Gozdek, Nicole Die Magie der Namen

PIPER

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Lesen was ich will!

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»Die Magie der Namen« ist Siegertitel des Schreibwettbewerbs »#erzählesuns – Der Piper Award auf Wattpad«, einer Kooperation zwischen der Piper Verlag GmbH und Wattpad.

 

 

ISBN 978-3-492-97318-2

März 2016

© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München / Berlin 2016

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Covermotiv: FinePic®, München

Karte: Timo Kümmel

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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1Die Namensgebung

Der Name ist der Schlüssel zur Seele.

Ich war an diesem Frühlingsmorgen in dem Wissen aufgewacht, dass es der bedeutendste Tag in meinem Leben sein würde. Heute würde ich offiziell für volljährig erklärt werden. Heute würde ich endlich meinen Namen bekommen und erfahren, wer ich war.

Aufgeregt stand ich im Festsaal meiner Schule und saugte die Eindrücke in mich auf. Der Raum war anlässlich des besonderen Ereignisses feierlich geschmückt mit den Wappen der größten Dynastien des Landes. Blumensträuße in allen Ecken ergänzten die festliche Dekoration und verströmten einen warmen Geruch, der für mich Hoffnung versprach.

Endlich würde alles anders werden.

Mein Herzschlag pochte so laut in meinen Ohren, dass er sogar das Geschnatter der anderen Schüler neben mir übertönte. Ich konnte mich nicht richtig auf ihre Gespräche konzentrieren, mir ihre Spekulationen, Hoffnungen und Träume oder manchmal sogar Ängste anhören. Dies war für alle Schüler der Frühlingsgruppe 1276 in Tummersberg ein wichtiger Tag. In Kürze würden wir nicht länger als bloße Nummern gelten, gleich würden wir endlich unsere Namen erfahren.

»Was passiert, wenn wir keinen Namen haben?«, fragte Nummer 7, ein schmächtiger Junge mit schwarzen Haaren und Pickeln, ängstlich.

Nummer 2, der wie immer vor Selbstbewusstsein strotzte, lachte auf. »Jeder hat einen Namen, du Dummkopf!« Er musterte Nummer 7 verächtlich. »Aber ich wette, in deinem Fall ist es ein unbedeutender. Stell dir vor, du bist ein Bedduar und musst ab morgen jeden Tag über die Felder laufen, um Getreide auszusäen oder zu ernten! Ich würde mich umbringen vor lauter Scham!«

Nummer 2 lachte laut und Nummer 9 schloss sich ihm an. Beim Klang ihres Lachens drehte ich mich unwillkürlich zu der Gruppe um und starrte die Kontrahenten an.

Das Gesicht von Nummer 7 war vor Scham knallrot angelaufen, während Nummer 2 die Aufmerksamkeit genoss, die ihm dank seines Spotts zuteilwurde. Hin und wieder blickte er zu Nummer 1 hinüber, einem schlaksigen, blonden Jungen, der mit einem abwesenden Gesichtsausdruck zu den Ehrengästen auf der anderen Seite des Festsaals starrte. Er schien auf jemanden zu warten und hatte nicht mitbekommen, wie sein bester Freund wieder einmal einen ihrer Klassenkameraden piesackte.

Ich mochte Nummer 2 nicht und hielt mich daher meistens von der Gruppe um ihn herum fern, zu der neben Nummer 1 auch die beiden Mädchen Nummer 9 und Nummer 5 gehörten.

Laut Gesetz war jedes Kind ohne Namen nur eine Nummer und jede Nummer war genauso viel wert wie die anderen. Ich hatte allerdings festgestellt, dass das in der Wirklichkeit ganz anders aussah. Es gab große Nummern, Mitläufer-Nummern und unwichtige Nummern, genauso wie dies für Namen in der Welt der Erwachsenen galt. Und wenn du eine wichtige Nummer warst, wurdest du von den Lehrern und Mitschülern anders behandelt als eine unwichtige Nummer. Und ratet mal, was ich war …

»Nummer 7 ist kein Bedduar«, sagte plötzlich jemand und ich erkannte verdrossen, dass es meine eigene Stimme war. So viel also zu meinem Vorsatz, mich nicht mehr einzumischen, wenn Nummer 2 sich wieder einmal aufspielen wollte. Leider ging mir der dunkelhaarige Junge mit seiner großen Klappe nur so sehr auf die Nerven, dass ich mich jedes Mal wieder von ihm ärgern ließ.

»Hast du etwas gesagt, Nummer 19?«, fragte er sofort mit einem hämischen Grinsen. »Unser Streber weiß mal wieder alles besser, wie? Hast wohl schon heimlich im Vorfeld mit der Ellusan gesprochen, um zu erfahren, wer du bist, was? Und? Aus wie vielen Teilen besteht dein Name? Fünf?«

»Nur nicht aufregen!«, schalt ich mich. Dennoch konnte ich nicht verhindern, dass ich mich bei der Beleidigung verkrampfte.

Wichtige Persönlichkeiten hatten einen Namen, der aus zwei Teilen bestand. Manchmal bekamen sie noch einen dritten Teil hinzu, wenn sie ein wichtiges Amt innehatten, so wie beispielsweise die Ratsmitglieder von Tummersberg, die alle den Namen unserer kleinen Heimatstadt an ihren eigenen Namen anhängen durften.

Jemand, der bereits von Beginn an drei Namensteile hatte, konnte kein wichtiges Amt übernehmen, war aber noch wichtig genug, dass er in der Stadt bekannt war. Mit vier Namensteilen gehörte man zur hart arbeitenden Bevölkerung, war Handwerker oder Bauer ohne großen Besitz. Personen mit fünf Namensteilen waren höchst selten, sie hatten keinerlei Eigentum und keinen Beruf und mussten sehen, wie sie klarkamen. In der Schule arbeitete ein Mann mit fünf Namensteilen. Ich sah ihn jeden Tag, er wischte die Böden, trug den Müll raus und reinigte die Toiletten. Er durfte dankbar sein, dass die Schule ihm eine Arbeit gegeben hatte, da er keine besonderen Fähigkeiten besaß.

»Nein, ich habe nicht mit der Ellusan gesprochen«, entgegnete ich steif.

Es war verboten, vor dem Tag der Namensgebung mit einem Namensfinder zu sprechen. Als Nummer konnte man nur wenige Verbrechen begehen, für die man hart bestraft wurde. Vorzeitig seinen eigenen Namen erfahren zu wollen, war dabei das schwerste und wurde mit vorgezogenem Namensverlust geahndet, sodass der Schuldige nie seinen Namen tragen durfte.

Allerdings war es auch gar nicht so einfach, einem Namensfinder überhaupt zu begegnen. Es gab nur wenige von ihnen im ganzen Land, kaum ein Dutzend, und sie reisten für die Namensgebungen durch die Region, für die sie jeweils zuständig waren. Die Zeremonie fand vierteljährlich einmal in jeder Stadt und in jedem Dorf statt und war ein eintägiges Fest. Ein Ellusan blieb nie länger als zwei oder drei Tage an einem Ort und reiste dann weiter zur nächsten Namensgebung.

Der Namensfinder, in dessen Gebiet Tummersberg lag, war eine Frau von Anfang vierzig und natürlich kannten wir alle ihren Namen. Gesprochen hatte sie allerdings mit keinem von uns. Es war ihr verboten, mit Kindern zu reden, da die Gefahr zu groß war, dass sie zu früh den Namen einer Nummer erkannte. Es waren schon Nummern an der Magie ihres Namens gestorben.

»Ich freue mich schon darauf, Nummer 19, wenn du mir morgen die Stiefel putzen, das Zimmer aufräumen oder das Essen kochen musst. Obwohl – dich den Stall ausmisten zu sehen, wäre bestimmt auch sehr befriedigend«, höhnte Nummer 2 grinsend und schwelgte genüsslich in der Vorstellung.

»Ich bin kein Arbeiter!«, empörte ich mich, da meine Wut nun endgültig die Oberhand gewann. »Und ganz gewiss werde ich niemals dein Diener sein!«

»Oh, Nummer 19 träumt wohl davon, ein bekannter Name zu sein!«, rief Nummer 9 aus.

Unwillkürlich starrte ich sie an. Sie war das hübscheste Mädchen der ganzen Klasse und jeder rechnete damit, dass sie einmal eine richtige Schönheit sein würde, sobald sie ihren Namen erfahren hatte. Manchen Nummern sah man einfach an, dass sie einmal einen wichtigen Namen tragen würden.

Ich seufzte. Nummer 1, Nummer 2 und Nummer 9 hatten es gut. Sie würden mit Sicherheit ab heute einen bedeutenden Namen innehaben. Ich hingegen? Ich konnte nur davon träumen. Bislang jedenfalls hatte es das Leben nicht gut mit mir gemeint. Ich war der Kleinste der ganzen Klasse, sogar die meisten Mädchen waren einen halben oder einen ganzen Kopf größer als ich. Doch ich war nicht nur schmächtig, ich war auch schwächlich. Die kleinste Anstrengung ließ mich keuchen und rot anlaufen. Im Unterricht lachten mich die anderen Kinder daher häufig aus. Wenn ich ein Name gewesen wäre, hätte ich schon längst einen demütigenden Spitznamen wie Tomate oder Hänfling bekommen.

Neben meiner unscheinbaren Statur waren aber auch all meine restlichen körperlichen Merkmale eher unauffällig. Meine Haare waren von einem gewöhnlichen Braunton. In meinen matschbraunen Augen wollte gewiss kein Mädchen versinken, zudem waren sie auch noch kurzsichtig. Mit meinem stets angestrengten Blick und den allgegenwärtigen Büchern sah ich wie ein richtiger Streber aus. Zugegeben, ich war ein Streber. Am liebsten hielt ich mich nach dem Unterricht in der Bibliothek auf und las. Sport und körperliche Betätigung mochte ich nicht. Und wenn ich zu viel draußen war, dann tat mir die Sonne in den Augen weh und ich bekam sofort einen Sonnenbrand.

»Ab heute wird alles anders.«

Ich merkte erst, dass ich laut gesprochen hatte, als Nummer 2 und die anderen lachten.

»Du träumst wohl davon, dass du ein Krieger bist und einen halben Meter wächst, wenn du deinen Namen erfährst, was?«

Nummer 2 johlte und ich schluckte, doch die verhängnisvollen Worte ließen sich nicht mehr aufhalten. »Ja«, gestand ich meinem Gegner meinen größten Traum ein.

Meine Mitschüler explodierten vor Lachen und ich spürte, wie mein Gesicht knallrot anlief. Verdammt! Warum konnte ich nicht lügen, so wie alle anderen? Oder wenigstens einfach nur die Klappe halten, wenn Nummer 2 mit mir sprach? Ich hatte es so satt, eine Witzfigur in den Augen meiner Klassenkameraden zu sein!

»Sie ist da!«, erklärte plötzlich Nummer 1, der sich an der Schadenfreude der anderen nicht beteiligt hatte. Das Gelächter verstummte abrupt, als unsere Gruppe jetzt geschlossen hinüber zu den Ehrengästen starrte.

Sie war da!

Lorina Ellusan war keine Schönheit. Ihr mausbraunes Haar hielt sie kurz geschnitten und ihr Gesicht war wettergegerbt von der vielen Zeit an der frischen Luft. Aber wenn sie lächelte, dann musste man sie einfach anstarren. Ihre Präsenz war umwerfend. Die Magie ihres Namens umhüllte sie wie ein edler Mantel. Sie war eine der bekanntesten Namensfinderinnen der Welt und nun war sie hier, im kleinen Städtchen Tummersberg, und sollte mir und den anderen unsere Namen offenbaren.

Meine Hände schwitzten vor Aufregung. Wer war ich? Ein Krieger? Ein Polliander war am besten, sie galten als Elitekämpfer und arbeiteten in der Regel als Leibwächter für wichtige Namen aus den großen Dynastien. Ein Grekasol zu sein, war zwar nicht ganz so ruhmreich, aber es wäre definitiv schön, als Mitglied der Stadtwache endlich mal etwas Respekt zu erhalten.

Zu den großen Dynastien gehörten unter anderem auch die Deradas. Sie waren reisende Händler, die im Laufe der Jahrhunderte große Vermögen angehäuft hatten. Falls ich ein Derada war, konnte ich mir wahrscheinlich aussuchen, wo ich leben und ob ich arbeiten wollte.

Neben den Kämpfern und den Händlern gab es natürlich noch die verschiedenen Magier-Dynastien. Ich sah einen Zunu, einen Heiler, mit der Ellusan plaudern, während die Wellbann von Tummersberg, eine Wettermacherin, neben ihnen stand und lauschte. Sie hatte zur Feier des Tages für einen strahlend blauen Himmel und Sonnenschein gesorgt.

Doch die wirklich wichtigen Dynastien, das waren die fünf großen Herrscherdynastien. Sie herrschten über die fünf Länder des Kontinents – über jede große Stadt und jedes kleine Dorf. Sogar von ihnen war heute ein Vertreter erschienen, um Zeuge unserer Namensgebung zu sein.

Stille herrschte im Festsaal, als unser Schuldirektor vortrat, um die Gäste zu begrüßen. Ihre Namen rauschten nur so an mir vorbei. Ich hoffte, dass ich später noch einmal ordentlich vorgestellt werden würde. Ich wollte niemanden beleidigen, indem ich ihn nicht mit seinem Namen ansprach.

»Und nun begrüßen wir ganz herzlich die große Lorina Ellusan!«, sagte der Direktor schließlich. Applaus brandete auf und ich zuckte zusammen. Nun war es endlich so weit!

»Nummer 1, tritt vor!«, bat die Namensfinderin sanft. Ihre Stimme war leise, doch sie brannte sich in meine Ohren.

Nummer 2s bester Freund begab sich zu ihr in die Mitte des Saals. Die Ellusan stand neben einer langen Tafel, auf der die Wappen aller bekannten Dynastien der Welt lagen. Es waren hunderte unterschiedlicher Wappen, die von den Ratsmitgliedern von Tummersberg anlässlich des feierlichen Ereignisses aus der sicheren Verwahrung geholt und hierhergebracht worden waren. Manche der Wappen waren alt und ihre Dynastien so selten, dass ein Stadtbewohner sie nur bei der Namensgebungszeremonie zu Gesicht bekam.

Sobald die Namensfinderin Nummer 1 seinen Namen gesagt hatte, würde sie ihm sein Wappen überreichen. Von da an musste er es jeden Tag offen sichtbar um seinen Hals tragen und durfte sich Kleidung mit seinem Wappen anfertigen lassen.

Nummer 1 hielt inne, als er die Ellusan erreichte. Ich beneidete ihn um seine Gelassenheit. Meine Beine fühlten sich an, als würden sie gleich unter meinem schmächtigen Körper zusammenbrechen, doch der schlaksige Junge mit den blonden Haaren wirkte ruhig und selbstbewusst.

»Gib mir deine Hand und sieh mir in die Augen!«, sagte die Namensfinderin. Nummer 1 folgte ihrer Aufforderung, ohne zu zögern.

Magie lag in der Luft und bescherte mir eine Gänsehaut am ganzen Körper, als Lorina Ellusan nun die Hand von Nummer 1 hielt und ihm für einen langen Moment in die Augen starrte.

»Ich grüße dich, Rustan Polliander«, sagte sie schließlich sanft.

Der blonde Junge keuchte, als er seinen Namen hörte. Die Namensmagie schien ihn wie ein Blitzschlag zu treffen. Er wankte einen kurzen Moment und ging dann in die Knie. Und dann veränderte er sich.

War er zuvor schon groß gewesen, so legte er jetzt noch ein paar Zentimeter zu. Doch noch beeindruckender als seine zusätzlichen Zentimeter in der Höhe waren die in der Breite.

Ich glaubte, Knochen knirschen zu hören, als seine Schultern plötzlich auf die doppelte Breite anwuchsen. Seine Muskeln an Armen, Oberkörper und Beinen dehnten sich aus. Das blonde Haar, das er stets kurz getragen hatte, reichte ihm in der nächsten Sekunde über den halben Rücken.

Als die Magie abebbte, sah Rustan Polliander auf und erhob sich langsam. Wo vor wenigen Sekunden noch ein schlaksiger Junge gestanden hatte, stand nun ein imposanter Mann und Krieger und starrte uns gelassen an.

»Wir grüßen dich, Rustan Polliander«, sagte ich zusammen mit den restlichen Anwesenden. Der junge Elitekämpfer nickte uns dankbar zu. Lorina Ellusan hatte unterdessen zwei Schritte nach rechts gemacht und zielsicher nach der Kette mit dem Wappen des jungen Kriegers gegriffen. Er erhielt sein Wappen von der Namensfinderin, hängte es sich um den Hals und ging dann zu den Gästen auf der anderen Seite des Saals hinüber, wo ihm die Leute respektvoll die Hand schüttelten.

Kurz durchlief mich ein Stich der Eifersucht. Genau das wollte ich auch! Ein Polliander zu sein, war so was von grandios!

»Nummer 2, tritt vor!«, bat die Namensfinderin als Nächstes, nachdem das Gemurmel wieder etwas nachgelassen hatte.

Nummer 2 ließ sich nicht zweimal bitten und stolzierte zur Ellusan hinüber, während er herablassend zu allen Seiten hin nickte. Hoffentlich war er ein Bedduar!

»Ich grüße dich, Baro Derada.«

Erneut erfüllte der Geruch nach schwerer Sommergewitter-Magie die Luft, als sich die Augen von Nummer 2 weiteten und er einen tiefen Atemzug machte. Seine Kleidung knisterte, als sich seine braune Schuluniform in ein edles Gewand aus rotem und blauem Samt verwandelte. Wie Rustan legte er noch ein paar Zentimeter zu und wurde fülliger, doch wo der junge Krieger mit seiner körperlichen Präsenz beeindruckte, verströmte der junge Händler einen Hauch von Selbstbewusstsein, Reichtum und Arroganz.

»Wir grüßen dich, Baro Derada«, intonierte der ganze Saal, während ich den Mund öffnete und doch keinen Ton über die Lippen brachte.

Es war einfach ungerecht! Obwohl ich gewusst hatte, dass Nummer 2 einen bedeutenden Namen haben musste, so war es doch unfair, wie bedeutend. Es war Baro Derada gewesen, der die Händlerdynastie der Deradas vor knapp zweihundert Jahren zu ihrer heutigen Größe geführt hatte. Seine Feinde hatten mehrfach versucht, den skrupellosen, wenn auch brillanten reisenden Händler zu vergiften, zu erstechen und zu erschlagen. All ihre Versuche waren dank seines Leibwächters gescheitert. Und ratet mal, wer das gewesen ist? Richtig, Rustan Polliander. Die besten Freunde von einst waren wieder vereint.

Die Namensgebung von Nummer 3 und Nummer 4 rauschte an mir vorbei, ohne dass ich ihre Namen mitbekam. Anhand der Kleidung der ehemaligen Nummer 4 wusste ich, dass er ein Enbua sein musste. Denn nur Tischler trugen ihre Werkzeuggürtel stets um die Hüfte. Der junge Tischler wurde gleich nach seiner Namensgebung von einem älteren Kollegen in Beschlag genommen. Die beiden begannen ein angeregtes Gespräch, während Lorina Ellusan als Nächstes Nummer 5 aus der alten Clique von Rustan Polliander und Baro Derada nach vorne rief. Die beiden sahen aufmerksam zu, während die Namensfinderin dem jungen Mädchen tief in die Augen sah.

Ein kurzes Lächeln huschte über das Gesicht der Ellusan, bevor sie sagte: »Ich grüße dich, Nelia Wabloo.«

Dieses Mal war die Namensmagie nicht wie ein Sommergewitter, sie war eine Sturmflut, die den Saal überschwemmte. Die Wappen erhoben sich von der Tafel und tanzten durch die Luft. Die Blumen im Saal erstrahlten plötzlich in voller Blüte und vervielfältigten sich. Der ganze Saal verwandelte sich in eine Frühlingslandschaft, als die junge Magierin erwachte.

»Wir grüßen dich, Nelia Wabloo.«

Beim Klang unserer Stimmen verlor Nelia ihr Lächeln. Sie zuckte zusammen und die Wappen fielen wieder auf den Tisch zurück. Die Ellusan reichte der Magierin ihr Dynastie-Wappen, während sich Nelia wieder in eine unscheinbare junge Frau verwandelte. Hatte ich mir ihre strahlende Schönheit nur eingebildet? Waren das etwa nur Freude und das Aufblitzen ihrer Namensmagie gewesen, die sie hatten strahlen lassen?

Ich musterte Nelia noch einen kurzen Moment und meinte für eine Sekunde einen magischen Schleier über ihrer Gestalt zu sehen, doch im nächsten Moment blinzelte ich und er war verschwunden. Hatte ich mich getäuscht?

Nummer 6 wurde eine Fiento und freute sich sichtlich über ihren dreiteiligen Namen. Sie war eine der wohlhabenden Obstbäuerinnen.

Nummer 7, der vorhin noch Angst hatte, überhaupt keinen Namen zu haben, entpuppte sich als Ellutor und würde zukünftig in einem der Namensarchive unseres Landes arbeiten. Ich freute mich für ihn. Am liebsten wäre ich zwar ein Polliander oder ein anderer bedeutender Name, aber wenn mir dieses Glück nicht vergönnt sein sollte und ich nur einen dreiteiligen Namen bekam, dann wäre ich am liebsten ein Ellutor. Mein bester Freund war ein Ellutor und die Vorstellung, mit ihm zusammen im Namensarchiv arbeiten zu dürfen, ließe mich mit Sicherheit die Enttäuschung besser verkraften.

Nachdem wir mit Nummer 8 einen neuen Curill unter den Webern von Tummersberg begrüßen durften, war endlich Nummer 9 dran. Begierig verfolgte ich, wie sie mit einem leichten Lächeln vor die Namensfinderin trat.

Dieses Mal brauchte die Namensfinderin ungewöhnlich lange, bevor sie den Namen von Rustans, Baros und Nelias Freundin bekannt gab.

»Ich grüße dich, Allira Varianda.«

Allira Varianda! Ich ließ mir den Klang des Namens auf der Zunge zergehen, während seine Magie durch den Saal hallte wie ein Glockenschlag.

Die junge Sängerin lachte hell, während sich ihr strohblondes Haar in reines Gold verwandelte und ihr in langen Locken über den Rücken fiel. Anstatt ihrer Schuluniform trug sie nun ein schönes, grünes Kleid. Ihr Gesicht strahlte vor Freude und ich verlor die Fähigkeit zu atmen.

Sie war wunderschön!

Mein Herzschlag setzte kurz aus, als ich sie anstarrte. Ich verpasste, wie der Saal Allira begrüßte, und beobachtete dann, wie sie sich zu Rustan und ihren anderen Freunden gesellte. Eine Minute später schmiegte sie sich an die Brust des jungen Kriegers und mein Magen krampfte sich zusammen. Ich musste ein Polliander werden, wenn ich eine Chance bei ihr haben wollte!

Unsere Klasse offenbarte noch einen Kurier, zwei Einzelhändler, drei Bauern, einen Maler, einen Söldner und einen Fischer, bis ich, der Jüngste der Frühlingsgruppe, endlich dran war.

»Nummer 19, tritt vor!«, sagte die Namensfinderin und verfolgte mit einem leisen Lächeln, wie ich ihr langsam und mit wackligen Knien entgegen ging.

Nun endlich würde ich erfahren, wer ich war! Mein Herz raste in meiner Brust. Am liebsten hätte ich gelacht, geschrien oder getobt, um meiner Gefühle, die gerade über mich hereinbrachen, Herr zu werden.

»Bitte, lasst mich ein Polliander sein! Oder wenigstens einen anderen bedeutenden Namen haben!«, flehte ich stumm die großen Namen an.

Meine Hand schwitzte, als ich sie in die Hand der Ellusan legte. Obwohl die Namensfinderin nicht viel größer war als ich, schien meine Hand in ihrer unterzugehen.

Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, als ich meinen Kopf hob und ihrem warmen Blick begegnete. Ihre braunen Augen schienen in mich hineinsehen und erkennen zu können, was ich fühlte und dachte. Ich war von ihrem Blick gefangen und einen Moment lang erlag ich der Illusion, ich würde in einen Spiegel sehen und in meine eigenen Augen fallen. Es lag Magie darin. Meine Hand kribbelte, als die Ellusan ihre magischen Fühler nach mir ausstreckte und mein gesamtes Wesen erfasste.

Kurz stockte ihr der Atem, dann lächelte sie mich an. Sie öffnete den Mund – Jetzt war es so weit! – und sagte: »Ich grüße dich, Tirasan P–«

Ja, ein Polliander!

»–assario!«

Nein! Ich hatte doch ein Polliander sein wollen!

Ich kämpfte gegen meine Enttäuschung, während ich auf das Erwachen meiner Namensmagie wartete. Mein Körper kribbelte, als würde eine Kolonie Feuerameisen über meine Haut laufen, und kurz schwankte ich, weil ich vor lauter Aufregung das Luftholen vergessen hatte.

Als ich nach Luft schnappte, legte mir Lorina Ellusan meine Wappenkette um den Hals. Ich wartete immer noch, dass etwas passierte.

Doch nichts geschah. Ich wuchs nicht. Meine Frisur änderte weder Form noch Farbe. Meine Augen konnten auch nicht plötzlich besser sehen. Ich wurde nicht auf einmal von einer Flut an Wissen erfüllt oder sah eine riesige Tabelle aus Zahlen vor meinen inneren Augen, die nun urplötzlich zum allerersten Mal einen Sinn ergab.

Ich war noch immer der kleine, schwächliche Wicht, der ich nach dem Aufstehen gewesen war, und bodenlose Enttäuschung machte sich in mir breit.

Ich hatte nun meinen Namen. Aber ich hatte immer noch keine Ahnung, wer ich war.

2Der unbekannte Name

»Ich lebte in Finsternis und Nacht,
kannte weder mich noch meine Macht.
Voller Furcht, Zweifel und Sorgen
hielt ich mich vor der Welt verborgen.
Doch dann flüsterte er
– Magie und Zauber! –
und ich sah das strahlende Licht,
das sich in seinen Augen bricht,
und wusste, das bin ich.
Denn nun kenne ich mich.
Mein Name ist Terbo Kurian.«

(Erinnerungen des großen Dichters Terbo Kurian
an seine Namensgebung)

Die Schule von Tummersberg war wie ein riesiger Bienenstock. Das große Gebäude mit den vielen Anbauten lag auf einem Hügel etwas außerhalb des Stadtrands und sah auf die anderen Gebäude hinab. Seine Lage unterstrich, was alle insgeheim wussten: Nummern waren anders als Namen.

Nummern durften nicht ohne Begleitung oder vorherige Ankündigung der Schule nach Tummersberg hinunter und der Direktor bewilligte für jeden Schüler nur einen Besuch pro Jahreszeit. Da der Ausflug als Privileg galt, war er eines der ersten Dinge, die einem ungehorsamen Schüler weggenommen wurden. Ich hatte seit meinem sechsten Lebensjahr nur ungefähr zehnmal die Stadt gesehen. Leider hatten meine Wortgefechte mit Nummer 2 immer nur mich in Schwierigkeiten gebracht.

Auf dem Weg zu meinem Zimmer hielt ich kurz auf dem Gang inne und sah durch das Fenster den Hügel hinab. Die Nachmittagssonne tauchte die Stadt in ein warmes Licht, das mich einlud, den Hügel hinabzugehen und durch die Straßen zu bummeln. Es war ein komisches Gefühl zu wissen, dass ich ab heute kommen und gehen konnte, wie und wann ich wollte. Ich war keine bloße Nummer mehr, auch wenn ich mich noch immer wie eine fühlte.

Ich sah an meiner braunen Schuluniform hinab. Nach der Namensgebung waren Rustan, Nelia und ich die Einzigen, die noch ihre alte Schulkleidung trugen. Bei allen anderen hatte die Namensmagie dafür gesorgt, dass sich die Kleider mit ihnen verwandelten.

Daher waren die beiden auf dem Gang ein paar Meter vor mir ebenfalls auf dem Weg zu ihren Zimmern, um sich umzuziehen. Allerdings bezweifelte ich, dass die alten Kleidungsstücke von Nummer 1 Rustans um einiges breiterer Statur passen würden. Ob der Krieger wohl wusste, dass ihm die Naht am Rücken gerissen war?

»Nicht mein Problem«, sagte ich mir.

Rustan und Nelia gingen an einer geschlossenen Tür am Ende des langen Ganges vorbei und näherten sich der Treppe, als sich die Tür wenige Meter vor mir öffnete und ein mit einem großen Messer bewaffneter Mann auf den Gang stürmte und sich mit wildem Blick umsah.

Ein Attentäter!

Der Gedanke lähmte mich für einen Herzschlag, während der Blick des Attentäters auf den jungen Krieger fiel, der die drohende Gefahr in seinem Rücken noch nicht bemerkt hatte.

»Rustan! Vorsicht, hinter dir!«, schrie ich.

Im selben Moment wirbelte Rustan auch schon herum, erkannte die Gefahr und stellte sich ihr. Er war unbewaffnet, aber das hielt den jungen Elitekämpfer nicht auf. Während ich noch erschrocken blinzelte, packte er den Waffenarm des Attentäters, wirbelte herum und verdrehte ihn. Es knackte, als ein Knochen brach. Mit einem Fluch und einem lauten Schmerzensschrei ließ der Attentäter das Messer fallen.

»Wer bist du? Wer hat dich geschickt?«, wollte Rustan wütend wissen. »Bist du immer so feige, einen Unbewaffneten von hinten anzugreifen?«

Das Letzte schien ihn am meisten zu ärgern. Die Polliander lebten nach einem Ehrenkodex. Sie kämpften niemals feige. Das Verhalten des Attentäters, der ihn nun anspuckte, brachte ihn daher ziemlich schnell an den Rand des Kontrollverlusts.

»Ruhig!«, sagte ich rasch zu ihm.

Rustan drehte den Kopf für einen kurzen Augenblick zu mir herum. Diesen Moment nutzte der Attentäter, um sich zu Boden fallen zu lassen. Rustan konnte sein Gewicht nicht aufrecht halten und ließ los, um nicht mit zu Boden gerissen zu werden. Im nächsten Moment hatte der Attentäter sein Messer in der gesunden Hand und zielte auf Rustans Brust.

Ich kreischte erschrocken. Meine Ablenkung würde Rustan das Leben kosten!

Doch ich hatte Nelia vergessen. Während Rustan und der Attentäter kämpften und ich untätig zusah, hatte die junge Zauberin nur auf ihren Moment gewartet. Magie knisterte in der Luft, als sie das Messer des Mörders mit ihren Fähigkeiten packte und herumwirbelte. Der Mann keuchte, als das Messer in seine eigene Brust eindrang. Er röchelte und ging in die Knie. Mit einem Krachen schlug er schließlich auf dem Boden auf.

»Ist er tot?«, fragte ich nach einem langen Moment der Stille, während Rustan und Nelia den Attentäter beobachteten, wie man eine gefährliche Schlange im Auge behielt.

»Ja«, sagte Nelia schließlich und wirkte sichtlich erleichtert. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen. »Die Namensmagie hat seinen Körper verlassen.«

»Wer war er? Und warum wollte er mich töten?«, fragte sich Rustan ratlos. Er beugte sich zu der Leiche herab und musterte sie intensiv.

Beim Anblick des toten Angreifers überkam mich plötzlich ein starkes Zittern und mein Herz pochte im wilden Galopp. Direkt vor meinen Augen war jemand getötet worden! Nun gut, er war der Böse, aber es hätte auch Rustan erwischen können. Nur dank Nelia lebte der junge Krieger noch. Ich hatte immer ein Held sein wollen und in der ersten Gefahrensituation war ich absolut nutzlos gewesen.

»Vielleicht hast du in einem deiner früheren Leben gegen ihn gekämpft?«, vermutete Nelia, die den Vorfall weitaus besser zu verkraften schien als ich. »Ich kann mir vorstellen, dass du im Laufe deiner Leben viele Feinde gesammelt hast.«

»Oder aber er wollte verhindern, dass du wieder Baro beschützt, wie in deinem letzten Leben. Immerhin sind die Deradas nur wegen euch beiden so mächtig geworden«, warf ich ein. Das gemeinsame Spekulieren beruhigte mich allmählich. Nun bewegten wir uns wieder auf einem mir vertrauten Terrain. Unterhaltungen wie diese hatten wir im Unterricht häufig geführt.

Rustan schwieg und nahm das Wappen in die Hand, das um den Hals des Attentäters hing. Es zeigte rote Blutstropfen und ein Messer – das Wappen der Söldner aus der Kurbabu-Dynastie.

»Und was machen wir jetzt?«, wagte ich schließlich zu fragen, als keiner meiner alten Klassenkameraden sich rührte. »Wir können ihn doch nicht hier liegen lassen! Was passiert, wenn die Kinder hier entlang kommen?«

»Du hast Recht«, sagte Rustan. Er erhob sich, klopfte den Staub von seinen Knien und sah ungewöhnlich ernst aus. »Ihr wartet hier und ich werde den Direktor informieren. Aber vorher muss ich noch etwas tun.«

Er zog das Messer aus der Leiche des Attentäters und hielt es einen Moment in der Hand, bevor er es an seiner Handfläche ansetzte und sie aufschlitzte.

Nelia keuchte erschrocken, als der junge Krieger ihr seine blutige Handfläche entgegen hielt. Ich hingegen war nicht überrascht. Nach dem Kodex der Polliander musste Rustan dies tun.

»Ich verdanke dir mein Leben, Nelia Wabloo«, sagte Rustan ernst und packte ihre rechte Hand. »Von heute an stehe ich in deiner Schuld und ich werde nicht ruhen, bevor diese Schuld beglichen ist. Dies schwöre ich, Rustan Polliander, bei meinem Namen.«

Die Namensmagie umhüllte den jungen Krieger wie ein Gewitter an einem schwülen Sommerabend. Es roch nach verbrannter Luft und ich spürte das Gewicht seines magischen Schwurs.

Während Nelia noch ihre blutige Handfläche anstarrte und kaum glauben konnte, was passiert war, drehte sich Rustan zu mir um.

»Es tut mir echt leid, dass ich dich abgelenkt habe«, sagte ich rasch und schluckte mühsam. »Das habe ich nicht gewollt.«

Mit wenigen großen Schritten war Rustan bei mir und packte mich. Ungläubig starrte ich auf unsere verbundenen Hände, als Rustan nun seinen Schwur ein zweites Mal sprach: »Ich schulde dir mein Leben, Tirasan Passario. Ich werde nicht ruhen, bevor diese Schuld beglichen ist. Dies schwöre ich, Rustan Polliander, bei meinem Namen.«

»Aber, aber …«, stammelte ich schließlich, als das Knistern der Namensmagie verstummt war. »Durch meine Schuld wärst du beinahe gestorben!«

Er lächelte erstmals. »Ohne dich wäre ich mit Sicherheit gestorben, Tirasan«, meinte er. »Denn ich hätte den Attentäter niemals rechtzeitig bemerkt. Ich war dumm. Ich habe so früh nicht mit einer Gefahr gerechnet. Die Namensgebung ist gerade mal eine Stunde her! Die Nachricht von meiner Rückkehr wird sich erst in den nächsten Tagen verbreiten. Dass meine Feinde bereits in der Schule sein könnten, daran habe ich nicht gedacht. Also danke.«

»Gern geschehen«, sagte ich verwirrt. Dennoch konnte ich das unwirkliche Gefühl nicht abschütteln, dass der beste Freund meines Erzfeindes nun so etwas wie ein neuer Freund und Verbündeter sein wollte.

Mir schwirrte immer noch der Kopf, als Rustan mit einem aufgebrachten Direktor und ein paar Soldaten der Stadtwache zurückkam. Die Grekasols warfen uns einen misstrauischen Blick zu und begannen dann mit der Untersuchung des Tatortes. Nach einer kurzen Befragung durch den Direktor, der Nachmittag war inzwischen schon fast vorbei, durften wir endlich gehen.

Fünf Minuten später stand ich in meinem Zimmer und zitterte erneut. Erst langsam sickerten die Ereignisse der letzten beiden Stunden so richtig in mein Bewusstsein. Neben der Angst kam nun auch die Enttäuschung mit rasenden Schritten wieder zurück.

»Wer – bei den großen Namen – ist Tirasan Passario?«, fragte ich laut und starrte in den kleinen Wandspiegel über dem Waschtisch. Anscheinend war er ein gerade mal ein Meter fünfzig großer Typ, der von nichts eine Ahnung hatte.

Eigentlich war ich davon überzeugt gewesen, dass ich die meisten der zweiteiligen Namen und alle gängigen Dynastien kannte. Doch dies entpuppte sich nun als Irrtum. Weder hatte ich etwas über mich gelesen, noch hatte ich jemals von meiner Dynastie gehört. Wie konnte das sein? Wie konnte ein zweiteiliger Name so unbedeutend sein, dass er niemandem etwas sagte?

Ich verstand es nicht. Meine Finger spielten mit dem Wappen um meinem Hals. Die Kette war etwas zu lang für mich, sodass das Wappen auf meinem Bauch lag und nicht auf meiner Brust. Ich nahm die Kette ab. Konnte ich sie irgendwie kürzen?

Ich musterte das Symbol auf meinem Wappen. Wappenkunde war eines der wichtigsten Fächer auf unserer Schule. Jeder Schüler musste imstande sein, die wichtigsten Wappen mit einem Blick zu erkennen, ohne dass sich die Person vorgestellt hatte. Das Symbol eines Pollianders war ein goldenes Schwert. Andere Dynastien wie die Deradas hatten kompliziertere Wappen. Baros Wappen zeigte eine Kombination aus Lagerhaus, Pferd, beladenem Wagen und Münzen, die wichtigsten Attribute eines reisenden Händlers.

Ich hatte Wappenkunde immer leicht gefunden, denn eigentlich erklärte jedes Wappen, welchen Beruf sein Träger ausübte. Das Wappen der Nivians zeigte eine Hand mit einer Schriftrolle, die typische Nachricht, die ein Kurier überbrachte. Die Musiker-Dynastien hatten Noten und Musikinstrumente auf ihren Wappen, ein Bauer die Früchte oder das Getreide, das er erntete.

Doch was bedeutete ein Kreis?

Ratlos sah ich auf mein eigenes Wappen hinab. War ich ein Radmacher? Aber hätten in dem Kreis dann nicht Striche sein müssen? Oder stand der Kreis für einen Brunnen? Beides erschien mir unwahrscheinlich. Wer war ich?

Als ich Stimmen auf dem Gang hörte, schrak ich zusammen. Die jüngeren Schüler, die auf meiner Etage wohnten, polterten an meinem Zimmer vorbei. Der Nachmittagsunterricht musste zu Ende sein, was bedeutete, dass sich die Feier der Namensgebung ebenfalls dem Ende näherte, und ich stand nur dumm grübelnd in meinem Zimmer herum und verpasste sie.

Rasch riss ich meinen Schrank auf und starrte hinein. Braune Hemden, braune Hosen, braune Socken, braune Stiefel und braune Jacken – langweiliger ging es nicht. Dies war unsere Schuluniform. Nur ein dunkelblaues Hemd und eine hellgraue Hose, die einzige Freizeitkleidung, die ich besaß, stachen aus dem Berg von Erdtönen heraus. Ich seufzte und nahm sie in die Hand.

Schnell hatte ich mich umgezogen und eilte zurück in den Festsaal. Mein Wappen schlug mir beim Laufen gegen den Bauch und die Nummern starrten und zeigten spöttisch mit dem Finger auf mich, als ich in ungewohnter Eile an ihnen vorbeihastete. Es hatte sich nichts geändert.

Vor dem Festsaal musste ich innehalten und erst einmal eine Minute verschnaufen. Zum Glück gab es hier keine Spiegel. Ich musste jedoch mein verschwitztes und hochrotes Gesicht nicht sehen, um zu wissen, dass ich keinen guten Eindruck machen würde, wenn ich jetzt den Saal betrat.

Ich zog die Tür auf und ging trotzdem hinein. Die Feier war noch immer in vollem Gange, auch wenn die Tafel inzwischen recht kahl wirkte und von den Speisen kaum noch etwas da war. Aber ich war nicht zum Essen hergekommen. Obwohl mir heute Abend wahrscheinlich der Magen knurren würde, weil ich den ganzen Tag vor lauter Aufregung nichts gegessen hatte.

Aufmerksam sah ich mich um. Noch hatte niemand meine Rückkehr bemerkt. Ich entdeckte Rustan, der irgendwo neue Kleidung in seiner Größe aufgetrieben hatte und nun sehr vornehm aussah. Allira stand neben ihm, mit einer Hand auf seinem Arm, und sah zu ihm auf. So schnell ich konnte wandte ich den Blick ab und zuckte zusammen, weil Nelia plötzlich neben mir stand.

»Geht es dir gut, Tirasan?«, fragte sie besorgt. »Du bist ganz rot im Gesicht und deine Augen glänzen.«

Verlegenheit würde jedenfalls nicht dafür sorgen, dass sich an diesem Zustand in absehbarer Zeit etwas änderte. Hatte sie etwa erkannt, dass ich kurz davor war loszuheulen? Ich hoffte nicht.

»Danke, es geht mir gut«, antwortete ich schließlich und versuchte mich an einem Lächeln. Ich glaubte nicht, dass es mir besonders gut gelang. »Ich habe die Zeit vergessen und bin daher gerannt, um die Feier nicht ganz zu verpassen.«

Sie lächelte mich an. »Keine Angst, die Feier geht noch eine Stunde. Es ist also noch genug Zeit«, meinte sie.

Nelias Blick fiel auf mein Wappen und sie griff danach. Ich versteifte mich. Es war unhöflich, so etwas zu tun. Ich öffnete den Mund, um mich zu beschweren, und klappte ihn im nächsten Moment wieder zu. Nelias Augen glühten golden, als sie durch mich hindurch sah. Meine Wappenkette wurde warm um meinen Hals, als Nelia ihre Magie wirkte. Im nächsten Moment hing mir das Wappen nicht länger auf dem Bauch, sondern ordentlich auf der Brust.

»So! Besser«, sagte die junge Magierin zufrieden.

»Danke.«

Ich war es nicht gewohnt, dass jemand etwas Nettes für mich tat, und fühlte mich nun unangenehm berührt. Doch bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, nickte mir Nelia einmal kurz zu und ging zu Rustan und Allira hinüber.

Ich sah ihr hinterher und wunderte mich kurz, wo Baro, der Vierte der Runde, abgeblieben war.

»Sieh an, Nummer 19 hat eine Freundin!«

Wenn man von den Namenlosen spricht. Ich wirbelte herum und blitzte den jungen Händler wütend an. »Ich heiße nicht Nummer 19!«, zischte ich.

»Ja, ja«, sagte Baro gelangweilt und wedelte mit der Hand. »Ich weiß. Tirasan Passario und all der Quatsch! Meinst du, den Mist glaubt dir jemand? Was hast du der Ellusan bezahlt, damit sie dir einen falschen Namen gibt?«

»Einen falschen Namen?«, echote ich. Fassungslos starrte ich ihn an.

Baro schnaubte. »Jemand wie du hat nie und nimmer einen zweiteiligen Namen!«, behauptete er verächtlich. »Und Passario? Was soll das sein? Ich habe die anderen im Saal gefragt. Von dieser Dynastie hat noch nie jemand etwas gehört. Ziemlich praktisch, findest du nicht, wenn man sich den Namen selbst ausgedacht hat! Also, was hast du der Ellusan bezahlt, damit sie bei dieser Scharade mitmacht?«

Ich hatte mir ja schon einiges von Nummer 2 anhören müssen, aber das hier war der Gipfel der Unverschämtheit. »Ich habe mir meinen Namen nicht erkauft!«, explodierte ich. Inzwischen starrten alle zu uns herüber, aber das war mir egal. »Wage es ja nicht noch einmal, so etwas zu behaupten! Und denkst du wirklich, das wäre der Name, den ich mir ausgesucht hätte?!«

Plötzlich waren Rustan, Nelia, Allira und der Direktor da. Rustan trat zwischen uns. Im Ernst?! Glaubte der Typ wirklich, ich würde Baro angreifen?!

»Was ist hier los?«, wollte der Direktor wissen. »Was sind das hier für Anschuldigungen? Habt Ihr etwa einen Grund zur Annahme, dass unsere Ellusan bestechlich ist, Baro?«

Mein Erzfeind erkannte, dass er zu weit gegangen war. »Nein, das wollte ich damit nicht sagen«, versicherte er dem Direktor schnell. »Dennoch finde ich es sehr merkwürdig, dass Nummer 19 nun angeblich einen zweiteiligen Namen hat, ohne dass er auch nur irgendeine Namensmagie gezeigt hätte! Vielleicht hatte die Ellusan ja Mitleid mit ihm und hat ihm einfach irgendeinen Namen gegeben? Anders kann ich es mir nicht erklären.«

Baros Worte erschütterten mich. Er hatte ja Recht! Wie konnte es sein, dass bei meiner Namensgebung nichts passiert war? So überhaupt nichts? Selbst diejenigen, die heute einen vierteiligen Namen bekommen hatten, hatten sich verändert. Und ich mit meinem zweiteiligen Namen? Bei mir passierte gar nichts?

»Er heißt Tirasan Passario!«, sagte eine kühle Stimme nun in die folgende Stille hinein. »Das solltest du nicht vergessen, junger Mann

Aus den sonst so warmen Augen der Namensfinderin blitzte eisiger Zorn. Sie hätte Baro genauso gut auch als Nummer 2 bezeichnen können, so viel Geringschätzung lag in ihren Worten. Was auch nicht weiter verwunderlich war, wenn man bedachte, dass Baro sie gerade der Korruption verdächtigt hatte.

»Hochverehrte Lorina Ellusan, niemand hier glaubt, dass Ihr dem jungen Mann absichtlich einen falschen Namen gegeben habt«, beeilte sich der Direktor zu sagen. »Allerdings kann ich nicht leugnen, dass Baros Worte nicht aus der Luft gegriffen sind.« Er zögerte einen winzigen Moment. »Kann es möglicherweise sein, dass es zu einem Fehler, einer Verwechslung oder Ähnlichem gekommen ist?«

Ich wich einen Schritt vom Direktor zurück. Merkte er denn nicht, dass die Aura aus Magie, die die Ellusan umgab, inzwischen tobte, als wäre ein Herbststurm über den Festsaal hereingebrochen? Und seine Worte machten die Situation nicht besser, im Gegenteil.

»ICH MACHE KEINE FEHLER

Lorina Ellusans Magie donnerte durch den Saal und jeder, wirklich ausnahmslos jeder, kauerte sich vor ihr zusammen. Ich hatte noch nie gehört, dass ein Ellusan die Kontrolle verloren hätte, aber Lorina war kurz davor.

»Ihr verbohrten Narren! Ihr glaubt zu wissen, was Namensmagie ist? Was einen Namen ausmacht? Schall, Rauch und Knalleffekte? Je größer der Name, desto mehr blitzt und knallt es? Ihr irrt euch! Namensmagie ist Erkenntnis, Wissen, Vertrauen. Die Seele, die sich entfaltet! Alles andere ist unwichtig! Ja, Tirasan hat sich körperlich nicht verändert, doch das bedeutet nicht, dass er nicht Tirasan Passario ist!«

»Aber wer ist Tirasan Passario?«

Ich zuckte zusammen, als meine Stimme laut und wie eine Herausforderung durch den Saal hallte. Die Frage beschäftigte mich schon den ganzen Nachmittag und sie war letztlich der Grund, warum ich zurück zum Fest gegangen war. Ich hatte die Ellusan fragen wollen. Aber doch nicht so! Warum konnte ich nicht einmal meine verdammte Klappe halten?!

Doch Lorina Ellusan wurde nicht wütend. Im Gegenteil. Ihr magischer Orkan ließ nach, als sie mich nachdenklich musterte.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß nur, dass dies dein Name ist. Der Name deiner Seele. Ich sah ihn ganz deutlich, als ich in deine Seele sah, zusammen mit deinem Wappen. Doch was er bedeutet, wer du bist, das kannst du nur in den Namensarchiven erfahren.«

Ich nickte enttäuscht. Ich hatte mir mehr erhofft.

Die Ellusan rauschte davon, ohne sich zu verabschieden. Kurz darauf verließen auch die Ehrengäste nach und nach vorzeitig den Saal. Die ausgelassene Feierlaune war verschwunden. Der Direktor atmete tief durch und ging dann zu den Ratsmitgliedern von Tummersberg hinüber, die finster zu uns herüber starrten. Besonders mich streiften kühle Blicke. Sie schienen immer noch zu glauben, dass ich bei der Namensgebung irgendwie betrogen hatte, auch wenn sich keiner erklären konnte wie.

Keine fünf Minuten nach Lorina Ellusans Aufbruch stand ich alleine in meiner Ecke des Saals, während mich meine früheren Klassenkameraden mieden, als wäre ich ein Namenloser.

Ja, meine Namensgebung war wirklich ein denkwürdiges Ereignis geworden.

Scheiße.

3Das Namensarchiv

In der Kenntnis des eigenen Namens
liegt der Schlüssel zur Identität.

Die Sonne schien mir ins Gesicht. Ich kniff die Augen zusammen und vergrub meinen Kopf im Kissen. Im ersten Moment nach dem Aufwachen hatte ich nicht gewusst, warum ich mich so elend fühlte, doch nun kamen die Erinnerungen an die gestrige Namensgebung mit aller Kraft zurück und verhöhnten mich. Wie hatte ich auch glauben können, dass sich durch meine Namensgebung irgendetwas zum Besseren wenden würde?