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Über dieses Buch

Voller Poesie und Spiritualität erzählen diese Märchen von Gefahren und Abenteuern, von Abschied und Aufbruch, von Glück und Heimkehr in einer Zeit und in einer Welterfahrung, die uns heute wieder sehr nahe ist. Sie sprechen von der Anderswelt, von Feen und Elfen, vom Zauber und den allgegenwärtigen Geheimnissen des Lebens.

Über den Herausgeber

Heinrich Dickerhoff, Jahrgang 1953, ist Präsident der Europäischen Märchengesellschaft und Leiter des Kardinal-von-Galen-Hauses in Stapelfeld. Als Märchenerzähler widmet er sich insbesondere den nordischen und keltischen Märchen. Er lebt mit seiner Familie in Cloppenburg.

Weitere Informationen: Europäische Märchengesellschaft, Bentlager Weg 130, D-48432 Rheine oder unter www.maerchen-emg.de.

Keltische Märchen

zum Erzählen und Vorlesen

Herausgegeben von
Heinrich Dickerhoff

KÖNIGSFURT-URANIA

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung

Voraus-Geschichten

Der Bursche, der keine Geschichte kannte

Der seltsame Besucher

Starke Frauen

Goldbaum und Silberbaum

Tam Lin

Die Totenklage der Braut

Etain oder die goldene Fliege

Das Glückskind

Die Reise in die Anderswelt

Das Messer gegen die Welle

Der Tanz mit den Feen

Condla Rotschopf und die Frau im gläsernen Schiff

Wie König Cormac zu den Feen ging

Die Reise von Maelduins Boot

Männer

Wie Cuchulainn krank vor Liebe war

Die Königin von Sciana Breaca

Dermot mit dem Liebesfleck

Dermot und Grainne

Gawain und der Grüne Ritter

Gawain und der Wunsch der Frauen

Legenden vom Menschenfischer

Der Menschenfischer

Das Abendmahl

Quellenhinweise

Einführung

Der Titel dieser Sammlung von Erzählungen aus der keltischen Tradition stammt aus der schottischen Legende »Das Abendmahl«, mit der dieses Buch endet. Die ausgewählten Geschichten, Märchen, Sagen und Legenden, sind für mich wie Fäden, die sich zusammenfügen zu einem Muster, einer Lebenssicht, die gewiss nicht ausschließlich, aber doch »typisch keltisch« ist. Trockener Humor und augenzwinkernde Selbstironie gehören dazu sowie eine tiefe Lebensbejahung, ergänzt und hinterfragt durch die Sehnsucht nach der Anderswelt, dem anderen Leben. »Richtige« Männer begegnen mir in diesen Geschichten, oft auf der Reise in die Anderswelt, Männer, in denen ich mich wiedererkennen kann, in denen mir meine Wünsche und Sorgen entgegentreten, deren »Männlichkeit« aber – wenn auch mit Sympathie – hinterfragt wird. Und starke Frauen treffe ich, die oft die Anderswelt verkörpern und die fast immer eigene Wege zu gehen wagen. Mit diesen Geschichten ist mir der keltische Anteil meiner Lebenssicht aufgegangen.

Unser keltisches Erbe

Auch wenn ich weder dem Blut noch der Sprache nach ein Kelte bin, so fühle ich mich doch den Kelten seelenverwandt. Ihr Erbe erscheint mir als der oft vergessene »kleine Finger« der europäischen Hand – neben der römischen und der germanischen, der hebräischen und der griechischen Tradition.

Das römische und das germanische Denken haben sich uns schon über die »abendländischen« Sprachen eingeprägt, und das hebräische wie griechische Denken sind uns schriftlich überliefert in den biblischen Schriften und den antiken Klassikern und darum kulturell fest verankert. Dahingegen ist die keltische Tradition weitgehend unbekannt und unverständlich, wer spricht denn schon eine keltische Sprache? Und doch fühle ich – ein bewusster Abendländer – mich in dreifacher Weise als Erbe der Kelten, und das Erbe, das sie uns hinterlassen haben, ist ein politisches, ein poetisches und ein religiöses.

Das politische Erbe

In gewisser Weise waren Kelten »die ersten Europäer«. Als unseres Wissens Erste haben sie einen europäischen Binnenraum geschaffen, der nicht durch militärischen Druck zusammengehalten wurde, sondern durch eine gemeinsame Kultur. Denn die Kelten kamen nicht als Eroberer nach Mitteleuropa, sie waren kein einwanderndes Volk, keine Rasse; vielmehr mischten sich die Vorstellungen vorgeschichtlich-alteuropäischer Kulturen mit der Technik und dem Lebensgefühl osteuropäisch-skythischer Reitervölker. Dazu kamen gesellschaftliche Veränderungen: Die Bevölkerung wuchs, der Ackerbau nahm zu, Land wurde knapp, Eisen konnte in großem Stil gewonnen und verarbeitet werden, eiserne Schwerter und Pflugscharen erweiterten nun die menschlichen Möglichkeiten. Aus diesem kulturellen und sozialen Gemenge erwuchs um das Jahr 500 v. Chr. eine mitteleuropäische Kultur, deren Träger von den Griechen »Keltoi«, genannt wurden, die »Hohen«. Die Keimzelle dieses keltischen Europas lag in Süddeutschland und Ostfrankreich, um 400 v. Chr. reichte der keltische Bereich – ohne Eroberungszüge und größere Auswanderungen – von Ungarn im Osten bis nach Spanien und Irland im Westen. Später siedelten dann Kelten in der Poebene und zogen bis nach Kleinasien, so dass um 200 v. Chr. der keltische Bereich vom spanischen Galicien bis zum anatolischen Galatien reichte.

Eine europäische Kultur, die nationale und regionale Unterschiede nicht aufhob, sondern integrierte, gelang dann wieder im hohen Mittelalter. Gewiss darf man weder das keltische noch das mittelalterliche Modell idealisieren, Gewalt und Unrecht gab es dort wie überall. Und doch scheint mir dieses »kulturelle Modell« für uns Europäer zukunftsweisender als die Zwangsvereinigung zu »napoleonischen« Imperien oder staatsübergreifenden Wirtschaftskomplexen.

Das poetische Erbe

Es gibt bis heute einen »abendländischen Raum«, der sich nicht nur durch gemeinsame politische Grenzen oder eine gemeinsame Währung von anderen »Kulturräumen« unterscheidet. Eher gibt es – nicht bei den einzelnen Menschen, sondern innerhalb der Völker und »Subkulturen« – gemeinsame Wertvorstellungen, gemeinsame geschichtliche Erfahrungen und wohl auch so etwas wie eine gemeinsame »Mentalität«. Und diese abendländische Mentalität hat, wie mir scheint, einen »romantischen Zug«, der etwas mit unserem keltischen Erbe zu tun hat.

»Romantisch« meine ich hier nicht im heute üblichen idyllischnostalgischen Sinne, sondern in der ursprünglichen Bedeutung: Das Wort ist abgeleitet vom »Roman«, der poetischen Grundform. Denn es ging der Romantik wesentlich darum, das Leben als »Roman«, als »Poesie«, als »Kunstwerk« zu leben – darum gerade nicht »gekünstelt«, sondern »dicht«. Solches Leben begnügt sich nicht mit der Oberfläche, nicht mit dem Begreifbaren und Eindeutigen. Die vorgebliche Realität wird hinterfragt, nicht mit der irrealen Idylle, sondern mit jener surrealen Lebensmöglichkeit, die die keltischen Erzähltraditionen »Anderswelt« nennen. So liegt in jeder »Romantik« auch eine gewisse Melancholie, nicht als Lebensüberdruss, sondern wie ein Schatten, den das Licht einer unendlichen Sehnsucht wirft.

Diese über die begreifbare Welt hinausschauende und sich dem Unbegreiflichen ausliefernde Haltung ist »typisch keltisch«, so wie die »romantische Urgeschichte« des Abendlandes, die Erzählungen um König Artus, im Kern keltisch ist. Doch sind die keltischen Geschichten, bei aller Wehmut und Tragik, nicht so düster wie die germanischen Heldensagen, denn sie bleiben offen für die »Anderswelt«, für neue, andere Möglichkeiten jenseits unserer Möglichkeiten.

Diese traumhafte »Oberstimme« klingt in der Tiefe immer mit in dem scheinbar so nüchtern-pragmatischen oder auch schwermütigen Denken des Abendlandes. Ohne die Stimme der keltischen Intuition fehlt dem europäischen Akkord aus römischer Rationalität und germanischer Schwermut, griechischer Denkfreude und hebräischem Verantwortungsbewusstsein etwas zum vollen Klang.

Das spirituelle Erbe

Die frühmittelalterliche Christenheit, die das Abendland formte, war geprägt von drei »spirituellen« Konzepten: von der platonischgriechischen Tradition der Ostkirche, der römisch-benediktinischen und der keltisch-iroschottischen Tradition.

Das platonisch-orthodoxe Konzept ließ uns die Welt wie eine Ikone betrachten: Die Wirklichkeit ist ein Fenster zum Himmel, zu einer Wahrheit, die als geheimnisvoller Goldgrund immer gegenwärtig ist im Hintergrund des Lebens, aber dennoch unbegreiflich bleibt und nur zu betrachten, nie zu fassen ist.

Das römisch-benediktinische Konzept schickte den Menschen in die Wildnis, um sie zu kultivieren und fruchtbar zu machen. Dabei war die äußere Kultivierung der Wüstenei Ausdruck einer angestrebten inneren Entwicklung: Auch die innere Wüste sollte verwandelt werden, bis sie an den Paradiesgarten erinnerte. Die »stabilitas loci«, das Verbleiben an einer Stelle, gehörte dazu. »Dort, wo Gott dich hingestellt hat, erfülle deinen Lebensauftrag und baue mit an Seiner Welt.«

Das keltisch-iroschottische Konzept forderte hingegen den freiwilligen Weg in die Verbannung, in die ständige Heimatlosigkeit und Wanderung, forderte ein »Leben als Prozess«, bei dem auch der Weg ein Ziel ist. »Wir sind nur Gast auf Erden …« – so sind viele keltische Sagenhelden immer auf der Suche nach der Anderswelt, nach der Feenkönigin, nach der Insel Avalon.

Mir scheint, es wäre gut für die abendländische Christenheit, sich nicht nur um eine Ökumene evangelischer und katholischer Auffassungen zu bemühen, sondern sich auch an den frühmittelalterlichen Dreiklang von griechischem, römischem und keltischem Christentum zu erinnern, einem Glauben, der schaut, einem Glauben, der baut, und einem Glauben, der wandert.

Keltische Märchen, Sagen und Legenden – nacherzähltes Erbe

Die keltische Lebenssicht mit ihrer ganz eigenen Poesie und Spiritualität ist mir das erste Mal bewusst geworden, als ich Märchen und Sagen aus Irland und Schottland gelesen und dann erzählt habe. Die mir liebsten keltischen Geschichten habe ich in diesem Buch zusammengestellt, Geschichten, die mich so angerührt haben, dass ich sie inwendig gelernt habe und weiter erzähle. Sie sind zwar randvoll mit authentisch keltischen Bildern und Überlieferungen, aber in dieser Form, in meiner Bearbeitung, noch nie gedruckt worden. Damit ergibt sich eine Spannung zwischen historischer Exaktheit und künstlerischer Umsetzung.

Diese Spannung ist bei Volkserzählungen nie aufzulösen. Auch die ältesten, noch vorchristlichen Erzählungen sind erst von den christlichen Mönchen aufgezeichnet worden, damit haben sowohl die ursprüngliche Trägergruppe wie auch das Medium gewechselt, denn aus Sprache wurde Schrift. Spätere Sammler haben den Prozess der Verschriftlichung weiter getrieben, Schriftsprache aber unterscheidet sich in Satzbau und Wortwahl sehr von gesprochener Sprache. Und die von mir als Erzählungen rekonstruierten Märchen, Sagen und Legenden dieses Buches sind für das Erzählen und Vorlesen aufgeschrieben und nicht für das stille Lesen gedacht. Darum sollten diese Geschichten am besten laut und sehr viel langsamer als Schrifttexte vorgetragen werden, damit die Bilder Zeit bekommen, sich uns »einzubilden« und in unseren Köpfen zu wirken.

Zudem sind uns keltische Erzählungen meist nur übersetzt zugänglich, oft sogar doppelt übersetzt: erst aus dem Gälischen ins Englische, dann ins Deutsche. Jede wortwörtliche Übersetzung zerstört aber die Seele eines Textes. Die keltischen Geschichten haben oft zugleich den geheimnisvollen Klang der Anderswelt wie auch einen typischen (selbst-) ironischen Unterton. Diese »Seele« des Textes kann nicht in einer wörtlichen Übertragung, sondern nur in einer Nachdichtung bewahrt werden, allerdings darf diese nicht die tragenden Bilder der Geschichte verändern.

Weiterhin sind viele alte Geschichten nur in Bruchstücken oder in vielen verschiedenen Fassungen überliefert; darum muss derjenige, der erzählen will, Fragmente ergänzen und zwischen Varianten auswählen oder sie auch kombinieren. Manchmal habe ich das selbst getan, manchmal aber auch auf zwei große, wenn auch umstrittene Nachdichter keltischer Tradition zurückgegriffen, auf Ella Young (»Etain«; »Das Glückskind«) und Fiona MacLeod/William Sharp (»Der Menschenfischer«; »Das Abendmahl«), deren Rekonstruktionen ich aber als Erzähler wieder reduziert habe auf den Stil von Volkserzählungen.

Sind diese Geschichten aber noch »authentisch«? Als Quellen für Keltologen und Historiker sind die Texte dieses Buches nicht gedacht und kaum geeignet. Und das Buch will und kann kein Ersatz sein für die Feldforschungen und Sammlungen eines Martin Löpelmann oder Frederik Hetmann. Es geht mir um gute Geschichten aus keltischer Tradition und Lebensweisheit für heutige Menschen, nicht um wissenschaftliche Dokumentation geschichtlicher Quellentexte. Dr. Miceal Ross aus Dublin, ein bekannter Kenner und Erzähler irischer Geschichten, hat mir versichert, dass keiner der heutigen irischen Erzähler eine Geschichte zweimal gleich erzählt – trotzdem bleibt es die gleiche Geschichte. So hoffe ich, dass diese Geschichten, wenn sie auch zweifellos meinen Sprachstil und meine Lebenssicht spiegeln, doch durch und durch keltisch sind. Und ich würde mich freuen, wenn das, was ich beim Erzählen dieser Geschichten immer wieder erfahre, auch durch das Buch zu ahnen ist: die keltische Lebensbejahung, der selbstironische Humor, aber auch ein Gespür für das Geheimnis der Welt, für die Anderswelt, die immer sehr viel näher ist, als wir denken.

Die Geschichten dieses Buches

Zwanzig typische und mir liebe keltische Geschichten aus Irland und Schottland, Zaubermärchen, aber auch Sagen und Legenden, habe ich hier zusammengestellt.

Zunächst zwei Voraus-Geschichten: eine aus Irland über das Erzählen, (1) »Der Bursche, der keine Geschichte kannte«, und ein schottisches Kettenmärchen, (2) »Der seltsame Besucher«. Beide Geschichten lassen sich in fröhlicher Runde und zu vorgerückter Stunde erzählen, und sind doch nicht ohne Hinter-Sinn.

Das erste Kapitel habe ich »Starke Frauen« genannt:

(3) Am Anfang steht »Goldbaum und Silberbaum«, eine schottische Variante von Schneewittchen, einem überall in Europa erzählten Märchenmotiv, und doch auch wieder ganz keltisch.

(4) Dann folgt »Tam Lin«, eine als Ballade erhaltene schottische Volkserzählung, in der der Namensgeber des Märchens zwischen zwei Frauen steht, gefangen und gerettet von der Macht des Weiblichen.

(5) Die kurze westirische Sage »Die Totenklage der Braut« – pessimistisch wie fast alle Sagen – erzählt hingegen von einer Beziehung, die scheitert und untergeht, trotz aller Stärke der liebenden Frau.

(6) Die nächste Geschichte ist »Etain oder die goldene Fliege«, ein altirisches mythisches Motiv von der Reise der Anderswelt-Frau in die Menschenwelt, hier nacherzählt nach der sicher eigenwilligen Rekonstruktion von Ella Young.

(7) Das Kapitel endet mit dem irischen »Das Glückskind«, ebenfalls nach Ella Young, vielleicht so etwas wie eine Fortsetzung und Abrundung der Geschichte von Etain.

Im zweiten Kapitel geht es um »die Reise in die Anderswelt«:

(8) »Das Messer gegen die Welle« ist die wohl jüngste Erzählung von einer Reise in die Anderswelt, ein in Irland bis heute weit verbreitetes Motiv von dem Mann, den die Anderswelt-Frau will und doch nicht bekommt.

(9) Bei der westirischen Sage »Der Tanz mit den Feen« folgt die Menschenfrau einem Mann in die Anderswelt – ein sehr selten zu findendes Motiv.

(10) Auch das sehr alte Sagenmärchen »Condla Rotschopf und die Frau im gläsernen Schiff« erzählt von der Begegnung zweier Welten – und ist doch ganz anders: Condla löst sich aus der Männerwelt und wechselt in die Anderswelt.

(11) Sehr alt ist ebenso die Erzählung »Wie König Cormac zu den Feen ging«, doch findet Cormac MacArt, übrigens Condlas Neffe, zurück in die Alltagswelt und hat auf seiner Reise die Weisheit gewonnen, die ein guter König braucht.

(12) Die längste Geschichte des Buches ist die alte irische Odyssee »Die Reise von Maelduins Boot«, in der ein Mann auf einer langen Fahrt durch die Anderswelt zu sich selbst und zum Frieden findet.

Bei »Maelduin« klingt bereits das Thema des dritten Kapitels an: »Männer«.

(13) Zunächst erzähle ich eine Sage um das Liebesleben des Cuchulainn; der ist ein irischer Herkules, eine Gestalt von homerischem Zuschnitt – freilich auch so männlich-machohaft, eitel und begrenzt wie viele homerische Helden.

Viel populärer sind bis heute in Irland die »Fianna-Tales«, Geschichten über den großen Finn MacCumhaill (auch als MacCool geschrieben) und seine Männer.

(14) In »Die Königin von Sciana Breaca« ist Finn die Hauptperson und durchaus positiv gezeichnet, auch weil er um die Macht von Traum und Zauber weiß.

(15) »Dermot mit dem Liebesfleck« erzählt von Finns Neffen und Hauptmann und wie er auf seltsame Weise zu seiner unglaublichen Wirkung auf Frauen kommt.

(16) Aber in der sowohl in Irland wie in Schottland in vielen Fassungen erzählten tragischen Sage von »Dermot und Grainne« erleben wir auch die Begrenztheit und den Untergang einer Männer- und Heldenwelt.

Dann folgen zwei mittelalterliche Volkserzählungen aus dem damals beliebtesten Erzählstoff des Abendlandes, den Abenteuern von König Artus und den Rittern seiner Tafelrunde; beide Geschichten stammen aus England, beruhen aber auf keltischen Motiven, die in origineller Weise weiterentwickelt werden.

(17) »Gawain und der Grüne Ritter« und (18) »Gawain und der Wunsch der Frauen« (so nenne ich die Geschichte, die ursprünglich »Die Hochzeit von Sir Gawain« hieß). In beiden Doppelerzählungen geht es um das typische Männerproblem, wie wir Männer mit der eigenen Schwäche und den Frauen klarkommen.

»Legenden vom Menschenfischer« nenne ich die beiden abschließenden Volkserzählungen aus Schottland nach Fiona MacLeod, nämlich (19) »Der Menschenfischer« und (20) »Das Abendmahl«. Obwohl sie erst aus dem 19. Jahrhundert stammen dürften, finde ich in ihnen die typisch keltische Spiritualität fortgeführt, verbunden mit einer Auffassung des Christentums, die mir sehr nahe ist. Hier geht es nicht mehr um Lebensweisheit, sondern um das Geheimnis des Lebens, dass wir nie begreifen, nur ahnen und glauben können.

Hinweise zum Vortragen und zur Aussprache

Keltische Geschichten sind oft sehr lang. Bei manchen dieser Geschichten ist es darum sinnvoll und möglich, sie in verschiedene »Akte« unterteilt zu erzählen und zwischendurch mit den Zuhörern über das Gehörte zu sprechen und über das, was noch folgen mag – ich frage oft: Wie könnte es weitergehen? Wenn ich Geschichten in Abschnitten erzähle (so etwa die Geschichten 6, 12, 16, 17, 18), so habe ich im Text mögliche Abschnitte durch ein image gekennzeichnet.

Alle Geschichten dieses Buches sind weniger Lese- als Hörgeschichten, es sind Erzählfassungen, die sich gut vorlesen lassen, die aber laut werden wollen, also auch laut vorgelesen werden sollten. Dazu möchte ich zwei kleine Hinweise geben, die helfen können, den geschriebenen Text zum Klingen zu bringen:

1. Stellen Sie sich den Text als Gedicht vor, unterteilt in Verse, in Sprechgruppen. Diese Verse sollten nicht lang sein, sondern jeweils nur ein neues »Bild-Wort«, einen neuen Fortschritt der Geschichte enthalten.

2. Betonen Sie in jedem gedachten Vers nur ein Wort, in aller Regel das entscheidende Bild-Wort, das auf keinen Fall fehlen darf, oder das Wort, das für den Fortgang entscheidend ist.

Als Beispiel für die so gedachte Textordnung füge ich einen kleinen Ausschnitt aus dem Sagenmärchen »Dermot mit dem Liebesfleck« an (die betonten Worte sind unterstrichen):

Einmal waren die vier auf der Jagd.

Sie jagten, bis es dunkel wurde,

dann fing es auch noch zu regnen an.

Nun mochten sie nicht die ganze Nacht

trübsinnig unter triefenden Bäumen hocken,

also sahen sie sich um,

ob nicht in der Nähe ein Strohdach auf sie wartete.

So kamen sie in ein schmales Tal,

das keiner von ihnen je betreten hatte,

dort sahen sie Rauch aufsteigen

aus dem Schornstein einer einsamen Hütte.

Dermot stieß den Ruf der Freundschaft aus,

um den Bewohnern der Hütte zu zeigen,

dass sie nicht in böser Absicht kämen.

Da trat ein alter Mann aus der Hütte,

er begrüßte die Männer freundlich

und hieß sie willkommen für die Nacht.

So traten sie über die Schwelle

ans hell lodernde Feuer.

Der Alte wohnte nicht allein in der Hütte.

Bei ihm war ein junges Mädchen,

kupferrot war ihr Haar,

rund und schön waren ihre Brüste,

und auf ihren Lippen lag ein Lächeln,

zärtlich und lockend,

das ließ die Männer die Augenbrauen heben.

Noch ein Hinweis für schon geübte Vortragende: Tauchen – in keltischen Märchen ja nicht selten – Gestalten aus der Anderswelt auf, so wirkt ihr Erscheinen »schwebend«, geheimnisvoll und surreal, wenn ihre Worte, aber auch ihr Handeln ohne Betonung erzählt werden, so dass die Stimme auf einer Ebene bleibt.

Eine letzte Vorbemerkung zur Aussprache der keltischen Namen: Die ist überaus schwierig und steht häufig nicht mit Sicherheit fest. Einige Namen (wie Dermot, eigentlich Diarmaid) habe ich in der englischen Aussprache übernommen, andere sind so geschrieben, wie ich sie in den irischen Texten vorgefunden habe. In zweifelhaften Fällen habe ich die Aussprache von Dr. Miceal Ross, Dublin, dem ich herzlich für seine Hilfe danke, erfragt. Vor jeder Geschichte liste ich, wo nötig, die wahrscheinliche Klangform der keltischen Namen auf. Ansonsten werden die Namen wie englische Namen ausgesprochen (z. B. Josa MacDhee = Djosah Mäckdie).

Und nun genug der Vorworte, ich wünsche Ihnen viel Freude, viel Spannung und traumhafte Anregungen bei den keltischen Geschichten.

VORAUS-GESCHICHTEN

Der Bursche,
der keine Geschichte kannte

Die erste Geschichte handelt vom Geschichtenerzählen.
Genauer von einem, der keine Geschichte zu erzählen hat.
Das ist in Irland ein geradezu klassisches Motiv. Schon ein
ins Mittelalter zurückreichendes Märchen erzählt vom
Geschichtenerzähler, der keine Geschichte mehr wusste
(bei Frederik Hetmann, Der Dornbusch in Donegal,
Königsfurt 2002), dem nichts mehr einfiel, bis er in verrückte
Abenteuer geriet und so wieder etwas zu erzählen hatte. Die
Geschichte von Paddy ist viel knapper, aber vielleicht auch
dichter. Und sie ist schaurig schön – bestens geeignet fürs
Erzählen am Lagerfeuer oder auch im Pub!

Da war einmal ein junger Bursche, Paddy Ahern. Er war freundlich zu jedermann, und doch nicht gerade willkommen in den Häusern der anderen, denn man hätte statt seiner auch einen Stein in die Ecke setzen können. Ja, stumm wie ein Stein war Paddy, wenn es darum ging, die anderen zu unterhalten. Kein Lied konnte er singen, keine Geschichte erzählen, ja nicht einmal ein Rätsel oder einen Witz konnte Paddy zum Besten geben.

Einmal arbeitete Paddy für Bauern in der Gegend von Limerick, mal für diesen, mal für jenen, und er übernachtete dort, wo es sich gerade anbot. Aber bald merkte er, dass er auch hier nicht willkommen war in den Häusern, in denen er über Nacht blieb. Denn die Leute waren zwar gastfreundlich, aber sie erwarteten doch, dass er als Fremder Neuigkeiten zu erzählen hätte oder den Abend durch Lieder und Geschichten verkürzen könnte. Der arme Paddy war betrübt, aber was sollte er tun?

So ging er eines Abends einen einsamen Weg entlang, denn er hatte noch keine Unterkunft für die Nacht gefunden. Da sah er auf einmal Licht in einem Haus etwas abseits mitten im Feld. Paddy sprang über den Straßengraben, ging auf das Haus zu und klopfte an die Tür. Es war ein seltsames Haus, groß und dunkel, und die Tür öffnete ein seltsamer großer und dunkler Mann. »Willkommen, Paddy Ahern!«, sagte der Mann. »Komm herein und setz dich ans Feuer.« Paddy wunderte sich, dass der Mann seinen Namen wusste, aber er traute sich nicht zu fragen, denn es war wirklich ein seltsamer Ort. Sie aßen zusammen, und dann zeigte der Mann Paddy, wo er schlafen konnte. Paddy zog seine Kleider aus und legte sich hin, müde wie er war.

Aber viel Schlaf bekam er nicht in dieser Nacht. Denn kaum hatte er die Augen zugemacht, da schlug krachend die Tür auf, und drei Männer kamen herein, sie trugen einen Sarg – er schien sehr schwer zu sein. Vom Hausherrn war nichts zu sehen. »Wer hilft uns nun, den Sarg zu tragen?«, fragte einer der Männer die beiden anderen. »Paddy Ahern, wer sonst?!«, sagten sie.

Nun musste der Paddy aufstehen, sich anziehen und mit einem der Männer ans Fußende des Sarges gehen, die beiden anderen gingen ans Kopfende, und dann trugen sie den Sarg aus dem Haus über die Wiesen, weiter und immer weiter querfeldein durch Gräben und Hecken. Es dauerte nicht lange, da war Paddy völlig durchnässt, schmutzig und ganz zerkratzt. Wenn Paddy stehen blieb, um zu verschnaufen, schimpften die Männer ihn aus, und wenn er stolperte und hinfiel, so traten sie ihn mit Füßen, bis er wieder aufstand. Ihm war hundeelend.

Schließlich kamen sie an eine mannshohe Mauer – schrecklich einsam war es dort. »Wer hebt nun den Sarg über die Mauer?«, fragte einer der Männer. »Paddy Ahern, wer sonst?!«, sagten die beiden anderen. Und nun musste Paddy ganz allein den schweren Sarg über die Mauer wuchten, das war kaum zu schaffen. Als er endlich den Sarg über die Mauer gebracht hatte, sah er, dass sie auf einem Friedhof standen. Paddy konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Aber die Männer ließen ihm keine Ruhe.

»Wer gräbt nun das Grab?«, fragte einer. »Paddy Ahern, wer sonst?!« Sie gaben ihm einen Spaten, und Paddy schaufelte ein Grab. Als die Grube endlich ausgehoben war, sagte einer der Männer: »Wer öffnet nun den Sarg?« – »Paddy Ahern, wer sonst?!« Paddy wäre fast gestorben vor Angst, aber was blieb ihm übrig? Er kniete nieder, öffnete mit zitternden Fingern den Sarg und nahm den Deckel ab. Und stellt euch vor: Der Sarg – so schwer er war – war leer.

»Wer legt sich nun in den Sarg?« – »Paddy Ahern, wer sonst?!« Die drei Männer wollten Paddy packen, aber der wartete nicht länger, er sprang auf, sprang über die Mauer und lief davon über die Felder, so schnell er konnte. Und die drei Männer hinter ihm her, sie schrien und johlten, eine schöne Hetzjagd war das! Paddy rannte und rannte wie nie zuvor in seinem Leben, und doch hätten die drei Männer ihn mehr als einmal fast gepackt, aber irgendwie konnte Paddy ihnen immer wieder im letzten Augenblick entwischen.

Da sah er in der Ferne Licht in einem Fenster, und er rannte darauf zu. »Macht auf«, schrie er schon von weitem, »macht auf, um Himmels willen, und rettet mich!«

Die Tür ging auf, und Paddy stürzte hinein in die Küche. Und wer hatte die Tür geöffnet? Ein seltsamer, großer, dunkler Mann. Das war zuviel für Paddy, ohnmächtig brach er zusammen.

Als Paddy wieder zu sich kam, war es heller Tag, und er lag in dem Bett, in dem er am Vorabend eingeschlafen war. Der Hausherr kochte in der Küche Tee. Sonst war niemand zu sehen. »Ah, bist du endlich wach, Paddy?«, fragte er. »Ich hoffe, du hast gut geschlafen?«

»Ganz und gar nicht«, sagte Paddy. »Völlig zerschlagen bin ich von dem, was ich heut Nacht erlebt habe. Und ich bleibe nicht eine Minute länger in diesem Haus. Ich gehe!« Er stand auf und schlüpfte in seine Kleider, die vor dem Bett lagen. Ja, aber die waren sauber und trocken, ohne Risse, ohne Flecken, ohne irgendeine Spur von den Erlebnissen der vergangenen Nacht. Paddy wusste nicht, was er davon halten sollte, er nahm sein Bündel und ging rasch zur Tür.

»Hör mal, Paddy«, sagte da der Hausherr, »du hast mir Leid getan, wie du so umhergezogen bist ohne Lied, ohne Geschichte. Aber sag doch selbst, bevor du gehst: Hast du nun nicht eine schöne Geschichte zu erzählen?«

Paddy gab keine Antwort, sondern machte, dass er hinauskam, und erst als er über den Straßengraben gesprungen war, schaute er noch einmal zurück – aber da war nichts, keine Spur von einem Haus, nur blanke Felder, auf denen Schafe weideten.

Nach-gedacht

Die Geschichte von Paddy Ahern wirkt vielleicht zunächst wie ein etwas makaberer Schwank, unterhaltsam-gruselig, aber doch ohne irgendeinen Hinter-Sinn, ohne tiefere Bedeutung. Aber mir scheint, die Geschichte bewahrt, wenn auch in höchst unterhaltsamer Form, durchaus ihre Lebensweisheit. Warum hat ein Mensch nichts zu erzählen? Weil er keine Geschichte hat? Im Englischen drängt sich das Wortspiel geradezu auf: »A man without his story is a man without history!« Erst nach dieser Schreckensnacht hat Paddy seine Lebens-Geschichte gefunden.

Mir fallen zwei gute Gründe ein, warum Paddy diese Nacht zugemutet wird – zu seinem Besten, wie der große dunkle Fremde meint. War Paddy doch vorher einer, der nichts vom Leben wusste, der immer nur lieb und brav dabeisaß und schwieg, fest überzeugt, er habe nichts zu sagen. Auch in der Nacht im großen dunklen Haus geht er fügsam mit, trägt sich selbst den Sarg, gräbt sich selbst die Grube, erst im letzten Augenblick wird er lebendig, nimmt sein Schicksal und die Beine in die Hand und läuft davon, von seiner ewigen Passivität kuriert.

Aber vielleicht ist der Hinter-Sinn noch grundsätzlicher. Wenn Paddy sein eigenes Begräbnis miterlebt, wenn er seinem Tod begegnet, so ist das vielleicht die Voraussetzung dafür, etwas über das Leben erzählen zu können. Was von der »Großen Kunst« gilt, dass seltener etwas aus Glück erwächst, sondern meist unter Leidensdruck, das gilt wohl auch von jeder Lebensweisheit, die mitzuteilen sich lohnt: Solches Lebenswissen gewinnen wir erst dann, wenn wir – wie Rilke schrieb – die Leier auch unter Schatten gehoben haben, wenn wir Grenzen erfahren haben, Scheitern und Sterben, Abschied und Schmerz. Paddy jedenfalls bringt aus seiner Nacht eine Geschichte mit. Und ich bin mir sicher: Nun hat er, dem Tod entkommen, genug zu erzählen über das kostbare kurze Leben.

Der seltsame Besucher