Olaf Fritsche

Der geheime Tunnel

Band 9

In der Hand der Piraten

Mit Illustrationen von Barbara Korthues

Dem Zeitendieb auf den Fersen

Geschickt sprang Lilly über eine Reihe von Fässern und Holzkisten. Sie spurtete ein Stück und ging mit einem Hechtsprung hinter einer großen Taurolle in Deckung. Gerade noch rechtzeitig! Keine zehn Meter vor ihr drehte sich ein finster dreinschauender Mann mit gezwirbeltem Schnurrbart um. Hatte er da nicht eben das Geräusch eilig trippelnder Schritte gehört? Er verzog den Mund zu einer Grimasse. Sein Blick wanderte forschend durch das abendliche Halbdunkel. Eine miese Gegend war das hier. Die Häuser wirkten schief und krumm, manche waren halb verfallen, bei jedem war wenigstens eine Fensterscheibe eingeschlagen. Ihre Schatten fielen gespenstisch auf das schmutzige Kopfsteinpflaster, wo sich vergessene Ladung, ausgediente Anker, Teile von Masten, ein modriges Beiboot und Ersatzteile für die Schiffe türmten.

Ein leichter Nieselregen setzte ein. Der Mann fletschte die Zähne. Niemand zu sehen. Vermutlich war er einfach zu nervös. Kein Wunder – immerhin war dies die verruchteste Ecke im Hafen der Pirateninsel. Da konnte man gar nicht genug auf der Hut sein. Er spuckte auf den Boden und setzte seinen Weg fort.

Erleichtert atmete Lilly auf. Über einen kleinen Spiegel an einem Stiel, wie ihn die Zahnärzte benutzen, hatte sie den Mann die ganze Zeit beobachtet. Und sie würde ihn auch weiterhin keinen Augenblick aus den Augen lassen. Dafür war sie viel zu wütend auf ihn.

«Das war knapp!», stellte eine sanfte Stimme neben ihr leise fest. Tante Amelie war herangehuscht und kniete sich an Lillys Seite. Sie legte dem Mädchen eine Hand auf die Schulter. «Beinahe hätte er dich gesehen.»

«Und wenn schon!», knurrte Lilly. «Wenn es nach mir ginge, würde der mich nicht nur sehen, sondern direkt an seiner Gurgel spüren!»

Sie wollte sich aufrappeln, doch Tante Amelie drückte Lilly energisch zurück auf den Boden und warf sich neben sie. Der Mann hatte sich plötzlich noch einmal umgeschaut.

«Vergiss nicht – dieser Hermann Dubios ist gefährlich, brutal, unberechenbar und leider auch furchtbar schlau», flüsterte Tante Amelie.

«Weiß ich alles», zischte Lilly. Mühsam brachte sie ihre Wut unter Kontrolle, die jedes Mal hochkam, wenn sie daran dachte, was Dubios schon alles verbrochen hatte. Seit ihrer zweiten Reise durch die Zeit hatte er ihnen ständig Schwierigkeiten bereitet. Mehrmals waren sie und ihr Freund Magnus seinetwegen mächtig in die Klemme geraten. Um ein Haar hätte er sogar kaltblütig einen echten Schwarzen Ritter erschossen und die erste Landung auf dem Mond verhindert. Der Schurke kannte einfach kein schlechtes Gewissen. Aber die absolute Höhe hatte er sich bei ihrem letzten Abenteuer geleistet: Aus Dankbarkeit dafür, dass ihn die Kinder und Tante Amelie im Ägypten der Pharaonen davor bewahrt hatten, den Krokodilen zum Fraß vorgeworfen zu werden, hatte er ihnen den blauen Kristall geklaut. Wer diesen Kristall besaß, konnte damit den geheimen Tunnel durch die Zeit steuern. Lilly, Magnus, ihr gemeinsamer Freund Albert und Tante Amelie waren per Tunnel begeistert durch die Vergangenheit gereist, um spannende Rätsel der Geschichte zu lösen. Dubios war dagegen nur voller Gier hinter Schätzen und Reichtümern her. Solange er den blauen Kristall in seiner Gewalt hatte, war kein Zeitalter vor seinen Raubzügen sicher. Also mussten die Zeitreisenden ihm den Edelstein so schnell wie möglich wieder abnehmen.

Lilly schob vorsichtig den Spiegel hinter der Taurolle hervor. Gut so! Dubios ging weiter. Im Nu war Lilly auf den Beinen und lief geduckt an den Häusern entlang, dem Zeitendieb nach. Tante Amelie sah ihr hinterher.

«Bei allen räudigen Schiffsratten!», fluchte sie. «Wenn das bloß gutgeht.»

Aber auch sie sprang hoch und nahm die Verfolgung auf. Obwohl Lilly reichlich ungestüm war, hatte sie doch gleichzeitig recht. Drei Tage hatte es die beiden gekostet, Dubios in diesem Piratennest ausfindig zu machen. Am Anfang wären sie um Haaresbreite von einem abgetakelten Seeräuber gefangen genommen worden, der sie als Sklavinnen verkaufen wollte. Glücklicherweise war er so betrunken gewesen, dass Tante Amelie ihn leicht mit einem Judowurf in eine stinkende Pfütze befördern konnte. Danach hatten sie und Lilly sich passende Piratenkleidung besorgt, und seitdem hielt man die beiden für die Frau eines Piraten und ihre Tochter. In den folgenden Tagen hatten sie unzählige Seeräuber ausgehorcht, bis ihnen endlich einer den entscheidenden Tipp geben konnte, wo sich Dubios herumtrieb. Jetzt durften sie auf keinen Fall mehr seine Spur verlieren.

Dubios hielt auf eine Spelunke zu, aus der grölender Lärm nach draußen drang. Bevor er hineinging, blickte er sich ein letztes Mal misstrauisch um. Tante Amelie drückte sich in einen dunklen Hauseingang. Sie beobachtete, wie Lilly blitzschnell in der Strohladung eines Karren verschwand. Glück gehabt! Dubios hatte sie nicht bemerkt. Kaum war er in der Kneipe verschwunden, wühlte Lilly sich frei und wollte ihm folgen.

«Nein!» Tante Amelie hielt sie am Arm fest. «Da drin können wir uns nicht verstecken. Wir müssen irgendwie von hier draußen herausbekommen, was er vorhat.» Lilly machte den Mund auf, als ob sie widersprechen wollte. Nach einer Sekunde nickte sie aber nur.

«Kein Ding!», sagte sie. Lilly griff sich in das weite Hemd, das sie trug, und zog etwas hervor, das wie ein fingerdicker Regenwurm aussah. «Ein ‹Ohrwurm›», erklärte sie Tante Amelie, die ihr etwas verblüfft zusah. «Albert sagt, den hat sein Vater für schwerhörige Leute erfunden, die gerne ins Theater gehen. Man legt ihn einfach auf den Boden und kann ihn über diese kleine Fernbedienung», mit der zweiten Hand zeigte sie eine handygroße Steuerung vor, «zur Bühne mit den Schauspielern lenken. Mit einem Mikro fängt das Ding jedes Wort auf und sendet es per Funk an den Lautsprecher in der Fernbedienung.» Sie setzte den Ohrwurm vor einen Spalt in der rissigen Holztür der Piratenkneipe und steuerte ihn geschickt hindurch. «Wollen wir doch mal hören, was dieser Schmierenkomödiant von Dubios zu sagen hat.»

Anfangs drang ein kunterbuntes Gewirr von Stimmen aus dem Lautsprecher. Offenbar war die Spelunke voller saufender und äußerst mies singender Gäste. Alle paar Sekunden forderte jemand lauthals mehr Rum, und kurz darauf erklang das metallische Klimpern von Münzen, die auf einen Tisch geworfen wurden.

«So ein Mist, dass der Ohrwurm keine Augen hat», schimpfte Lilly. «Ich kann nicht sehen, wo ich ihn hinlenken muss. Wir kriechen auf gut Glück herum.»

«Hauptsache, es tritt keiner von den Kerlen drauf», meinte Tante Amelie. «Sonst ist unsere Abhörnummer im Nu beendet.»

«Ein Schiff brauche ich», klang es in diesem Moment aus dem Lautsprecher. «Eine Mannschaft, die keine Fragen stellt. Und einen Kapitän, der den Mund halten kann.»

Lilly richtete sich ruckartig auf. Das war Dubios! Sie knirschte vor Anspannung mit den Zähnen. Endlich würden sie herausbekommen, was der Schurke vorhatte.

«Was, wenn ich so ein Kapitän wäre?», fragte die raue Stimme eines anderen Mannes.

«Dann hätte ich ein Angebot, das kein Pirat, der etwas auf sich hält, ausschlagen kann», antwortete Dubios.

«Und was wäre das für ein Angebot?», wollte die Stimme wissen.

«Eines, das uns alle auf einen Schlag unermesslich reich machen würde.»

«Typisch!», zischte Lilly. «Dubios geht es mal wieder nur ums Geld.»

«Psst!», ermahnte Tante Amelie sie. «Lass uns weiter lauschen.»

Doch aus dem Lautsprecher waren nur glucksende Trinkgeräusche zu hören. Anscheinend ließ sich der angebliche Piratenkapitän nicht so leicht beeindrucken und trank lieber einen ordentlichen Schluck Rum, bevor er auf Dubios’ letzten Satz reagierte.

«Ich war schon einmal reich», behauptete er schließlich. «Hab alles versoffen! In einer einzigen Woche!»

«Nun, mein Angebot würde Sie so reich machen, dass Sie ein ganzes Jahr betrunken sein könnten, und es wäre immer noch genug übrig, um sich bequem zur Ruhe zu setzen», sagte Dubios gelassen. Er wusste genau, wie man Halsabschneider und Halunken neugierig machte.

Sein Gesprächspartner rülpste laut. Lilly und Tante Amelie hatten das Gefühl, als könnten sie seine Ungeduld bis hier draußen vor der Tür spüren. Dubios hatte gewonnen, so viel war klar. Der Mann hatte angebissen.

«Worum … worum geht es denn bei diesem Wunderplan?» Die Stimme zitterte ein wenig vor Aufregung.

Dubios ließ eine halbe Minute verstreichen, in der Lilly und Tante Amelie nur hörten, wie der Seeräuberkapitän hippelig mit den Stiefeln scharrte. Dann sprach Dubios betont langsam und leise.

«Es geht um den Schatz von Captain Kidd!»

Ein lautes Würgen und Husten drang aus dem Lautsprecher. Der Pirat hatte sich an seinem Rum verschluckt und ihn in hohem Bogen ausgespuckt.

«Captain K …», prustete er laut. Bevor er den Namen voll ausgesprochen hatte, fing er sich halbwegs und redete gedämpft, aber reichlich hektisch weiter. «Das ist doch … unmöglich! Niemand weiß, wo sein Schatz versteckt ist!»

Dubios schien zu grinsen, jedenfalls klang er sehr gut gelaunt.

«Was, wenn ich Informationen besitze, die sonst niemand hat?», fragte er lässig.

Der Kapitän schnaufte. Lilly glaubte, vor ihrem inneren Auge sehen zu können, wie er sich mit einem Tuch den Schweiß vom Gesicht wischte.

«Dann … dann steht Ihnen meine Sturmdämon voll und ganz zur Verfügung», stammelte er schließlich.

Lilly und Tante Amelie tauschten einen kurzen Blick. Das war genau die Information, auf die sie gehofft hatten. Sie wussten nun, welchen Plan Dubios verfolgte und wo sie ihn finden würden. Ein Schiff mit dem Namen Sturmdämon war sicherlich leicht aufzuspüren. Nun wurde es Zeit, dass sie sich zurückzogen, bevor Dubios sie am Ende doch noch entdeckte. Geschickt lenkte Lilly den Ohrwurm zur Tür der Spelunke, während Tante Amelie einen Pfiff ausstieß und den rechten Arm in die Höhe reckte. Ein dunkler Schatten kam vom Dach herabgesegelt und landete auf ihrer ausgestreckten Hand.

«So, jetzt bist gleich du dran, Merlin», kündigte Tante Amelie der Dohle an. Der Vogel wusste von den früheren Zeitreisen, was sie meinte. Seine Aufgabe bestand stets darin, mit Nachrichten aus der Vergangenheit durch den geheimen Tunnel in die Gegenwart zu Albert zu fliegen. Doch eigentlich interessierte ihn im Moment etwas anderes viel, viel mehr. Dieser Wurm, den Lilly da in der Hand hielt – der sah wirklich ungeheuer lecker aus 

Bevor Lilly oder Tante Amelie reagieren konnte, war es geschehen. Mit einem Satz war Merlin auf Lillys Schulter vorgesprungen, hatte sich nach vorn gebeugt und mit einer einzigen fließenden Bewegung den Ohrwurm geschnappt und runtergeschluckt.

«Merlin!», schimpfte Lilly entsetzt. Aus dem Lautsprecher tönte ein lautes GULP! als letztes Funksignal, das der Wurm aussandte. «Bist du verrückt? Das war doch nichts zu fressen, du Gierschlund!»

Merlin war da ganz offensichtlich anderer Meinung. Er plinkerte zufrieden mit den Augen und hüpfte zurück auf Tante Amelies Hand.

«Tsstsstss!» Tante Amelie schüttelte den Kopf. «Und dabei bist du sonst so klug. Aber ich fürchte, mit dieser Aktion hast du dir selbst die schlimmsten Magenschmerzen des Jahres eingebrockt.»