1

Panamtougouri

Aufgeregt und heimlich suchte Panamtougouri Hirsestroh auf dem Feld zusammen. Endlich konnte er eine tolle Überraschung für Maman basteln. Auf der Müllkippe nebenan hatte er einen alten Elektrostecker mit angeschweißtem Kabel gefunden. Nun noch schnell einen großen Stern aus Maisstroh geflochten und das alles schön verkabeln. Wie würde sie sich darüber freuen! So einen ähnlichen Stern hatte Maman zu Weihnachten aus Deutschland zur Freude aller Kinder mitgebracht, und er leuchtete hell im Waisenhaus AMPO für alle fünfzig Jungen.

So einen Stern konnte er nun selbst herstellen, das hatte Panam nicht geahnt! Obwohl er, sieben Jahre alt, bereits sehr viel gesehen hatte. Schon mit fünf Jahren hatte er viele Nächte auf den Straßen verbracht, einen Vater kannte er nicht, die togolesische Mutter kümmerte sich nicht um ihn, und die Großmutter war zu alt, um ihn festzuhalten.

Das war ein Leben: Nachts stand er vor den Kneipen von Ouagadougou und betrachtete sich die Zecher ganz genau. Die Frauen, die dort bedienten, kannten ihn schon. Jetzt! Alle sahen hin, wenn dieser kleine Bursche einen Salto rückwärts aus dem Stand schaffte – nun ja, nicht immer ganz, aber wenn es nicht so richtig klappte, bekam er umso schneller etwas zu essen. Sogar von ihrem Bier gaben ihm die Männer ab! Radschlagen, Spagat und Kopfstand waren seine Spezialität, und wenn er auf den Händen ging, wurde Beifall geklatscht. Jeder war verliebt in den kleinen Panam, mit seinen unwiderstehlichen Zahnlücken lachte er so strahlend! Die Nutten ließen ihn auf ihrer Terrasse schlafen, selbst die Polizisten, die ihn oft aufgriffen, gaben ihm zu essen. Aber die Leute vom Sozialamt konnte er dann doch nicht täuschen mit seinem Charme – jedes Mal wieder brachten sie ihn in verschiedenen Familien unter, aber er blieb niemals länger als eine einzige Nacht. Nein, Panam war ein Kind der Straße. Außerdem wollten diese Leute ihn immer waschen, und davon hielt er auch nicht so viel, im Gegenteil, niemals brüllte er lauter als unter dem Wasserhahn! Alle hatten Angst vor seinem ungeheuerlichen Gebrüll, darum gab es dann nur eine Katzenwäsche, und seine dicken Tränen wurden liebevoll getrocknet. Nach einem guten Frühstück aber verschwand Panam sofort – das Leben auf der Straße war ja so voller Abenteuer, und außerdem erlaubte ihm sein Stolz keinesfalls, jemandem verpflichtet zu sein. Nur er selbst bestimmte, wo er hinging, und das bereits im Alter von sechs Jahren.

Da er der kleinste Straßenjunge in der Stadt war, konnte er sich einiges erlauben; die anderen Jungen betrachteten ihn als eine Art Maskottchen und gaben ihm vom erbettelten Geld ab. Nur vor den großen Straßenjungen hatte er Angst, sie nahmen zu viele Drogen und waren unberechenbar.

Eines Nachts hatte er zusammen mit einigen anderen Freunden im Straßengraben geschlafen, schräg gegenüber von der Bäckerei, in der man morgens um fünf Uhr manchmal die restlichen Brote von gestern geschenkt bekam. Aber dieses Mal wachte er lange vorher in der Dunkelheit von einem seltsamen Stöhnen auf. War der Große neben ihm krank? Es war auch feucht um ihn herum, dabei war doch Trockenzeit in Ouagadougou. Wasser konnte das nicht sein.

Panam stand auf und sah nach den anderen, aber es war niemand mehr da. Den Jungen neben sich hörte er nicht mal mehr atmen. Ihm war sehr unheimlich, wohin sollte er alleine in der Nacht gehen?

Leise schlich er sich unter die Bank vor der Bäckerei – auch wenn dort der gefährliche Wächter schlief, das war immer noch besser als alleine zu sein. Niemand ist gerne alleine in Afrika, besonders nachts nicht. Die Stadt war totenstill. Als die Sonne schließlich doch noch aufging – Panam hatte schon gedacht, es bliebe auf ewig schwarze Nacht –, sah er die Blutflecken auf seinem Hemd. Jemand hatte seinen Freund getötet.

Panam lief schnell weg und warf sein Hemd fort, damit durfte er nichts zu tun haben. Er suchte seine Großmutter, aber sie war ins Dorf gefahren. Diesen Tag verbrachte er in seinem Versteck unter dem ausgebrannten Auto ohne Essen und still für sich. Abends fand ich ihn dann – für immer.

»Maman? Guck’ mal, hier ist eine Überraschung für dich!« Noch ehe ich reagieren konnte, war der Stecker schon in der Steckdose – es gab einen ohrenbetäubenden Knall und eine blaue Stichflamme. Panam hatte das gesamte Waisenhaus lahmgelegt!

Ein Weihnachtsstern! War das nun nicht wieder ein herrliches Beispiel von lässiger Intelligenz, schöner Innovation und selbstständigem Denken, dem, was ich immer so gerne von allen Kindern erwarte? Gott sei Dank war ihm selbst nichts passiert. Ich war begeistert von Panam, obwohl alle anderen ihn am liebsten verhauen wollten, da AMPO für Tage ohne Strom lebte. Gute Elektriker sind rar in Burkina Faso…

Panamtougouri – in der Sprache der Mossi, dem More, bedeutet das »fliegendes Ungeheuer«. Wie viele Male kam er nachts in mein Bett gekrochen, aus Angst vor der Nacht im Graben. Wie oft habe ich ihn wieder im Kommissariat abholen müssen, weil er sich mal wieder davongemacht hatte. So manches Mal war ich in der Schule, um seine Lehrer zu besänftigen. Seine große Klappe, wenn er sich bei Streit im Recht fühlte, oder sein haltloses Brüllen, wenn es ans Waschen ging, konnte ich elegant überhören. Ich bin sehr streng mit den Kindern. Noch heute, sieben Jahre später, kann Panam auf Knopfdruck weinen, dicke Krokodilstränen, mit denen er versucht, zu seinem Recht zu kommen, aber bei mir funktioniert das nicht – ich kenne ihn zu gut und weiß genau, wann er wirklich traurig ist. Er beobachtet mich dann bei so einem Drama aus den Augenwinkeln, und wenn ich anfange zu grinsen, dann kann er sich auch nicht mehr halten. Wir beide kugeln uns vor Lachen, und alle anderen schütteln den Kopf – was machen die da bloß?

Wenn wir traurig sind, reden wir überhaupt nicht, wir bleiben nur die ganze Zeit so dicht beieinander wie möglich, ab und an treffen sich unsere Blicke, wir halten diese Zeit dann gemeinsam durch, bis es wieder besser wird.

Abgesehen von meinen Aufenthalten in Deutschland haben wir uns in den letzten sechs Jahren nur einmal gezwungenermaßen getrennt. Seine Großmutter bestand darauf, dass er bei der neuen Familie in Togo bleiben sollte, in die seine Mutter eingeheiratet hatte. Wir alle bei AMPO wollten das nicht, denn dort gab es keine Schule und natürlich keinen Arzt. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte die Familie kein Geld für Medikamente gehabt oder es zumindest nicht für ein angeheiratetes Kind ausgegeben. Es stirbt sich schnell in Afrika. Aber die Großmutter bestand darauf, kam jeden Tag zu AMPO, gab dem armen Panam heimlich Zaubermittel und warf sich tränenreich vor mir auf die Erde, um zu verdeutlichen, dass die Tradition es so wolle. Wir fragten den Chef der Colonie togolaise in Burkina Faso um Rat, da wir nichts falsch machen wollten. Auch er versuchte der Alten beizubringen, dass es für das Kind bedeutend besser wäre, die Chance bei AMPO wahrzunehmen, aber das alles half nichts. Inzwischen hatte die Großmutter das Kind so unter Druck gesetzt, dass Panam nichts anderes übrig blieb als zuzustimmen.

Nie werde ich vergessen, wie Panam und ich seine Sachen packten. Es ist nicht üblich in Burkina, seinen Schmerz zu zeigen, und wir beiden schluckten und versuchten unsere Tränen zurückzuhalten, bis er schließlich abfuhr. Dann stürzte ich hinter das Büro und weinte bitterlich, genau wie auch Panam im Auto. Issaka hat es mir später erzählt. Keiner von uns beiden wollte dem anderen Kummer bereiten. Ich schickte unseren Erzieher Issaka Kargougou mit auf die Reise von vier Tagen, damit jedenfalls einer von uns sehen konnte, wo das Kind nun hinkam.

Issaka besuchte noch eine andere Familie in Togo und kam nach zwei Wochen wieder im Dorf von Panam vorbei. Er fand ihn krank vor der Hütte liegen und bestellte gleich den Familienrat. Da der Familie dieses anstrengende Kind sowieso zu viel und auch egal war, stimmten alle zu: Er durfte wieder mit zu AMPO. Als dieser Entschluss fiel, raste Panam trotz Fiebers in seine Hütte und kam sofort mit seiner Tasche zurück, nahm die Hand Issakas und war bereit zur Abfahrt. Er hatte nämlich seine Sachen in den zwei Wochen gar nicht ausgepackt!

Für mich war AMPO inzwischen leer, trotz der neunundvierzig anderen Jungen. Jeden Tag sprachen wir von Panam, selbst seine eingeschworenen Gegner vermissten ihn. Vergessen seine Rechthaberei, seine Beleidigungen und sein anmaßendes Auftreten; dass er die Schule schwänzte und sich nie waschen wollte, war ja eigentlich nicht so wichtig. Wo ist Panam, er ist doch einer von uns?

Vier Tage später, mitten in der Nacht, kamen die beiden dann in Ouagadougou an. Issaka klopfte, bis ich wach war, und als ich die Tür öffnete, fiel mir kraftlos ein kleines Bündel von acht Jahren in die Arme: Mein Panamtougouri war endlich nach Hause gekommen… Am nächsten Tag rauschte er bei AMPO ein wie ein König, lässig lachend und alles mit einem Wink der Hand abtuend: »Na und? Bin halt mal in Togo gewesen!«

Aber bis heute, wenn mal wieder was nicht klappt, frage ich ihn nur mit den Augen, ob er lieber nach Togo zurück möchte, und jedes Mal dreht er sich um und geht sich waschen oder auch brav in die Schule…

Inzwischen gibt er sich gute Mühe in der Schule. Sein Dilemma ist typisch für ehemalige Straßenjungen, denn er ist intelligent, aber absolut unfähig zur Konzentration. Als Kind schon machte er ausschließlich, was ihn interessierte, und auch nur genauso lange, wie es Spaß machte, danach suchte er sich andere Tätigkeiten. Er kannte keinerlei Disziplin oder auch nur Ordnung, sein Tag verging mit Betteln, Schlafen, Angeln, Essen und Spielen. Da eine Grundschulklasse in Burkina Faso zwischen hundertzwanzig und hundertvierzig Kinder umfasst, verlangt das Lernen auch viel Geduld. Selten kommt man als Erster dran, und das eben ist Panams Ziel: Er oder keiner, ansonsten verliert er schnell die Geduld, und dann geht er eben, so wie früher auch.

In burkinischen Schulen wird viel geschlagen, nicht mit der Hand, sondern mit Stöcken, Linealen und Peitschen. Wir haben schon viele Platzwunden auf Köpfen nähen müssen oder tagelang Rücken verpflastert. Oft müssen die Kinder stundenlang zur Strafe auf ausgestreutem Reis knien oder Eselsohren aus Papier tragen, wenn sie aus Versehen More anstatt Französisch sprechen. Einmal nahm ich vier Kinder auf einmal aus einer Schule, weil der Lehrer unerträglich war. Natürlich ist es auch nicht leicht, so viele Kinder zu unterrichten, das stimmt. Es bleibt immer ungerecht, weil die Schüchternen zurückbleiben. Auch in den Pausen wird sich in den Schulen viel geprügelt, die Aufsicht über so viele Kinder kann niemals ausreichen.

Bei AMPO ist es sämtlichen Erwachsenen und Großen verboten, die Kleinen zu schlagen; damit sind wir eine große Ausnahme hier in Afrika. Tagelang, ja jahrelang habe ich mir in allen Personalversammlungen sagen lassen müssen, dass dies afrikanische Kinder seien und man sie züchtigen müsse. Ich als Europäerin würde nichts davon verstehen. Aber ich habe darauf bestanden und sogar schon Personal verwarnt oder entlassen, das sich nicht daran gehalten hat.

Und siehe da: In allen diesen acht Jahren hat es nur zweimal eine ernsthaftere Auseinandersetzung zwischen zwei Jungen gegeben, obwohl wir wahrlich einige raue Gesellen beherbergen – so langsam begreift nun sogar der Tischlermeister, was ich meine!

So zeigt sich in der täglichen Praxis, dass Gewaltlosigkeit die bessere Lösung ist, und darüber bin ich froh. Jeder AMPO-Junge hat einen Bruder, immer gehören ein Großer und ein Kleiner zusammen. Sie helfen sich gegenseitig: Wenn einer von ihnen krank ist, schläft der andere bei ihm in der Krankenstation, wenn einer sich streitet, kommt der andere schlichten.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass übernommene Verantwortung das Wichtigste im Leben eines Kindes ist. Jemand, der jahrelang auf der Straße war, wird mit Freuden auf einen kleinen Hund, ein kleines Huhn oder auch einen kleinen Bruder aufpassen. Endlich traut ihm jemand etwas zu, und das muss er nun unter Beweis stellen, vor allen anderen Kindern. Zu Beginn läuft vieles schief, weil Zeiten oder Regeln nicht eingehalten werden, aber wenn man so etwas wie Regeln nie kannte, wie soll es auch gleich klappen?

Gott sei Dank ist dies das Land, in dem das Verzeihen geboren ist. Rat wird hier freigiebig verteilt und auch angehört, schon aus Gründen des Respekts. Was Achtung und Höflichkeit angeht, ist Burkina Faso sicherlich generell ein kleines Paradies. Die Achtung ist bei den Mossi schon in der Tradition begründet, jahrhundertelang begrüßte man die Alten und die Könige hier auf den Knien, viele tun es heute noch. Alle AMPO-Kinder, auch die Jungen, knicksen bei der Begrüßung.

Überhaupt dauert eine Begrüßung in diesem Land längere Zeit, vor allem auf dem Lande kann sie gerne einige Minuten währen. Man erkundigt sich mit festgelegten Formeln nach Haus, Hof, Feldern, Vieh, nach Kindern, Frauen und Großeltern. Danach werden Ernte und mögliche Abmachungen oder Reisen besprochen. Auch beim Abschied müssen alle in der Familie einzeln gegrüßt werden, viele Segen über Feld und Hof werden gesprochen und herzlich mitgegeben – ohne Segen geht hier gar nichts. Die Segen waren das Erste, was ich in der Sprache der Mossi lernte.

Natürlich sieht das in der Stadt wieder ganz anders aus. Unter sich herrscht je nach Alter ein lässiger Ton, aber den Älteren gegenüber wird im Ganzen noch heute die Achtung erwiesen in Sprache und Umgangston, die Augen werden niedergeschlagen und der Kopf gesenkt. Nach ein paar Witzen und einigen Scherzworten traut sich dann aber ein jeder doch, mit seinen Problemen oder Wünschen herauszurücken.

Diese schöne Höflichkeit, gemischt mit der unbändigen Lebensfreude, ist ein wahrer Grund, in Afrika alt werden zu wollen! Immer wieder erschrickt mich das Murren und Knurren in Deutschland; patzige Antworten von Kindern sind hier undenkbar. Ich habe schon afrikanische Minister am Handy zusammen knicken sehen, wenn ihre Väter am anderen Ende des Telefons waren! Hier muss ein Sohn normalerweise machen, was der Vater sagt, auch wenn der Sohn vielleicht sechzig und sein Vater achtzig Jahre alt ist, so gehört sich das in Afrika!

Und so hören unsere Kinder bei AMPO generell gut auf uns und auf sich untereinander, insofern haben wir es leichter als in Europa. Selbst Panam mit seinem so eigenen Willen bleibt am Ende nichts anderes übrig als nachzugeben; allerdings muss ich bei ihm immer darauf achten, dass er die Einsicht selbst gewinnt, sonst fühlt er sich überrannt und in seinem Stolz verletzt. Das erfordert lange Gespräche, aber irgendwann kommt er dann zu mir zurück und findet alles richtig. Sogar das Waschen sieht er inzwischen ein, nachdem ich ihm über Jahre nach der Ohrenkontrolle anerkennend zugeblinzelt habe – inzwischen kommt er von selbst und will seine Nägel geschnitten haben. Jeden Morgen kommt er frisch gewaschen und mit hochgezogenen Socken von der Pumpe, die Zähne strahlen vor Sauberkeit, und im Haar sind keine Wollfäden von seiner Schlafdecke – ich glaube, es liegt daran, dass er so langsam die Mädchen entdeckt, und auch da will er natürlich mal wieder der Beliebteste sein, mein Panamtougouri!

2

Eine besondere Ehre

Jahrelang war ich um die Entscheidung herumgeschlichen, jetzt merkte ich es deutlich. Gerade ich, allgemein bekannt für meine raschen und konsequenten Entschlüsse!

Nun saß ich hier am Strand und wusste genau: Es gab ein entscheidendes Loch in meinem Leben, das ich grandios und großflächig übertüncht hatte. Die großen Wellen des Atlantik rauschten herein, ich saß hier nun schon drei Tage lang. Was wollte mein Leben von mir? Und was hatte ich zu bieten? Die Palmen rauschten wie im Kino.

Mein Leben sah so gut aus: Meine Buchhandlung im Norden Deutschlands lief prächtig, die vielen Lehrlinge bereiteten mir Freude. Mein Sohn John war inzwischen groß genug, um selbstständig zu leben. Männer in meinem Leben hatte es reichlich gegeben, gute Freunde hatte ich auch. Woran lag es denn, dass ich damit nicht fröhlich war? Ich hatte immer schöne Musik, feine Motorräder, konnte in meinem großartigen Garten arbeiten, in jede Richtung reisen und essen, was ich wollte. Mehr konnte es doch nicht geben. Oder?

Viele Frauen hatten mir gesagt, wie sehr sie mich um mein Leben beneideten, sie sahen mich als Inbegriff der Emanzipation. Ich kümmerte mich wenig um meinen Ruf, ließ mich konsequent im Laufe meines Lebens dreimal scheiden und bezahlte jede Scheidung selbst. Obwohl ich in einer Kleinstadt wohnte, hatte ich einen Afrikaner geheiratet. Das kostete mich anfangs einige Kunden, aber nachdem sie merkten, dass sich nichts änderte, kamen sie auch wieder zurück. Jedenfalls hatte ich eine Menge Spaß in meinem Leben!

Irgendwo gab es eine Lücke. Ich war immer so um Wahrheit und Ehrlichkeit anderen und mir selbst gegenüber bemüht, aber ich musste etwas übersehen haben, und zwar etwas ganz Entscheidendes.

Die nächste Welle rollte auf den Strand, ich fühlte mich trostlos. Wo war die Lebensfreude in mir abgeblieben?

1989 war das Jahr, in dem ich das erste Mal nach Afrika gereist war. Diesen dunklen Kontinent hatte ich bei meinen vielen weiten Reisen immer ausgelassen: Zu gefährlich, alleine konnte ich dort nicht reisen, zu komplex, um auch nur etwas davon zu verstehen. Darauf wollte ich mich nicht einlassen.

Doch eines Tages landete einer der Asylbewerber aus unserer Stadt in der Psychiatrie. Ich war damals Mitglied des Vereines Freunde der Asylbewerber, und wir besuchten ihn dort abwechselnd.

Es ging ihm schlecht. Jedes Mal wieder fanden wir ihn ans Bett gefesselt oder in der Zwangsjacke, er wurde immer grauer und immer dünner. Wir versuchten, die behandelnde Ärztin dazu zu bewegen, sich mit Ärzten in Frankreich oder Belgien zu beraten, denn der kulturelle und traditionelle Hintergrund eines Afrikaners musste doch anders aussehen als bei einem Deutschen. In diesen Ländern hatte man schon mehr Erfahrungen mit »verrückt« gewordenen Afrikanern. Doch sie lehnte alle Hilfe ab.

In Afrika hat der Vogelflug eine große Bedeutung. Eines Tages bestellte die Ärztin den jungen Mann zu einem Gespräch in ihr Behandlungszimmer im vierten Stock. Als er es betrat, flog vor dem Fenster ein Schwarm von Vögeln vorbei. Er stürzte hin, um aus ihrem Flug zu lesen, die Ärztin aber drückte sofort den roten Knopf, weil sie dachte, er wolle sich aus dem Fenster stürzen – wieder kamen die Wächter, wieder wurde er ans Bett geschnallt und bekam Beruhigungsmittel – ein neuerliches Missverständnis zwischen zwei Kulturen.

So konnte es nicht weitergehen. Mit Glück bekam ich einen Bruder von ihm, der in einer Zuckerfabrik im Süden von Burkina Faso arbeitete, ans Telefon. Er war der festen Überzeugung, dass sein Bruder mit traditioneller Medizin geheilt werden könne, es handele sich um einen Zauber, und in seiner Ethnie gebe es Mittel dagegen. Ich solle kommen und die traditionellen Medikamente holen.

Was tun? Gerade war ich selbst von einer Reise zurückgekommen und hatte weder Zeit noch Geld, um mal eben nach Afrika zu fliegen. Da wollte ich doch auch gar nicht hin! Nirgendwo auf der Welt ist das Fliegen teurer als in Afrika – und noch dazu kannte mein Reisebüro die Hauptstadt Ouagadougou gar nicht – wer hatte denn so ein Wort schon mal gehört? Wo sollte das liegen? In der Sahelzone?

Inzwischen gab es so viele Widerstände, dass ich die Herausforderung annahm: Ich kaufte ein Ticket nach Banjul in Gambia, das war damals das billigste auf dem Markt, betrachtete mir die Karte von Westafrika und dachte: Also, die zweitausend Kilometer über Land bis Banfora sind bestimmt leicht zu schaffen. Grenzen? Bei meiner Reiseerfahrung sind die doch kein Problem!

Als Anfänger hatte ich keine Ahnung, wusste nichts vom Krieg in Mali, von Banditen im Zug, von nächtlichen Überfällen, schweren Unfällen auf Buschpisten mit überfüllten Kleinbussen, diffusen schweren Krankheiten, die im Busch ohne Arzt überstanden sein wollten, den vielen professionellen Betrügern und den kleinen Dieben. Inzwischen weiß ich: Das Reisen in Afrika will bedacht sein, niemand weiß, ob und wann er ankommt, auch nicht in welchem Zustand. Selbst mit dem besten Auto, ausgerüstet mit zwei Ersatzreifen, Extrakanistern mit Diesel und Wasser, Kompass griffbereit, kann immer noch etwas passieren. Dieser Kontinent ist so riesig, man kann sich darin verlieren.

Jeder in meiner Heimatstadt warnte mich, mein Mann war nicht einverstanden, mein Sohn John hatte Angst um mich, meiner Mutter erzählte ich lieber so wenig wie möglich und machte mich dann nach einer langen Impforgie auf den Weg.

Afrika! Bis heute erinnere ich mich an die plötzliche Einsamkeit am Flughafen in Banjul, nachts um zwei Uhr. Die Pauschaltouristen für die Strandhotels wurden in Bussen abgeholt, und wie kam ich in die Stadt? Eigentlich stand ich dort schon als perfekte Beute für jeden Betrüger, aber ich hatte Glück. Jemand nahm mich mit und setzte mich vor einem sehr zweifelhaften kleinen Hotel ab – es war ein Stundenhotel, die Nutten saßen auf der Treppe und amüsierten sich königlich über mich. Unter meinem Bett raschelten die Mäuse, und in der kaputten Klimaanlage nisteten Tauben. Während der gesamten Nacht liefen die Frauen den Flur entlang, klopften an alle Türen und riefen auffordernd: »Monsieur, c’est l’amour qui passe!« Da ich natürlich nicht schlafen konnte, haben wir uns den Rest der Nacht gut unterhalten.

Am Morgen ging dann meine erste afrikanische Sonne auf – ich sah den Dreck und die Armut, aber ich blickte auch in fröhliche Gesichter und konnte die allgemeine Lebensfreude nicht fassen! Bereitwillig wurde Tee mit mir geteilt, denn ich hatte noch kein gambisches Geld. Ein Teller mit undefinierbarem Reis stand vor mir. Nach einem unsicheren Blick in die Runde begann ich genauso vergnügt zu essen wie die anderen Freundinnen dieser Nacht. Es hat mir nicht geschadet, und für immer lernte ich an diesem Morgen dieses absolut natürliche Teilen, das in Afrika Gesetz ist.

So begann diese Reise in einen mir unbekannten Kontinent. Die Farben, die Anmut der Menschen, ihre Freundlichkeit und Bescheidenheit beglückten mich. Nie war ich sorgloser gereist! Und seltsamerweise wurden aus den größten Schwierigkeiten später immer Segen, alles klappte, für jedes Problem gab es eine Lösung. Ich selbst trat dieser neuen Welt ganz offen entgegen, das erkennen Afrikaner sehr gut und helfen zu jeder Zeit.

An die Art und Weise des Reisens musste ich mich erst gewöhnen – mit europäischem Eifer rannte ich morgens zu den jeweiligen Busbahnhöfen oder Haltestellen, an denen die berühmten Buschtaxis in verschiedene Richtungen abfuhren. Der Preis in die jeweilige Richtung bis zum Zielort muss ausgehandelt werden. Es dauerte Tage, bis ich begriff, dass die Fahrer mich schamlos anlogen. »Pas de problème, ja, natürlich, Madame, wir fahren gleich ab, in fünf Minuten!« Aus diesen fünf Minuten wurden manchmal fünf Stunden, denn ein Buschtaxi fährt nur ab, wenn es voll ist, und voll heißt überladen. Zwei bis drei Menschen, Schafe, Mopeds, Gemüsekörbe oder Bananenbüschel passen immer noch hinein, während der Fahrt rüttelt sich dann alles zurecht! Was ist schon Zeit in Afrika? Immer vorhanden, ein Sprichwort sagt: »Zeit kommt immer mehr.«

Ich ärgerte mich selten, denn diese Haltestellen waren voller Leben und Wunder für mich. Überall gab es Musik, schöne Farben und Rätsel. Egal, an welcher Ecke man mich absetzt hier in Westafrika, bis heute habe ich mich noch nie gelangweilt. Es geschieht immer so viel, und ich bin mittendrin im Leben!

Immer gibt es Gesprächspartner, die nur allzu bereit sind, aus ihrem Leben zu erzählen. Viele lustige Missverständnisse bei der Frage nach dem Woher und Wohin bedürfen der Aufklärung, es wird Tee getrunken, Aspirin verteilt und Essen ausgegeben. Kochrezepte werden ausgetauscht, Krankheiten verglichen und Zeitungsartikel diskutiert, je nach Nachbarn, Sprache und Reiserichtung. Freundliches Interesse und ausgesuchte Höflichkeit begegneten mir überall.

Dies sollte das gefährliche Afrika sein, vor dem mich alle so warnten? Alle meine Fragen wurden von Mitreisenden beantwortet, jeder fand mein Interesse schön und klärte mich auf.

Warum trugen diese vier Frauen die gleichen Kleider? Sie hatten denselben Mann, der ihnen gemeinsam einen Stoffballen geschenkt hatte, und demonstrierten in dieser Form ihren Familiensinn.

Warum hatte meine Banknachbarin ihre Hände so schön mit Henna gefärbt? Sie fährt zu einer festlichen Hochzeit.

Warum durfte ein Mann bei den Mossi seine Frau nicht mit ihrem Vornamen anreden? Aus Gründen des Respekts – vor der Heirat ist es noch möglich, aber danach nicht mehr. Selbst Schwiegereltern werden hier noch in der zweiten Person Plural angeredet.

Warum haben die Hütten in diesem Dorf hier weiße Striche? Das vielleicht magische Auge eines Fremden wird damit abgewendet.

Warum müssen wir bei den kleinen Wirbelstürmen das Auto anhalten? Darin steckt ein schlechter Zauber, sogar ein Fluch.

Warum tragen die Babys winzige kleine Halsketten? Wenn sie Zähne bekommen, haben sie dann keine Schmerzen.

Warum haben so viele Menschen kleine Narben unter dem linken Auge? Der Flug eines Nachtvogels kann eine unheilbare Krankheit bei Schwangeren und Kindern auslösen – durch diesen Schnitt wird er abgewehrt.

Eine neue Welt! Ich war hingerissen. Und völlig durchgeschüttelt! Meistens gab es keine Asphaltstraße, sondern nur eine Piste, durchlöcherte Sandstraßen, deren Oberfläche die Form von Wellblech hat. Weniger als siebzig bis achtzig Stundenkilometer kann man nicht fahren, sonst fällt man in jedes Wellblechtal, darüber ist es höchst gefährlich, denn wenn der Wagen ins Schleudern kommt, ist auf dem Sand das Bremsen kaum möglich. Da es zur Regenzeit sonst kein Durchkommen gibt, sind die meisten dieser Pisten hochgelegt, das heißt, auf beiden Seiten geht es einen bis drei Meter abwärts, bei den meisten Unfällen überschlagen sich die Autos meist mehrfach. Eine Wissenschaft für sich, das Fahren im Sahel. Wir sind aber immer gut davongekommen.

Mein Glück schien zu enden, als ich schließlich zwei Wochen später nachts in der Zollstation zwischen Mali und Burkina Faso ohnmächtig wurde. In San hatte ein kleiner Dieb mein letztes Geld gestohlen, ich hatte nur noch Travellerschecks, und es war außerordentlich kompliziert gewesen, einen Fahrer zu finden, der bereit war, mich nach Bobo-Dioulasso zu fahren, über die Grenze und nachts. Ich hatte hohes Fieber, mir war schlecht, und mein Nacken schmerzte – was konnte das nur sein? Ich musste irgendwie einen Arzt erreichen.

Diese nächtliche Reise trage ich noch heute wie einen Traum in mir – mitten im Busch wurden wir von einer malischen Militärpatrouille angehalten, rund um das Auto wurden geräuschvoll etliche Kalaschnikows entsichert, wir waren umstellt. Die Gesichter der Männer waren böse verzerrt, das Licht des kleinen Feuerzeuges ließ die Narben in ihren Gesichtern tief eingegraben erscheinen.

Natürlich war es verboten, auf Nebenwegen über die Grenze zu fahren – aber ich hatte überhaupt keine Angst, obwohl wir lautstark angebrüllt wurden. Mein Fieber war so hoch, dass mir alles vorkam wie im Traum. Mechanisch reichte ich mein Zigarettenpäckchen aus dem Fenster und interessierte mich viel mehr für einen riesigen gelben Mond, der soeben über einem Feld aufging und über den gesamten Horizont zu reichen schien. Faszinierend! Nach einigen aufgeregten Sätzen schienen sich Fahrer und Militär zu beruhigen, ein wenig Geld wechselte den Besitzer, und wir fuhren weiter. Glück gehabt, denn es gab immer noch viele Scharmützel an dieser Grenze – das erfuhr ich erst Tage später. Die Afrikaner sagen hier: »Die Köpfe der Weißen sind gezählt.«

Eine Stunde später fiel ich in der Zollstation von Burkina Faso um.

Noch bevor ich die Augen aufschlug, roch ich das Petroleum und hörte die Zikaden – dann blickte ich in ein einziges breites Grinsen, beleuchtet vom kleinen Licht einer Petroleumlampe, die Zähne leuchteten weiß. Immer noch hatte ich keine Angst!

Es war Rayayesse, ein Zollbeamter, der mich aufgefangen hatte in dieser Nacht. Später wurde er der beste Freund, den ich jemals hatte. Er nahm mich in seiner Familie auf, seine Frau braute mir bittere Medizin, Tage verbrachte ich still sitzend mit seinen Kindern in ihrem Hof. Ein Heiler wurde bestellt. Er kam und schrieb mit dem schwarzen Tintensud ausgesuchter Pflanzen geheimnisvolle Worte auf ein Holzbrett, das dann abgewaschen wurde. Die Mischung aus Tinte und Wasser wurde über meinem Kopf ausgegossen. Er zählte stundenlang Kaurimuscheln ab im Sand, nickte leise und gab aufmunternde Laute von sich. Ich fühlte mich ernst genommen und gut aufgehoben. Bitterer schwarzer Sud musste getrunken werden, ich musste mich mit heißem Kräuterwasser übergießen. Nach einigen Tagen ließ das Fieber nach, und ich fühlte mich besser. Rayayesse brachte mich in die Stadt. Eine Meningitis, meinte der Arzt, und dass ich Glück gehabt hätte…

Glück! Ja, mein Glück dauerte an. Rayayesse lieh mir sein Motorrad, ich fuhr allein weiter nach Banfora, traf den Bruder des kranken Mannes in Deutschland und musste eine Woche lang auf die traditionellen Medikamente warten – inzwischen hatte ich ja Geduld gelernt, mein Flieger hob in Banjul ohne mich ab.

Das gab mir Zeit, mehr über Afrika zu erfahren. Dankbar und staunend entdeckte ich eine neue Welt, ja, einen anderen Stern, denn ich hatte nur afrikanische Freunde. Europäer lernte ich selbst über die nächsten vier Jahre bei meinen Besuchen nicht kennen. So habe ich Afrika von der Pike auf gelernt.

Vom Maisbrei bis zu Hochzeitsbräuchen, von der letzten Mode bis zur Kunst des respektvollen Grußes in den verschiedenen Altersstufen, vom richtigen Handeln auf den Märkten bis zur Kinderpflege, alles lernte ich von Händlern, Künstlern, Hausfrauen, Bankbeamten und Kindern, vor allen Dingen von Kindern. Stolz nahmen sie mich überallhin mit und zeigten ihre neue deutsche Freundin vor. So bekam ich Einblick in verschiedenste Familien und Lebensweisen, in Geldnot und Armut, in die Kunst des Überlebens in Afrika.

Offenheit und Gastfreundschaft überwältigten mich. Oft saß ich verschwitzt in einer kleinen Lehmhütte und unterhielt mich, plötzlich stand eine Coca-Cola vor mir. Sie kostete so viel, dass man davon drei Kinder einen Tag lang ernähren konnte. Beschämt ließ ich eine Tüte Zucker oder Tee auf dem Tisch liegen. – Das konnte doch wohl nicht meine Antwort auf so viel Großmut sein?

Ich ging fort und war nicht zufrieden mit mir und der Welt – womit hatte ich meine Herkunft verdient? Wieso konnte ich mir alles erlauben und hatte das nie hinterfragt? Natürlich war ich nicht reich, aber besser konnte es mir doch gar nicht gehen! Ich hatte auch häufig in meinem Leben gespendet, nach Indien, nach Afrika, aber ich hatte nicht gewusst, wie sehr anständige Menschen täglich einfach nur mit dem schlichten Leben beschäftigt waren, wie viel Zeit es kostete, Wasser zu holen, Holz zu schlagen, Petroleumlampen zu entzünden. Bei mir zu Hause drehte ich den Wasserhahn auf, machte die Heizung an oder drückte auf den Lichtschalter.

Andererseits taten sie alles gemeinsam und fröhlich, wie viele Witze flogen beim gemeinsamen Waschtag über den Fluss, wie wurde nebenbei getanzt und gesungen! Als ich erzählte, dass es in Deutschland Maschinen gebe, in der die Wäsche sich von selber wusch, brachen alle Frauen in Gelächter aus: »Und was machen wir dann am Waschtag mit unserer Zeit?«

Es gab immer etwas zu lachen: Üblicherweise werden Hühner hier halbiert und auf den Holzkohlengrill gelegt, eine Delikatesse, die sich eine Durchschnittsfamilie höchst selten leisten kann. Nun gab es den ersten elektrischen Grill in der Stadt, die Hühner drehten sich automatisch am Spieß hinter der Glasscheibe, die Bevölkerung stand staunend davor und nennt diese Hühner bis heute – allgemein in den Wortschatz aufgenommen – Poulets télévisés, Fernsehhühner!

Dann lernte ich die Ordnung hinter dem Chaos kennen. Bislang schienen mir alle jeweils wild durcheinanderzulaufen, aber das war ein großer Irrtum. Bei den ausgelassensten Tänzen gibt es immer einen Mann, der verantwortlich für alles ist. Er spielt meistens die Lunga, eine kleine Trommel, die tatsächlich Worte formen kann, er quetscht sie unter seinem Arm und erreicht damit verschiedene Tonhöhen, die Lauten gleichen. Damit bestimmt er deutlich, wer und zu welcher Zeit welchen Tanz beginnt, er kann sogar die Namen aufrufen. Ich war perplex – so läuft das also!

Der aufwirbelnde Staub, dahinter die untergehende Sonne, das wilde Stampfen, die hoch trillernden Frauen, die springenden Männer, alles schien ein einziges Chaos zu sein. Ich hatte mich gewaltig getäuscht. In Wirklichkeit bin ich diejenige, die diese Trommel, diese Ordnung nicht versteht, alle anderen können damit umgehen!

Ein tiefer Respekt erfüllte mich – mit wie wenig Ahnung und mit wie wenig Achtung hatte ich alles betrachtet. Ich war beschämt. Meistens war der bestimmende Mann klein und unscheinbar in ein braunes Gewand gehüllt, keinesfalls stand er wie ein Dirigent als Hauptperson vor allen. Was für eine Lehre in Bescheidenheit Afrika für mich damals war!

Wie viel an Toleranz und Akzeptanz ich in den letzten Jahren auch dazugelernt habe, es ist noch lange nicht genug. Jedenfalls merkte ich zu diesem Zeitpunkt, dass vieles, was ich immer so sorglos toleriert hatte, in Wirklichkeit eher Gedankenlosigkeit von mir gewesen war – ich hatte einfach keine Lust, mich näher damit zu beschäftigen. Sonst hätte ich damals schon bemerken müssen, wie klein meine Welt war, wie sehr ich trotz meiner vielen Reisen immer nur meine eigene Sichtweise vertreten hatte. War ich denn blind gewesen?

Die nächste Welle rollte brüllend auf den Strand zu. Die Palmen klapperten aufmunternd im Wind. So langsam fasste ich Mut.

Mit den traditionellen Medikamenten für den Mann in der deutschen Psychiatrie in einem Beutel machte ich mich im Buschtaxi wieder auf die weite Rückreise nach Banjul. Der Abschied von Rayayesse und seiner Familie war herzzerreißend, plötzlich war ich wieder ganz alleine in diesem riesigen Afrika, das mich verschlucken wollte. Sofort verstand ich, was hier Familie heißt: Schutz. Ich hatte dazugehört.

In Deutschland galt der erste Besuch unserem burkinischen Freund. Mit ihm stand es schlecht. Die Ärztin weigerte sich kategorisch, afrikanische Medikamente auf ihrer Station anwenden zu lassen. Vier Stunden wartete ich geduldig vor dem Zimmer des Chefarztes, Geduld hatte ich in Afrika gelernt.

»Ach, wissen Sie«, sagte er zu mir, »hier sind ohnehin alle verrückt, warum sollten Sie das nicht versuchen?«

Erleichtert lief ich in die Krankenstation und unterwies die sehr netten Krankenpfleger in der Anwendung von Tee, Pulvern, Pomade und Wasser aus afrikanischen Brunnen – und tatsächlich: Zwei Wochen später wurde dieser Mann entlassen und, begleitet von einem deutschen Arzt, in die Heimat zurückgeflogen. Später sagte mir der Arzt, er habe schon über Paris sämtliche Tabletten weggeworfen, denn der Mann sei doch ganz normal gewesen, er habe höchstens an einer Überdosierung von Beruhigungsmitteln gelitten…

Damit ging diese Geschichte gut aus – ich aber stand in Deutschland in meiner Buchhandlung und fragte mich, was eigentlich mit mir passiert war?

Ich wollte handeln, und ich wollte zurück nach Afrika. Von Rayayesse wusste ich von seinem größten Plan, er wollte in seinem Heimatdorf eine Schule bauen. Sein Dorf lag ungefähr zweihundert Kilometer entfernt von der Hauptstadt im Norden von Burkina Faso, mitten im Busch. Es hieß Ouendnongtenga, was so viel wie Gott liebt diese Erde bedeutet. Hier sollte eine Grundschule mit drei Klassenräumen gebaut werden. Der Staat bezahlt die Lehrkräfte, wenn auch die Lehrerhäuser errichtet werden. Bislang wurde der Unterricht lediglich unter einem Baum betrieben, einige Kinder nahmen unregelmäßig daran teil.

Rayayesse selbst war noch täglich acht Kilometer weit in ein anderes Dorf zur Schule gegangen. Das nahmen nicht viele Kinder auf sich, und außerdem gab es wenige Eltern, die Geld genug für den Schulbesuch hatten – höchstens eines oder zwei von vielleicht sechs Geschwistern durften zur Schule gehen, die anderen wurden für die täglichen Arbeiten und auf dem Feld gebraucht. Das wollte Rayayesse ändern, es war sein größter Traum.

Also an die Arbeit! Ich konnte ihm helfen. Ich hatte viel fotografiert auf meiner afrikanischen Reise, aber Diavorträge fand ich schon immer sehr langweilig. Also machte ich daraus eine Multimedia-Show mit geringsten Mitteln. Bei meinen Vorträgen über Das Leben in Afrika, so wie ich es sah wurde gehört, gesehen, gerochen und gefühlt. Ich begann immer mit der generösen Ausgabe des afrikanischen Parfüms, einer pulvrigen Mischung aus geriebener Baumrinde, verschiedenen Blüten, Moschus und Sandelholz. Dann ließ ich einen acht Meter langen Schal zum Anfühlen durch die Reihen gehen, traditionell blau und grün eingefärbter Musselin, den die Männer der Tuareg und Fulbe gegen Hitze und Staub um den Kopf geschlungen tragen, für Europäer ein malerischer Anblick. Natürlich gab es die feinste afrikanische Musik und dann: Bilder, die man nicht so schnell wieder vergaß, eben Bilder einer unvergesslichen Reise.

Ein gutes Forum war bereits vorhanden, denn über viele Jahre hinweg hatte ich in ganz Norddeutschland in Volkshochschulen und Frauenverbänden über Bücher gesprochen, darum kannten mich schon viele Menschen. Dieser afrikanische Vortrag sprach sich herum, und am Ende konnte ich mich vor Terminen kaum retten – zwei- bis dreimal pro Woche fuhr ich quer durch Norddeutschland, um selbst in kleinsten Dörfern vor vielleicht hundert Menschen zu sprechen. Am Ende jedes Vortrages bat ich um Geld für eine Grundschule in Westafrika, und die Zuhörer gaben gerne. Dabei gab es damals noch gar keinen Verein, keine Spendenquittungen, alles Geben basierte nur auf Vertrauen.

Ich eröffnete ein Konto und konnte nach vier Monaten mit fünftausend Euro zurückfliegen. Rayayesse hatte am Telefon versprochen, mich in Ouagadougou abzuholen.

Zu Beginn dieser zweiten Reise war ich innerlich sehr aufgeregt. Nun musste sich beweisen, ob ich mich bei meiner ersten Reise nicht nur begeistert in ganz Afrika verliebt hatte. Jetzt wurde es ernst.

Die nächste Welle schlug knallend auf den Strand. Ich seufzte tief – noch immer hatte ich nicht herausgefunden, warum Afrika mich so sehr in den Bann schlug. Vor einer Woche hatte ich in meiner Buchhandlung gestanden und nachgedacht.

Ich suchte eine größere Aufgabe, und die musste ganz aufrichtig und ehrlich aus mir selbst heraus kommen, denn ich war nun nicht mehr jung. Was ich jetzt machen wollte, sollte ganz klar sein. Ich hatte viel zu viele Dinge angehäuft, Sachen, die ich gar nicht brauchte. Ich wollte nicht mehr, sondern weniger. Äußerlich sowie innerlich war ich überfüllt. War das die berühmte Krise in der Lebensmitte? Eigentlich fühlte ich eher, dass mein Leben bislang aus Reaktionen auf andere Menschen bestanden hatte, nun wollte ich vorsichtig herausfinden, was aus mir selbst kommen konnte.

Ich hatte zu Hause in Plön kurz entschlossen eine kleine Schultertasche gepackt und war einen Tag später an die Elfenbeinküste geflogen, an einen mir unbekannten Ort. Ohne Einfluss von außen, ohne Buch und ohne Freunde saß ich hier, in selbstverordneter Einsamkeit. Ich wollte zu einem Entschluss kommen.

Hübsche Muster aus gefundenen Muscheln breiteten sich um mich herum aus, meine Zehen spielten im Sand, der Wind frischte auf. Ich rief mir meine afrikanischen Erinnerungen in mein Gedächtnis zurück…

Bei dieser zweiten Reise nach Afrika flogen wir bei klarem Wetter sicher drei Stunden lang über die Sahara. Jedes Muster im Wüstensand schien mir eine rätselhafte Bedeutung zu haben, als ob es eigens für mich angelegt war. In Ouagadougou umfasste mich noch auf dem Rollfeld die brüllende Hitze – es war April, und das Thermometer zeigte achtundvierzig Grad. Damit hatte ich nicht gerechnet, denn im Januar und im Süden des Landes war das Klima für mich gut zu ertragen gewesen. Wohl hatte ich über die enormen Temperaturen gelesen, aber über Hitze zu lesen und sie selbst zu spüren, ist schon ein großer Unterschied! Wie sehr ich später noch in Afrika frieren würde, das ahnte ich noch nicht.

Rayayesse erwartete mich hinter einer spiegelnden Glastür. Für einen Moment sah ich mein eigenes Gesicht und dahinter dann das seine – er war mir ein Bruder, und mein tiefes Vertrauen und die Freude, ihn zu sehen, wärmten mein Herz.

Da er von Beruf Zollbeamter war, verließen wir den Flughafen ohne die geringsten Probleme mit fünftausend Euro in der Hosentasche und vielen Medikamenten für das Dorf im Koffer, der natürlich nicht einmal geöffnet wurde – alle anderen Passagiere brauchten damals noch Stunden beim Zoll, und auch ich hatte später, wenn er nicht dabei war, oftmals die größten Schwierigkeiten. Damals gab es noch Leibesvisitationen!

Er brachte mich in ein Hotel, einen alten Kolonialkasten mit wackelnden Betten und nicht schließenden Schranktüren, aber immerhin besaß dieses Hotel einen Pool, das war herrlich!

Das erste Mal sah ich nun die Hauptstadt, Ouagadougou, und ich fand sie scheußlich. Noch ahnte ich nicht, dass dies einmal meine Heimat werden sollte, denn hier konzentriert sich das Elend dieses Landes, hier ist die Notwendigkeit auszugleichen am stärksten. Auch in den Dörfern gibt es viel Armut, aber die Menschen können sich oft noch behelfen, die Frauen finden Wurzeln, Blätter und andere Zutaten, meistens reicht die Hirseernte über das Jahr, man hilft sich gegenseitig aus, der Anspruch ist gering. Die Menschen leben sehr bescheiden und sind gewohnt, mit wenig auszukommen.