David Graeber

Bürokratie


Die Utopie der Regeln

Aus dem Amerikanischen von
Hans Freundl und Henning Dedekind








Klett-Cotta

Impressum

Die Einführung und die Kapitel 1 und 2 ( S. 7–180) hat Hans Freundl, das Kapitel 3 und den Exkurs im Anhang (S. 181–271) hat Henning Dedekind übersetzt.

 

Der Verlag Klett-Cotta dankt dem Originalverlag Melville House (Brooklyn, London) für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Abbildungen S. 189, 190 (Carl Beckmann: Die automatische Schnellrohrpostlinie Berlin Haupttelegraphenamt-PA O 17, entwickelt und gebaut 1927/28, Berlin: Mix & Genest, 1929) und S. 207 (Robert Fludd, Meteorologica cosmica, Frankfurt, 1626, S. 8).

 

 

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy« im Verlag Melville House, Brooklyn, London 2015

© 2015 by David Graeber

Für die deutsche Ausgabe

© 2016 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Umschlag: Rothfos & Gabler, Hamburg

Datenkonvertierung: Dörlemann Satz, Lemförde

Printausgabe: ISBN 978-3-608-94752-6

E-Book: ISBN 978-3-608-10944-3

Dieses E-Book entspricht der aktuellen Auflage der Printausgabe

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung
Das Eherne Gesetz des Liberalismus und die Ära der totalen Bürokratisierung

1. Man sollte die Bedeutung physischer Gewalt nicht unterschätzen. 

2. Man sollte die Bedeutung der Technologie als ursächlichem Faktor nicht überschätzen. 

3. Man bedenke, dass es stets um Wert geht. Oder: wenn jemand behauptet, sein wichtigster Wert sei die Rationalität, sagt er das nur, weil er nicht zugeben will, was tatsächlich sein wichtigster Wert ist.

1 Tote Zonen der Phantasie 

2 Von fliegenden Autos und dem Fall der Profitrate

3 Die Utopie der Regeln, oder: Warum wir die Bürokratie insgeheim lieben

I. Die Verzauberung der Entzauberung, oder: die magischen Kräfte der Post

II. Rationalismus als Form der Spiritualität

III. Über die Bürokratisierung der antibürokratischen Fantasy

IV. Die Utopie der Regeln

Anhang
Über Batman und die Problematik der rechtsetzenden Gewalt

Anmerkungen

Personenregister

Sachregister

Einführung


Das Eherne Gesetz des Liberalismus(1) und die Ära der totalen Bürokratisierung

Über Bürokratie(1) spricht heute kaum noch jemand. Doch Mitte des vergangenen Jahrhunderts und vor allem Ende der Sechziger- und Anfang der Siebzigerjahre war dieser Begriff allgegenwärtig. Umfangreiche soziologische Wälzer mit hochtrabenden Titeln erschienen wie beispielsweise A General Theory of Bureaucracy1, The Politics of Bureaucracy2 oder auch The Bureaucratization of the World3 und populäre Schriften und Ratgeber wie Parkinsons Gesetz4, Das Peter-Prinzip5 oder The Bureaucrats: How to Annoy Them6. Kafkaeske Romane gab es und satirische Filme(1). Es herrschte eine Stimmung, als würden Marotten und Absurditäten des bürokratischen Lebens und der bürokratischen Verfahren das moderne Leben bestimmen und daher verdienen, eingehend diskutiert zu werden. Seit dem Ende der Siebzigerjahre hat das Interesse an dieser Thematik jedoch eigenartigerweise nachgelassen.

Dies vergegenwärtigt beispielhaft die nachstehende Grafik, indem sie veranschaulicht, wie häufig das Wort »Bürokratie(1)« in den Titeln englischer Publikationen der vergangenen 150 Jahre vorkommt. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Thema nur geringe Bedeutung; das Interesse nahm ab den Fünfzigerjahren kontinuierlich zu und klang, nachdem 1973 der Höhepunkt erreicht war, langsam aber stetig wieder ab.

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Woran mag das liegen? Nun, ganz augenscheinlich haben wir uns an die Bürokratie (2)gewöhnt. Bürokratie ist heute das Wasser, in dem wir schwimmen. Stellen wir uns eine andere Grafik vor, in der die durchschnittliche Zahl der Stunden dokumentiert wird, die ein typischer Amerikaner(1), Brite, Deutscher oder Thailänder damit verbringt, Formulare(1) auszufüllen oder anderen bürokratischen Verpflichtungen nachzukommen. (Unnötig zu erwähnen, dass der Großteil dieser Verpflichtungen nichts mehr mit herkömmlichem Papierkram(2) zu tun hat.) Diese Grafik weist höchstwahrscheinlich zunächst eine ganz ähnliche Kurve auf, wie sie in der ersten Darstellung zu sehen ist: einen langsamen Anstieg bis 1973. Ab diesem Punkt jedoch nähme die zweite Kurve einen anderen Verlauf – anstatt zurückzufallen, würde sie weiter steigen, würde sie sogar jäh ansteigen und die Tatsache belegen, dass ab dem Ende des 20. Jahrhunderts die Angehörigen der Mittelschicht immer länger damit beschäftigt sind, sich mit Telefonketten und Computeroberflächen auseinanderzusetzen. Andere hingegen, die weniger gut Situierten, müssen Tag für Tag immer mehr Zeit aufwenden, um die immer komplizierteren Hürden zu überwinden, die den Zugang zu den im Rückgang befindlichen sozialen Diensten regulieren.

Meiner Meinung nach könnte eine solche Grafik etwa folgendermaßen aussehen:

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Diese grafische Darstellung bezieht sich nicht auf die Zeit, die mit Papierkram(3) oder Schreibarbeit verbracht wird, sondern darauf, wie häufig der Ausdruck »paperwork« in englischsprachigen Büchern verwendet wird. Weil uns keine Zeitmaschinen zur Verfügung stehen, um unmittelbarere Untersuchungen anzustellen, dürfte dies den Sachverhalt annäherungsweise am besten erfassen.

Übrigens erbringen auch die meisten mit Papierkram(4) und Schreibarbeit in Verbindung stehenden Begriffe fast identische Ergebnisse, wie Abb. 3 belegt:

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Die Ansätze und Perspektiven, die ich in diesem Buch vorstelle, befassen sich alle auf die eine oder andere Weise mit diesem Missverhältnis. Wir denken nicht mehr über Bürokratie(3) nach – dennoch beeinflusst und bestimmt sie jeden einzelnen Aspekt unseres Lebens. Fast scheint es so, als hätten wir uns als planetarische Zivilisation entschlossen, die Ohren mit den Händen zuzuhalten und zu summen, sobald dieses Thema zur Sprache kommt. Sofern wir überhaupt noch zu diskutieren bereit sind, verwenden wir populäre Begriffe der Sechziger- oder Siebzigerjahre. Die sozialen Bewegungen der Sechzigerjahre inspirierten im großen Ganzen die Linke(1)(1) und ihr Denken; man rebellierte gegen die bürokratische Mentalität oder, genauer gesagt, gegen die seelenzerstörerische Gleichförmigkeit der Wohlfahrtsstaaten(1) der Nachkriegszeit. Konfrontiert mit grauen Funktionären der staatskapitalistischen(1) wie der staatssozialistischen Systeme(2) standen die Rebellen der Sechzigerjahre für den individuellen Ausdruck und die spontane Gemeinschaft und widersetzten sich jeder Form sozialer Kontrolle nach dem Motto: »Regeln(1) und Regulierungen, wer braucht die eigentlich?«

Nach dem Zusammenbruch der Wohlfahrtsstaaten(2) alter Prägung erscheint all dies höchst bizarr. Nachdem die politische Rechte, die auf »Marktlösungen« für alle sozialen Probleme beharrt, sich zielstrebig die Sprache des antibürokratischen Individualismus(4) angeeignet hat, bescheidet sich die Linke(2)(2) mehrheitlich mit erbarmungswürdigen Rückzugsgefechten und versucht, so gut es geht die Reste des alten Wohlfahrtsstaats(3) zu bewahren: Aber diese Linke(3)(3) hat sich mit den Versuchen abgefunden – und führt sie häufig sogar selbst an – den Staat(3) »effizienter« zu machen, indem Dienstleistungen teilweise privatisiert und »Marktprinzipien(1)«, »Marktanreize(1)« oder marktbezogene »Verantwortlichkeitsprozesse«(1) in die Struktur des bürokratischen Apparates(5) implantiert werden.

Das Ergebnis ist eine politische Katastrophe. Anders kann man es nicht nennen. Was als »gemäßigte« linke(4) Lösung für soziale Probleme jeglicher Art präsentiert wird – radikale linke(5) Lösungen sind fast überall von vornherein ausgeschlossen –, stellt eine alptraumhafte Verbindung der schlimmsten Elemente der Bürokratie(6) mit den schlimmsten Elementen des Kapitalismus(1) dar. Es ist, als habe jemand versucht, die am wenigsten anziehende politische Position zu formulieren. Wie stark das Beharrungsvermögen linker Ideale ist, belegt der Umstand, dass vielen eine Partei als wählbar erscheint, die Derartiges propagiert – nicht weil sie eine solche Politik(6) angemessen finden, sondern weil dies die einzige Politik(7) ist, die von Wählern links der Mitte als zulässig wahrgenommen wird.

Kann es daher verwundern, dass jedes Mal, wenn irgendwo eine soziale Krise ausbricht, die Rechte und nicht die Linke(8) jener Akteur ist, der dem Volkszorn(1) Ausdruck verleiht?

Zumindest verfügt die Rechte(4) über eine Bürokratiekritik(5). Sehr gelungen ist diese Kritik keineswegs – aber es gibt sie wenigstens. Die Linke(9) hat keine Bürokratiekritik(6) (mehr). Können Linksorientierte aber nichts Negatives über die Bürokratie sagen, übernehmen sie zwangsläufig eine verwässerte rechte Kritik(7).7

Die rechte Kritik(8) lässt sich zügig abhandeln. Sie wurzelt im Liberalismus(2) des 19. Jahrhunderts.8 Die Erzählung, die in Europa(1) im Gefolge der Französischen Revolution(1) in Kreisen der Mittelschicht entstand, ging dahin, dass die zivilisierte Welt eine allmähliche, ungleichmäßige, aber unvermeidliche Transformation erlebte. Sie führte weg von der Herrschaft von Kriegereliten mit ihren autoritären Regierungen, ihren priesterlichen Dogmen und ihrer durch Kasten bestimmten sozialen Schichtung und brachte eine neue Ordnung hervor, die auf Freiheit(1), Gleichheit und dem aufgeklärten wirtschaftlichen Eigeninteresse beruhte. Die neuen merkantilen Schichten des Mittelalters(1) höhlen die überkommene feudale(1) Ordnung aus wie Termiten, die von unten an den Fundamenten nagen – ja, wie Termiten, aber welche von der guten Sorte. Prunk und Glanz absolutistischer Herrscher, die nun gestürzt wurden, waren nach der liberalen(3) Lesart der Geschichte das letzte Aufbäumen der alten Ordnung: Verschwände sie, würden die Staaten durch Märkte, die Religion(1) durch die Wissenschaft(1) und die festgefügten gesellschaftlichen Hierarchien(1) durch freie Vereinbarungen zwischen Individuen abgelöst werden.

Das Aufkommen von Bürokratien ist mehr oder minder problematisch, denn es passte nicht richtig in diese Erzählung. All diese langweiligen Funktionsträger, die in ihren Büros saßen und ausgeklügelten Befehlsketten unterworfen waren, galten eigentlich als feudale(2) Relikte; bald würden sie wie die alten Armeen und die Offizierskorps überflüssig werden. Schlagen Sie einen beliebigen russischen Roman vom Ende des 19. Jahrhunderts auf: Die Sprösslinge der alten Adelsfamilien(1) – praktisch alle handelnden Charaktere in diesen Büchern – sind Offiziere(1) oder Beamte(1) (niemand, der irgendwie von Bedeutung war, schien einer anderen Tätigkeit nachzugehen). Militärische und zivile Hierarchien(2) zeichnen sich anscheinend durch nahezu identische Ränge, Titel und Ansprüche aus.

Offenkundig bestand aber ein Problem. Wenn die Bürokraten tatsächlich nur ein Überbleibsel waren, warum vermehrte sich dann ihre Zahl von Jahr zu Jahr? Und zwar nicht nur in rückständigen Ländern wie Russland(1), sondern auch um 1900 in aufstrebenden Industriegesellschaften(1) wie England(1) und Deutschland(1)?

Hier setzte die zweite Phase der kritischen Auseinandersetzung ein: Bürokratie(7) wurde nun als inhärenter Makel des demokratischen(1) Projekts betrachtet.9 Der wichtigste Vertreter dieser Denkrichtung war Ludwig von Mises(1), ein emigrierter österreichischer Aristokrat(1), der in seinem Buch Die Bürokratie (1944) die These vertrat, eine staatliche Verwaltung(4) könne niemals ähnlich effizient funktionieren wie die unpersönlichen Preisbildungsmechanismen(1) des Marktes. Die Ausdehnung des Stimmrechts auch auf die Verlierer des freien wirtschaftlichen Kräftespiels rufe unweigerlich staatliche Eingriffe hervor, die als gutgemeinte Versuche auftreten, soziale Probleme administrativ zu lösen. Von Mises(2) räumte ein, viele, die solche Lösungen propagierten, seien guten Willens, er war aber dennoch überzeugt, ihre Bemühungen verschlimmere nur die Situation. Die politische Grundlage der Demokratie(2) werde zerstört, weil die Verwalter der Sozialprogramme unvermeidlich mächtiger und einflussreicher werden würden als die gewählten Regierungspolitiker(10): Stets würden sie sich für noch weitergehende und radikalere Maßnahmen einsetzen. Wohlfahrtsstaaten(4), die sich in Ländern wie Frankreich(1) oder England(2) oder noch deutlicher in Dänemark(1) und Schweden(1) herausbildeten, schlagen nach von Mises(3)’ Ansicht im Laufe von einer oder zwei Generationen unweigerlich in faschistische(1) Systeme um.

Nach dieser Sichtweise veranschaulicht der Aufstieg der Bürokratie(8) perfekt, wie verheerend sich gute Absichten auswirken können. Vermutlich am eingängigsten spitzte Ronald Reagan(1) diese Denkweise durch sein berühmtes Bonmot zu: »Die [...] schrecklichsten Worte in der englischen Sprache lauten: ›Ich bin von der Regierung(1), und ich komme, um zu helfen.‹«

Problematisch an dieser Erklärung ist nur: Sie hat so gut wie nichts mit der tatsächlichen Entwicklung zu tun. Historisch entstanden die Märkte nicht als autonome, freie Bereiche, die unabhängig von staatlichen Behörden(1) oder ihnen sogar entgegengesetzt waren. Gerade das Gegenteil ist der Fall. Historisch sind Märkte eine Nebenwirkung staatlichen Handelns, vor allem militärischer Unternehmungen, oder sie wurden unmittelbar durch staatliche Politik(5) geschaffen. Dies gilt zumindest seit der Erfindung der Münzprägung(1), die als Mittel entwickelt wurde, um Soldaten zu entlohnen. Während des längsten Teils der eurasischen(1) Geschichte bediente sich das gewöhnliche Volk(2) informeller Kreditvereinbarungen(1). Geld(1), Gold, Silber, Bronze als physische Zahlungsmittel(2) sowie parallel entstehende, unpersönliche Märkte begleiteten in erster Linie Truppenmobilisierungen, Städteplünderungen, erpresste Tributzahlungen und das Verteilen der Kriegsbeute. Auch die modernen Bankensysteme(1) wurden zur Kriegsfinanzierung geschaffen.

Problembehaftet ist also schon von Anfang an die herkömmliche Geschichtsschilderung. Darüber hinaus stellt sich eine weitere gravierende Schwierigkeit ein. Die Vorstellung, der Markt sei in gewisser Weise dem Staat(6) entgegengesetzt und unabhängig von ihm, rechtfertigte spätestens seit dem 19. Jahrhundert eine Wirtschaftspolitik(1) des »laissez faire«. Sie sollte die Rolle des Staates mindern, entfaltete diese Wirkung aber in Wirklichkeit nie. Der englische Liberalismus(4) beispielsweise erreichte keineswegs eine Reduzierung staatlicher Bürokratie(9), sondern genau dessen Gegenteil: Er brachte eine stetig wachsende Zahl von Verwaltungsbeamten(2), Archivaren, Inspektoren(1), Notaren(1) und Polizisten(1) hervor. Sie erst ermöglichten den liberalen(5) Traum einer Welt der freien vertraglichen Vereinbarungen zwischen autonomen Individuen. Die Aufrechterhaltung einer freien Marktwirtschaft(1) erforderte tausendmal mehr Papierkram(5) als eine absolutistische(1) Monarchie(1) wie die Ludwigs XIV.(1)

Das offenkundige Paradox – zielt staatliche Politik(7) darauf ab, die Einmischung des Staates in die Wirtschaft(2) einzudämmen, führt dies am Ende zu mehr Regulierung(1), mehr Bürokratie und mehr Polizei(2) – lässt sich so regelmäßig beobachten, dass wir dieses Paradox meiner Ansicht nach als ein allgemeines soziologisches Gesetz betrachten können. Ich schlage vor, es das »Eherne Gesetz des Liberalismus(6)« zu nennen.

Das Eherne Gesetz des Liberalismus(7) besagt: Jede Marktreform(1), jede Regierungsinitiative(1), die den Amtsschimmel bändigen und die Marktkräfte fördern will, resultiert in der Zunahme von Vorschriften(1), Verwaltungsarbeit(1) und der vom Staat(8) beschäftigten Bürokraten.

Der französische Soziologe(1) Emile Durkheim(1) beobachtete diese Tendenz bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert10, die sich schließlich auch allgemein nicht mehr ignorieren ließ. Mitte des 20. Jahrhunderts waren selbst äußerst konservative(11) Kritiker wie von Mises(4) bereit einzugestehen – zumindest in ihren akademischen Schriften –, dass Märkte sich nicht selbst regulieren und dass eine Armee(2) von Verwaltungsbeamten(3) erforderlich ist, um ein marktwirtschaftliches System am Laufen zu halten. Für von Mises(5) wurde diese Armee(3) erst dann problematisch, wenn sie dazu eingesetzt wurde, Marktergebnisse zu korrigieren, die den Armen übermäßiges Leid zufügten.11

Bald erkannten rechtsgerichtete Populisten(1), dass es, ungeachtet der Realitäten(1), sehr wirkungsvoll war, Bürokraten ins Visier zu nehmen. In ihren öffentlichen Erklärungen gewann die Verurteilung »abgehobener Bürokraten« − wie der US-amerikanische(3) Gouverneur George Wallace(1) in seinem Präsidentschaftswahlkampf(1) 1968 erstmals diejenigen bezeichnete, die von den Steuergeldern(1) hart arbeitender Bürger leben – eine zentrale Bedeutung und wurde unerbittlich gehässig vorgetragen.

Wallace(2) kommt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselrolle zu. An ihn erinnern sich die Amerikaner(4) heute in erster Linie als einen gescheiterten Reaktionär oder grimmigen Fanatiker, den letzten eingefleischten Anhänger der Rassentrennung, der einmal mit einer Axt vor einer Schultür aufkreuzte. Im Hinblick auf sein Vermächtnis kann man ihn aber auch als politisches Genie betrachten. Als erster Politiker(12) schuf er eine nationale Plattform für einen rechtsgerichteten Populismus, der sich bald als so ansteckend erweisen sollte, dass mittlerweile – rund eine Generation später – Vertreter nahezu aller politischen(13) Richtungen davon infiziert sind. Unter amerikanischen(5) Arbeitern(1) herrscht heute die Auffassung vor, die Regierung(2) bestehe vor allem aus zwei Arten von Menschen: aus »Politikern(14)«, prahlerische Gauner und Lügner, die man wenigstens abwählen kann; und aus »Bürokraten«, die herablassend elitär auftreten und praktisch kaum mehr zu entmachten sind. Es existiere gewissermaßen ein stillschweigendes Bündnis zwischen den als parasitär abgewerteten Armen (die in Amerika(6) gewöhnlich mit rassistischem Unterton dargestellt werden) und den ähnlich parasitär selbstgerechten Beamten(4), deren Existenz darauf beruhe, Arme mit dem Geld(3) anderer Leute zu unterstützen.

Sogar die Mehrheitsströmung der Linken(15) – oder dessen, was man heutzutage unter Linke(16) versteht – hat nicht viel mehr anzubieten als eine verwässerte Sprachversion der Rechten. Bill Clinton(1) zum Beispiel hatte sich während seiner politischen(17) Karriere so ausgiebig dem Kampf gegen die Forderungen öffentlich Bediensteter(1) gewidmet, dass er sich nach dem Bombenanschlag von Oklahoma City(1) genötigt sah, die Amerikaner(7) darauf hinzuweisen, auch öffentlich Bedienstete(2) seien Menschen, und gelobte, die Bezeichnung »Bürokraten« nie mehr zu verwenden.12

Im gegenwärtigen amerikanischen(8) Populismus(1) – und zunehmend auch in ähnlichen Strömungen in anderen Ländern – gibt es zur »Bürokratie« nur eine einzige Alternative: den »Markt«. Manchmal bedeutet dies, der Staat(9) solle wie ein Unternehmen(1) geführt werden oder man solle die Bürokraten aus dem Weg räumen und der Natur ihren Lauf lassen, damit die Menschen einfach ihren Geschäften nachgehen können, ohne durch die zahllosen von oben auferlegten Regeln(2) und Vorschriften(2) eingeschränkt zu werden. Und man solle es der Magie des Marktes erlauben, ihre eigenen Lösungen hervorzubringen.

»Demokratie(3)« bedeutet in diesem Zusammenhang Markt; »Bürokratie« (10)besagt demgegenüber die Einmischung des Staates in den Markt, und diese Bedeutung besitzt der Begriff auch heute im Allgemeinen.

Das war nicht immer so. Der Aufstieg des modernen Unternehmens Ende des 19. Jahrhunderts erschien zu dieser Zeit als eine Form der Übertragung moderner, bürokratischer Verfahrensweisen auf den privaten Sektor – und diese Verfahrensweisen galten als unverzichtbar für große Unternehmungen, denn sie waren effizienter als die Netze aus persönlichen oder informellen Verbindungen, die in einer Welt der kleinen Familienbetriebe vorherrschend waren. Diese neuen, privaten Bürokratien entwickelten sich zuerst in den USA und in Deutschland(2). Für Max Weber(1), den deutschen Soziologen, tendierten vor allem die Amerikaner(10) seiner Zeit dazu, die öffentliche und die private Bürokratie als wesensähnlich zu betrachten:

Die Gesamtheit der bei einer Behörde(2) tätigen Beamten(5) mit dem entsprechenden Sachgüter- und Aktenapparat bildet ein »Büro« (in Privatbetrieben oft »Kontor« genannt). … Man kann ganz ebenso als die Besonderheit des modernen Unternehmers hinstellen: daß er sich als »ersten Beamten(6)« seines Betriebes geriere, wie der Beherrscher eines spezifisch bürokratischen modernen Staates sich als dessen »ersten Diener« bezeichnete. Die Vorstellung, staatliche Bürotätigkeit(11) und privatwirtschaftliche(1) Kontortätigkeit seien etwas innerlich Wesensverschiedenes, ist kontinentaleuropäisch (2)und Amerikanern(11) im Gegensatz dazu gänzlich fremd.13

Anders gesagt, anstatt sich darüber zu beklagen, dass der Staat(10) wie ein Unternehmen(2) geführt wurde, gingen die Amerikaner(12) um die Jahrhundertwende schlicht davon aus, dass man den Staat und die Unternehmen(3) – die großen Unternehmen(4) jedenfalls – auf dieselbe Art und Weise führen müsse.

Zweifellos wurde die amerikanische(13) Wirtschaft(3) im 19. Jahrhundert die meiste Zeit überwiegend von kleinen Familienunternehmen(1) und der Hochfinanz(1) bestimmt – ganz ähnlich wie in Großbritannien(1) zu dieser Zeit. Doch der Aufstieg Amerikas(14) zur Weltmacht ab dem Ende des Jahrhunderts ging einher mit der Herausbildung einer spezifisch amerikanischen(15) Unternehmensform: des korporativen(2) – oder bürokratischen – Kapitalismus(3).

Giovanni Arrighi(1) hat darauf hingewiesen, dass sich zur selben Zeit in Deutschland(3) ein ähnliches korporatives Modell entwickelte und dass die beiden Länder – die USA und Deutschland(4) – in der ersten Hälfte des neuen Jahrhunderts darum rangen, wer das im Niedergang begriffene britische Empire(2) beerben und seine eigene Vorstellung von einer globalen wirtschaftlichen und politischen(18) Ordnung durchsetzen würde. Es ist allgemein bekannt, wer diese Auseinandersetzung gewonnen hat.

Arrighi(2) erwähnt einen weiteren interessanten Aspekt. Anders als das britische Empire(3), das seine Freihandels(1)-Rhetorik ernst meinte und durch die berühmte Anti-Corn Law Bill(1) von 1846 seine eigenen Schutzzölle(1) abschaffte, waren weder Deutschland(5) noch die USA besonders am Freihandel(2) interessiert. Vor allem die Amerikaner(18) beschäftigten sich viel stärker damit, internationale Verwaltungsstrukturen(1) aufzubauen. Die erste Maßnahme, welche die USA ergriffen, nachdem sie nach dem Zweiten Weltkrieg offiziell von Großbritannien(4) die Zügel übernommen hatten, war die Schaffung der ersten tatsächlich weltumspannenden bürokratischen Institutionen durch die Gründung der Vereinten Nationen(1) und der Institutionen von Bretton Woods(1) – des Internationalen Währungsfonds(1), der Weltbank(1) und des GATT, aus dem später die Welthandelsorganisation (WTO)(1) wurde. Das britische Empire(5) hatte niemals derartige Bemühungen angestellt. Es hatte entweder andere Länder erobert oder mit ihnen Handel(1) getrieben. Die Amerikaner(20) dagegen versuchten, alles und jeden ihrer Verwaltung(2) zu unterwerfen.

Briten(6), das kann ich aus eigener Beobachtung sagen, sind ziemlich stolz darauf, »bürokratisch«(12) nicht besonders begabt zu sein. Amerikaner(21) hingegen sind etwas verlegen darüber, dass sie sehr gute Bürokraten sind.14 Denn das passt nicht in das Selbstbild der Amerikaner(22). Sie halten sich für eigenverantwortliche und selbständige Individualisten. (Genau aus diesem Grund ist die rechtspopulistische(2) Verteufelung der Bürokratie in Amerika(23) so erfolgreich.) Unbestreitbar sind die USA nach wie vor – und seit mehr als einem Jahrhundert – eine zutiefst bürokratische Gesellschaft. Dies wird deshalb gern und oft übersehen, weil die meisten bürokratischen Verhaltensweisen und Einstellungen der Amerikaner(25) – von der Kleidung über die Sprache bis zur Gestaltung der Formulare(6) und der Büros – aus dem privaten Sektor stammen.

Als Romanautoren und Soziologen den »Organizational Man« oder den »Mann im grauen Flanellanzug« beschrieben, das seelenlose, konformistische US-Äquivalent zum sowjetischen(1) Apparatschik, sprachen sie nicht von Beamten(7) in der Denkmalschutzbehörde der Stadt New York(1) oder der Verwaltung(3) der Sozialversicherung(1) – sie beschrieben das mittlere Management von Unternehmen(5). Gewiss, zu dieser Zeit wurden die Bürokraten in den Unternehmen(6) noch nicht als Bürokraten bezeichnet. Doch sie legten bereits den Standard fest, dem administrative Funktionsträger(13) zu genügen hatten.

Die Bezeichnung »Bürokrat« als Synonym für »Beamter« zu verstehen, geht zurück in die Zeit des New Deals(1) in den Dreißigerjahren, in der auch bürokratische Strukturen und Verfahrensabläufe erstmals im Alltagsleben der Menschen sichtbar wurden. Von Anfang an arbeiteten die Beamten(8), die Roosevelts(1) Politik(19) des New Deal(2) umsetzen sollten, eng mit den Entscheidungsträgern in Unternehmen(7) wie Ford(1), Coca Cola(1) oder Procter & Gamble(1) zusammen und übernahmen vieles von deren Auftreten und deren Einstellungen. Als die USA in den Vierzigerjahren auf die Kriegswirtschaft(1) umstellten, folgte auch die riesige Bürokratie(14) des US-amerikanischen Militärs(4) diesem Vorbild. Dadurch wurde die Bezeichnung »Bürokrat« fast ausschließlich mit den Beamten(9) verbunden. Obgleich sie auch den ganzen Tag nur am Schreibtisch sitzen, Formulare(7) ausfüllen oder Berichte schreiben, werden Firmenmanager(1) der mittleren Ebene oder Offiziere(5) praktisch nie als Bürokraten betrachtet. Die Polizei(3) oder die Mitarbeiter der NSA übrigens auch nicht.

Schon seit langem verschwimmen die Grenzen zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich in den USA. Das amerikanische(30) Militär(6) beispielsweise ist berühmt für seine Drehtür-Effekte(1): Ranghohe Offiziere(7) aus dem Beschaffungswesen landen später regelmäßig im Vorstand von Unternehmen(8), die Militäraufträge(8) erhalten. Die Notwendigkeit, bestimmte heimische Industriezweige(2) für militärische(9) Zwecke einzusetzen und weitere Branchen aufzubauen, hat es der US-Regierung(3) ermöglicht, gewissermaßen eine Industrieplanung(3) nach sowjetischem(2) Stil zu betreiben, ohne dies jemals zugeben zu müssen. Nahezu jede wirtschaftliche Aktivität, von der Erhaltung einer bestimmten Zahl von Stahlfabriken bis zu den anfänglichen Forschungen zur Entwicklung des Internets,(1) kann mit der Aufrechterhaltung der Verteidigungsbereitschaft gerechtfertigt werden. Weil diese Planung durch ein Bündnis zwischen militärischen(10) und unternehmerischen Bürokraten umgesetzt wird, nimmt sie aber niemand als bürokratisch wahr.

Mit dem Aufstieg des Finanzsektors hat diese Entwicklung jedoch ein qualitativ neues Niveau erreicht – nun lässt sich praktisch nicht mehr auseinanderhalten, was öffentlich und was privat ist. Das hat nichts zu tun mit der häufig erwähnten Übertragung einstmaliger staatlicher Aufgaben(15) an private Unternehmungen. Es hängt in erster Linie damit zusammen, wie die Privatunternehmen(1) heute ihre Abläufe organisieren.

Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. Unlängst musste ich mich mehrere Stunden lang telefonisch mit der Bank(2) of America(1) auseinandersetzen, um aus dem Ausland eine Kontoauskunft zu erhalten. Diese Angelegenheit umfasste Gespräche mit vier verschiedenen Bankmitarbeitern, Weiterleitungen auf zwei nicht existierende Telefonnummern, drei ausführliche Erläuterungen komplizierter und anscheinend willkürlicher(1) Regelungen sowie zwei gescheiterte Versuche, veraltete Anschrift- und Telefondaten zu aktualisieren, die auf verschiedenen Computersystemen gespeichert waren. Mit anderen Worten, ich wurde in typisch bürokratischer Manier von einer Stelle zur anderen weitergeschickt. (Und trotzdem gelang es mir nicht, als alles vorbei war, auf mein Konto zuzugreifen.)

Ein verantwortlicher Bankmanager(3) würde – daran habe ich nicht den geringsten Zweifel –, sofern ich überhaupt zu ihm vordringen könnte, sofort behaupten, die Bank(4) treffe keine Schuld und dies alles sei nur die Folge eines undurchsichtigen Gewirrs staatlicher Vorschriften(3). Untersucht man, wie diese Regelungen zustande gekommen sind, würde sich zeigen – darin bin ich mir ebenso sicher –, dass sie von Abgeordneten in Bankausschüssen(5), Lobbyisten(1) und von der Bank(6) beauftragten Anwälten(1) zusammen erarbeitet wurden und dieses Verfahren durch großzügige Spenden zugunsten der Wahlkampfkassen dieser Parlamentarier(1) geölt wurde. Gleiches gilt für viele andere Aktivitäten, von Bonitätsbeurteilungen, der Festsetzung von Versicherungsprämien(1) und der Behandlung von Hypothekenanträgen(7) bis zum Kauf eines Flugtickes, dem Erwerb eines Tauchscheins oder dem Versuch, für das eigene Arbeitszimmer in einer Privatuniversität einen ergonomischen Bürostuhl zu beantragen.

Der Großteil des Papierkrams(8), den wir zu erledigen haben, bewegt sich in dieser Zwischenzone. Scheinbar ist er privat, tatsächlich aber vollkommen staatlich festgelegt. Der Staat(11) setzt den rechtlichen Rahmen, sichert die Vorschriften(4) durch seine Gerichte(1) und alle ausgeklügelten Rechtsdurchsetzungsmechanismen ab, die damit zusammenhängen. Dennoch arbeitet er eng mit privaten Konzernen(1) zusammen, um eine bestimmte private Profitrate(1) sicherzustellen.

In solchen Fällen ist die Sprache, die wir verwenden – und die der rechten Kritik(9) entlehnt ist – völlig unangemessen. Sie sagt uns nichts darüber, was sich tatsächlich ereignet.15

Nehmen wir etwa den Begriff »Deregulierung(1)«. Im gegenwärtigen politischen(20) Diskurs wird »Deregulierung(2)« – ähnlich wie »Reform(1)« – ausnahmslos als etwas Vorteilhaftes betrachtet. Deregulierung(3) bedeutet weniger bürokratische Einmischung und weniger Regeln(3) und Vorschriften(5), die Handel(2) und Innovation(1) behindern. Durch diese Deutung des Begriffes geraten all jene in eine schwierige Lage, die auf der linken(21) Seite des politischen(22) Spektrums stehen. Weil sie Deregulierung(4) ablehnen – selbst wenn sie darauf hinweisen, dass ein Übermaß dieser Art von »Deregulierung(5)« zu der Bankenkrise(8) von 2008 führte – fordern sie scheinbar nach noch mehr Regeln(4) und Vorschriften(6). Also würden schließlich noch mehr Männer in grauen Anzügen auftauchen, die der Freiheit(2) und der Innovation(2) im Weg stehen und den Menschen vorschreiben, was sie tun müssen.

Aber diese Argumentation beruht auf falschen Grundannahmen. Kehren wir zu den Banken(9) zurück. Es gibt keine »unregulierte« Bank(10). Und es kann auch keine geben. Banken(11) sind Institutionen, denen die Regierung(4) die Macht der Geldschöpfung(1) übertragen hat – oder, um es technisch präziser auszudrücken, das Recht, Schuldscheine(1) herauszugeben. Diese Schuldscheine(2) erkennt die Regierung(5) als legales Zahlungsmittel(4) an und akzeptiert sie daher, um Steuern(2) zu bezahlen und andere Verbindlichkeiten auf ihrem nationalen Territorium zu begleichen. Offenkundig erlaubt die Regierung(6) niemandem – am allerwenigsten einem gewinnorientierten Unternehmen(9) –, beliebig viel von diesem Zahlungsmittel(5) zu erzeugen. Das wäre verrückt. Die Befugnis, Geld zu schöpfen, kann von der Regierung(7) definitionsgemäß nur unter präzis beschriebenen (sprich regulierten) Bedingungen vergeben werden. Und genau damit haben wir es zu tun: Die Regierung(8) reguliert alles, von den Mindestreserven einer Bank(12) bis zu ihren Geschäftszeiten; sie legt fest, welche Zinssätze(1), Gebühren(1) und Überziehungszinsen(1) sie verlangen darf, welche Sicherheitsvorkehrungen sie treffen kann oder muss, wie sie ihre Geschäftsbücher(1) zu führen hat, wann sie ihre Kunden über ihre Rechte und Pflichten informieren muss und vieles mehr.

Was ist also gemeint, wenn von »Deregulierung(6)« gesprochen wird? Im herkömmlichen Wortgebrauch bezeichnet der Begriff eine »Veränderung der regulatorischen Struktur in einer Weise, die mir zusagt«. In der Praxis kann sich dies auf nahezu alles beziehen. Im Falle der Fluggesellschaften(1) und der Telekommunikationsunternehmen(1) der Siebzigerjahre bedeutete es die Umwandlung eines Regulierungssystems(1), das wenige große Firmen begünstigte, in ein System, das den sorgfältig überwachten Wettbewerb(1) zwischen mehreren mittelgroßen Unternehmen(10) förderte.

In Bezug auf das Bankwesen(13) bedeutete »Deregulierung(7)« üblicherweise genau das Gegenteil: den Übergang von einer geregelten Konkurrenz mittelgroßer Institute zu einem System, das einer Handvoll großer Finanzkonglomerate eine marktbeherrschende Stellung einräumt. Deshalb ist dieser Begriff »Deregulierung(8)« so praktisch. Bezeichnet man neue regulatorische Maßnahmen einfach als »Deregulierung(9)«, kann man sie in der öffentlichen Wahrnehmung als einen Schritt präsentieren, um die Bürokratie(16) zu vermindern und individuelle Initiative zu fördern, auch wenn fünfmal so viele Formulare(9) ausgefüllt, Berichte geschrieben und Vorschriften(7) von Anwälten(2) ausgelegt werden müssen, und fünfmal so viele Behördenmitarbeiter eingestellt werden, die allein damit befasst sind, umfangreiche Begründungen dafür zu liefern, warum man bestimmte Dinge nicht machen darf.16

Für diesen Prozess – das allmähliche Verschmelzen von öffentlicher und privater Macht zu einer Einheit, die überfrachtet ist mit Regeln(5) und Vorschriften(8), deren letztlicher Zweck darin besteht, Wohlstand in Form von Gewinnen(1) abzuschöpfen –, gibt es noch keinen Namen. Schon allein das ist bezeichnend. Diese Entwicklungen können sich vor allem deshalb vollziehen, weil wir noch über keine begrifflichen Mittel verfügen, um über sie zu sprechen. Ihre Auswirkungen lassen sich jedoch in allen Lebensbereichen beobachten und füllen unsere Tage mit Papierkram(10) aus. Die Formulare(11) werden immer länger und komplizierter. Einfache Dokumente wie Rechnungen(1) oder Fahrkarten(1) oder Mitgliedsausweise für Sportvereine oder Buchclubs sind mit seitenlangen kleingedruckten rechtlichen Erläuterungen(1) versehen.

Ich möchte eine Bezeichnung vorschlagen. Ich halte es für sinnvoll, diesen Prozess die »totale Bürokratisierung(2)« zu nennen. Zunächst wollte ich vom Zeitalter der »räuberischen Bürokratisierung«(3) sprechen, aber das ist ohnehin die grundlegende Natur jenes Ungetüms, das ich hier darstellen möchte. Dieses Ungetüm regte sich erstmals, so könnte man sagen, als die öffentliche Diskussion über Bürokratie(17) Ende der Siebzigerjahre abzuklingen begann, und es wuchs in den Achtzigerjahren. Doch erst in den Neunzigerjahren gewann es richtig an Kraft und Stärke.

In einem früheren Buch habe ich den Gedanken geäußert, dass der grundlegende historische Bruch, der zu unserem gegenwärtigen Wirtschaftsregime(4) führte, im Jahr 1971 erfolgte, als der US-Dollar vom Goldstandard(1) abgekoppelt wurde. Dies ebnete den Weg zunächst zur Finanzialisierung(1) des Kapitalismus(4) und schließlich zu wesentlich tiefergreifenden langfristigen Umwälzungen, die nach meiner Vermutung das Ende des Kapitalismus(5) insgesamt befördern werden. Davon bin ich nach wie vor überzeugt. Doch hier geht es um wesentlich kurzfristigere Auswirkungen. Was bedeutete die Finanzialisierung(2) für die stark bürokratisierte Gesellschaft des Amerikas(33) der Nachkriegszeit?17

Man kann diese Entwicklung meiner Ansicht nach am besten als eine Verschiebung der sozialen Loyalität des Managements(1) der Großkonzerne(1) bezeichnen: Während sich die Manager(2) früher de facto in einem fragilen Bündnis mit ihren Arbeitern(2) sahen, fühlten sie sich nun in erster Linie mit den Investoren(1) verbunden.

John Kenneth Galbraith(1) hat schon vor Jahrzehnten auf diesen Zusammenhang hingewiesen: Wenn man eine Organisation aufbaut, deren Aufgabe darin besteht, Parfüms, Milchprodukte oder Flugzeugrümpfe herzustellen, dann werden die Menschen, die mit dieser Tätigkeit befasst sind, danach streben, noch bessere Parfüms, Milchprodukte oder Flugzeugrümpfe herzustellen, und nicht vorrangig daran denken, wie sie die Gewinne der Anteilseigner(1) steigern können. Da zudem während des größten Teils des 20. Jahrhunderts ein Job in einer großen bürokratischen Megafirma(1) eine lebenslange Beschäftigungsgarantie darstellte, neigten die Beteiligten – die Manager(3) und die Arbeiter(3) gleichermaßen – zu der Einstellung, dass sie in dieser Hinsicht ein gemeinsames Interesse einte, das jenem der Eigentümer und der Investoren(2) entgegenstehen konnte.

Diese Art von Solidarität über Klassengrenzen hinweg hatte auch einen Namen, man bezeichnete sie als »Korporatismus(1)«. Man sollte dieses Verhältnis aber nicht romantisch verklären. Es bildete unter anderem die philosophische Grundlage für den Faschismus(2). Der Faschismus(3) habe einfach, so könnte man behaupten, den Gedanken übernommen, Arbeiter(4) und Manager(4) hätten gemeinsame Interessen, Organisationen wie Unternehmen(11) oder soziale Gemeinschaften(1) bildeten ein organisches Ganzes, Finanziers(3) verkörperten eine fremde, parasitäre Kraft und der Faschismus(4) hätte diesen Gedanken übersteigert und zugleich mörderisch auf die Spitze getrieben. Selbst in ihren milderen sozialdemokratischen(1) Spielarten in Europa(3) und Amerika(34) verband sich eine entsprechende Politik(23) häufig mit einer Art von Chauvinismus.(1)18 Aber auch in diesen Varianten wurde die Gruppe der Investoren(3) eigentlich als Außenseiter betrachtet, gegen die sich die Arbeiter(5) und die Manager(5) in gewissem Maß in einer einheitlichen Front zusammenschließen konnten.

Für die Radikalen der Sechzigerjahre, die häufig erlebten, wie Antikriegsdemonstrationen von nationalistischen Transport- oder Bauarbeitern(6) angegriffen wurden, waren die reaktionären Implikationen des Korporatismus(2) offenkundig. Die Anzugträger und die gutbezahlten Facharbeiter des Industrieproletariats, die »Archie Bunkers(1)«, standen eindeutig auf derselben Seite. Es überraschte daher nicht, dass sich die linke(24) Bürokratiekritik(10) stärker auf die Gemeinsamkeiten zwischen der Sozialdemokratie(2) und dem Faschismus(5) konzentrierte, als ihre Verfechter zuzugeben bereit waren. Diese Kritik ist heute vollkommen irrelevant(11).19

Ab den Siebzigerjahren bildete sich die heutige Situation heraus, als eine strategische Umorientierung der oberen Ränge der amerikanischen(35) Unternehmensbürokratie(18) stattfand – sie wandten sich von den Arbeitern(7) ab, richteten sich auf die Anteilseigner(2) und schließlich auf das Finanzwesen(4) insgesamt aus. Firmenübernahmen(1) und -zusammenschlüsse(1), feindliche Übernahmen(1), Ramschanleihen(1) und Unternehmenszerschlagungen(1), die unter Reagan(2) und Thatcher(1) aufkamen und in den Aufstieg der Privat Equity Firmen(1) mündeten, waren nur einige besonders dramatische frühe Mechanismen, die diese Loyalitätsverlagerung widerspiegeln. Genau genommen war es eine zweifache Bewegung: das Konzernmanagement wurde stärker finanzialisiert, zugleich aber wurde der Finanzsektor(5) korporatisiert oder konzernartig durchformt, und Investmentbanken, Hedgefonds und ähnliche Einrichtungen verdrängten die individuellen Investoren(4). Investoren(5)- und Exekutivseite ließen sich praktisch nicht mehr unterscheiden. (Hier drängt sich der Begriff »Finanzmanagement(6)« auf, der sich gleichermaßen darauf bezieht, wie die ranghöchsten Vertreter einer Unternehmensbürokratie(19) ihre Firma leiten, wie auch darauf, wie Investoren(6) ihre Portfolios managen.)

Bald schon vergötterten die Medien heldenhafte Konzernchefs, deren Erfolg man hauptsächlich an der Zahl der Mitarbeiter maß, die sie entließen. Ab den Neunzigerjahren gehörte lebenslange Beschäftigung in derselben Firma für Angestellte(1) der Vergangenheit an. Wollten Unternehmen(12) sich die Loyalität ihrer Mitarbeiter sichern, griffen sie immer häufiger zu dem Mittel, sie mit Aktienoptionen(1) zu bezahlen.20

Zum neuen Glaubensbekenntnis wurde der Blick auf die Welt durch die Augen eines Investors(7) – daher stellten die Zeitungen in den Achtzigerjahren ihre Gewerkschaftsberichterstattung ein, während in den TV-Nachrichten am unteren Bildschirmrand Laufbänder mit den aktuellen Börsenkursen auftauchten. Jedermann könne, so wurde allgemein propagiert, durch die Beteiligung an privaten Pensionsfonds oder an Investmentfonds sich ein Stückchen Kapitalismus(6) sichern. Den magischen Kreis erweiterte man nur, um auch die besser bezahlten Fachkräfte und die Unternehmensbürokraten(20) einbeziehen zu können.

Gerade diese Erweiterung war äußerst wichtig. Keine politische Revolution(1) gelingt ohne Bündnispartner. Von entscheidender Bedeutung ist es, zumindest einen Teil oder besser noch den Großteil der Mittelschicht davon zu überzeugen, dass auch ihre Position vom finanzgetriebenen Kapitalismus(7) beeinflusst wird. Schließlich wurden die liberaleren Teile dieser aus Fachkräften und Managern bestehenden Elite zur sozialen Basis dessen, was man nun als »linke(25)« Parteien bezeichnete.

Die eigentlichen Arbeiterorganisationen wie die Gewerkschaften(1) schickte man in die Wüste. Und deshalb üben sich etwa die Führer der Demokratischen Partei in den USA und von New Labour in Großbritannien(7) regelmäßig in öffentlichen Distanzierungsritualen, in denen sie sich von den Gewerkschaften(2) lossagen, die historisch ihre stärksten Unterstützer darstellten. Dabei handelte es sich um Personen, die ohnehin meist in stark bürokratisierten Organisationen arbeiteten, wie etwa in Schulen, Krankenhäusern oder Rechtsabteilungen von Unternehmen(13). Die tatsächliche Arbeiterschaft(8), die solchen Charakteren eher mit Ablehnung begegnete, zog sich entweder vollständig aus der Politik(26) zurück oder begnügte sich damit, bei Wahlen für rechte Protestparteien zu stimmen.21

Das war nicht lediglich eine politische Neuausrichtung. Es handelte sich vielmehr um eine kulturelle Transformation. Und sie schuf die Voraussetzungen für jenen Prozess, in dessen Verlauf die bürokratischen Techniken und Verfahren (Leistungsbewertungen(1), Fokusgruppen(1), Zeitverwendungserhebung(1) etc.), die in der Finanzwirtschaft(7) und in Unternehmen(14) entwickelt wurden, auch in anderen Bereichen der Gesellschaft Einzug hielten – in der Bildung(1), der Wissenschaft(2), der Verwaltung(4) – und schließlich nahezu alle Aspekte des Alltagslebens manipulierten. Dieser Prozess lässt sich wahrscheinlich am besten anhand seiner Sprache zurückverfolgen. Bestimmte Ausdrücke tauchen zuerst in diesen Kreisen auf, eine Sprache voll mit wohlklingenden, leeren Begriffen wie Vision, Qualität, Anteilseigner(3), Führung, Exzellenz, Innovation(3), strategische Ziele oder beste Praktiken. (Vieles davon geht zurück auf »Selbstoptimierungs(1)«-Ansätze(1) wie Lifespring, Mind Dynamics und EST, die in den Siebzigerjahren auf Vorstandsetagen sehr populär waren, doch bald verselbständigte sich diese Sprache.)

Stellen Sie sich vor, jemand markiere auf einer Karte einer größeren Stadt jeden Ort, an dem Dokumente mit mindestens drei dieser Begriffe verwendet werden, mit einem blauen Punkt. Weiter stellen wir uns vor, wir könnten die Veränderungen verfolgen, die sich im Lauf der Zeit ergeben. Diese neue bürokratische Unternehmenskultur breitet sich aus wie blaue Flecken in einer Petrischale, beginnend in den Finanzbereichen, dann weiter zu den Vorstandsetagen, den Behörden(3) und den Universitäten(1), bis sie schließlich alle Orte erfasst, an denen eine bestimmte Zahl von Menschen zusammenkommt, um über die Verwendung von Ressourcen jeglicher Art zu diskutieren.

Trotz aller Verherrlichung der Märkte und der Initiative des Einzelnen bringt dieses Bündnis aus Staat(12) und Finanzwirtschaft(8) häufig Ergebnisse hervor, die erschreckend den schlimmsten (21)Bürokratie-Exzessen in der ehemaligen Sowjetunion(3) oder in früheren rückständigen Kolonialgebieten im globalen Süden ähneln. So gibt es, um nur ein Beispiel zu nennen, eine umfangreiche anthropologische Literatur(1) über den Kult, der sich in der Kolonialwelt um Urkunden(1), Bescheinigungen(1) und Diplome(1) entfaltet hat. In Bangladesch(1), Trinidad(1) oder Kamerun(1), die zwischen dem lähmenden Erbe der Kolonialherrschaft(1) und ihren eigenen magischen Traditionen schwanken, sollen angeblich amtliche Papiere als eine Art materieller Fetisch betrachtet werden – gleich magischen Gegenständen, die aus sich heraus Macht übertragen, vollkommen getrennt von dem tatsächlichen Wissen, der Erfahrung oder der Ausbildung, die sie repräsentieren. Tatsächlich hat aber gerade in vermeintlich »fortgeschrittenen« Gesellschaften wie den USA, GUroßbritannien(8) oder Kanada(1) seit den Achtzigerjahren das Vertrauen in amtliche Dokumente(1) enorm an Bedeutung zugenommen. Die Anthropologin(1) Sarah Kendzior(1) führte in diesem Zusammenhang aus: