenn der Haufen endlich versammelt war, glich er einer triumphierenden Heerschar, die stundenlang die Straße besetzt hielt. Im Sommer fand man sie im Freien, sobald die Hitze etwas nachgelassen hatte. Einige Minuten lang wurde heftig gezankt, bis entschieden war, an welcher Mauer sie die angenehmsten Stunden des Tages verbringen wollten, die Stricknadeln mit ihren scharfen Spitzen wurden geschwenkt wie Degen, nicht anders die ungefährlichen Häkelnadeln, Füße stießen gegen Schemel, um sie zurecht zu rücken, man ließ sich eng beisammen nieder, strich mit den Händen gemessen die bestickten Schürzen glatt, einmal, zweimal, dreimal, holte Brot hervor, dann Käse, und das große Geschnatter begann. Wer eben erst von der Feldarbeit zurückgekommen war und kein Essen vorkochen konnte, brachte Schüsseln mit Tomaten, Zwiebeln, Fleisch oder Reis mit, ein Messer, reichte herum und sammelte ein, schnitt Fleisch, ohne mit dem Plappern auch nur eine Sekunde aufzuhören.

Es herrschte ein Lärm, ein Geschrei und ein Gezänk, dass man an Partisanenfilme denken mochte, wo gerade eine feindliche Stellung erobert wurde. Bevorzugtes Thema waren die jüngsten Gerüchte oder Schreckensbotschaften, die durch dünne Wände hindurch ungehindert in empfangsbereite Ohren gedrungen waren, und man sparte nicht mit bissigen Kommentaren über zufällige Passanten. In den dicht beieinanderliegenden Häuschen mit ihren krummen Wänden, die aussahen wie von der ungelenken Hand eines Erstklässlers hingekrakelt, blieb kein nachbarlicher Streit unbemerkt.

In so einer Gruppe wirkten diese Frauen unangreifbar, ja bedrohlich. Nicht einmal ihre Männer wagten es, ihnen die vergnügten Stunden am Abend zu vergällen. Die meisten erholten sich drinnen auf dem Sofa, bis die Herrin des Hauses wiederkehrte; ein paar Gecken traten mit umgebundener Krawatte den Weg in die Innenstadt an, um sich dort ein paar Kognak zu genehmigen.

Wenn schon ihre Männer sich vor ihnen fürchten, was würden sie dann wohl mit mir tun? Vielleicht würden sie mich bei lebendigem Leib verspeisen, dachte Lodja ängstlich, aber auch mit einer gewissen Bewunderung für die mächtigen, in Streitlust vereinten Nachbarsfrauen.

Die einzige, die nicht hinausging, war ihre Mutter.

Die Straße gehörte den Matronen, nicht Lodja oder ihrer Mutter, und nur die Besetzerinnen entschieden, wann sie andere dort duldeten. Nämlich dann, wenn es ihnen gerade passte.

Das hatte eine der Frauen des Viertels ihrer Mutter frech ins Gesicht gesagt, als diese kühn genug gewesen war, sich über das ständige unerträgliche Schnattern zu beschweren.

Bei dem darauffolgenden »Haben Sie mir sonst noch etwas zu sagen, Frau Drita!«, lag die Betonung auf dem Wort Frau, eine unmissverständliche Warnung.

Danach vollzogen beide Stimmen noch einen Oktavensprung nach oben, bis die Mutter wutentbrannt reinlief, die Tür zuschlug und dem Vater in dieser verdrehten Sprache, die Lodja nicht verstand, etwas zuschnaubte. An dem Tag ging sie nicht mehr hinaus, um jemanden zur Rede zu stellen.

Etwas wie »Man kommt nicht mit dem Kopf durch die Wand« hörte Lodja sie sagen, und »Dann fangen wieder die Nachreden an«. Oder war es Nachforschungen? Sie erinnerte sich nicht genau. Mutter Drita sagte noch, egal, wo man sich beschwert, die Antwort ist von vornherein klar.

Sie erinnerte sich aber, wie sie zum Volksrat des Stadtteils gegangen waren, wo ein Jemand, dessen Namen sie die Eltern schon in ängstlichem Ton hatte aussprechen hören, ihnen erklärte, sie platzten bloß vor Missgunst und könnten es nicht ertragen, dass sich die glücklichen Volksmassen ihrer Abende erfreuten, in Wirklichkeit fühlten sie sich von dem Lärm gar nicht gestört. »Die Menschen lachen und sind vergnügt, während ihr noch nicht einmal wisst, wie man lächelt.« Der betreffende Jemand, der es gerne hörte, wenn man ihn nicht als Vorsitzenden des Volksrats, sondern als »Vorsitzenden des Volkes« bezeichnete, hatte ihnen bereits einmal gedroht, sie sollten sich lieber ruhig verhalten, sonst werde das Volk ihnen »den Kopf zertrümmern wie einen Krug«, zumal eine Menge Leute bereits angefangen hätten, sie als »lahme Mähren vor dem Pflug« zu bezeichnen. Er griff nämlich gerne auf Verse aus volkstümlichen Liedern zurück, wie Lodja von ihrer Mutter erfahren hatte, um allen zu zeigen, wie eng er mit den Volksmassen verbunden war.

Sie, das war ihre Familie: Lodja, ihre Mutter und ihr Vater. Das Volk, das waren alle anderen. Lodja hatte Angst vor diesem Wort. Was konnten sie da schon ausrichten, drei gegen den ganzen Rest?

Nach der nachmittäglichen Auseinandersetzung mit ihrer Mutter hatten die Nachbarsfrauen angefangen, sich genau vor ihrer Nase niederzulassen, direkt gegenüber an der roten Ziegelmauer.

Lodja beobachtete sie aus dem angelehnten Küchenfenster.

Wie sorglos sie sich benahmen! Ohne Zaudern setzten sie sich auf den blanken Boden, reihten die Teller vor sich auf, schmausten, schlürften Mokka, und am Ende lasen sie sich unter prustendem Gelächter gegenseitig aus dem Kaffeesatz. Direkt vor ihren Augen! Insgeheim beneidete Lodja die Nachbarinnen, Leni, Tante Dana und die alte Hexe Rusha.

So sehen wohl die glücklichen Mütter aus, dachte sie und stellte sich das Gesicht ihrer Mutter vor.

Mütter waren sie alle, aber sie glichen einander überhaupt nicht.

Lodja drückte die Nase an der Fensterscheibe platt, um die Frauen besser sehen zu können, das Ergebnis war ernüchternd. Wie hatte sie nur glauben können, die Mütter auf der Welt seien sich ähnlich, bloß weil sie Mütter waren?

Manchmal kam es vor, dass sie sich im Traum sogar als Tochter einer dieser Frauen sah, die so laut, so mühelos, so stolz lachten, als hätten sie die Stadt mit eigener Hand in hartem Kampf befreit. Für ein paar, die ihre Nasen besonders hoch trugen, traf dies angeblich sogar zu.

Ihre Mutter lachte nie. Im Gegenteil, sie sah immer aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Insgeheim mochte Lodja ihren Vater lieber, obwohl sie es nie zugegeben hätte. Er rief sie »Bonbonfee«, machte oft Späße mit ihr, und wenn er von der Arbeit heimkam, hatte er meistens mit rosa Creme gefüllte Waffeln in der Tasche.

Sie schaute den Nachbarsfrauen zu und stellte sich dabei vor, wie sie beim Brotkaufen an der buntscheckigen Schar vorbei musste. Sie hatte Angst vor dieser massiven Anhäufung von Fleisch, die einen zerquetschen konnte, vor dem Getuschel und den scharfen Blicken, die sie von der Haustür bis zur nächsten Straßenbiegung begleiteten.

Wenn sie an ihnen vorüberkam, grüßte sie mit einem kurzen Kopfnicken und beschleunigte dann ihre Schritte, um so rasch wie möglich den Blicken zu entkommen, die sich in ihren Rücken bohrten.

Jedes Mal, wenn sie dann nach Hause kam, stellte sie ihrer Mutter die gleiche Frage: Weshalb sie die Frauen des Viertels immer so anstarrten und warum sie ihre Familie nicht mochten. Und ihre Mutter gab jedes Mal die gleiche Antwort:

»Weil wir nicht sind wie sie, Lodja!«

»Aber warum? Wie sind wir denn dann, Mama?«

Nach einer Pause kam:

»Weil ich nicht mit ihnen herumhocke und ihnen Honig ums Maul schmiere, Lodja. Hast du nun begriffen?«

Seitdem sie im Stadtteil Partisani wohnte, mied Familie Lemani den Kontakt zu ihren Nachbarn. Selbst die üblichen Höflichkeitsbesuche unterließen Lodjas Eltern bis auf wenige Ausnahmen wie bei Hochzeiten, Geburten oder Todesfälle. Man grüßte Leute aus dem Viertel, wenn man ihnen auf der Straße begegnete, ohne sich auf längere Unterhaltungen einzulassen, und ging dann seiner Wege.

Umgekehrt wollten auch die Nachbarn nichts mit den Lemanis zu tun haben, sei es, weil man Schwierigkeiten für die eigene Familie fürchtete, sei es, weil man sie als Aussätzige ansah, die in der sozialistischen Gesellschaft nichts zu suchen hatten. Manche wussten um ihr Geheimnis, ohne deshalb nachsichtig mit ihnen zu sein. Dass sie sich aus allem heraushielten und sich für den alltäglichen Kram, der das Viertel beschäftigte, nicht interessierten, wurde als Beleidigung empfunden, oder noch schlimmer: Manche interpretierten es als Ablehnung des Kollektivs. Die Kollektivierung hatte zwar dem Vieh gegolten, doch war Herdenbewusstsein auch bei den Menschen erwünscht, galten sie doch im Haufen als unbezwingbar.

Wer sich dem verweigern wollte, musste sich aus den Angelegenheiten des Viertels heraushalten und vor allem die Gerüchteküche ignorieren. Ohne Gerüchte konnten die Bewohner einer kleinen Stadt wie D. nicht leben. Klatsch und Tratsch war für sie nicht bloß ein unterhaltsamer Zeitvertreib, er stellte ein unverzichtbares Informationssystem dar, das ihren provinziellen Lebensraum mit der Welt draußen verband.

Die Lemanis hatten Angst. Sie nahmen sich vor den Nachbarn in Acht, und auch vor den Wänden, die bekanntlich Ohren haben. Als Geduldete durften sie unter keinen Umständen auffallen, nicht den kleinsten Fehler ließ man ihnen durchgehen, fremde Einflüsse, wie Abweichungen von der Einheitsnorm genannt wurden, ob in der Kleidung oder im Auftreten, mussten um jeden Preis vermieden werden. Kinder aus Familien wie der ihren hatten hervorragende Schüler zu sein, was die Lehrer nicht daran hinderte, ihnen schlechte Noten zu verpassen, Beschwerden waren sinnlos. Sich häufig in der Stadt zu zeigen, war nicht ratsam, damit erregte man Anstoß, und wenn einem der selbsternannten Ideologiewächter die Zornesader schwoll, senkte man vorzugsweise den Kopf, Stolz war gefährlich. Trug ein Geduldeter in der Öffentlichkeit die Nase zu hoch, dann wurde er selbstverständlich zurechtgewiesen, und ließ er dennoch Anzeichen von Unbescheidenheit erkennen, hatten also die ergriffenen Maßnahmen ihre Wirkung verfehlt, musste die Schraube noch fester angezogen werden.

Die Lemanis hatten gelernt, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Ein Lächeln, ein Gruß auf der Straße, in der Nachbarschaft, bei der Arbeit, ein paar beiläufige Worte in der Warteschlange vor einem Geschäft, heute gibt es Öl, es gibt wieder kein Öl – alles konnte sich, wenn man Pech hatte, verhängnisvoll auswirken. Und die Geduldeten hatten immer Pech.

Wenn im Radio wieder einmal die »Entlarvung einer feindlichen Gruppe« bekannt gegeben wurde, herrschte im Hause Lemani Panik. Säuberungswellen entstanden in der Regel oben, dann schwollen sie rasend schnell an und rissen mit, wer oder was ihnen unten in den Weg kam. Eine Verfehlung musste man nicht begangen haben. Grundsätzlich konnte jede Handlung für böse erklärt und nach den Gesetzen der Diktatur des Proletariats streng bestraft werden. Gerade Leute wie die Lemanis gehörten zu den Gefährdeten. Ein Makel war leicht gefunden, oder man konstruierte ihn, und nicht nur einen gewöhnlichen, sondern ein Monster von einem Makel. Ein leichter Fehltritt, eine missverständliche Äußerung oder einfach nur ein Blick, der den Herrschern über Menschen und Schicksale missfiel, und es war aus.

In Zeiten solcher Schreckensmeldungen zogen sich die Lemanis ins Haus zurück, verschlossen die Tür und saugten gierig jede Nachricht aus dem Radio auf, dem kleinen, mit einem Häkeldeckchen verzierten Schatz.

Jeden Abend wartete Drita darauf, dass es an der Tür klopfte und, wenn sie zitternd in den Hof hinaustrat, eine grobe Stimme zu ihr sagte:

»Los, komm mit, endlich haben sie auch dich auf die Liste gesetzt!«

Eines Spätnachmittags hörte Lodja, wie die Nachbarsfrauen über ihre Eltern redeten. »Diese Lemanis halten die Nase schon wieder ziemlich hoch. Sie hocken in ihrer Bude und lassen niemanden an sich ran. Das Kind darf nicht raus, nicht mal bis zum Hoftor. Na ja, wer aus einem goldenen Nest gefallen ist, der bildet sich natürlich ein, er sei etwas Besseres. Klar, dass ihnen unsere Ärsche nicht gefallen!«

»Ach Unsinn, die machen sich doch schon in die Hose, wenn sie uns bloß sehen …«, fuhr Nachbarin Leni, die aus dem gleichen Dorf stammte wie Lodjas Vater, ihrer Vorrednerin über den Mund.

»Die da drüben haben jede Menge zu verbergen. Drita Lemani weiß schon, warum sie sich von uns fernhält, bei all dem Dreck, den sie am Stecken hat. Und lasst euch bloß nichts vormachen, diese Leute tun so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnten, aber in Wirklichkeit warten sie nur darauf, bis ihre Stunde kommt!«, fuhr sie fort.

»Diese Drita kann uns nicht hinters Licht führen, wir wissen schon, wo bei ihr der Wurm sitzt! Kulak bleibt nun einmal Kulak!« Es war die alte Rusha mit ihren weckglasdicken Brillengläsern, die das Urteil sprach. Den Spitznamen »Hexe des Viertels« hatte sie sich redlich verdient. Ihr weißes Haar war so zerzaust, als sei ein Sturm um ihren Kopf gebraust, und mit ihren großen, tief in den Höhlen liegenden Augen sah sie aus wie geradewegs dem Märchen entsprungen.

Alle Nachbarsfrauen hatten Angst vor ihren Zauberkräften. Wenn sie die Alte zur Begrüßung umarmten, verdrehten sie die Augen, um nachzuschauen, ob sie ihnen zum Zwecke der Hexerei womöglich ein ausgegangenes Haar oder einen Fusel von der Bluse stahl. Aber sie genoss auch hohes Ansehen. Niemand konnte so gut aus dem Kaffeesatz lesen wie Rusha, und auf diese unersetzliche Belustigung wollte bei den abendlichen Zusammenkünften auf der Straße keine verzichten.

Lodja beugte sich ein wenig vor, um besser verstehen zu können, was draußen geschwatzt wurde, rot bis hinter die Ohren und mit offenem Mund, weil die Nachbarsfrauen mehr über ihre Familie wussten als sie selbst. Doch die Tratschtanten hatten die Köpfe zusammengesteckt und tuschelten in einer Sprache miteinander, die sie nicht verstand. Lodjas Herz fing heftig an zu schlagen. Sie hielt den Atem an, damit die Frauen nicht merkten, dass sie aus kaum zwei Meter Abstand belauscht wurden. Sie hätten nur den Kopf heben und zum Fenster herüberschauen müssen.

Als erste verabschiedete sich Leni aus der Versammlung, fröhlich mit ihren Speckmassen wackelnd. Sie sah sich gern als Mittelpunkt der Runde.

Erst griff sie sich ans Kreuz und quälte sich auf die Beine, dann legte sie die zu metallenen Verlängerungen ihrer aufgedunsenen Finger gewordenen Stricknadeln zusammen und tappte davon. Das Wollknäuel schleppte sie hinter sich her. Damit war die Veranstaltung für diesen Abend aufgelöst.

»Bis zum nächsten Mal, Frauen, jetzt hab ich keine Zeit. Ich muss das Essen warm machen, mein Unglückswurm kommt jeden Augenblick zurück.« So nannte sie ihren Gatten, den kümmerlichsten Kerl im ganzen Viertel.

Nachdem sie gegangen war, zerstreute sich auch der Rest der Weiberschar. Auf das Viertel am Stadtrand sank die Nacht herab, und Stille trat ein. Gelegentlich war das verzagte Gebell der Straßenhunde zu hören, die durch die Gassen streunten, um im Abfall zu wühlen. Der Unrat, den sie um die Tonnen herum verstreuten, verbreitete im Sommer einen unerträglichen Gestank.

Lodja versuchte derweil herauszufinden, was für Dreck an dem Stecken klebte, den Leni offenbar bei ihren Eltern gesehen hatte, sie selbst aber nie.

Was meinten die Nachbarsfrauen, wenn sie sagten, man werde von den Lemanis noch zu hören bekommen? Warum war ihre Familie so unbeliebt? Was hatten ihre Eltern zu verbergen, was war das für eine »Sorte Leute«, von der man mit so viel Verachtung sprach? Und vor allem, was bedeutete »Kulak«?

Sie hätte den Frauen des Viertels gerne ordentlich eins ausgewischt und schmiedete dafür alle möglichen Pläne.

Doch am nächsten Morgen war alles wie sonst. Frisch gewaschen und ordentlich gekleidet trat Lodja aus der Haustür, um zur Schule zu gehen, grüßte nach rechts und links, und zwar genau die Frauen, die sie am Abend zuvor am liebsten mit dem Gartenschlauch nassgespritzt hätte.

»Guten Morgen, Tante Leni, haben Sie gut geschlafen?«

»Guten Morgen, Tante Servete, geht es Ihnen gut?«

Wie jeden Abend wurde Lodjas Theaterbesuch von der Mutter beendet, die sie von ihrem Sims wegholte. Dann drückte Lodja das Fenster zu, so fest sie konnte, damit ja kein Laut von draußen hereindrang, noch nicht einmal das Gebell der Straßenhunde. Und wenn sie ins Bett ging, empfand sie einen unbestimmten, namenlosen Kummer, und damit schlief sie ein.

3

Das Häuschen der Familie Lemani, wie man die vielleicht vierzig Quadratmeter große Baracke mit einigem Wohlwollen nennen konnte, war ringsum von Feigen-, Pflaumen- und Zitronenbäumen umgeben und versank von März bis Oktober in dichtem Grün. Die Mauer aus Laub bereitete den neugierigen Nachbarn einigen Kummer, wohingegen sich Lodja jedes Jahr auf die Ankunft des Frühlings in dem kleinen Puppenhaus, so nannte sie ihr Heim, freute.

Wenn es Mai wurde, flammten die wilden Rosen im Hof auf und die Zitronenblüten verströmten einen sanft-herben Duft. Er hing wie ein Schleier über diesem abgeschiedenen Winkel der Welt, der so in seiner erträglichen Armut fast lauschig wirkte.

Die Lemanis hatten lange sparen müssen, bis sie Mitte der siebziger Jahre genügend Geld zusammen hatten, um die Fundamente zu legen. Weil sie die Ausgaben für Handwerker sparen wollten, mischten sie den Mörtel selbst und schichteten die Ziegelsteine von eigener Hand übereinander. Letzten Endes, so pflegte Lodjas Vater seine Knausrigkeit zu verteidigen, war ihnen das einstöckige Haus ganz ordentlich gelungen.

»Einstürzen wird es jedenfalls nicht!«, brüstete er sich.

Sadi Lemanis ganzes Herz hing am Garten. Auch Lodja liebte ihn, er bot Zuflucht vor den niedrigen Räumen mit ihren rissigen Wänden, in denen man fast erstickte. Der ganze Stolz des Hauses war das Empfangszimmer; was man das Jahr über zurücklegen konnte, wurde zum größten Teil in seine Instandhaltung gesteckt. Es musste ordentlich möbliert und immer blitzblank sein, denn das Ansehen, das man bei Gästen und der Verwandtschaft genoss, hing von seinem Zustand ab.