Sybil Volks wurde 1965 in Rheine geboren und lebt als freie Lektorin und Autorin in Berlin. Sie veröffentlichte bereits zahlreiche Kurzgeschichten sowie Lyrik in Zeitschriften und Anthologien und erhielt mehrere Preise und Stipendien.

Originalausgabe

2. Auflage 2009

© 2009 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520014

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Sybil Volks

Café Größenwahn

Kappes zweiter Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

Widmung

IM STROM

UNTER WASSER

AUFS EIS

NACHWORT

Es geschah in Berlin …

«Café Größenwahn» ist Paul und Elisabeth Trümper gewidmet, Jahrgang 1906 und 1911 - in der Hoffnung, dass es auch im Himmel eine gut ausgestattete Krimibibliothek gibt.

Mit herzlichstem Dank für Unterstützung und Inspiration an Anne und Lisa.

Warum es einen so ins Café zieht! Eine Leiche wird jeden Abend dort in die oberen Räume geführt; sie kann nicht ruhen.

Else Lasker-Schüler, Mein Herz, 1912

UNTER WASSER

GELDBOTEN. EINAKTER, tippt Eugen in die Schreibmaschine.

Personen:

Geldbriefträger Kramer, 55 Jahre
Zimmerwirtin Eckart, 63 Jahre
Kunstmaler Heinrich, 21 Jahre
Kriminalkommissar Tietz, 43 Jahre
Zeit: März 1912.

Ort: Berlin.

Erster Aufzug: Alles ist dunkel. Atelier und Schlafkammer des Malers. ..

Das neue Stück wird wahrhaftig sein, denn er selbst wird jede einzelne Szene erproben. Vielleicht hatte dieser Ritter ja recht, dass er von der Berliner Boheme nicht genug verstand, um ein Stück über sie zu schreiben. Aber das Drama, das sich nun in seinem Kopf entrollt, wird so fassbar und wirklich sein wie die blutunterlaufene Beule an seiner Stirn. Mit dem Kopf ist er in der Nacht gegen das geschlossene Tor gelaufen, als er durch die Flucht der Hinterhöfe rannte, erfüllt von einem Gedanken: Raus hier!

Der Erhängte im Hofdurchgang hat ihm das Leben gerettet. Jeglicher Gedanke an Selbstmord ist seitdem verschwunden. Er, Eugen Hofmann, wird leben. Er wird sich die nötigen Mittel verschaffen. Und er weiß jetzt auch wie. Er wird zum Hauptpostamt gehen und sich unter den Geldbriefträgern seinen Geldbriefträger auswählen. Ihn beobachten und verfolgen, bis er jeden seiner Schritte kennt. Wenn der Tag gekommen ist, wird er ihn in einen Hinterhalt locken. Er wird ihn ausrauben und unerkannt mit der Beute entkommen. Und von da ab ein freier Mann sein. Alles steht glasklar vor ihm.

So hellwach und ruhig zugleich wie an diesem Vormittag hat Eugen sich seit Ewigkeiten nicht gefühlt. Nach jener Nacht in den Höfen muss er mehrere Tage und Nächte im Fieber gelegen haben. Immer wieder war da dieser Traum. Darin war er durch die Höfe abwärts gegangen, erst auf abschüssigem nassem Pflaster, dann Stufe um Stufe. Die Luft war wie schwarze Tinte, die in Kehle und Lungen drang, wenn man atmete. Mit jedem Schritt hinab war es kälter geworden. Und doch ging er, ein ums andere Mal, Stufe für Stufe hinab bis ans Ende. Bis zu jenem Körper, der am Strick schaukelte, als habe noch vor einem Augenblick Leben in ihm gezuckt.

Dann kam der Schrei, von dem er erwachte. Es war stockdunkel im Zimmer, ein anderes Mal dämmrig, dann hell. Mit allen Kräften hat er sich gewehrt, wieder in Schlaf zu fallen. Hat sich aufgesetzt, obwohl es ihn schwindelte, und bis hundert zu zählen versucht. Sich aus dem Bett geschleppt, seine Sachen aus den Laden auf den Boden gekippt und wieder einsortiert. Vieles war liegengeblieben, manchmal auch er selbst. Beim nächsten Schrei war er auf dem Holzboden aufgewacht. Er hat die Augen geöffnet, auf die Dielen gestarrt. Plötzlich sah er ihn vor sich, riesengroß, den Absatz des Intendanten, der auf seinem Manuskript herumtrampelt. Vor seinen Augen, während er dort lag, am Boden, bohrte sich der Absatz in das Papier. Er streckte die Hand aus, um das Geschriebene zu schützen, und fühlte einen bohrenden Schmerz.

Langsam kommt die Erinnerung an diese Stunden zurück, in Stücken, deren Ränder nicht immer zusammenpassen. Jetzt fällt ein mattgelber Widerschein der Morgensonne auf die Wand des gegenüberliegenden Hauses. Ein Stuhl ist umgeworfen, das Bett verschwitzt und zerwühlt. Papiere liegen über den Tisch verstreut.

Doch in ihm ist es hell und klar wie nach einem Sturm.

Mehrere Geldbriefträger in Uniform kommen vormittags aus dem Eingang des Hauptpostamts Spandauer Straße. Eugen erkennt ein paar von ihnen wieder, denen er bereits in den vergangenen Tagen gefolgt ist. Noch hat er sich für keinen von ihnen entschieden. Heute wird er seine Wahl treffen!

Er verlässt seinen Beobachtungsposten gegenüber dem Postamt und folgt zwei ihm noch unbekannten Geldboten, die das erste Stück gemeinsam gehen und sich unterhalten. An der nächsten Kreuzung trennen sich ihre Wege. Eugen muss sich entscheiden, welchem der Boten er weiter in unauffälligem Abstand nachgeht. Der eine ist untersetzt und kräftig, der andere ein eher schmaler Bursche, dessen rote Haare im Nacken unter der Botenmütze hervorleuchten. Ja, das ist sein Mann, dieser Rothaarige. Auch beim Roulette hat er, wenn auf Farbe, immer auf Rot gesetzt. Viel Glück hat es ihm allerdings nicht gebracht. Soll er sich schnell noch umentscheiden? Wenn der andere schwarze Haare hat. .. Doch der zweite Bote ist bereits um die nächste Straßenecke verschwunden. Noch einmal also auf Rouge.

Der Bestellgang des Geldboten beginnt in der Neuen Friedrichstraße Nr. 5 in einem Geschäftshaus mit Läden in mehreren Stockwerken. Der Bote betritt den Juwelierladen im Erdgeschoss, Inhaber ist laut Inschrift über dem Schaufenster Paul Weiss. Eugen folgt dem Boten nicht in den Laden, sondern nimmt das schmale, vierstöckige Haus in Augenschein. Im ersten Stock betreibt Uhrmachermeister Isaak Weiss, der Bruder des Juweliers, eine Uhrmacherwerkstatt. In der zweiten und dritten Etage befinden sich die Büroräume der Gebrüder Weiss.

Dieses schmucke Haus, denkt Eugen, wird bald der Schauplatz eines Verbrechens. Denn er muss den Geldboten möglichst am Beginn seiner Tour ausrauben, wenn er noch den Großteil der Beute bei sich hat.

Als der Bote aus dem Geschäft wieder auf die Straße tritt, will Eugen sich an seine Fersen heften. Da fesselt ein Aushang im Hauseingang seine Aufmerksamkeit. Er kann dem Boten auch morgen noch folgen. Sein Entschluss, gleich hier an der ersten Station zuzuschlagen, steht fest. Deshalb betrachtet er es als ein Zeichen des Schicksals, als er auf dem angepinnten Zettel liest: Möblierte Wohnung zu vermieten. IV. Stock. Melden bei Brinkmann in der Nr. 22, Erdgeschoss.

«Guten Tag, Frau Brinkmann.» Eugen nimmt vor der älteren Frau den Hut ab, verbeugt sich und deutet einen Handkuss an. «Heinrich Kruse. Ich komme wegen der Wohnung.»

Die Vermieterin in dunklem Rock und heller Bluse, mit um den Kopf gelegten grauen Zöpfen, lächelt geschmeichelt. Ein ordentlich gekleideter und gutaussehender junger Mann. Und so gute Manieren! Sie bittet ihn an den Esszimmertisch und bietet ihm eine Tasse Bohnenkaffee an. Eugen bedankt sich so höflich, dass sie gleich noch den selbstgebackenen Kuchen vom Küchenbüfett holt und ihm zwei dicke Stücke auf den Teller legt. Schon bald sind Frau Brinkmann und der junge Handelsvertreter Kruse in eine lebhafte Plauderei vertieft. Er ist neu in Berlin und gerade dabei, hier gemeinsam mit dem älteren Schwager die Geschäfte aufzubauen. Sie handeln mit Büromaschinen, er überreicht ihr eine Visitenkarte.

Kurz nachdem Herr Kruse gegangen ist, wischt Frau Brinkmann die Krümel des Kuchens vom Tischtuch, den der junge Mann so begeistert verputzt hat. Dann läuft sie zum Haus Nr. 5 in derselben Straße schräg gegenüber, wo sie die obere Etage vermietet. Sie nimmt den Zettel mit dem Mietinserat ab. Für sie ist die Sache so gut wie entschieden. Eine Monatsmiete im Voraus, zur Sicherheit - das war ihre einzige Bedingung. Herr Kruse hat versprochen, gleich morgen das Geld zu bringen.

Eigentlich hatte sie an ein junges Ehepaar vermieten wollen oder vielleicht zwei alleinstehende Damen. Ein unbekannter Mann - davor wurden Zimmerwirtinnen gewarnt. Aber sie wird ja nicht die Wohnung mit ihm teilen. Und er ist so ein fleißiger junger Mann, keiner von den Bummelstudenten mit Schmissen auf den Wangen, die nichts können als sich schlagen und das Geld ihrer Väter vertrinken. Und keiner von den langhaarigen Künstlern, die man jetzt manchmal in den Illustrierten sieht.

Die Ladenglocke des Leihhauses läutet, als Eugen die Tür aufdrückt. Der Klang erinnert ihn wie beim ersten Mal an das Geschäft von Onkel und Tante, doch er löst kein Gefühl mehr in ihm aus.

«Tag.» Mürrisch wie damals sieht der Mann ihn durch seine Brillengläser an.

Eugen stellt das schwere Paket auf die Theke und wickelt die Decke von der Schreibmaschine. Dann legt er die Quittung über den Kaufpreis dazu. «Fünfzig Prozent», sagt er, noch bevor der Inhaber des Leihhauses einen Vorschlag machen kann. «Oder ich bringe sie jemand anders.»

Kurz darauf steht Eugen wieder auf der Straße. Mit genügend Geld in der Tasche, um Frau Brinkmann die Miete für die Wohnung im Voraus zu zahlen. Und genügend Geld, um es per Postanweisung sich selbst zu schicken. Doch ohne Erika, seine treue Gefährtin in guten und in schlechten Zeiten. «Ich löse dich wieder aus», flüstert er, während er sich mit schnellen Schritten vom Leihhaus entfernt. «Es dauert nicht lange.»

Eugen trägt seinen schweren Lederkoffer in die neue Wohnung, in den alles hineinpasst, was er noch besitzt, Kleider, Zahnbürste, Seife, ein Stapel beschriebenes Papier. Niemals hätte er sich in seiner Situation diese Zweizimmerwohnung in der Stadtmitte geleistet, wenn sie nicht strategisch so ideal gelegen wäre. Die einzige Wohnung im Geschäftshaus, ohne neugierige Zimmerwirtin und Nachbarn, ohne potentielle Zeugen - und am Beginn des Bestellgangs seines Boten. Sein eigenes Kommen und Gehen kann er auf die Abendstunden beschränken, wenn die Geschäfte im Haus geschlossen sind. So wird er niemandem begegnen, und niemand kann sich später an ihn erinnern.

Außer Frau Brinkmann. Die Vermieterin stellt eine Gefahr dar, auf die er noch keine Antwort hat. Auch ihr wird er von nun an aus dem Weg gehen. Die Miete ist bezahlt, es gibt keinen Grund mehr, sich ihrer Geschwätzigkeit und ihrem überzuckerten Kuchen auszusetzen. Stundenlang hatte er nachher Magenschmerzen davon. Und dann die geschmacklosen Möbel, mit denen sie die Wohnung zu Tode staffiert hat, Nippes, Kissen und Deckchen. Die Tante hätte ihre Freude daran.

Er nimmt das Kruzifix von der Wand über dem Esstisch und wiegt es in den behandschuhten Händen, bevor er es in der Ecke hinter der Tür verschwinden lässt.

Mehrere Tage hat Eugen den rothaarigen Geldbriefträger beobachtet, ist ihm gefolgt, hat sich die Läden auf seinem Bestellgang angeschaut. Heute lässt der Bote auf seiner Tour das Haus Nr. 5 und die Gebrüder Weiss links liegen. Einige Häuser weiter zögert er, bleibt stehen und nimmt etwas aus seiner Geldtasche, scheint zu lesen. Dann wendet er sich abrupt um und kommt auf Eugen zu. Ohne zu zögern, reißt Eugen die nächstbeste Ladentür auf, dass die Glocke scheppert. Die Dame hinter dem Empfangstresen schaut ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an. «Sie wünschen?» Eine Verkäuferin zieht schnell den Vorhang zu, hinter dem eine Frauenstimme hervordringt. «Ach, dieses Korsett, nein wirklich - man kann kaum atmen!»

«Ich... ich... suche meine Frau», stammelt Eugen und geht wieder hinaus. Der Bote ist verschwunden, und Eugen beschließt, ihn nicht länger zu verfolgen. Die Gefahr, von ihm entdeckt zu werden, ist zu groß. Er fährt mit dem Omnibus nach Tegel und gibt auf dem Postamt mit verstellter Schrift und fingiertem Absender eine Postanweisung an den Handelsvertreter Heinrich Kruse auf. Wie steht es in seinem Stück Geldboten. Er erinnert sich des Wortlauts genau: Wenn der Tag gekommen ist, wird er ihn in einen Hinterhalt locken.

Morgen ist dieser Tag.

Eugen betrachtet sein Spiegelbild durch die Augenschlitze der Maske. Er ist zufrieden. Das Spiegelbild trägt einen weiten Nadelstreifenanzug, Lederhandschuhe, eine Melone. Eine Maske mit aufgemaltem schwarzem Schnurrbart, verwegen im Mundwinkel hängender Zigarre und diabolischem Lächeln. Durch die Augenschlitze wirken seine hellblauen Augen eisblau und kalt. Er würde sie selbst nicht als seine erkennen. Zu guter Letzt steckt er eine Pistole griffbereit in die vordere rechte Hosentasche, verdeckt vom Jackett, und macht sich auf den Weg.

Die Straßenbahn fährt bis zum Pariser Platz, von da geht Eugen zu Fuß. Er macht einen kleinen Abstecher zum Hotel Adlon, vor dem sich die Droschken und Limousinen stauen. Dann schlendert er weiter die Königgrätzer Straße am Tiergarten entlang. Sein Ziel ist das brandneu eröffnete Piccadilly am Potsdamer Platz, der Trumpf der Saison, von dem alles spricht. Eugen ist schon einige Male an diesem Amüsiertempel vorbeigelaufen, hat ihn aber bisher nicht betreten. Von der Mitte des Platzes aus betrachtet er das langgestreckte Gebäude mit den Arkaden im Erdgeschoss und den hohen, schmalen Fenstern über mehrere Stockwerke, gekrönt von einer Kuppel. Es beherbergt die Kammerlichtspiele und das größte Caféhaus der Welt mit Platz für mehr als zweitausend Gäste. Heute gehört er zu den geladenen Gästen, dank Fritz, der in einem der Orchester spielt und Freikarten für Maxi, Lotte und ihn organisiert hat. Das Piccadilly lädt zum Kostümfest. Motto: Ganovenball.

Eugen nimmt die für ihn hinterlegte Eintrittskarte in Empfang und betritt den riesigen Prunksaal im Parterre. Marmor und Mosaiken erstrahlen im Licht der vielarmigen Kronleuchter. Der Saal vibriert von Menschen und Stimmengewirr. Gentleman-Ganoven und Rinnstein-Gauner, Piratinnen und Räuberbräute, Zuhälter und Freudenmädchen, sogar ein paar mutige Kriminalbeamte und Schutzleute finden sich unter den Kostümierten. Und wer weiß, denkt Eugen, vielleicht ist unter den Gesetzeshütern sogar der eine oder andere echt? Auch die echten Ganoven der Berliner Halbwelt laden ja den Polizeipräsidenten zu ihren Bällen. Er ist jedenfalls froh, eine Maske zu tragen.

Wie in der Oper oder in einem großen Theater sind über dem weitläufigen Restaurant auf einer zweiten Ebene Balkone und Galerien eingezogen, auf denen bis sechs Uhr morgens Orchester spielen. Eugen hält unter den Musikern Ausschau nach Fritz. Ob Maxi und Lotte schon da sind? Maxi wollte nicht, dass sie einen Treffpunkt vereinbaren. Es sei doch viel spannender, meinte sie, wenn sie sich trotz Maske im Gewimmel finden mussten.

Eugen ist schon eine Weile durch die Hallen gewandert und hat die kostümierten Damen in Augenschein genommen, ohne Maxi oder Lotte zu entdecken. Um kurz vor zehn strömen die Menschen zu den Kulissen der Rheinterrasse. Hier wird stündlich ein kunstvolles Gewitter entfesselt, und zum Ganovenball bekommen die Gäste ein besonders schauerliches geboten. Mit dem ersten Donnergrollen verlöschen die elektrischen Lichter. Dann folgt ein Donnerschlag auf den nächsten, Blitze durchzucken den Saal.

Auf einmal schwappt Eugen Flüssigkeit in den Nacken. Er dreht sich um und sieht sich einem groben Kerl gegenüber, mit Schiebermütze, ausgebeulter Jacke und Hose, der noch das leere Glas in der Hand hält. Die Zigarette schief im Mund hängend, um den die Bartstoppeln sprießen, sieht der Mensch ihn herausfordernd an. Rote Locken hängen ihm unter der Mütze hervor in die Stirn. Der Bote! Der Bote, den er morgen überfallen will! Wieder erhellt ein Blitz den Raum, der Widerschein flackert über das bleiche Gesicht seines Gegenübers. Eugen sucht Halt an einem der Tische.

«Wat is, haste ’n Jespenst jesehn?», fragt eine Stimme, die ihm bekannt vorkommt. Er kennt die Stimme des Boten doch gar nicht!

Da ertönt ein glucksendes, unverkennbares Lachen – Lottes Lachen! Eugen fühlt, wie ihm die Röte ins Gesicht steigt. So eine Maske, die sollte man immer tragen, nicht nur zum Fasching.

«Woran hast du mich erkannt?», fährt er Lotte an.

«Na, wenn du nach jemand auskiekst, machste so ’n langen Hals und reckst ’n Kopp vor wie ’n Vogel.» Sie ahmt ihn nach.

So vieles, denkt Eugen, worauf man achten muss, um unerkannt zu bleiben.

Lotte schlägt ihm kräftig auf die Schulter. «Jestatten, Lügen-Lothar. Darf ick vorstellen? Meine Valobte.»

Da stakst eine Frau hinter einer Säule hervor, auf hochhackigen Schuhen, im enganliegenden, tiefdekolletierten Kleid, mit Federboa und falschen Brillanten behängt. Zwischen den grellroten Lippen steckt eine Zigarettenspitze. Nein, sie sieht heute Abend nicht wie Maximiliane Brückner aus, eher wie die Lulu von Wedekind: mörderisch schön.

Eugen als Gentleman-Ganove in Nadelstreifen zieht eine rote Stoffrosette aus der Jackentasche und überreicht sie der Halbweltdame. Die steckt sie in den Ausschnitt ihres Kleides und wirft ihm eine Kusshand zu. Eine Weile stehen die drei schweigend beisammen, während das Gewitterschauspiel ausklingt. Die Lichter im Saal gehen wieder an. Sie suchen sich einen freien Tisch, Eugen bestellt eine Runde.

Wie praktisch, dass die Maske auch einen Schlitz für den Mund hat, so dass er damit trinken kann und sie den ganzen Abend nicht ablegen muss. Auch die aufgemalte Zigarre kommt ihm gelegen, so braucht er keine teuren echten zu rauchen. Allein der Champagner hier wird ihn restlos ruinieren. Aber was soll’s, schließlich feiert er heute eine Art Junggesellenabschied, nicht wahr? Der letzte Tag meiner Unschuld, denkt Eugen und lächelt hinter der Maske. Und ausgerechnet heute ist der Ganovenball, zu dem sie schon so lange verabredet waren - als er noch gar nicht wusste, dass es dieser Abend sein würde, die Nacht vor der Tat. Er hebt das Glas und nickt Maxi und Lotte zu: «Prosit!»

«Wie heißt denn unser Ganovenboss hier?», will Maxi von Eugen wissen. «Georg geht nicht, Georg heißen die Guten.»

«Wenn die Kriminalpolizei in solchen Klischees denken würde», antwortet Eugen, «würde sie nie einen Verbrecher fangen. Es gibt blonde, blauäugige Mörder, Mörder mit rosigen Wangen. Sie heißen Sigismund, Gottlieb und sogar. ..» Hier macht er eine Pause und fügt dann mit honigsüßer Stimme hinzu «.. . Eugen.»

Maxi und Lotte lachen. «Überzeugt», sagt Maxi, «aber Sie wollen doch nicht, dass ich Sie den ganzen Abend Eugen nenne?»

«Um Gottes willen», wehrt Eugen lachend ab. Schnell fügt er hinzu: «Sie heißen heutzutage auch immer häufiger Maria und Magdalena, die Räuber und Mörder.»

«Ja», sagt Maxi, «Maria-Magdalena ist der richtige Name für ein Freudenmädchen wie mich. Und keine Abkürzungen bitte. Sie dagegen, wie ein Pistolenknall: Boss. Wo ist übrigens Ihre Waffe?» Eugen zieht die Pistole aus der Hosentasche und zielt damit auf einen der Kronleuchter. Maxi lacht, doch Lotte kneift die Augen zusammen. «Sieht verdammt echt aus. Fast wie ne Luger. Wo kriegt man denn so wat her? Darf ick mal?»

Lotte will nach der Waffe greifen, aber Eugen steckt sie schnell wieder ein. «Leider nichts zum Spielen. Die ist echt.»

Beide lachen, Maxi und Lotte. Eugen stimmt erleichtert ein.

Das Bühnenprogramm mit Kabarett und Chansons endet mit der Nummer, mit der die Reinhardt-Schauspielerin Tilla Durieux im Kabarett Die Bösen Buben.904 das Publikum überrascht hat.

Eine Gaunerin und zwei Gauner in geduckter Haltung, die Hände tief in den Taschen vergraben, singen in Leierkasten-Manier: «Wir haben neulich eingebrochen / und ausgeraubt ein Kassenspind / und dennoch sind wir freigesprochen, / weil wir minderwertig sind - du guter Himmelsvater, beschütz die Psychiaha-ter!»

Nach weiteren Strophen schlurfen die drei unter dem Gejohle des Publikums von der Bühne. Die Tanzkapelle spielt auf. Der letzte Schrei ist ein ganz neuer Tanz: Tango. Die wenigsten können ihn, aber alle tanzen ihn voller Hingabe. Als Gangster und Prostituierte hat man auch gleich viel weniger Skrupel, beim Tanzen in die Knie zu gehen und über das Parkett zu schleichen oder sich beim Wiegeschritt an unschicklichen Stellen viel zu nahe zu kommen.

Eugen will möglichst viele Tänze mit Maxi tanzen. Daher ist er froh, dass Lotte alias Lügen-Lothar bald mit einer Blondine poussiert und davonrauscht. Maxi alias Maria-Magdalena nennt ihn den ganzen Abend nur Boss, macht ihm schöne Augen und lacht über seine Scherze, die ihm ohne größere Anstrengung über die Lippen kommen. Auch seine Beine gleiten wie von selbst über den Tanzboden. Er fühlt sich berauscht, doch nicht vom Alkohol. Schon mehrere Gläser hat er halbvoll stehen lassen, als die anderen gerade nicht hinsahen. Beim Tanzen liegt ihm Maxi in den Armen, und ein Duft steigt ihm in die Nase, der ihn an den Abend in der Theaterloge erinnert, als er sie zum ersten Mal gesehen - nein, gerochen hat. So nah wie in diesem Moment ist er Maxis eigenem Duft noch nie gekommen.

Um vier Uhr morgens verlassen Lotte, Lottes Blondine, Maxi und Eugen das Piccadilly. Maxi flüstert Lotte ins Ohr, und diese zieht mit ihrer neuen Eroberung singend davon: «Und so jehn wa, und so jehn wa, aus dem eenen Restorang mang det andre Restorang.» Eugen schwankt beim Gehen und wäre auf einer Treppenstufe beinahe gestürzt. Maxi hat sich bei Eugen eingehakt und kichert. Arm in Arm stehen sie auf der Straße und frieren in der kalten Nachtluft. Was nun? Er muss nach Hause, er hat in etwa fünf Stunden eine wichtige Verabredung. Noch einmal schwankt er in Maxis Arm hin und her. Nur für den Fall, dass man irgendwann seine Freunde nach seinem Alibi für den nächsten Morgen fragt. Der und ein Überfall? Nie im Leben. So betrunken, wie er in der Nacht nach Hause gefahren ist - es war ja schon Morgen –, war der zu nichts anderem fähig, als seinen Rausch auszuschlafen. Das würden Lotte und Maxi unisono beschwören, ebenso Fritz, der später noch zu ihnen gestoßen ist. «Ausjerechnet Georg», würde Lotte ein wenig verächtlich sagen, «der vaträgt doch jarnischt.» - «Und wer keinen Rotwein trinken kann», würde Maxi fortfahren, «der kann auch kein Blut sehen, stimmt’s, liebe Brüder und Schwestern im hochprozentjen Jeiste?» So oder so ähnlich würden sie über ihn sprechen, falls es jemals zu einem Polizeiverhör kommen sollte. Aber es wird nicht dazu kommen. Er ist stocknüchtern und zu allem bereit. Nur nicht zu dem, was jetzt passiert.

Er winkt ein Taxi heran und sagt wie mit schwerer Zunge:

«Das erste ist für dich, Maxi. Komm gut nach Hause!»

Da schlingt Maxi ihre Arme um seinen Hals, schiebt ihm die Maske hoch und küsst ihn auf den Mund. «Wo du hinfährst, da will ich auch. .. hicks. .. hinfahren!»

Das Taxi hält, der Chauffeur öffnet die hintere Tür. Eugen schiebt Maxi auf die Rückbank und nennt dem Fahrer die Adresse der Familie Kommerzienrat Brückner. Maxi will protestieren. Da beugt er sich zu ihr und flüstert, weil ihm partout nichts Besseres einfällt: «Es geht nicht. Ich erwarte jemanden.»

Zum ersten Mal, seit Eugen eingezogen ist, läutet in der neuen Wohnung die Türglocke. Er fährt zusammen. Gleich begegnet er dem Mann, den er überfallen und berauben wird. Die wenigen Stunden bis zum Morgen ist er wach geblieben. Er trägt noch den Aufzug vom Kostümball der letzten Nacht.

Die Haustür ist nicht verschlossen, bald nähern sich Schritte im Treppenhaus dem obersten Stock. Außer ihm ist niemand im Haus. Es ist Samstag, die Geschäftsräume der jüdischen Firmen sind am Sabbat geschlossen. Eugen läuft zur Wohnungstür und öffnet sie. Er lässt das Licht in der Diele brennen. Dann bezieht er Stellung im Wohnzimmer, hinter der offenstehenden Tür. Er zieht die Ganovenmaske über das Gesicht. Seine behandschuhten Hände umklammern das Kruzifix.

«Herr Kruse? Jemand zu Hause?», ruft es von der Wohnungstür.

«Kommen Sie herein!», antwortet Eugen aus seinem Hinterhalt.

Der Bote tritt in die Diele und bleibt stehen. Noch einen Schritt, denkt Eugen hinter der Wohnzimmertür, noch einen Schritt, geh! Eine endlose Sekunde bleibt es still. Er wird sich umdrehen und durch die hinter ihm offenstehende Wohnungstür verschwinden, und mit ihm die Geldtasche, die Freiheit. .. Da hört Eugen zu seiner Überraschung seine eigene Stimme, die in munterem Tonfall ruft: «Nur hereinspaziert!»

Da! Ein Schritt und noch einer, dann taucht die Gestalt des Boten in seinem Blickfeld auf. Im selben Augenblick stürzt Eugen hinter der Tür hervor und schlägt dem Mann das Kruzifix voller Wucht auf den Kopf. Ohne einen Laut sackt er zusammen. Die Botenmütze rollt auf den Fußboden. Eugen hievt den Körper, der keinen Widerstand leistet, auf einen Stuhl. Der Körper ist schwer, der Bote ein kräftiger Mann. In einem Zweikampf hätte er gegen den keine Chance gehabt. Zum ersten Mal in seinem Leben ist Eugen einem Kruzifix dankbar.

Er holt die Stricke aus der Tasche und fesselt Hand- und Fußgelenke des Geldboten an Stuhlbeine und Armlehnen. Noch immer gibt der keinen Ton von sich. Hat er zu fest zugeschlagen? Er hält sein Ohr ganz nah ans Gesicht des zusammengesackten Mannes. Kein Atemzug! Eugen beginnt zu zittern. So steht es nicht in seiner Regieanweisung! Er hält sich mit beiden Händen am Stuhl fest, um nicht umzukippen. Für einen Moment lüftet er die Maske. Da hört er ein Röcheln, und der Bote schlägt die Augen auf. Blitzschnell zieht Eugen die Maske wieder herunter und stopft dem Mann den vorbereiteten Knebel in den Mund. Nun kann er endlich zur Wohnungstür laufen und sie schließen.

Als er zurückkommt, ist der Bote bei Bewusstsein. Er versucht, sich aus den Fesseln zu befreien. Erst jetzt wird Eugen klar, was ihn gleich in der ersten Sekunde irritiert hat, was mit dem Mann nicht stimmt: Seine Haare sind schwarz. Schwarz, nicht rot.

Er ist älter als sein ausgewählter Bote und kräftiger, ein bulliger Typ. Wahrscheinlich der Kollege, mit dem der andere zusammen losgegangen ist. Zu seiner Verteidigung trägt er einen Schlagstock bei sich, der ihm aber in seinem gefesselten Zustand nichts nützt. Aus seinem bleichen Gesicht leuchtet Wut. Noch einmal ist Eugen froh, dass er es nicht zu einem Kampf hat kommen lassen.

«Stillsitzen!», herrscht er den Boten an. Doch der ruckelt weiter in seinem Stuhl herum, ohne die Fesseln lösen zu können. Nicht umsonst hat Eugen das Fesseln und Knebeln geübt. An sich selbst, soweit das möglich ist, an einer Puppe, an einer streunenden Katze, die ihm nachts im Tiergarten in die Falle gegangen war. Die Kratzer von dem Biest hat er immer noch. Da der Bote unbeeindruckt weiter an seinen Fesseln zerrt, holt Eugen die Pistole aus der Jackentasche und richtet sie auf seine Brust. Die Pupillen des Mannes weiten sich. Augenblicklich ist Ruhe.

Vor den Augen des Geldbriefträgers schüttet Eugen den Inhalt seiner Bestelltasche auf dem Tisch aus. Hastig reißt er die Briefumschläge auf, nimmt die Geldscheine und Wertpapiere heraus und wirft die Begleitbriefe beiseite. Es sind nur wenige Wertpapiere unter den Sendungen, doch die kann er ohnehin nicht einlösen. Viel zu gefährlich. Ebenso wie die paar Schmuckstücke, die er so gut wie unbesehen in die Tasche steckt. Was er braucht, ist Bargeld. Ein Schnauben dringt aus dem Sessel. Eugen richtet noch einmal die Pistole auf den Boten. Der ist inzwischen kreideweiß geworden, seine Augäpfel treten hervor. Jetzt steht keine Wut mehr in ihnen, nur noch Angst.

Der Stapel mit Scheinen und Münzen ist nicht sehr hoch, als Eugen zum letzten Kuvert kommt. Er steckt das Geld in seine Aktentasche, zählen kann er später. Doch er weiß schon jetzt, dass die Beute weit hinter seinen Erwartungen zurückbleibt. Grinst dieser Bursche da mit seinem Knebel im Mund? Na, warte! Eugen überprüft noch einmal alle Fesseln und zieht den Knebel noch ein wenig fester. Zwar ist keine Menschenseele im Haus, die Hilferufe hören könnte, doch sicher ist sicher. Dann verstaut er die Aktentasche mit dem Geld im gepackten Koffer und trägt ihn in die Diele.

Er sieht sich ein letztes Mal in den Zimmern um, ob irgendwo ein Knopf von ihm oder sonst irgendetwas herumliegt. Nichts. Spuren braucht er nicht zu beseitigen, denn er hat keine hinterlassen. Von der ersten Minute an hat er in der Wohnung stets Handschuhe getragen, selbst im Schlaf. Und nach dem Handelsvertreter Heinrich Kruse können sie lange suchen.

«Jetzt hör mal gut zu», sagt er zum Abschied zum Boten. «Das Beste ist, du verhältst dich ganz ruhig. Heute ist Sabbat und keiner im Haus. ..» Bildet er es sich nur ein, oder treten die Augäpfel des Mannes noch weiter hervor? «Aber ich habe dafür gesorgt, dass heute Nachmittag jemand vorbeikommt. Die Vermieterin wird dich befreien. Und sie bringt sogar Kuchen mit.» Ihm entfährt ein überkippendes Lachen. Eugen schlägt die Hand vor den Mund, bis es abebbt. «Es tut mir wirklich leid», fährt er fort, und das Seltsame ist, dass es stimmt. «Aber bis dahin musst du durchhalten.»

Zur gleichen Zeit am Samstagmorgen rührt Frau Brinkmann im Haus Nr. 22 Kuchenteig und trällert einen Schlager von Walter Kollo. Es war ja so rührend, wie der Herr Kruse herumgestottert hat, als er gestern überraschend bei ihr vor der Tür stand. Zuerst dachte sie, er hätte etwas zu beichten, etwas an ihren guten Möbeln beschädigt oder Ähnliches. Aber nein, es war so: Am Sonnabend kamen doch zum ersten Mal, seit er in Berlin war, seine Eltern zu Besuch. Nun aßen die beiden alten Leutchen für ihr Leben gern Kuchen. Aber selbstgebacken musste er sein, er konnte ihnen doch nicht dieses Zeug aus der Bäckerei vorsetzen, nicht wahr? Um Gottes willen, nein, da hatte sie ihm voll und ganz recht gegeben. Und deshalb war er gekommen, um sie zu fragen, ob sie nicht vielleicht. .. also eventuell. ..Endlich hatte sie begriffen. Aber natürlich, mit dem größten Vergnügen! Welchen Kuchen aßen denn Herr und Frau Kruse am liebsten?

Und so waren sie übereingekommen, dass sie am Samstagnachmittag mit einer Torte bei ihm vor der Tür stehen würde.

Nein, Geld nahm sie dafür auf keinen Fall an. Aber bestimmt bat Herr Kruse sie herein, um sie zusammen mit den Eltern zum Kaffee einzuladen. Dann konnte sie sich endgültig vergewissern, dass ihr neuer Mieter ein treusorgender Sohn, also ein guter Mensch war und letztlich ein guter Mieter. Sollte ihre Freundin Cilly doch vor unbekannten jungen Männern warnen, so viel sie wollte! Frau Brinkmann rührt den Teig noch einmal ordentlich durch.

Da klingelt es an der Tür, und Frau Brinkmann wischt sich die Hände an der Schürze ab, bevor sie öffnet. Der Bote übergibt ihr ein Telegramm von ihrem Schwiegersohn aus Rathenow. Um Himmels willen, das Kind ist schon da! Ähnlich überstürzt, wie die kleine Franziska zur Welt gekommen ist, packt Frau Brinkmann das Nötigste für die Nacht in ihre Reisetasche, stellt den Teig kalt und macht sich auf den Weg zum Bahnhof.

Im Hotelzimmer starrt Eugen auf die Geldscheine, die er auf der seidenen Bettdecke ausgebreitet hat. In seinem Stück sind an dieser Stelle Champagner und Austern vorgesehen, doch ihm ist nicht nach Feiern zumute. Wenn dieses Häufchen Papier sein Passierschein zur Freiheit sein soll, dann wird die Freiheit von kurzer Dauer sein. Nur etwa achthundert Mark Bargeld haben sich in der Bestelltasche des Boten befunden, das ist seine ganze Beute. Verfluchter Sabbat! Daran hat er nicht gedacht, dass die Geschäfte in seinem Haus nicht die einzigen jüdischen Geschäfte in der Gegend und somit am Samstag geschlossen waren. Auch in den anderen Läden ist an diesem Tag nicht allzu viel los gewesen. Wieder hat er auf die falsche Zahl gesetzt! Und selbst der Bote, dieser verdammte schwarzhaarige Bote, ist falsch gewesen. Wäre es nur der Rote gewesen. .. wäre es der Rote gewesen. .. Eugen läuft auf dem weichen Teppich des Hotelzimmers im Kreis.

Am Sonntagnachmittag steht Frau Brinkmann wieder in Berlin in ihrer Küche. Sie wird am Abend noch einmal zu ihrer Tochter und der neugeborenen Enkelin fahren und dann einige Tage bleiben. Vorher muss sie aber noch aufräumen und ein paar notwendige Sachen packen, die sie gestern in der Eile vergessen hat. Außerdem hat sie die Torte gebacken und wird sie wie versprochen in die Nr. 5 tragen. Nun ja, nicht ganz wie versprochen, sondern einen Tag später. Aber dafür werden Herr Kruse und seine Eltern sicher Verständnis haben. Alle, die sie kennen, wissen, dass sie ihre Versprechungen eisern zu halten pflegt, selbst mit gebrochenen Armen hätte sie noch. .. Aber Geburt und Tod gehen nun mal vor. Trotzdem hat sie ein etwas schlechtes Gewissen, sie hätte doch gestern kurz hinüberlaufen und Bescheid sagen können. Sie legt noch eine extragroße kandierte Kirsche obenauf, deckt die Torte vorsichtig ab und macht sich auf den Weg.

Auch beim dritten Läuten öffnet niemand die Tür. Frau Brinkmann steht mit der Kuchenplatte unschlüssig da. Soll sie die Torte wieder mit nach Hause nehmen? Sie hat einen Schlüssel für die Wohnung, aber darf sie so einfach hinein? Nun ja, es ist immer noch ihre Wohnung, sind ihre Möbel. .. Nach denen kann sie bei dieser Gelegenheit einmal sehen. Und was soll Herr Kruse schließlich dagegen haben? Er hat ja nichts zu verbergen. Sie dreht den Schlüssel im Schloss, betritt die Diele und zieht die Wohnungstür hinter sich zu. In der Diele brennt Licht. Das muss sie ihm beim nächsten Mal sagen, dass er es bitte löschen soll, wenn er fortgeht. Vor der geschlossenen Wohnzimmertür bleibt sie stehen, klopft dagegen und ruft. Niemand antwortet. Warum hat sie nur dieses Gefühl, sie sollte besser umkehren? Als würde hinter der Tür etwas Verbotenes liegen. Wie eine Einbrecherin kommt sie sich vor. In ihrer eigenen Wohnung - lächerlich! Sie drückt die Klinke herunter und macht einen Schritt.

Montagmorgen wird der junge Geldbriefträger Erich Schuster auf dem Hauptpostamt zum Vorgesetzten zitiert. Mehrere Geschäftsinhaber haben angerufen und sich nach dem Verbleib ihrer Postanweisungen erkundigt. Sendungen, die auf seiner Tour lagen und am Samstag hätten ausgeliefert werden sollen. Und wo ist sein Kollege Franz Niemann geblieben? Dessen Sendungen sind zwar alle ordnungsgemäß abgeliefert worden, aber er selbst war am Samstagmittag nicht von der Tour zurückgekehrt. Heute Vormittag ist er nicht zum Dienst erschienen. Auch in seiner Wohnung, wohin man einen Boten geschickt hat, wurde er nicht angetroffen.

Erich Schuster, ein sommersprossiger, rothaariger junger Mann, rutscht unbehaglich auf dem Stuhl hin und her. Endlich rückt er mit der Sprache heraus: Sein Kollege Franz und er haben am Samstag die Tour getauscht.

«Und warum, bitte schön?», fährt ihn Postdirektor Bäumer an.

«Es war ’ne Wette. Ick hab jemeint, ick wär uff seiner Tour zweimal so schnell wie er. Hab ’n damit uffjezogen, war doch nur’n Jux jewesen.»

«Ein Jux? Sie haben wohl nicht begriffen, junger Mann, was für eine Verantwortung es mit sich bringt, Geldbriefträger zu sein? Na, ich war immer dagegen, grüne Jungen wie Sie dafür einzustellen. Aber der Herr Oberpostdirektor - lassen wir das. Ich kann nur nicht glauben, dass ein erfahrener Bote wie Franz Niemann, der seit über zwanzig Jahren. ..»

«Er hat’s wejen Frollein Meyer jetan, gloob ick», platzt Erich Schuster heraus.

Auf Direktor Bäumers Stirn schwellen zwei Adern an. «Frollein Meyer?!»

«Auf die hat der Franz doch ’n Ooge jeworfen. Und das Frollein Meyer steht bei Kaminski im Laden, auf meiner Tour. Vielleicht hat er jedacht, wenn er da rinkommt mit der scheenen Uniform. ..»

Der Postdirektor lässt die Faust auf den Tisch krachen. «Es reicht! Können Sie uns etwas über den Verbleib von Herrn Niemann sagen?»

Erich schüttelt den Kopf.

«Haben Sie uns sonst noch etwas in der Sache mitzuteilen?» Erich nickt. «Ick war wirklich viel schneller fertig als der Franz.»

«Raus!», schreit Direktor Bäumer, dessen Adern auf der Stirn gleich zu platzen scheinen. «Sie sind entlassen!»