NACHWORT

Beutezug ist ein fiktiver Roman vor einem realen Hintergrund: Männer wie Max Wittek oder Fritz Lüben von der Borsig-Gruppe Mannhart, der Moabiter Pfarrer Hitzigrath und der Zeitungsfahrer Rosenow haben gelebt.

Am 28. Oktober 1942, zehn Monate nach dem Kriegseintritt der USA, beschlagnahmte die US-Regierung die Vermögen zweier Unternehmen, die dem NS-Regime amerikanischen Recherchen zufolge als Tarnfirmen dienten: der Holland-Amerika Handelsgesellschaft und der Seamless Steel Equipment Corporation, die beide von einer US-Bank, die unter dem Kürzel UBC (Union Banking Corporation) firmierte, kontrolliert wurden. Einen Monat später übernahm die Regierung auch die Anteile der Nationalsozialisten an der Schlesisch-Amerikanischen Gesellschaft (SAC), die von Prescott Bush und seinem Schwiegervater George Walker geführt wurde. Der Beschlagnahmungsbefehl aufgrund des Gesetzes über Handel mit dem Feind beschrieb die Schlesisch-Amerikanische Gesellschaft als eine «US Holding Company mit deutschen und polnischen Tochterfirmen», die große und wertvolle Kohle- und Zinkbergwerke in Schlesien, Polen und Deutschland besaß. Weiter hieß es, dass diese Besitztümer seit September 1939 unter der Kontrolle des NS-Regimes gestanden hätten, das diese Gelder in den Dienst des Krieges gestellt habe.

Andreas Förster hat unter dem Titel Goldener Notgroschen für Nazi-Führer. Die Geld-Geschäfte des Großvaters von George W. Bush im Magazin der Berliner Zeitung vom 15. Juli 2006 darüber geschrieben.

John Loftus, ein ehemaliger Staatsanwalt der Abteilung für Kriegsverbrechen des Justizministeriums und später Vorstand des «Florida Holocaust Museum» in Sankt Petersburg (USA), hat sich lange mit den Verbindungen der Nationalsozialisten zu den Bushs beschäftigt. Einen Bericht dazu hat die Universität Münster online gestellt: www.uni-muenster.de/PeaCon/global-texte/g-a/g-ss/ AmericanEmpire/nazis.htm. Loftus’ Aussagen zufolge erhielt die Bush-Familie 1,5 Millionen Dollar für ihre Anteile an UBC, als die Bank 1951 endgültig aufgelöst wurde.

Charles Higham, ein ehemaliger Reporter der New York Times, hat ebenfalls zu diesen Verflechtungen recherchiert. Er weist in seinem Buch Trading with the Enemy darauf hin, dass die US-Regierung versucht habe, die genaue Rolle von Prescott Bush und vielen anderen führenden amerikanischen Finanz- und Industriemagnaten bei der Unterstützung Hitlers zu verschleiern, aus Angst, dass dieser Skandal die öffentliche Moral untergraben und Streiks und vielleicht sogar Meutereien in den Streitkräften provozieren könnte (Trading with the Enemy: The Nazi-American Money Plot 1933–1949, New York, 1983).

Zur Euthanasie:

Unter dem Datum 31. Januar 1941 notierte Joseph Goebbels in seinem Tagebuch: Mit Bouhler Frage der stillschweigenden Liquidierung von Geisteskranken besprochen. 40 000 sind weg, 60 000 müssen noch weg. Das ist eine harte, aber auch notwendige Arbeit. Und sie muß jetzt getan werden. Bouhler ist der rechte Mann dazu.

Zur Gruppe Baum:

Herbert Baum war mit seiner Frau Marianne in den sogenannten «Judenabteilungen» des Elektrowerkes in der Siemensstadt beschäftigt. Um das Ehepaar hatte sich eine Gruppe jüdischer Kommunisten geschart, die allerdings recht isoliert arbeitete, weil sie selbst in den Netzen der illegalen KP als besonders gefährdet galt. Die Baums und ihre Mitstreiter knüpften Kontakte zu ausländischen Zwangsarbeitern und führten kleinere Sabotageakte an Elektromotoren durch. In den ersten Kriegsjahren hatten sie Flugblätter gedruckt und verteilt, einige arbeiteten an der illegalen Frontzeitung Der Ausweg mit. Die Gruppe verübte am 18. Mai 1942 einen Anschlag auf die Ausstellung Sowjetparadiese. Herbert Baum und elf seiner Mitstreiter legten Spreng- und Brandsätze. Elf Besucher wurden verletzt, einige Ausstellungsstücke verbrannten. Die Gestapo sorgte für die Behebung der Schäden. Das Ereignis wurde totgeschwiegen. Kurz darauf wurden Herbert und Marianne Baum zusammen mit zahlreichen anderen Mitgliedern verhaftet. Herbert Baum und zwei weitere Personen begingen nach Misshandlungen in der Haft Selbstmord. In sechs großen Prozessen wurden über zwanzig Menschen zum Tode verurteilt, andere, deren Schicksal nie geklärt worden ist, kamen wohl in Konzentrationslagern um.

Petra Gabriel, geboren in Stuttgart, ist gelernte Hotelkauffrau, Dolmetscherin und Journalistin. Sie lebt als freiberufliche Autorin in Laufenburg und Berlin. 2001 wurde ihr erster Roman «Zeit des Lavendels» veröffentlicht. Neben historischen Romanen schreibt sie Kurzgeschichten und Krimis. 2004 gründete sie das Internetmagazin 3land.info. 2010 erschien ihr Mystery-Roman «Der Klang des Regenbogens», 2011 ihr sechster historischer Roman «Die Köchin und der König». (www.petra-gabriel.de)

Originalausgabe

1. Auflage 2012

© 2012 Jaron Verlag GmbH, Berlin

1. digitale Auflage 2013 Zeilenwert GmbH

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer + Möhring, Berlin

ISBN 9783955520168

cover

Petra Gabriel

Beutezug

Kappes 17. Fall

Kriminalroman

Jaron Verlag

Inhaltsverzeichnis

Titelseite

Impressum

KAPITEL EINS
in dem Kappe einen alten Schulkollegen wiedertrifft

KAPITEL ZWEI
in dem Kappe zurückgepfiffen wird

KAPITEL DREI
in dem ein Junge das Fürchten lernt

KAPITEL VIER
in dem Kappe begreift, dass sein Sohn in Gefahr ist

KAPITEL FÜNF
in dem Fluchthelfer eine große Rolle spielen

KAPITEL SECHS
in dem Kappe erfährt, was es mit der Operation Ymir auf sich hat

KAPITEL SIEBEN
in dem ein Mann heimkehrt

KAPITEL ACHT
in dem Kappe aufschlussreiche Dokumente findet und verschwinden lässt

KAPITEL NEUN
in dem Kappe einiges über Menschen und ihre dunklen Geschäfte lernt

KAPITEL ZEHN
das in einem Pfarrhaus in Moabit spielt

KAPITEL ELF
in dem es um den tragischen Tod eines kleinen Mädchens geht

KAPITEL ZWÖLF
in dem sich zwei ehemalige Schulkameraden erneut überraschend wiedertreffen

KAPITEL DREIZEHN
in dem Kappe und Lempel eine weitere schreckliche Entdeckung machen

NACHWORT

KAPITEL EINS
in dem Kappe einen alten Schulkollegen wiedertrifft

JEDEN MOMENT musste er kommen. Traugott Lempel strich zum hundertsten Mal die dünnen Haare nach hinten und fingerte nach seiner Taschenuhr. Doch für seinen kräftigen Zeigefinger war das Uhrentäschchen einfach zu klein. Er hatte, gemessen an seiner hochgewachsenen und hageren Gestalt, breite, zupackende Hände, das Erbteil einer langen Kette von Fischern. Lempel schaute zur Sicherheit noch einmal in den Kalender, auf dessen Ledereinband in Goldprägung die Jahreszahl 1942 prangte. Ein Geschenk der Firmenleitung «für besondere Verdienste». Da stand es, schwarz auf weiß: 18. Mai, 15 Uhr, Kappe. Lempel gab den Kampf mit der Tasche auf, zog an der vergoldeten Kette, die an einem Knopfloch der Weste befestigt war, und die Taschenuhr flutschte heraus. Er klappte den Deckel auf und betrachtete die Zeiger. Es war 15.03 Uhr.

Er kam sich langsam albern vor. Wie ein Schuljunge, der seine erste Verabredung hat und auf das Mädchen wartet, das sich verspätet. Er erinnerte sich gut. Damals hatte er sich ähnlich gefühlt, mit diesem Kloß im Hals und diesem Druck in der Magengegend. Kommt sie, kommt sie nicht? Doch das jetzt war eine andere Art der Verabredung. Er seufzte und steckte das in tickende Rädchen und Goldgehäuse gegossene Symbol der verfließenden Zeit vorsichtig zurück. Es war ein besonders gutes Stück: das Geschenk seiner kürzlich verstorbenen Frau zur silbernen Hochzeit.

Ob Kappe überhaupt kam? Und ob er ihm trauen konnte? Trampe hatte behauptet, dass Kappe kein Hundertprozentiger sei.

Er müsste es wissen. Er kannte Kappe gut und schon lange - nämlich seit der als einfacher Wachtmeister nach Berlin gekommen war. Das musste nun über dreißig Jahre her sein. Also kannte er ihn weit besser als er selbst. Er selber war so etwas wie ein Schulfreund, allerdings zwei Klassenstufen unter Kappe. Damals in Wendisch Rietz. Er hatte ihn bewundert.

Dennoch, da blieb diese Frage. «Kappe ist nicht so einer», hatte Theodor Trampe vorgestern immer wieder betont. Hoffentlich stimmte es.

Per Zufall hatten Trampe und er vor einigen Wochen festgestellt, dass sie beide Kappe kannten. Der Elektriker führte hin und wieder Auftragsarbeiten bei Borsig aus. Und er hatte Kontakte zu den Widerständlern unter den Borsig-Arbeitern. Das wusste Lempel aus sicherer Quelle. Auch wenn er es eigentlich nicht wissen durfte. Nur deswegen hatte er es schließlich gewagt, ihn ein wenig über Kappe auszuhorchen. Was hatten sie gelacht, als sie über dessen Eigenheiten sprachen! Trampes erster Beitrag war: «Er hat noch immer ein rundes Kindergesicht.»

«Und noch immer diese Nase?»

«Ja, sie ist noch immer sein hervorstechendes Merkmal», hatte Trampe geantwortet.

Beide grinsten, wohl wissend, dass damit nicht nur die Größe des bemerkenswerten Kappe’schen Riechorgans gemeint war, sondern auch die Form. Es sah aus wie eine Knüppelkirsche.

Aber kannte Trampe seinen Freund Kappe wirklich gut genug? Wer bei der Mordkommission etwas werden wollte, der tat besser daran, ein strammes Parteimitglied zu sein. Oder zumindest so zu tun.

«Kappe ist nicht in der Partei», hatte Trampe mehrfach im Brustton der Überzeugung behauptet. «Das wüsste ich. Er versucht halt, irgendwie über die Runden zu kommen. Wie wir alle. Du kannst ihn ruhig ansprechen, wenn du ein Problem hast. Worum geht es denn? Soll ich vermitteln?»

Traugott Lempel hatte den Kopf geschüttelt. «Es ist besser, ich mache das selbst.»

«Aha.» Das war neben einem scharfen Blick Trampes einzige Reaktion gewesen.

War Kappe nun also ein Nazi oder nicht? Das war die alles entscheidende Frage. Er hatte ihn seit Jahren nicht mehr gesehen, wusste nicht einmal, ob sich Kappe überhaupt noch an ihn erinnerte. Damals in Wendisch Rietz wäre er so gerne dabei gewesen, wenn Kappe mit seinem besten Freund Gottfried Lubosch, genannt Liepe, am Scharmützelsee Karl May nachspielte. Doch sie hatten den Jüngeren ungern dabeihaben wollen. Zwei Jahre Altersunterschied waren viel, wenn man erst zehn war.

Manchmal hatte er die beiden heimlich beobachtet, wenn sie sich mit Hilfe von Schlamm und Entenfedern in Winnetou und Old Shatterhand verwandelt hatten. Sie waren Blutsbrüder, hatten alle Abenteuer nachgespielt, die Karl May in seinen über sechzig Büchern beschrieben hatte. Auch jene, die im wilden Kurdistan spielten. Das wusste er genau. Denn ab und zu, wenn sie einen Schurken brauchten, hatten sie ihm großmütig erlaubt mitzumischen.

Seine Aufgabe war es gewesen, sich ohne allzu große Gegenwehr an den Marterpfahl binden und übel beschimpfen zu lassen. Er hatte es hingenommen. Nur, um wenigstens manchmal dabei sein zu dürfen.

Lempel lächelte unwillkürlich, die Falten um seine graublauen Augen vertieften sich. «Hadschihalefomarbenhadschiabulabbasinbhadschidawudalsgossarah», murmelte er vor sich hin. Dann seufzte er zufrieden. Es gab Dinge, die verlernte man nicht. Noch immer konnte er den Namen aussprechen, ohne zwischendurch Luft zu holen. Als Junge hatte er sich feierlich geschworen, sobald wie möglich nach Amerika auszuwandern und Trapper zu werden.

Doch dann hatte das Leben die Regie übernommen. Er saß jetzt hier bei Borsig und bildete aus. Nach Amerika würde er wohl so schnell nicht mehr kommen. Im Januar hatten die Amerikaner den Deutschen den Krieg erklärt. Und selbst Karl May war entzaubert, seitdem Lempel wusste, dass der Führer einen seiner Romane auf dem Nachttisch liegen hatte.

Kann ich ihm trauen? Diese Frage kreiste unablässig in Traugott Lempels Kopf und hinderte ihn daran, sich die richtigen Sätze für den Besuch Kappes zurechtzulegen. Er musste erst einmal auf den Busch klopfen und durfte nicht zu viel preisgeben.

Wieder zog er die Uhr aus der Tasche und drehte am Knopf. Doch, sie war aufgezogen, sie tickte. Der Minutenzeiger hatte sich um gerade mal zwei Striche weiterbewegt. Es waren nicht mehr als 120 Sekunden vergangen seit dem letzten Blick.

Er wagte viel - besonders in seiner Stellung. Lempel steckte die Uhr ein weiteres Mal weg und starrte auf die aufgeschlagene Akte vor sich auf dem Schreibtisch, aber ohne wirklich zu erkennen, was auf den Papieren stand. Die Schrift verfloss zu schwarzen Linien. Ein Mädchenkopf mit dunkelblonden langen Zöpfen und furchtsam aufgerissenen, tränenumflorten blauen Augen schob sich zwischen ihn und den Text. Gudrun Damaschke hieß sie. Sie hatte nicht lockergelassen.

Wie viel sollte er Kappe erzählen? Er durfte das Mädchen keinesfalls in Gefahr bringen. Sie vertraute ihm. Ebenso wie Hans. Sonst hätte der Junge ihm nicht von diesen Unterlagen berichtet. Andererseits war Kappe keiner, der sich mit nichtssagenden Floskeln abspeisen ließ. Zumindest war er das damals nicht gewesen. Und so sehr veränderte sich ein Mensch nicht. Der Kern blieb ein Leben lang gleich, das hatte ihn seine Erfahrung gelehrt. Und wenn es so war, dann war Kappe kein Verräter. Und auch kein Denunziant. Trotzdem, je weniger er wusste, umso besser. Für alle Beteiligten - nicht zuletzt für Kappe selbst.

Oder hielt es Kappe doch mit den Nationalsozialisten, und Trampe wusste es nur nicht? Das war doch immerhin möglich. Schließlich war Trampe Sozialdemokrat. Zumindest war er einer gewesen, bevor die Sozis verboten worden waren. Das zeigte er zwar nicht offen, er wollte schließlich weiterhin Aufträge als Elektriker bekommen. Und Trampe war gut, arbeitete genau, zuverlässig und schnell, wenn es einmal irgendwo klemmte. Er war bei einer kleinen Firma in der Ritterstraße angestellt, doch er hatte bereits mehrere Stellenangebote von Borsig bekommen. Das Reich brauchte Leute wie diesen Theodor Trampe an der Heimatfront, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Die Maschinen mussten auf Hochtouren laufen, besonders in kriegswichtigen Betrieben wie Borsig. Doch Trampe zog es vor, bei seiner Klitsche zu bleiben. Er wusste wohl, warum. Vielleicht gab es ihm bei Borsig inzwischen zu viele stramme Nazis.

Hermann Kappe war nie ein Sozi gewesen, soweit Lempel in Erfahrung hatte bringen können. Das hatte der Freundschaft zwischen dem Kommissar und dem Elektriker aber offenbar keinen Abbruch getan.

Andererseits hatten sich in den letzten Jahren schon ganz andere von Mitläufern zu Überzeugungstätern gewandelt. Einfluss konnte Menschen verändern, verführen, denn das Böse besaß eine große Anziehungskraft. Als Kriminaler war es Kappes Geschäft, andere Leute zum Sprechen zu bringen und die Leichen zu finden, die sie im Keller hatten. Das gab ihm Macht über Leben, über jene, die bei Verhören auf dem Armsünderstühlchen vor ihm saßen. Sie waren ihm ausgeliefert, darauf angewiesen, dass er ihnen glaubte.

Kappe hatte wahrscheinlich längst Familie, Kinder, vielleicht sogar Enkel, die es zu schützen galt. Das war der Anfang. Man begann sich anzupassen, mit jedem Tag etwas mehr, ohne es recht zu merken. Schließlich steckte man zu tief drin, und so überschritt man leicht die Grenze dessen, was noch anständig war. Das ging schleichend. Und am Ende war es nur noch ein ganz kleiner Schritt hinüber auf die andere Seite, eine Sekunde, in der man sich falsch entschied. Er als Ausbilder wusste das. Wie oft musste er sich auf die Lippen beißen, um nichts zu sagen, was der offiziellen Linie widersprochen hätte! Womöglich wäre er noch von einem seiner Schüler dafür denunziert worden.

Kappe ging es vielleicht ähnlich. Die Nazis überwachten Leute wie ihn. Leute, deren Aufgabe es war, die Gesetzlosen zu überführen, mussten sich selbst peinlich genau an die offizielle Linie halten - an die geschriebene und die ungeschriebene. Sonst wurden sie zur Gefahr für das ganze System. Und Spitzel gab es überall - nicht nur bei Borsig.

Wieder zückte Lempel die Uhr. Vielleicht hatte Kappe seine kleine Nachricht nicht bekommen? War der Brief womöglich verlorengegangen? Hatte Trampe ihm die falsche Adresse genannt?

Es klopfte. Lempel schreckte hoch. Das musste Kappe sein. Und jetzt, wo der endlich kam, war er nicht darauf vorbereitet, hatte seine Gedanken nicht beisammen, seine Sätze nicht parat.

«Herein!»

Die Tür öffnete sich quälend langsam, ein Kopf schaute durch den Spalt. Einer mit grauen Haaren, nicht mehr vielen, ein Gesicht mit Falten, bleich, dunkle Ringe unter den Augen, das Gesicht eines übermüdeten Mannes. Doch jetzt lächelte der Mund, und der Ankömmling mit den vergissmeinnichtblauen Augen zwinkerte ihm zu. Lempel fühlte sich um Jahre zurückversetzt. Da war es wieder, dieses spitzbübische Blinzeln. Lempel fiel ein Stein vom Herzen. Das war sein ehemaliger Schulkollege Hermann Kappe, wie er leibte und lebte. Und doch, er musste vorsichtig sein. Diese Geschichte konnte sie alle in Gefahr bringen - in Lebensgefahr womöglich.

Er sprang auf, um ihm entgegenzugehen. Der Körper des Ankömmlings schob sich vollends durch den Türspalt.

«Kappe, schön dich zu sehen», begrüßte Lempel ihn herzlich.

«Hast an Kontur gewonnen, was?»

Kappe schmunzelte. «Alles wird von Tag zu Tag schwerer - ich ebenfalls. Ich finde es auch schön, dich zu sehen. Wie hast du mich eigentlich gefunden?»

«Über Trampe.»

Kappes Augen wurden groß. «Theodor Trampe, der alte Gauner? Ja, jetzt erinnere ich mich. Er hat mir mal erzählt, dass er hin und wieder bei Borsig zu tun hat. So, und da seid ihr euch also begegnet?»

Lempel grinste. «Eines Tages in der Werkskantine kamen wir ins Gespräch, als ich mich an seinen Tisch gesetzt hatte. Er fragte mich, woher ich komme. Und als ich Wendisch Rietz sagte, meinte er, dass er einen Freund habe, der ebenfalls von dort stammte. Ja, und dann waren wir schnell beim Du.»

Kappe lachte. «Der Freund war dann wohl ich. Wie ist die Welt doch klein! Aber nun sprich dich mal aus, was gibt es denn so Dringendes?»

Lempel runzelte die Stirn. «Nun, wenn ich es nicht dringend mache, dann bekomme ich einen so beschäftigten Mann ja nie zu sehen …»

«Stimmt, es ist schon eine Schande, da leben wir in derselben Stadt …» Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen. «Es tut gut, jemanden von früher wiederzutreffen. Na, dann lass dich mal umarmen, altes Haus.»

Lempel zog den ehemaligen Schulkollegen zu sich heran und klopfte ihm auf den Rücken. «Fast wie früher …», murmelte er irgendwo über Kappes Kopf, während sich Kappes Nase in seine Halsbeuge drückte. Er war schon längst nicht mehr der Kleinere, stellte Lempel nicht ohne eine gewisse Genugtuung fest. Ja, die Zeiten hatten sich wirklich geändert. Und Kappe schien sich sogar richtig zu freuen, ihn wiederzutreffen.

«Was hast du gesagt?», kam es da dumpf aus Lempels Halsbeuge. «Und könntest du mich bitte mal loslassen? Ich kriege kaum noch Luft. Warst du früher auch schon so lang?»

«Nee, früher war ich immer kleiner als Liepe und du.» Schuldbewusst lockerte Lempel den Griff.

Kappe löste sich von ihm, sein Kopf war hochrot. «Du bist ganz schön gewachsen. Puh, nimmst du deine Auszubildenden auch so in den Schwitzkasten? Kein Wunder, dass ihr diese Auszeichnung bekommen habt!»

Lempel wusste, was Kappe meinte. Damals hatte er es noch als Ehre empfunden. Heute wusste er es besser. 1936 war das Borsigwerk in Tegel durch eine Verfügung Hitlers zu einem «Nationalsozialistischen Musterbetrieb» ernannt worden und hatte das Leistungsabzeichen der DAF als «anerkannte Berufserziehungsstätte» erhalten. Er war zum Leiter der Ausbildung befördert worden. Seit einiger Zeit half er auch als Lehrer an der Gewerblichen Berufsschule Kreuzberg I für Elektriker und Mechaniker in der Wassertorstraße 31 aus. Traugott Lempel, der stramme Parteingenosse. Doch es gab auch noch den anderen Lempel, den, der jene Arbeiter mit versteckter Sympathie betrachtete, die sich um Fritz Lüben und seine Widerständler geschart hatten. Lempel schluckte.

«Schniekes Büro hast du», erklärte Kappe in die Stille hinein. Doch Lempel sah den aufmerksamen Blick genau, mit dem er ihn musterte. Er wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. «Aber nimm doch Platz! Danke, dass du kommen konntest.»

Kappe schaute zu, wie Lempel sich auf die andere Seite des Schreibtisches bewegte und schließlich setzte. Erst dann folgte er der Einladung. «Normalerweise bin ich es ja andersrum gewöhnt.» Er schmunzelte.

Lempel konnte nicht anders, er grinste zurück. «Ich habe gehört, du bist ein erfolgreicher Kriminaler. Du hast den Raubmord an diesem Fabrikanten in der Lausitzer Straße gewissermaßen in einer Nacht aufgeklärt. Ist der Täter nicht unter verschiedenen Namen aufgetreten? Das hat Trampe jedenfalls gesagt. Er ist mächtig beeindruckt von dir.»

Kappe kniff die Augen zusammen. «Trampe redet zu viel. Ihr scheint euch wohl ganz gut zu verstehen, was? Aber ehe du fragst: Nein, ich leite nichts. Ich habe nicht so eine steile Karriere gemacht wie du. War wohl für mich nicht so …»

Lempel verstand sehr gut, warum Kappe stockte. Der hatte also ebenfalls seine Bedenken. Lehrer, nicht nur die an beruflichen Schulen, hatten sich heutzutage der offiziellen Meinung anzupassen. Sonst waren sie schnell keine Ausbilder mehr, sondern fanden sich als Soldat an der Front wieder, wo sie anderes zu tun hatten, als junge Leute zu verderben, wie es so schön hieß. Falls sie nicht wegen Volksverhetzung in eines der Umerziehungslager wanderten. Schließlich waren die Jugendlichen die Zukunft des Tausendjährigen Reiches, und deshalb konnte das Reich keine Abweichler dulden. Denn tausend Jahre waren eine lange Zeit.

Lempel beschloss spontan, die Vorsicht fallenzulassen - jedoch nur teilweise. Er durfte das Mädchen keinesfalls gefährden. Sie hatte ja niemanden sonst, zu dem sie mit ihren Sorgen gehen konnte.

«Also, was is’ nun? Willste mich ewig anstarren, als wäre ich ein falscher Fuffziger?» Das Misstrauen in Kappes Augen strafte den scherzhaften Ton Lügen.

«Du bist doch ein erfahrener Ermittler.» Kappe schaute ihn nur an.

Lempel wand sich. Nun gut. Am besten rückte er einfach mit der Sprache heraus. «Hans, einer meiner … äh … Schüler, ist verschwunden. Seine Mutter sagt, sie seien zusammen in den Lustgarten gegangen, um am 8. Mai die Eröffnung der neuen Ausstellung zu sehen. Du weißt schon, die mit dem schönen Namen Sowjetparadiese. Da hat es doch einen großen Aufmarsch auf dem Schlossplatz gegeben mit allem Tschingderassassa, um auch ja Aufmerksamkeit zu erregen. Schließlich wollen sie zeigen, was es mit der bolschewistischen Terrorherrschaft auf sich hat. Ein Freund von Hans war auch dabei. In dem Gedränge hat die Mutter ihren Sohn dann aus den Augen verloren. Zunächst hat sie sich nichts dabei gedacht, geglaubt, der komme schon heim. Schließlich ist er fünfzehn und kein Kleinkind mehr. Doch seitdem hat sie nichts mehr von ihm gehört. Ich mache mir große Sorgen, denn das passt nicht zu ihm. Hans ist kein Schwänzer. Ich kenne ihn als einen sehr pünktlichen Jungen. Doch bei der Vermisstenstelle scheint es niemanden zu kümmern. Könntest du mal …»

«Verschwunden? Und was sagt der Freund? Hat die Mutter ihren Sohn überhaupt als vermisst gemeldet?»

«Ich weiß nicht, was der Freund sagt, ich habe ihn nicht gesprochen, denn er ist nicht in meinem Betrieb. Ich kenne auch seinen Namen nicht. Und ja, die Mutter hat ihren Sohn als vermisst gemeldet. Ich habe mich auf ihre Bitte hin außerdem bei den Berliner Krankenhäusern erkundigt. Nichts bisher. Kappe, ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob deine Kollegen überhaupt nach ihm suchen. Könntest du mal nachfragen?»

Kappe kniff die Augen zusammen, dann nickte er bedächtig.

«Ich denke schon … Doch, könnte ich. Wie heißt der Junge denn?»

«Hans von Benn.»

«Ach, so ein adeliges Jüngelchen.» Es war Kappe anzuhören, was er vom deutschen Adel hielt.

Wieder zögerte Lempel. «Also, wie man’s nimmt. Sein Vater trägt den guten deutschen Namen Willy Schmidt.»

«Waren die Eltern nicht verheiratet?» Kappe klang missbilligend.

«Doch, doch», versicherte Lempel eilig, «der Name von Benn kommt von der Mutter. Erika von Benn stammt aus verarmtem niederschlesischem Rinnsteinadel. Sie war Beschließerin, vornehm gesagt, Hausdame und Gesellschafterin auf irgendeinem Gutshof. Und da hat sie den Vater kennengelernt, einen Tischler, der für Ausbesserungsarbeiten engagiert war. Ebendiesen Willy Schmidt. Die verliebte Erika hat ihn gegen den Willen ihres Vaters geheiratet, und die junge Familie ist dann nach Berlin gezogen. Das muss in den späten dreißiger Jahren gewesen sein. Schmidt hat Arbeit als Hausmeister bei der Reichsbank bekommen. Du weißt schon, im neuen Gebäude am Werderschen Markt. Das hat mir Hans jedenfalls erzählt. Kurz darauf hat sein Vater begonnen, sich gewerkschaftlich einzusetzen.»

Kappe war verwirrt. «Gewerkschaft? Die alten Gewerkschaften sind doch schon 1933 zerschlagen worden. Du meinst wohl die Deutsche Arbeiterfront?»

Lempel schüttelte nur den Kopf. Wieder blieben Worte ungesagt.

Kappe begriff auch so. «Ah, da muss ich dich wohl missverstanden haben. Und wo ist der Vater jetzt?»

Lempel wand sich. «Sie haben ihn vor gut zwei Jahren einkassiert.»

«Was heißt das nun wieder?»

«Bolschewistische Umtriebe, staatszersetzende Aktivitäten, Volksverhetzung … Ich kenne mich da nicht so aus. Hans hat mir erzählt, sein Vater sei für einige Zeit in ein Umerziehungslager gewandert, er wusste nicht genau, wohin. Ich vermute, Oranienburg. Die letzte Nachricht war, dass der Vater als Soldat an die Ostfront geschickt worden ist.» Lempel sah, wie sich Kappes Gesicht schlagartig verdüsterte. War er doch so ein Hundertprozentiger? Dann begriff er. «Hast du einen Sohn im Krieg?», erkundigte er sich leise.

Kappe nickte. Für eine Weile schwiegen die beiden Männer. Was gab es für einen Vater dazu auch zu sagen außer Sätze wie «Hätten sie doch lieber mich geholt»? Doch man war mit über fünfzig schon zu alt fürs Sterben. Noch.

«Wieso heißt dieser Hans jetzt von Benn und nicht Schmidt?», fragte Kappe schließlich.

«Die Mutter hat sich scheiden lassen. Warte mal, das muss kurz nach der Verhaftung gewesen sein. Also, der Vater … der ist nicht nur Sozialist, er ist auch …»

«Jude?», beendete Kappe den Satz und kniff die Lippen zusammen. «Dann wundert es mich aber, dass die Wehrmacht ihn genommen hat. Zwar verheizen sie die Politischen gerne an der Front, aber die Juden … die schicken sie wohl eher anderswohin.»

Lempel spürte, wie sich in seinem Bauch ein Klumpen bildete, wie immer, wenn von diesem Thema die Rede war. Kappe sprach von den Deportationen der Berliner Juden, die seit letztem Oktober liefen. «Irgendetwas in der Art muss es jedenfalls sein. Vielleicht hat er auch Zigeunerblut. Aber offenbar ziemlich verwässert, ein unehelich geborener Großvater oder Urgroßvater, glaube ich. Als Hans mir davon erzählt hat, meinte er: Bevor Hitler kam, wusste ich noch nicht einmal, was ein Jude ist. Außer mir hat hier bei Borsig niemand von der Namensänderung erfahren. Die Mutter hat den Jungen vom Gymnasium genommen, und sie sind in eine Gegend umgezogen, in der sie niemand kannte. Die beiden wohnen jetzt in der Stendaler Straße, Hausnummer 25, wenn ich das richtig im Kopf habe. Später bekam Hans die Lehrstelle als Mechaniker bei Borsig, aber schon unter dem Namen der Mutter. Erika von Benn muss irgendwo in den oberen Etagen einen Gönner haben. Ich glaube, sie ist sehr … germanisiert. Jedenfalls kam Hans vor etwa anderthalb Jahren zu uns, obwohl es eigentlich nicht geplant war, weitere Lehrlinge einzustellen. Aber er ist ein kluger Junge, geschickt und mit einer schnellen Auffassungsgabe. Und dann haben sie ihn doch noch zum Arbeitsdienst verdonnert, trotz der Lehre in einem kriegswichtigen Betrieb. Das war etwa eine Woche, bevor er verschwand, also um den 1. Mai herum. Er hat sich noch verabschiedet und mir gesagt, er komme zur Firma Ehrich & Gratz in Treptow. Ich war in der Elsenstraße, aber dort ist der Junge auch nicht aufgetaucht. Sie wussten von nichts.»

«Du magst diesen Hans», stelle Kappe fest.

Lempel schaute ihn schräg an. «Ja, und er vertraut mir», brach es schließlich aus ihm heraus. «Mein Gott, er ist doch fast noch ein Kind! Erinnere dich daran, was wir mit 15 oder 16 Jahren noch für Kindsköpfe waren! Was kann er denn für seinen Vater, was immer man diesem auch vorwerfen mag!»

«Vielleicht sollten wir Gott in diesem Zusammenhang aus dem Spiel lassen», meinte Kappe langsam. «Aber nu’ begreife ich, warum du denkst, das Verschwinden des Jungen kümmert niemanden. Mach dir keine Vorwürfe, du hast getan, was du konntest.»

Die beiden Männer musterten einander in stummem Verstehen.

«Wie lange, sagtest du, ist der Junge weg? Hat er sich vielleicht freiwillig gemeldet?», nahm Kappe den Faden schließlich wieder auf.

«Nein, nie und nimmer …»

Plötzlich hallte das laute Rufen einer Frau durch das Treppenhaus. «Halt! Wo wollen Sie hin? Bleiben sie hier, Sie dürfen nicht …» Die restlichen Worte konnte Kappe nicht verstehen. Einige Minuten später brüllte im oberen Stock ein Mann. Doch es war für Kappe nicht auszumachen, was den Mann so in Wut versetzte. Anschließend hörten sie lautes Gelächter, danach erneutes Getöse, anschließend ein Poltern, als fielen Möbel um. Es folgte der Schreckensruf einer weiblichen Stimme. Dann rumpelte es wieder, und mit einem Mal ertönte der markerschütternde Schrei eines Mannes. Etwas Dunkles, Großes fiel am Fenster von Lempels Büro vorbei. Für Momente herrschte Totenstille - als halte das Haus und mit ihm alle Menschen darin den Atem an. Einige Sekunden später hörten sie schnelle Schritte im Gang, weiteres Gebrüll, eine andere Frau schrie: «Warum ruft denn niemand einen Krankenwagen?»

Schwere Tritte kamen die Treppe herauf. Das mussten mehrere Männer in Stiefeln sein. Lempel wurde kreidebleich. Was war hier los? Ob sie ihn holen kamen? Woher wussten sie?

Die Schritte wurden lauter, kamen näher, sie hallten im Treppenhaus, hasteten an Lempels Bürotür vorbei. Offenbar liefen die Männer in den oberen Stock. Lempel stieß so leise wie möglich die Luft aus, als seine Anspannung nachließ. Kappe merkte es trotzdem. Er sagte aber nichts. Lempel war ihm dankbar, denn sonst hätte er ihn belügen müssen.

Beide Männer starrten sich an. Kappe bewegte sich als Erster.

«Ich glaube, das ist ein Fall für mich», erklärte er. Dann warf er seinem ehemaligen Schulkameraden noch einen Blick zu und stürzte aus dem Raum.

Lempel benötigte mehr als eine halbe Stunde, bis er nicht mehr zitterte.

KAPITEL ZWEI
in dem Kappe zurückgepfiffen wird

DER EIMER polterte zu Boden, das Wasser ergoss sich über die Treppe. Kappe wäre beinahe gestürzt. Er fluchte. In seiner Eile, die Treppe hinunterzukommen, hatte er einen der Wassereimer umgerannt, die wegen der ständigen Gefahr von Bombenangriffen neben den Sandsäcken in den Fluren standen. Sein Schienbein pochte, doch er hatte keine Zeit, sich darum zu kümmern. Er hetzte nach draußen.

Inzwischen hatte sich ein Ring von Menschen um den Körper versammelt, der wie eine zu Boden geworfene Marionette halb auf dem Bauch vor dem Verwaltungsgebäude lag. Auch an den Fenstern der Werkhallen tauchten kurz bleiche Gesichter auf, verschwanden dann aber wieder. Zwangsarbeiter, vermutete Kappe, die zurück an ihre Arbeitsplätze getrieben wurden. Viele von ihnen kamen aus den besetzten Niederlanden. Ihre neue «Heimat» war in den meisten Fällen das Lager beim Bahnhof Tegel. Manche waren aber auch in Privatwohnungen untergebracht. Anders als die jüdischen Zwangsarbeiter durften sich die Holländer frei bewegen und mussten auch nicht um 20 Uhr zu Hause sein. Schließlich gehörten sie zu einem artverwandten germanischen Volk.

«Watt’n ditte?», erkundigte sich eine Frau mit neugierigem Blick. Sie meinte eindeutig nicht die Gesichter hinter den Fenstern.

«Siehste dit nich, da is einer jesprung’», antwortete ihre Begleiterin, und die Fasanenfeder auf ihrem keck schräg aufgesetzten Hut wippte energisch.

Es kamen immer mehr Schaulustige hinzu. «Da ist wohl ’n Nest», brummte Kappe ärgerlich vor sich hin. Es war immer dasselbe: Diese Gaffer zertrampelten alles.

«Sollte nich mal eener ’n Polizisten ruf ’n?», meinte eine näselnde Männerstimme.

«Achtung, Kriminalpolizei! Machen Sie sofort Platz!», dröhnte Kappe und versuchte, sich seinen Weg durch die dicht an dicht stehenden Menschen zu boxen. Er sah Arbeiter und Arbeiterinnen im Blaumann und in ölverschmierten Arbeitsklamotten, offenbar der arische Teil der Belegschaft. Andere hatten es irgendwie geschafft, sich von draußen durch das Werktor an der Berliner Straße zu schmuggeln. War da denn niemand an der Pforte, verdammt noch mal?

Doch ganz egal, woher sie kamen - die Leute schienen allesamt taub zu sein. Oder jedenfalls keineswegs geneigt, ihren Platz so einfach preiszugeben. Jedenfalls reagierten sie nicht auf Kappes Rufe.

«Uh, det is aber eklich», stellte stattdessen eine Frau versonnen fest.

«Platt wie ’ne Flunder», erwiderte ein junger Mann nüchtern.

Jetzt hatte Kappe genug. «Kriminalpolizei!», brüllte er erneut und nun so stimmgewaltig, wie er konnte, dann schoss er in die Luft. Die Frauen kreischten, die Menschen stoben auseinander.

«Warum nich gleich so?», schimpfte Kappe und sah sich die Bescherung an, die da auf dem Pflaster vor dem Tegler Borsigwerk lag, das sich seit der Übernahme durch Rheinmetall im Jahr 1935 nun Rheinmetall-Borsig AG nannte, im Volksmund aber immer Borsig geblieben war. Ein Name, der für ihn bis in alle Ewigkeit mit dem Bau der wunderbarsten Dampflokomotiven verbunden bleiben würde. Auch wenn der Lokbau in Tegel vollständig zum ehemaligen AEG-Werk Hennigsdorf, nun Borsig-Lokomotiv-Werke GmbH Hennigsdorf, verlagert worden war, atmete hier noch alles diese gute alte Zeit. Kappe liebte Dampfloks. Doch jetzt wurden hier im Auftrag des Reichskriegsministeriums Maschinengewehre, Panzerabwehrgeschütze, Minenwerfer und Feldkanonen bis hin zu Flugabwehrkanonen und Eisenbahngeschützen gefertigt.

Kappe ging um den Körper herum. Soweit er sehen konnte, war das ein noch recht junger Mann, gut gekleidet, die Anzugshose maßgeschneidert, nach der neuesten Façon sozusagen. Zumindest bis er aus dem Fenster gestürzt war. Ein Teil der Brille hatte sich in das linke Auge gebohrt. Kein schöner Anblick. Kappe bückte sich. Kein Puls. War auch nicht zu erwarten nach einem Sturz aus dem dritten Stockwerk.

Da war auch der Pförtner, unschwer an seiner Uniform zu erkennen. Er stand wie eine Salzsäule zwei Meter vom Toten entfernt, die Augen misstrauisch zusammengekniffen, als habe er Angst gebissen zu werden. Das Pförtnerhaus beim Tor war also wirklich unbesetzt, dazu war die Schranke noch oben. Deswegen hatten es all diese Passanten geschafft, einfach hier hereinzuströmen. Bei Schichtwechsel gab das vollends ein heilloses Durcheinander.