NOVEMBER 1940

DREIZEHN

DAS POLIZEIREVIER, das für die Marienburger Straße zuständig war, befand sich in der Rykestraße, von der Marienburger nur ein paar Schritte die Wörther rauf, quer über die Straße in Richtung Fransecky. Glosinski kannte den Weg und die Zuständigkeiten. Dennoch trieb es ihn mit einiger Regelmäßigkeit zum Revier 70, ebenfalls in der Ryke, an der stumpfen Ecke zur Tresckowstraße, mit Blick auf den Wasserturm und direkt neben der jüdischen Volksschule gelegen. Die Synagoge auf dem Hof war nur der umliegenden Bebauung wegen in der Kristallnacht nicht angesteckt worden.

Besser als jeder andere wusste Glosinski, was in der Gegend so los war. Bis 1933 hatte die ganze Ecke bis runter zum Revier 69 an der Immanuelkirchstraße als rot gegolten. Er erinnerte sich gut daran. So halb hatte er ja selber mal zum RFB dazugehört, Thälmanns Rotfrontkämpferbund. Ein gnädiges Schicksal hatte ihn vor dem letzten Schritt bewahrt. Im gleichen Jahr hatte die SA ihn dennoch in den alten Wasserspeicher geschleppt und geprügelt, wie er in seinem Leben noch nie geprügelt worden war. Glosinski hatte eisern geschwiegen. Er wusste: Wenn die ihm die Sache mit Probanek anhängten, war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Probanek war ein SA-Spitzel gewesen, der in den Kämpfen des Jahres 1932 verschüttgegangen war, und Glosinski wusste zufällig genau, bei welcher Gelegenheit.

Glücklicherweise ahnten die Schläger augenscheinlich nichts von seinen Kenntnissen, sie prügelten einfach aus purem Blutrausch auf ihn ein. Rausgeholt aus dem Wasserkeller hatte ihn dann der Kriminalsekretär Kachold vom Revier 70, der ihn von ein paar alten Geschichten her kannte, an die sich Glosinski ebenso ungern erinnerte wie an Probaneks Verschwinden oder an die zwei Tage und Nächte in den Fängen der SA in den unheimlich hallenden Gewölben unter dem Platz. Die gebrochenen Rippen waren wieder verheilt. Die Narbe am Hinterkopf blieb ein ständiges Mahnmal.

Kachold, ein Weltkriegsveteran mit einer tiefen Narbe auf der Wange, hatte Glosinski klargemacht, dass ihm Derartiges oder Schlimmeres jederzeit wieder blühen konnte. Es sei denn, er schwöre den roten Brüdern endgültig und für alle Zeiten ab und beweise seine Treue zum just angebrochenen Dritten Reich durch die Tat. Dazu gehörten neben einer einwandfreien völkischen Haltung zuerst einmal jede Art von Informationen, die er ihm, Kachold, zukommen ließ. Das Weitere würde sich dann ergeben.

So war Albert Glosinski in die Mühle geraten, aus der es kein Entrinnen gab, wie er bald feststellen musste. Sie hatten ihn an der Pape, wie man in seinen Kreisen sagte. Im gleichen Maße, in dem er als Kacholds bester Zuträger dessen Wohlwollen errang, verlor er in seiner näheren Umgebung an Ansehen. Jeder am oberen Ende der Marienburger bis weit rein in die Prenzlauer wusste, dass Glosinski mittlerweile zum eifrigsten Hofhund des gefürchteten Blockwalters aufgestiegen war, dem er getreulich Meckerer, Judenfreunde, Flaggenverweigerer, Winterhilfsmuffel und Eintopfsonntagsbetrüger meldete. In den ersten Jahren war Glosinski im Räderwerk der Inneren Front ohne wirkliche Funktion geblieben, bis ihn der ein wenig asthmatische Blockwart kurzerhand zum Hausobmann und Luftschutzwart gemacht hatte, zum Treppenterrier, wie die Leute ihn spöttisch nannten, dem die Entrümpelung der Bodenräume oblag und der sich allein schon durch die Verteilung der Lebensmittel-, Kohlen- und Punktkarten und die Kontrolle der Verdunklung Zutritt zu allen Wohnungen verschaffen konnte. In letzter Zeit hatte sein Vorgesetzter, der Wert darauf legte, dass man seine offizielle Dienstbezeichnung «Blockleiter» verwendete, ihn verstärkt auf das Verbot des Abhörens ausländischer Sender hingewiesen. Derlei sei der Nährboden aller umlaufenden Greuelpropaganda und ein Verbrechen gegen die nationale Sicherheit unseres Volkskörpers, das auf Befehl des Führers mit schweren Zuchthausstrafen geahndet werde.

Im Grunde war der Mann ein Wichtigtuer und eitler Schwätzer, das hatte Glosinski längst kapiert. Trotz seiner minderen Größe, die weit unter dem für die SS notwendigen Maß lag, allerdings ein einflussreicher und nicht ungefährlicher Schwätzer, den man sich wohl besser nicht zum Feind machte. Dazu bestand auch gar keine Veranlassung. Selbst bei der Aufteilung und Versteigerung der Grünstein’schen Wohnungseinrichtung waren sie sich nicht gegenseitig in die Quere gekommen. Der Blockleiter bevorzugte die schweren Ölgemälde aus dem Besitz der Witwe, die in ein Zimmer irgendwo im Scheunenviertel umziehen musste, Glosinski war an dem hellbirkenen Schlafzimmer interessiert, das er auch prompt zu einem Vorzugspreis erworben hatte.

Mit Kachold hingegen war das eine ganz andere Sache. Dem altgedienten Kriminalsekretär durfte er nicht mit Geschwafel und der Aufzählung notorischer Meckerer kommen. Der wollte was anderes hören. Der war hinter den großen und den kleinen Ganoven her, den Arbeitsscheuen, Asozialen und was sonst noch an Bodensatz aus der Weimarer Systemzeit übrig geblieben war, wie er sich ausdrückte. Natürlich auch hinter Kommunisten und ehemaligen Sozis, aber die hatten sich längst in die Furche geduckt und wagten nicht, den Kopf zu erheben, soweit sie nicht ohnehin in Sachsenhausen saßen.

Kachold kannte Glosinskis Vergangenheit, wenn auch glücklicherweise nicht die ganze. Jedenfalls wusste er von dessen Verbindungen zum Milieu. Aber was waren die noch wert, fast acht Jahre nach der Machtergreifung? Kachold gab dennoch nicht auf, setzte ihn immer wieder mal auf einen alten Bekannten an oder ließ ihn einfach in den einschlägigen Budiken rumsitzen und die Lage peilen. Glosinski fühlte sich dabei zunehmend unwohl. Er war überzeugt, dass alle Welt ihn längst durchschaute, und dieser Gedanke verursachte geradezu körperliches Unbehagen. Außerdem fürchtete er insgeheim beinahe mehr noch als Kacholds Tücke die Rache einstiger Vereinsbrüder.

Auch heute hatte Kachold wieder so ein blödsinniges Anliegen. Diesmal betraf es nicht die üblichen Ganoven, die Einbrecher, Schränker oder die Luden, die man längst alle weggefangen hatte, sondern die Fälscher. Männer also, die in der Lage waren, gültige Papiere und Dokumente in betrügerischer Weise zu verändern oder gar herzustellen.

«In unserer Gegend sind sogar falsche Fett- und Fleischmarken aufgetaucht!», sagte Kachold so drohend, als wäre Glosinski in derlei Geschäfte verwickelt. «Aber die stellen nicht das wirkliche Problem dar», erläuterte er in etwas gemäßigtem Ton. «Da leben Leute seit Jahren mit falschen Papieren. Da werden Geburtsurkunden und Stammbücher verfälscht, von Taufbescheinigungen und ähnlichem Krempel gar nicht zu reden. Arbeitsbücher und Bescheinigungen aller Art werden mit Stempeln versehen, die wie echt aussehen - es gibt beinahe nichts, was nicht auch als Fälschung existiert.»

Glosinski nickte stumpf. «Das hätte ich nicht gedacht …», sagte er. «Die Kommune, die kommen doch wohl dabei zuallererst in Frage. Es hieß doch mal, man hätte eine ganze Fälscherzentrale entdeckt.»

«Haben wir auch!», sagte Kachold, als wäre er direkt daran beteiligt gewesen. «Diese Genossen sind im KZ gut untergebracht, soweit sie nicht ins Ausland entkommen sind. Es bleiben die kriminellen Fälscher …»

Glosinskis Blick ging an Kachold vorbei in den Hof, in dem breit der Backsteinbau der Synagoge thronte. Soldaten waren dabei, riesige Kisten hineinzuschleppen.

Ärgerlich über die Ablenkung, bemerkte es Kachold und sah ebenfalls aus dem Fenster. «Was gibt’s da zu sehen?», sagte er unwillig. «Die Synagoge ist als Wehrmachtsmagazin beschlagnahmt worden.»

Glosinski nickte eifrig. «Richtig so! Wozu brauchen die noch ’ne Synagoge? Sind doch sowieso nur noch ’n paar übrig von den Juden.»

«Immer noch genug», knurrte Kachold. «Die sind übrigens besonders scharf auf falsche Papiere!»

«Kann ich mir vorstellen.»

Kacholds Blick verriet ihm, dass seine diesbezügliche Meinung nicht gefragt war. «Ich möchte, dass du die Augen offen hältst, verstanden! Die Verdunklung erleichtert den Straftätern aller Art ihre dunklen Geschäfte. Guck dir die Leute genau an, die fremd in eurem Luftschutzkeller sind.»

Glosinski mochte es nicht, von dem Beamten geduzt zu werden. «Jawoll, Herr Kriminalsekretär!», sagte er dennoch. Wenn das diesmal der ganze Auftrag war, hatte er Glück gehabt. Und dass er solche wie die hübsche Nichte von der Steguweiten bei ihrem nächsten Auftauchen im Keller mal genauer betrachten würde, brauchte er dem nicht extra auf die Nase zu binden.

Aber so einfach machte es ihm Kachold nicht. Er machte Glosinski klar, dass er sich gefälligst um irgendeine Art von falscher Identitätsbescheinigung bemühen solle, und ließ sich ziemlich detailliert darüber aus, wohin er sich zu wenden, was er zu tun und worauf er zu achten habe.

In Kacholds düsterem Dienstzimmer war es nicht sehr warm. Dennoch spürte Glosinski Schweißtropfen unter seinem schütteren Haarschopf. «Ich weiß nicht so recht», sagte er unsicher, «ob ich da wirklich an die richtigen Leute rankomme. Manchmal habe ich das Gefühl, die Jungs misstrauen mir sowieso …»

Kachold sah ihn an, als wäre er eine eklige Spinne. «Wir wollen doch keine alten Geschichten aufrühren, nicht wahr, Volksgenosse Glosinski? Du tust einfach, was dir gesagt wird, und du tust gefälligst dein Bestes. Haben wir uns verstanden?»

«Jawoll», antwortete Glosinski kleinlaut und erhob sich. Da hatte er sich was Schönes eingebrockt! «Hei’tler», sagte er an der Tür und schwenkte die Rechte.

«Heil Hitler, Glosinski! Ich erwarte in spätestens einer Woche den ersten Bericht.»

Wie in Trance stolperte Glosinski in den dunklen Flur. An der Eingangstür des Polizeireviers drückte jemand den Lichtschalter und kam näher. Glosinski hielt es für besser, ein paar Schritte weiterzugehen, damit nicht jeder gleich sah, woher er kam. Die Flurwand war mit allerlei Propagandaplakaten dekoriert, rechts hingen die Fahndungsaufrufe. Konnte nicht schaden, wenn er sich die mal wieder anguckte. Beim vorletzten Mal war ihm unangenehmerweise ein bekanntes Gesicht begegnet, doch das hatte er Kachold verschwiegen. Keine schlafenden Hunde wecken. So genau wusste der vermutlich nicht, wer früher zu welchem Ringverein oder nur zu den Ratten gehört hatte.

Alles ziemlich finstere Typen, die da hingen. Auf manche war eine Belohnung ausgesetzt. Geld konnte man immer gebrauchen. Und dann traf es ihn wie ein Schlag in den Magen. Das Gesicht hätte er unter Hunderten wiedererkannt! Ein unauffälliges A4Blatt nur: Wer kennt diese Frau?

«Habe ich es nicht geahnt!», murmelte Glosinski vor sich hin und starrte auf das Foto, das zweifellos eine Tote darstellte. Der Kopf war ein wenig nach links geneigt, die Augen blickten starr.

Hinter Glosinski ging jemand vorbei, er nahm es kaum wahr. Mit offenem Munde las er den Text. Die Frau war tot in der S-Bahn aufgefunden worden, im Zug von Velten zum Stettiner Bahnhof. In Glosinskis Kopf läuteten die Glocken. Velten, das musste die Strecke nach Oranienburg sein. So genau kannte er sich da nicht aus. Jedenfalls im Norden. Meine Nichte aus Oranienburg, hatte die Steguweiten ziemlich patzig gesagt, daran erinnerte er sich deutlich. Vor allem an die Nichte selber, trotz der funzligen Beleuchtung im Keller. So eine Schönheit gab’s im ganzen Haus nicht. Sieh an: Bekleidet mit Unterwäsche ausländischen Fabrikats und mit einem auffallenden blauen Mantel, ebenfalls nichtdeutscher Herkunft. Auch an den erinnerte er sich gut.

Das war ein dicker Hund! Um ganz sicher zu sein, beguckte er noch einmal das Foto und las den Text ein zweites Mal. Meldungen an die Kriminalgruppe M im Präsidium oder jede andere Polizeidienststelle.

Für einen Augenblick war er versucht, das Blatt einfach abzumachen und spornstreichs den Weg zum Alex anzutreten. In zehn Minuten konnte er dort sein und mit großartiger Geste aufklären, um wen es sich bei der Toten handelte. Ein dickes Lob war ihm allemal sicher. Und Kachold würde stinksauer sein, das war ebenso sicher.

Nein, es lohnte sich wohl nicht, den derart zu verärgern. Wer weiß, was der hinter seinem Rücken gegen ihn unternehmen würde. Am Ende drehte der es noch so, dass er, Glosinski, der Dumme dabei war. Da war es allemal besser, er verschaffte sich bei Kachold eine gute Nummer.

Bedächtig löste er die beiden Reißnägel und rollte das Blatt zusammen.

Kachold blickte unwillig auf, als Glosinski wieder in der Tür auftauchte. «Was vergessen?», fragte er mürrisch.

Glosinski nickte und trat dicht an Kacholds Schreibtisch heran. So dicht war er dem noch nie auf die Pelle gerückt. Demonstrativ entrollte er das Blatt vor Kacholds Augen. «Die Frau kenne ich!», erklärte er selbstzufrieden.

Unsanft nahm ihm Kachold das Papier aus der Hand und studierte es. «Woher denn?», wollte er wissen.

«Aus dem Luftschutzkeller. Angeblich die Nichte einer Hausbewohnerin, die es nicht bis zu sich nach Hause geschafft hatte.»

Kachold schien nicht sonderlich beeindruckt.

«Aus Oranienburg», schob Glosinski nach. «Das passt doch mit der S-Bahn, oder?»

Kachold las und blickte auf. «Hier ist von Velten die Rede. Das ist ’ne andere Strecke.»

Glosinski sah seine Felle davonschwimmen. «Sie ist es trotzdem», beharrte er. «Das Gesicht und der blaue Mantel - unverkennbar …»

Kachold legte das Blatt achtlos auf den Schreibtisch und sah ihn forschend an. «Glosinski», sagte er, «das ist ’ne verflucht ernste Angelegenheit. Ich hoffe, Sie irren sich nicht. Oder machen Sie sich vielleicht nur wichtig?»

«Herr Kriminalsekretär, das ist die Frau aus unserem Luftschutzkeller! Das nehme ich auf meinen Eid.»

«Auf Ihren Eid …», brummelte Kachold. «Wann war die Dame denn bei euch im Keller?»

Plötzlich spürte Glosinski wieder den Schweiß auf der Kopfhaut unter seinen rötlichen Haarbüscheln. «Da muss ich erst mal scharf nachdenken …»

«Denken Sie, denken Sie», ermunterte ihn der Kriminalsekretär spöttisch. «Wie ich die kenne, wollen die Kollegen von der M das nämlich ganz genau wissen. Und wehe, da stimmt was nicht!»

«Das stimmt Wort für Wort!», beteuerte Glosinski. «Und das Datum kriege ich auch noch raus. Müsste ungefähr vor vierzehn Tagen gewesen sein. Es waren ja noch mehr Leute im Keller, und alle haben sie gesehen.» Er überlegte und fuhr fort: «Das war in der Nacht, wo einer Donna Clara gespielt hat, und unsere Dicke aus dem Vorderhaus hat dazu gesungen.»

Kachold sah mit ungläubigem Spott zu ihm auf. «Na, in eurem Keller scheint es ja munter zuzugehen», sagte er gedehnt.

«Unter solchen Bedingungen wäre ich vielleicht auch besser Luftschutzwart geworden.»

VIERZEHN

MEHR ALS ZWEI WOCHEN waren vergangen, und noch immer traten sie auf der Stelle. Bezüglich des Toten aus dem Moabiter Bombentrichter hatte sich so gut wie nichts Greifbares ergeben. Bis vor kurzem hatte nicht einmal hundertprozentig festgestanden, ob es sich tatsächlich um den verschwundenen Ewald Fanselow handelte, der allerdings auch an seinem Arbeitsplatz bei den Deutschen Asbestwerken in Reinickendorf vermisst wurde.

Und mit der Schönen aus Paris, wie Kappe den Fall getauft hatte, kamen sie ebenso wenig weiter. Da es sich bei beiden Toten um Zivilisten ohne erkennbaren politischen oder kriminellen Hintergrund handelte, hielt sich der Druck von oben in Grenzen. Morack ließ ihn zusammen mit dem Anfänger Piossek wursteln und hütete sich vor irgendwelchen Nachfragen, nachdem Kampmeyer von einem Tag auf den anderen ausgefallen war und nicht mehr zum Dienst erschien. Kappes Nachfrage, ob der Kriminalsekretär ernsthaft erkrankt sei, blieb unbeantwortet, bis ihm Bernhard Klingbeil zuflüsterte: «Die Frau ist doch Hebamme …»

Kappe verstand nicht gleich. «Was hat das mit Kampmeyer zu tun? Er wird sich ja nicht mit Kindbettfieber infiziert haben.»

Klingbeil fand die Angelegenheit gar nicht komisch. «Es gibt da eine verschärfte Anordnung von Himmler, von wegen Abtreibung …», murmelte er und mehr nicht.

Auch das noch! Immerhin erklärte das Kampmeyers Wohlstand. Vergnatzt saß Kappe mit Piossek zusammen im Büro.

«Ich glaube, wir müssen endlich mal raus zu dieser Asbestfirma», meinte Kappe griesgrämig. Mit «wir» meinte er Piossek. Bei den leitenden Parteigenossen in einem Rüstungsbetrieb machte dessen forsches Auftreten möglicherweise Eindruck. Außerdem musste noch einmal die Reinigungskraft gründlich befragt werden, die in Fanselows Wohnung angeblich ein- und ausgegangen war. Kampmeyer hatte zwar mit der Frau geredet, doch war die nach dem Verlust ihrer Wohnung kaum ansprechbar gewesen.

Als Kappe dem Oberleutnant seine Vorstellungen näherzubringen versuchte, trafen die aber nur bezüglich der Asbestwerke auf dessen Einverständnis «Ich habe mich meinen Lebtag mit noch keiner Reinemachfrau unterhalten», versuchte sich Piossek rauszureden.

«Nächstens beantrage ich noch Hilfe von der weiblichen Kripo», murrte Kappe gallig.

Piossek fand die Idee gar nicht übel. «Frauen haben bekanntlich ein besseres Gespür für die Schwächen ihrer Geschlechtsgenossinnen», dozierte er. «Vielleicht hilft uns das weiter. Auch um die Identität unserer schönen Ausländerin herauszufinden.»

Im Fall der Toten aus Paris hatte Kappe bei Dr. Morack immerhin einen kleinen Fortschritt erreicht, von dem er sich viel versprach. Während der Oberrat bezüglich Ewald Fanselow jeden öffentlichen Aufruf zur Mithilfe kategorisch verweigert hatte, um nicht «das durch die Luftangriffe entstandene allgemeine Gefühl einer Bedrohung infolge der Verdunklung unnötig zu verstärken», war ein solcher Aufruf mit dem Foto der Toten zwar nicht für die Presse, aber wenigstens für die Bahnhöfe der nördlichen S-Bahn-Strecken und für die interne Fahndung freigegeben worden.

Bis jetzt hatte sich niemand gemeldet. Und nun kam ihm der neunmalkluge Anfänger Piossek mit weiblicher Kriminalpolizei!

«Danke für den Ratschlag», sagte Kappe. «Bis jetzt kennen wir nicht mal die Nationalität der Toten! Sie kann ebenso gut aus Paris stammen wie aus … Litzmannstadt beispielsweise.»

Das Thema Polen reizte Piossek zu Widerspruch. «Wieso gerade Litzmannstadt?», fragte er aggressiv.

Weil Klara gerade Margaretes ersten Brief von dort erhalten hatte, war Kappe die Stadt eingefallen. Nur war das kein Argument. Die hochhackigen Schuhe der Toten allerdings verrieten eine polnische Herkunft, wie Klingbeils Kollegen von der Kriminaltechnik mit einiger Sicherheit annahmen. Dafür stammte die Patronenhülse aus der S-Bahn unzweifelhaft aus spanischer Produktion, was Klingbeil zu einer Theorie über die Schusswaffe veranlasste: Es existierte da im spanischen Hendaye eine Waffenfabrik, die eine Taschenpistole Unique Modell 10 fertigte, Kaliber 6,35 Millimeter. Die gleiche Waffe war von der Manufacture d’Armes des Pyrénées Francaises M.A.P.F. erhältlich, ein handliches kleines Ding von bescheidener Durchschlagskraft. Aus der Nähe abgeschossen, hatte es jedoch gereicht, einen Menschen zu töten.

Seltsam nur, dass niemand die Getötete vermisste. Jedenfalls nicht in Berlin und im weiteren Umkreis. Aus Osnabrück meldete die Reichszentrale für Vermisste und unbekannte Tote, die sich in Nebes Reichskriminalamt am Werderschen Markt befand, eine dunkelhaarige Vermisste, auf die aber weder das Foto noch das sonstige Signalement passten.

Immer wieder betrachtete Kappe das Foto und vergegenwärtigte sich die Gesichtszüge der Toten. Handelte es sich um eine Spanierin? Konnte es nicht ebenso gut eine Jüdin sein, deren Verwandte sich aus naheliegenden Gründen nicht meldeten?

«Was Sie immer gleich denken!», meinte Piossek dazu. «Ich glaube eher an eine Französin, die sich dunkler Geschäfte wegen in der Reichshauptstadt aufgehalten hat und vermutlich von ihren Landsleuten aus dem Schwarzmarktmilieu um die Ecke gebracht worden ist.»

In ihre Diskussion platzte die Meldung eines Kriminalsekretärs Kachold vom Polizeirevier 70, es habe sich ein glaubwürdiger Zeuge gemeldet, der Näheres zur Identität der unbekannten Toten aus der S-Bahn aussagen könne.

«Halten Sie den Mann auf dem Revier fest!», ordnete Kappe an. «Wir holen ihn sofort ab.»

Piossek war Feuer und Flamme. «Na, sehen Sie! Wenn die Not am größten ist …»

Kappe dämpfte seinen Eifer. «Sie reden vorerst kein Wort mit dem Zeugen. Keine Fragen, nichts, bis er hier vor mir auf dem Stuhl sitzt.»

Piossek nickte und war schon halb draußen, als Kappe ihn zurückrief. «Damit wir uns richtig verstehen, Piossek: Das ist ein dienstlicher Befehl!»

Wieder nickte Piossek. Diesmal mit verkniffener Miene. Befehle von einem Halb-Zivilisten - so etwas schmeckte ihm nicht, wie man ihm anmerkte.

Der Oberleutnant konnte noch gar nicht aus dem Haus sein, als die Pforte anrief, um eine Zeugin anzumelden, die etwas wegen der Toten aus der S-Bahn auszusagen habe.

Es war wie verhext. Vierzehn Tage gar nichts, und dann innerhalb von Minuten gleich zwei Zeugen. «Ich komme selber runter», sagte Kappe mit ungewohnter Munterkeit und machte sich auf den Weg.

Bei der Zeugin handelte es sich um die 57-jährige Hausfrau Edeltraud Tomalla aus der Kommandantenstraße, der die amtliche Atmosphäre des Präsidiums sichtlich aufs Gemüt schlug. Nach Luft und Worten ringend, saß sie vor Kappe und wunderte sich ein ums andere Mal, wie genau der Herr Kommissar es ausgerechnet mit ihren eigenen Personalien nahm. Sie wolle doch nur …

Beruhigend hob Kappe die Hand. «Dazu kommen wir sofort. Erst einmal muss ich ja wissen, mit wem ich es zu tun habe, nicht wahr?»

Edeltraud Tomalla nickte beklommen. «Ich fahre nicht so oft mit der S-Bahn. Aber am Bahnhof Gesundbrunnen habe ich dieses Plakat mit dem Bild gesehen …», äußerte sie verschüchtert. Kappe nickte wohlwollend, und so fuhr sie etwas weniger zaghaft fort: «Die Frau kennst du doch, habe ich sofort gedacht. Eigentlich ja nur, weil uns der schöne Mantel aufgefallen ist …»

Kappe lächelte ihr noch freundlicher zu. «Na, dann beschreiben Sie doch mal das gute Stück.» Die fehlenden Angaben ließen sich immer noch ergänzen.

Zu seiner Überraschung förderte Frau Tomalla ein sorgfältig gefaltetes Blatt aus ihrer umfangreichen Handtasche hervor und strich es auf der Tischplatte glatt. «So sah er aus. Jedenfalls so ungefähr. Den Kragen hat die Dame nicht so genau getroffen …»

Verblüfft starrte Kappe auf das holzige Papier. Die Zeichnung glich dem Mantel der Toten auffallend, wenn auch nicht in allen Details.

«Und die Farbe?», erkundigte er sich beinahe ungläubig. «Wie würden Sie die beschreiben?»

«Ein leuchtendes Blau. Genauer kann ich es nicht sagen. Und dazu dieser samtige Stoff …»

Kappe hob den Finger und griff zum Telefon. «Das werden wir gleich haben», sagte er und lächelte sie wiederum gewinnend an. So eine Zeugin war ja nicht mit Gold aufzuwiegen!

Die Asservatenkammer versprach, den Mantel umgehend zu schicken. Bis dahin hatte Kappe Gelegenheit, Edeltraud Tomalla über die näheren Umstände ihrer Bekanntschaft mit dem Mantel und dessen Trägerin sowie über die Entstehung der Skizze zu befragen.

Die Frau, merklich erfreut über sein Interesse, taute langsam auf und war in ihrem Redefluss kaum noch zu bremsen. Der Mantel stamme aus Paris, das wisse sie hundertprozentig. Bei der Besitzerin jedoch, die gleichzeitig auch die Urheberin der Zeichnung war, habe es sich um eine Italienerin gehandelt. Das zu beschwören sei sie jederzeit bereit. Und zwar aus Mailand, wie aus dem Gespräch ohne Zweifel hervorgegangen sei. Die junge Frau habe lebhaft den Duce verteidigt, daran erinnerte sich Edeltraud Tomalla ganz genau.

Ein Beamter mit einer Armprothese brachte den Mantel. Arbeiteten denn hier nur noch alte Männer und Krüppel? Kappe vergaß diesen Gedanken aber schnell angesichts der Begeisterung der Frau. «Das ist er!», rief sie immer wieder entzückt, während sie das Kleidungsstück nach allen Seiten drehte und wendete, den Stoff befühlte und ein wenig angewidert die hässlichen Flecke darauf betrachtete. «Ist das etwa …»

Kappe nickte. Es handle sich um Blut, bestätigte er.

«Und sehen Sie hier? Den Kragen hat sie falsch gezeichnet. Und die Taschen auch …»

Auch das musste Kappe bestätigen. Kein Zweifel, Edeltraud Tomalla hatte am Abend vor deren gewaltsamem Tod mit der Unbekannten im Café zusammengesessen, und die Skizze in ihrer seltsamen Mischung von Vollkommenheit und Dilettantismus stammte von der Hand der toten Mailänderin. Sofern sie denn tatsächlich eine Italienerin war. Das ließ sich vermutlich über die Botschaft klären.

«Sie haben uns sehr geholfen», lobte Kappe seine Besucherin.

«Wir werden ein ausführliches Protokoll aufsetzen. Das müssen Sie dann unterschreiben.»

«Jetzt gleich? Dauert das lange?»

«Am besten sofort. Das heißt, sobald mein Kollege frei ist.»

Er hatte nicht vor, Piossek die Befragung des anderen Zeugen zu überlassen. Sollte der Oberleutnant seine Formulierungskünste mal ruhig an Frau Tomalla erproben! Kappe brauchte dann nur noch Korrektur zu lesen.

«Und meine Nichte? Die werden Sie doch nicht etwa extra verhören? Sie arbeitet nämlich bei so einer Wehrmachts-Dienststelle …»

«Wenn es nötig ist, werden wir sie befragen. Machen Sie sich nur keine Sorgen, Frau Tomalla.»

Die Frau hatte den Mantel auf Kappes Schreibtisch abgelegt.

«Was wird jetzt damit?», wollte sie wissen.

«Der bleibt bei den Asservaten, bis die Sache endgültig geklärt ist. Danach geht er eventuell an die Erben. Oder an die Botschaft. Das wird sich zeigen …»

«So ein schönes Stück …», sagte Edeltraud Tomalla bedauernd.

Endlich kam Piossek. Er schob einen mittelgroßen Mann mit grobem Mondgesicht und rötlichen Haarbüscheln vor sich her.

«Das ist der Herr Glosinski», meldete er. Kappe hob abwehrend die Hand. «Moment, Moment, ich bin gleich so weit. Sie übernehmen es bitte inzwischen, mit Frau Tomalla ein Protokoll anzufertigen. Möglichst ausführlich. Sie hat eine Menge zu berichten.»

Piossek zog ein saures Gesicht und verschwand mit der Frau im Schlepptau.

Kappe bot Glosinski den frei gewordenen Stuhl an. «Na, dann wollen wir mal!», sagte er aufgeräumt. Die Vernehmung der Zeugin hatte ihn in gute Stimmung versetzt, die hoffentlich bei diesem Glosinski anhalten würde. Der sah nicht so aus, als säße er zum ersten Mal vor einem Kriminalbeamten, aber man konnte sich da täuschen.

«Ick wollte mich nich voreilig äußern, Herr Kommissar, solange Fremde im Raum sind», sagte der auch schon. «Aber der Mantel hier - den erkenne ick uff hundert Meilen jejen den Wind wieder …»

FÜNFZEHN

LOCKE hatte es vorgezogen, sich ein Zimmer weit genug weg vom Schlesischen Bahnhof und von seiner letzten Adresse am Schlesischen Tor zu suchen. Es musste ein Viertel sein, wo ihn niemand kannte. Lichtenberg kam da in Frage oder Neukölln, aber eigentlich waren ihm beide Gegenden doch zu fremd. In den Gassen südlich vom Rosenthaler Platz, wo die Vereine in ihren Glanzzeiten zu Hause gewesen waren, ließ sich sicherlich was finden - aber wie leicht konnte da einer auftauchen, der sich von früher her an ihn erinnerte. Oder aus Plötzensee. Das Risiko wollte er nicht eingehen.

Den Seinen gibt’s der Herr im Schlafe - warum nicht auch ihm? Ganz korrekt, wie es seiner neuen Rolle entsprach, war er in der Brunnenstraße vorstellig geworden, wo eine Frau Papendiek per Annonce ein freundliches möbliertes Zimmer für einen alleinstehenden Herrn anbot. Die genannte Adresse entpuppte sich als ein Gemüseladen, dessen Eigentümerin seiner Bewerbung durchaus wohlwollend gegenüberstand. Seit ihr Sohn in Holland die Früchte des Sieges genoss, wie sie sich ausdrückte, stand dessen Zimmer leer und ungenutzt und kostete nur unnötige Miete - ein Zustand, den sie als selbständige Geschäftsfrau nur schwer zu ertragen vermochte.

Zwischen eins und halb drei blieb das Geschäft geschlossen, da durfte Locke wiederkommen und sich das schmale Zimmer in der Papendiek’schen Wohnung über dem Gemüseladen angucken. Der sparsam möblierte Raum mit dem weißen Metallbett, Schrank und Waschtoilette und einer Art Schreibtisch gefiel Locke ausnehmend gut. Der Platz am Fenster gewährte einen direkten Blick auf die Brunnenstraße mit der Straßenbahnhaltestelle und dem U-Bahn-Eingang. Das sah nach einem passablen Fluchtweg aus - wenn man bereit war, aus dem ersten Stock zu springen. Er würde springen, wenn es darauf ankam, das wusste Locke.

Mit Frau Papendiek wurde er schnell handelseinig, zumal er die Miete gleich bar und für den November im Voraus bezahlte und der Wirtin dabei einen Blick auf zwei weitere grüne Scheine in seiner Brieftasche gestattete. Die Frau gefiel ihm, eine stramme rotblonde Walküre, die ihren Busen selbstbewusst vor sich her trug und den Jahren nach seine Mutter hätte sein können. Das mit der Anmelderei nahm sie nicht so tragisch, nachdem er mit dem Arbeitsbuch herumgewedelt und von seiner Tätigkeit bei einer Metallfirma in der Köpenicker Straße gesprochen hatte. Schichtarbeit, wie er bedachtsam hinzusetzte, meistens nachmittags und abends. Er hatte nicht die Absicht, das bequeme Nest jeden Morgen zu nachtschlafender Zeit zu verlassen, um regelmäßige Arbeit vorzutäuschen.

Auch davon war Frau Papendiek angetan. «Na wunderbar, da können Sie mir ja gelegentlich vormittags mit der Ware helfen …»

Dazu hatte Locke bereitwillig gelächelt, und tatsächlich war er ihr in den vergangenen zwei Wochen einige Male zur Hand gegangen, was sie jedes Mal mit einer Einladung zum Mittagessen vergalt. Das fiel bei einer selbständigen Gemüsehändlerin mit den entsprechenden Beziehungen zum befreundeten Schlächter ebenso gehaltvoll wie kalorienreich aus und wurde mit einem Gläschen Likör nach dem Kompott abgerundet.

An solchen Tagen fühlte sich Locke wie im Schlaraffenland. Einen Tropfen Essig in den reinen Wein der Freude träufelte nur die Pflicht, jeden Tag für mindestens acht, neun Stunden aus dem Hause verschwinden zu müssen, um seiner angeblichen Tätigkeit nachzugehen. Frau Papendieks Verwunderung über seine kurze Arbeitszeit, wo doch alle anderen bis zu zwölf Stunden in den Betrieben schuften mussten, war er mit dem undeutlich geflüsterten Argument eines besonders hoch spezialisierten und geheimen Auftrags begegnet, an dem er die Ehre habe mitzuwirken. Außerdem war ihm schnell aufgegangen, dass man das Haus zwar mittags mit einem flotten Abschiedsgruß verlassen und im U-Bahn-Schacht verschwinden, es aber nach einer Station und einem kleinen Umweg ebenso leicht und vom Gemüseladen aus ungesehen wieder betreten konnte. Nutzte man die Zugänge über die Höfe von der Schönholzer oder von der Bernauer Straße aus, ließ sich auch der Nachmittag ungestört auf dem Bett liegend mit Zeitungslektüre verbringen. Das Radio in der Küche wagte er nicht zu benutzen. Nur vormittags oder beim gemeinsamen Mittagsmahl kam er in den Genuss der neusten Nachrichten. Siegesfanfaren gab es im Augenblick keine, es hieß, die U-Boot-Offensive gegen England werde verstärkt fortgeführt und die Italiener seien in Griechenland einmarschiert. Die Abende verbrachte Locke meistens im Kino, bevor er dann so spät wie möglich, aber noch vor dem Fliegeralarm in sein Zimmer heimkehrte.

Inzwischen hatte er im Luftschutzkeller die meisten Hausbewohner oder vielmehr Hausbewohnerinnen kennengelernt, von denen eine sich anscheinend so stark zu ihm hingezogen fühlte, dass sie es regelmäßig verstand, einen Platz in seiner Nähe zu finden. Was Frau Papendiek ihrerseits mit einem mokanten Blick quittierte, und beim vierten Alarm konnte sie es sich nicht verkneifen zu sagen: «Na, setzen Sie sich schon zu ihr! Die kann’s ja kaum erwarten …»

Dabei fand Locke die aufgetakelte Nachbarin ziemlich unangenehm. In ihrer fieberhaften Redseligkeit erinnerte sie ihn an seine eigene Mutter, und an die wollte er zuletzt denken. So ließ er sich am nächsten Abend bewusst dicht an der Seite von Frau Papendiek nieder, was der und ihm giftige Blicke seitens der Verschmähten einbrachte.

An Frau Papendieks Juno-Figur, in deren Schatten der Untermieter in seinem Einsegnungsanzug noch schmächtiger wirkte, prallte derlei ab. Sie war es, die mit ihrer durchdringenden Sägestimme in diesem Keller den Ton angab, und niemand - schon gar nicht der trottelige Luftschutzwart - machte ihr diese Führungsrolle streitig. Wer wollte einer Geschäftsfrau widersprechen, von deren Gemüsezuteilung und Wohlwollen sie alle abhingen?

Nur die unsympathische Nachbarin kaufte ihre Kartoffeln woanders, wie er erfuhr. Locke ahnte nicht, was sich in deren eifersüchtigen Gemüt über seinem bisher blondlockigen Haupt zusammenbraute. Vor ein paar Tagen hatte er sich einen militärischen Fassonschnitt zugelegt und dabei sogar erwogen, die Haare dunkel zu färben. Doch wie sollte er das Frau Papendiek erklären? Auf der Straße trug er den Hut, den er am Schlesischen Bahnhof erworben hatte und der nach dem Friseurbesuch ziemlich locker saß. Ein Hut auf dem Kopf kam ihm immer noch ungewohnt vor, von früher her war er nur Mützen gewohnt. Sollte er nicht besser dazu zurückkehren, auch Plampes wegen? Der hatte ihn mit dem Staubmantel und dem dämlichen Hut gesehen. Ob die ihn schon suchten? Wenn er nachmittags und abends in der Stadt unterwegs war, achtete er darauf, ob ihm jemand folgte. Bis jetzt war ihm nichts aufgefallen. Auch über die Tote in der S-Bahn hatte die Zeitung nichts gemeldet. Vielleicht würde nie rauskommen, wer sie mit was für einer Waffe erschossen hatte. Und warum der Täter die Pistole liegengelassen und nicht beseitigt hatte.

Oder hatte die Frau sich am Ende selbst umgebracht?

Je öfter Locke darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihm diese Möglichkeit. Er sah das dunkle Abteil vor sich, die Frau lehnte schemenhaft und leblos in ihrer Ecke. Die Waffe war ihrer Hand entfallen und polterte beim Anrucken der S-Bahn vom Sitz.

So musste es gewesen sein.

Das beruhigte ihn. Plampe konnte überhaupt nichts von der Herkunft der Waffe wissen. Darauf ankommen lassen wollte es Locke dennoch nicht. Er hatte es nicht eilig. Der Hammer am Kottbusser Tor blieb ihm immer noch. Stichwort Finsterwalde. Erst mal saß oder lag er hier in der Brunnenstraße warm und trocken.

Hinter der Gardine konnte er beinahe den ganzen Tag die Straße und den U-Bahn-Eingang da unten beobachten, ohne dass ihn einer sah. Bis jetzt hatte er nie etwas Verdächtiges bemerkt.

Weshalb machte er sich überhaupt Sorgen? Wenn er weiter so sparsam blieb, reichte das Geld noch eine ganze Weile, und dann gab es immer noch Ewalds sicher gebunkerten Schatz, der sich versilbern ließ. Sollten alle Stränge reißen, war es ein Leichtes, sich mit Hilfe des Arbeitsbuchs irgendwo eine nette Beschäftigung zu suchen. Die Morgenpost war täglich voller Stellenangebote jeder Art.

Sein einziger Kummer war im Grunde genommen, dass er keine Frau fand. Die Papendieken mit ihrem beeindruckenden Busen war nun wirklich ein bisschen zu alt und ein bisschen zu sehr aufs Geschäft fixiert. Bei der konnte er allenfalls als gut verpflegter Handlanger im Laden landen, wohl kaum in ihrem Bett.

Und diese schwabbelschnäuzige Nachbarin aus dem Keller? Locke kriegte förmlich Hautjucken, wenn er an die dachte. Da war ja so einer wie Ewald noch Gold dagegen. Bei den warmen Brüdern hatte er sowieso immer Schlag gehabt. Auch der Friseur hatte ewig verliebt in seinen Locken rumgefuhrwerkt, bis die sich endlich am Boden ringelten.