I

Punsch in your Face

II

Leilah

III.

Zwischen Kind und Wahnsinn

11. Schluss

Ich denke, ich lasse kaum die relevantesten Ereignisse vermissen, wenn ich an dieser Stelle darauf verzichte, in ausführlicher Beschreibung des weiteren Krankenhausaufenthaltes zu erinnern. Zwar wurde die Operation noch einmal mit spannungsgeladener Vorahnung erwartet, verlief aber völlig reibungslos und glimpflich. Drei weitere Tage und zum Teil auch schmerzverzogene Nächte, da es in jenen mitunter am regelmäßigen Nachschub der lindernden Medikation mangelte, hatte ich hier auszusitzen - in einem Doppelzimmer mit einem netten Herrn mittleren Alters. Ihn hatte es weitaus schlimmer erwischt, denn sein linkes Bein war nicht nur dick und bläulich angelaufen, sondern an Stellen gar bis zur Unkenntlichkeit deformiert und so bedurfte er also der ständigen Wartung und Überprüfung, was ihn wohl auf unbestimmte Zeit noch an sein Bett und an den klinischen Geruch von Medizin und Desinfektion fesseln würde.

Mir aber schien das Schicksal hold gesonnen zu sein: Kaum konnte ich es erwarten, die freudige Nachricht der baldigen Entlassung entgegen zu nehmen, meine Sachen zu packen und mich möglichst geradewegs in Leilahs Arme zu flüchten, was sie mir doch anhand des Inhalts einiger süßen Kurzmitteilungen in unbedingte Aussicht stellte und damit meinen Wunsch nach ihren Lippen, den allerlieblichsten Klang ihrer Stimme nur noch schürte.

Und es sollte auch bald schon so weit sein, wie es mir die Schwester bereits andeutete. Doch zuvor geziemte es sich, dass der Chefarzt höchstpersönlich eine Stippvisite durchs gesamte Haus machte, um aus allererster Hand also ein wohlfundiertes Urteil über die Befindlichkeiten und Fortschritte der Einzelfälle abzugeben. Und dabei scharte sich einiges Gefolge um ihn herum: Azubis, Schwestern, Praktikanten und allerlei Ärzte wohl jedweder Anstellung und Bärtigkeit, die fromm und lauschend eine Traube um den Herrn Oberarzt bildeten, Notizen machten und sich hie und da einen fragenden Einwurf erlaubten. Als sich diese Ansammlung nun an meinem Bett einfand, war es so, als sei ich zum Exponat degradiert, als sei ich ein abzulaufender Abschnitt einer Führung etwa im Naturhistorischen Museum und damit der Beäugung des Volkes ausgesetzt, dass seinen Fokus nun in leicht vornübergebeugter Haltung und mit auf dem Rücken verschränkten Armen auf das Beispiel meines heilungsbedürftigen Zustands legte. Hier und dort suchte einer mit dem Zeigefinger seine Brille hochzuschieben, als der Chefarzt mir den Verband löste, um zu sehen, wie es denn tatsächlich mittlerweile um mich beschaffen sei. Und man möge es mir nachsehen, dass ich durchaus zumindest einiger weniger Worte zu meiner Wunde nun harrte, doch ließ es der Arzt mit einem flüchtigen Blick bewenden und wies stattdessen mit einer Handbewegung sein Gefolge an, einige Schritte mit ihm beiseite und die Köpfe zusammenzutun. Und bis auf ein Zischeln der Stimmen und wichtiger Mienen der Erwägung war hier wenig für mich zu entnehmen. Vielmehr waren sie nach abschließendem, einvernehmlichen Nicken auch schon im Begriff, das Zimmer wieder zu verlassen, ohne dass sich irgendwer noch einmal umgedreht, geschweige denn mir Auskunft über das Ergebnis gegeben hätte. Erst später erfuhr ich von der Schwester, dass es tatsächlich nun für mich überstanden sei und da brach ich sogleich in einiges inneres Jubilieren aus und konnte mich kaum noch halten.

Und letztlich nahm alles einen schwärmerischen Verlauf, denn noch am Tag meiner Entlassung mochte Leilah mich sehen und unbeschreiblich war das Gefühl, als wir uns endlich in den Armen lagen.

Und es mögen weitere Tage, vielleicht gar Wochen, Stunden oder wenige Minuten nur gewesen sein, die wir miteinander verbracht hatten - bis zu jenem Punkt, als wir eines Nachts nebeneinanderlagen, im Dunkeln leise wachten und vor lauter süßer Aufregung unseren Atemzügen lauschten.

“Weißt du, dass ich vom ersten Augenblick an, in dem Moment als ich dich zum ersten Mal sah, bereits in dich verliebt war?“, flüsterte Leilah in den Rausch der Sekunden, während sie mir sanft durchs Haar strich. „Immer habe ich an dich geglaubt und jetzt, da du endlich bei mir bist, kann ich an nichts anderes mehr denken, als jeden Morgen neben dir aufzuwachen, von deinem Kuss geweckt zu werden - ganz gleich, was auch am letzten Tag gewesen ist, ganz gleich auch, was die nächste Stunde uns noch bringen mag. Denn solange ich bei dir sein kann, wird es gut sein.“

3. Die Wunde

Zurück bei den Kameraden, die sich inzwischen auch wieder untereinander beschäftigten, obgleich das Hauptaugenmerk weiterhin unangefochten Leilah galt, muss mich Etienne bereits von weitem bemerkt haben. Denn als ich mein Fahrrad an einen Baum lehnen wollte, kam er sogleich herbei geeilt und erkundigte sich, was denn passiert sei. Leicht verwundert über seine mir deplatziert scheinende Anteilnahme, ließ ich ihn wissen, dass mir unterwegs zwar ein kleines Malheur widerfahren, dass meinem Bier und meiner Wenigkeit jedoch nichts zugestoßen sei – was ich mit einem schiefen Gekicher unterstrich. Etienne aber ließ nicht locker, forderte zur Ansicht meinen Arm und tatsächlich: Beim Aufprall muss ich die gesamte Wucht meines Körpers nicht nur mit dem bloßen Ellenbogen abgefangen haben, sondern womöglich den einen oder anderen Zentimeter weiter noch gerutscht sein, so dass es mir das Fleisch von jenem Ellenbogen abgeraspelt hatte und es rot aus ihm hervorquoll. Es war der Reflex, mein Bier, das mir doch jüngst über den Schock des Vorhandenseins Leilahs hinweggeholfen hatte, zu retten – und so bot ich Etienne sogleich überaus umsichtig einige Schlucke meines Zaubergesöffs an, was er allerdings dankend ablehnte, zumal er seine eigene Flasche in der Hand hielt.

Als Etienne zu seinem Rucksack eilte, um nach einem Pflaster zu suchen, warf ich noch einmal einen flüchtigen Blick auf die Wunde und im nüchternen Zustand hätte ich den Einschnitt wohl als verhältnismäßig ärgerlich eingestuft. Allerdings war mein Nervenapparat ob der Berauschtheit dieser Nacht auf Eis gelegt und offensichtlich nicht in der Lage, mir den Schmerz an mein Gehirn weiterzuleiten oder eine entsprechende Erkenntnis eben dort zu entwickeln und so tat ich den Sachverhalt als unbedeutend ab.

Ich war nun also auf dem Weg zurück zu den anderen und im Begriff, mir eine Zigarette zu drehen, doch stellte sich dies als überraschend schwierig heraus. Nicht etwa, weil meine mangelhafte Koordinationsfähigkeit mich ohnehin bereits torkeln ließ, sondern vielmehr, da beim Versuch den Tabak im Zigarettenpapier gleichmäßig zu verteilen, sich Letzteres allmählich mit Blut vollsog, um schließlich wie ein alter Lappen auseinanderzufallen. Dieser unerfreuliche Umstand rührte freilich daher, dass auch die Innenfläche meiner linken Hand voller Blut war und nachdem ich den oberflächlichsten Schwall mit dem Bier weggespült hatte, zeichnete sich auch hier eine Wunde ab. Im Vergleich zum Ellenbogen schien diese zwar auf keinem allzu beträchtlichen Einschnitt zu basieren, jedoch hinderte sie mich allemal daran, den geläufigsten Tätigkeiten, wie etwa dem Drehen einer Kippe, nachzugehen. Und als Etienne mit dem Pflaster kam und dieses mir als sein allerletztes anbot, entschied ich mich, es auf der zwar vermeintlich harmloseren, aber für den Moment nachteiligeren Wunde zu platzieren.

Als ich mit der gerollten Kippe im Mund bei den Kameraden vortorkelte, zeigte sich der eine oder andere überrascht von der schroffen Fleischwunde, die da meinen rechten Ellenbogen zierte und da es auch Leilah etwas anzugehen schien, verstummten allseits die Gespräche. Ich erzählte also der Allgemeinheit, wie es sich denn zugetragen hatte, wobei ich hin und wieder von Ergänzungen und Berichtigungen Etiennes flankiert wurde, dem meine Ausführungen wohl deutlich zu schalkhaft waren. Der Freund war ja in echter Sorge um mich und meinte nur, ich solle die Sache doch bitte nicht auf die leichte Schulter nehmen – und gewiss hatte er recht damit. Denn war ich ja tatsächlich im Begriff, es herunterzuspielen und besänftigend auf die Gemüter aller einzuscherzen, auf dass die Nacht eine baldige Fortführung finden konnte.

Als nach einiger Zeit der wohlige Schleier der Dunkelheit der Morgendämmerung wich, hatte sich bereits ein Gros der Kameraden verflüchtigt und auch für mich sollte es schon bald so weit sein, der ich völlig übermüdet und betrunken war und um eine halbwegs angemessene Körperhaltung rang. Wie ich die letzten Stunden bis hierhin zugebracht hatte, wird mir wohl auf ewig verborgen bleiben, doch muss der Verzehr meines letzten Bieres schon eine ganze Weile zurückgelegen haben, denn konnte ich jetzt wenigstens die verschwimmenden Umrisse Etiennes von denen zweier weiterer Freunde unterscheiden – und da war ja auch noch Leilah! Ja, sie war geblieben, bis zum bitteren Ende war sie geblieben und ich muss wohl tatsächlich beinahe umgekippt sein, sah doppelt und dreifach – doch als ich einen letzten Blick in ihre großen, grünen Augen warf, schien mir plötzlich alles wieder klarzuwerden und mit einem flauschigen Gefühl in der Magengegend torkelte ich nach Hause.

4. Verzerrungen

Einige wenige Stunden werde ich die Gunst meines Bettes genossen haben, als mich Etienne via Handy am frühen Nachmittag aus dem Tiefschlaf riss, um mich darüber in Kenntnis zu setzen, dass wir es bei diesen gar herrlichen Wetterverhältnissen keinesfalls versäumen sollten, unsere verkaterten Ärsche in den Park zu bewegen. Der Rasen sei grün, die Mädels rar bekleidet und auch Leilah würde sich uns heute anschließen. So baute er zunächst auf jene logische Argumentation, ließ sich dann aber doch hinreißen, auf mein noch träges Murren mit einem spontanen Brüller ins Telefon zu reagieren, um mich damit schlagartig in den Wachzustand zu versetzen.

Noch verstand ich allerdings keinen Spaß und beendete das Gespräch auf eine bemüht höfliche Art, fand mich jedoch eine Stunde später bereits frisch geduscht, obgleich immer noch leicht schummrigen Gemüts, im Park ein, wo sich die anderen an einem erquickenden Fleckchen Wiese niedergelassen hatten. Und von weitem schon erkannte ich den wohlbekannten Haufen, der sich aus folgenden Gestalten zusammensetzte: Etienne, der mir sogleich ein schnippisches Grinsen entgegenbrachte; Kai, der sich ganz offensichtlich um die Aufmerksamkeit Leilahs bemühte; Leilah selbst, die in der noch ungewohnten Gesellschaft etwas schüchtern wirkte; Tiago, ein alter Freund portugiesischer Herkunft, der am Abend zuvor noch aufgrund eines auswärtigen Kanuturniers gefehlt hatte (bei dem er im Übrigen höchst erfreulich abschnitt) sowie einige weitere Kameraden und Kumpaninnen, die an dieser Stelle jedoch nicht der zwingenden namentlichen Erwähnung bedürfen.

Schnell deutete sich mir an, so glaubte ich es zumindest im ersten Moment, dass sich die Anwesenheit Leilahs heute in keiner beeinträchtigenden Weise auf meine Gemütssituation auswirken würde. Die schlimmsten Kämpfe hatte ich bereits bestritten, die drückende Unerreichbarkeit dieses schönen Geschöpfs muss sich über Nacht am Bewusstsein der eigenen Mangelhaftigkeit entkrampft haben. Nur die bloße Entzückung, gänzlich befreit vom Streben oder Wünschen, war geblieben. Am Abend zuvor muss es lediglich der erste Schock gewesen sein, sich eben am Maßstab ihrer mit der eigenen Bedeutungslosigkeit konfrontiert zu sehen und darüber buchstäblich am Rad zu drehen und zu stürzen. Doch nun fand ich mich mit mir selbst wieder ab, sah mich wieder wohlplatziert am gemäßigten Ich-Sein und konnte also dort weitermachen, wo ich aufgehört hatte.

Ich ergatterte mir den letzten Zipfel der großen Gemeinschaftsdecke, kramte in meinem Rucksack nach einem Bier, dessen Temperatur aufgrund der stechenden Hitze zwar des empfohlenen Serviervorschlags, jedoch kaum dadurch seiner Zweckhaftigkeit entbehrte, ließ mich nieder und klemmte mir den Rucksack als Lehne an den Rücken. Da ich mich nach wie vor im schalen Zustand des Katzenjammers befand, ahnte ich bereits, dass mir das erste Bier einige Schwierigkeiten bereiten würde, ließ dann allerdings ohne großes Gezeter den Deckel schnippen und kippte mir, unter ekelverzogenem Gesicht, das grobe Gebräu die Kehle hinunter. Dabei sei erwähnt, dass ich lediglich Anschluss zu finden suchte, denn erschien ich ja reichlich zu spät zu dieser geselligen Runde und die anderen waren mir bereits um einige Flaschen voraus.

Als Etienne mich derart angestrengt und widerwillig schlucken sah, brachte er mir mit schelmischem Unterton entgegen, dass es doch eines schönen Tages gut sein würde – ich solle mich nur „rezeptkonform an die regelmäßige Einnahme meines Zaubergesöffs“ halten, um meiner „seelischen Beschaffenheit verantwortungsvoll gegenüberzutreten“. Von derartigen Sprüchen jedoch ließ ich mich nicht irritieren, war mir doch bewusst, dass er seine Rede ja genauso gegen sich selbst richtete, zumal er sein eigenes Bier – womöglich bereits sein drittes – in den Händen hielt.

Derweil war Kai immer noch Leilah zugewandt und ließ nicht locker: Ihm schien über seine offenkundige Vernarrtheit zu entgehen, wie sie eher bemüht darum wirkte, ihn nicht vor den Kopf zu stoßen, als sich seinen Wortkaskaden schmiegsam hinzuneigen. Darüber hinaus bemerkte ich nun auch, wie sie zuweilen ihre Blicke in meine Richtung schweifen ließ, doch nahm ich es lediglich zur Kenntnis, ohne mich davon in einer Form irritieren oder berauschen zu lassen. Schließlich war ich selbst beschäftigt, im Gespräch mit den anderen, und als ich mir eine Zigarette zu drehen begann, zwirbelte die Wunde unter dem Pflaster meiner linken Handfläche. Und da ich nun hin und wieder auch zum Trank anhob, stellte dies meinen rechten Ellenbogen zur Schau, was sogleich Tiago auf den Plan rief. Immerhin schien er noch nichts von den Geschehnissen der letzten Nacht zu wissen und zeigte sich also recht überrascht ob der offenen Wunde, die ihm da förmlich ins Gesicht geragt haben muss und im Übrigen jede Beugung des Arms mit einem leichten Stechen kommentierte. Ihm selbst waren bislang derlei blutige Missgeschicke reichlich unterlaufen, da er sich, neben dem im Vergleich wohl eher harmlosen Kanusport, auch dem Mountainbiken und weiteren halsbrecherischen Sportarten widmete und nicht selten mit aufgeschürften Knien, geplatzten Augenlidern, mitunter auch gebrochenen Armes bei uns vorsprach, ohne sich doch je etwas anmerken zu lassen. Es gehörte ihm einfach zum Tagesgeschäft: Sein Körper war vernarbt und verkrustet und man erwischte ihn mitunter gar dabei, wie er in völliger Geistesversunkenheit an seinen Schorfdeckeln friemelte und zerrte, bis die Wunde letztlich wieder offenlag. Da er also meinen lädierten Ellenbogen betrachtete, schien ihm gleich ganz anders zu werden und er musste es ja wissen als eingefleischter Hautfetzenspezialist. Er, der es mit seinen eigenen Blessuren eben nicht so dicke hielt, der nur im äußersten Notfall den Onkel Doktor bemühte, bezifferte meine Wunde nun doch in aller Ausdrücklichkeit als „ernstzunehmendes Blut- und Eitergewölk“, als „tiefschürfenden hereinbrechenden Einschnitt“ in meine Gesundheit. Und bei eben diesen Worten wurde ich einer seltsamen Parallelität meiner ach so schneidenden Wunde zum urplötzlichen Erscheinen Leilahs in der letzten Nacht gewahr. Sogleich nahm ich sie wieder in Augenschein, die noch in einiger Distanz mir gegenübersaß und über ihren Anblick verschwommen jetzt Tiagos weitere Worte und Ermahnungen, drangen nur noch wie durch einen dicken Filter zu mir vor, derweil ich leichtfüßig und nun doch berauscht an Leilahs Lippen hing, während ich sie in Gedanken in den Armen hielt.
Nach einigen Momenten der Vernebelung drangen Tiagos Worte wieder zu mir durch, die mich darüber in Kenntnis setzten, dass meine Wunde nicht nur widerwärtiger Gestalt sei, sondern auch gehörig gar zu stinken begann.

Mir allerdings war dies egal - ich hatte die Oberlehrerhaftigkeit Tiagos ohnehin kaum vergegenwärtigt und tröstete mich über das wiederholt auftretende schmerzliche Ziehen am rechten Ellenbogen mit meinem Glauben, dass mein Körper schon spontane Selbstheilungsmaßnahmen einleiten würde, wie es doch seit jeher bei Blessuren der Fall gewesen war. War die Wunde jetzt noch nass und eitrig gelb, so würde sie in Bälde schon verkrustet, in sich brodelnd und von äußeren Einflüssen abgeschirmt, sich allmählich selbst zu kurieren wissen, bis letztlich nur noch eine schuppige Hautoberfläche zurückbliebe. So überlegte ich es mir und schickte mich nun an, mit Etienne und zwei weiteren Kameraden einen Fußball locker auf der Wiese hin- und herzuschieben, wobei ich mich bemühte, mit dem linken Arm mein Bier zu balancieren und den rechten steif am Körper anzulegen, um unnötigen Schmerzen vorzubeugen.

Leilah und die anderen waren auf der Decke geblieben und offensichtlich misslang es mir, meine volle Konzentration ausschließlich dem Ballspiel zu widmen, da ich bisweilen nun doch in ihre Richtung lunsen musste, um sie zu bewundern und um festzustellen, dass Kai frontal und unaufhörlich auf sie einredete. Hin und wieder aber gelang es ihr, sich seiner kurzzeitig zu entreißen und da schnitten sich wieder unsere Blicke - zumindest schienen die ihrigen doch den meinigen zu gelten. Denn obgleich ich zuvor ja immer wieder versucht hatte, mit allerlei rationalem Sachverstand ihrem Zauber zu trotzen, konnte ich kaum mit Gewissheit sagen, ob es mich nicht auch erwischt hatte, ob ich nicht auch geblendet war und Dinge sah, die überhaupt nicht da waren - Dinge, die mir mein Unterbewusstsein zusammensuchte, um damit wohlwollend auf meine Gemütslage einzuwirken. Woher auch meinte ich beurteilen zu können, dass sich Leilah in der Gegenwart Kais tatsächlich in einigen Unbehaglichkeiten befand? In welch klägliche Überbewertung meiner selbst muss ich zurückgefallen sein, da ich ihre Blicke nunmehr den meinigen zuordnete, als gehörten sie zusammen, als kommunizierten wir so auf eine schüchterne Weise? Eben darin hat doch ein Unglück oft seinen Ursprung, dass man die Realität auf ein solches Maß sich zurechtbiegt, dass sie einem selbst höchst bekömmlich erscheint. Und in diesem Moment schien es für mich kein analytisches Dagegenhalten mehr zu geben, das mich vor dem Abdriften in Traumtänzereien bewahrt hätte - womöglich war ich Leilah nun doch wieder vollends verfallen. Ich spielte den Ball, der Ellenbogen schmerzte bei ungestümeren Bewegungen und sie schaute mich an - ja fast war mir so, als beobachte sie, inwieweit ich mich zu koordinieren vermochte, worüber ich nun erst recht zu schwanken begann, so dass mir zuweilen ein kleiner Schwall des Bieres aus der Flasche schwappte.

7. Auf der Mauer

Von weitem schon zeichnete sich ab, dass Leilah jetzt allein auf der Mauer saß, sich eine Zigarette drehte und die Beine locker ins Leere baumeln ließ. Kai war nirgends zu entdecken und Leilah schien ihn nicht zu vermissen, obgleich sie manchmal, mit etwas nervösem Blick an den Menschen entlang, wohl nach ihm fahndete, allerdings nicht im Ansatz so verbissen und neurotisch, wie ich es zuvor auf der Suche nach ihr getan hatte. Nein, in aller Ruhe zündete sie sich ihre Zigarette an, um bald auch eine Flasche, vermutlich weißen Weins, an den süßen Mund zu führen, so dass ich mich sogleich wieder verlor, in diesem wunderbaren Ebenmaß. Und so musste ich mir also auferlegen, den Blick nun lieber nicht mehr in ihre Höhen schweifen zu lassen, da es mich doch auf kurz oder lang nur noch weiter hinabgezogen hätte.

Nachdem sich Etienne bei mir erkundigt hatte, wo ich denn so lange geblieben war, geschah nun, was ich längst nicht mehr für möglich gehalten hätte. Doch als ich klar und deutlich die Silben meines Namens im Rücken spürte, drehte ich mich, noch etwas zaudernd, um und durchbrach also den mir selbst auferlegten Zwang, schaute zu Leilah hinauf, die meinen fragenden Blick tatsächlich lächelnd beantwortete und mit der linken Hand auf den freien Platz neben sich klopfend verwies! Und es überkam mich so überraschend, dass ich mit dem Verstand in jenem Moment längst noch nicht hinterher war, dass ich noch nicht hätte verarbeiten können, wie mir geschah und so zum Glück, aus dem Bauch heraus, auf eine Weise selbstlaufend funktionierte: Also leistete ich einfach Folge, trat an die Mauer heran und schickte mich an, diese Höhe zu überwinden.

Im nüchternen Zustand hätte ich vermutlich mindestens aus Respekt vor meiner Ellenbogenblessur auf Unterstützung zurückgegriffen, doch machte der Trank mich vom Leichtsinn schmecken und so reichte ich Leilah also nicht die Hand, sondern lediglich die Flasche. Und mein Vorhaben gelang mir tatsächlich mit raschestem Satz - obgleich nicht ohne von einem inneren Aufschrei begleitet, der das Reißen einer Kruste am Ellenbogen des rechten Armes kommentierte. Doch fand ich mich nun neben Leilah wieder, so dass mir alles andere über die Wahrhaftigkeit ihrer Nähe nur verschwimmen konnte. Und dieses Mal sollte unser Aufeinandertreffen einen anderen Ausgang finden, zumal sie unumwunden ansetzte, diese und jene Frage an mich zu richten.

Wir begannen also das Gespräch aufzunehmen und es war so schön, ihre Worte zu vernehmen, die nun endlich als direktes Erwidern auf meine Person mir erblühten und sie waren so voller Neugier und ungeteilter Aufmerksamkeit, dass es mir so einfach fiel, in fließenden Sätzen ihr von diesem und jenem zu berichten. Es werden gewiss keine großen Dinge gewesen sein, jedoch fühlte es sich an, als sei es ganz egal, was wir miteinander nun besprachen, denn vielmehr schienen uns die Worte hier als Hülle zu dienen, den Inhalt unserer gegenseitigen Sympathie und Zuneigung zu transportieren.

unsere

Und so fügte er noch hinzu, dass er die ganze Zeit über wohl geblendet war und dass ihm durch den verbissenen Fokus auf sein Ziel wohl entgangen sei, wie Leilah sich, wenn auch vorsichtig und einfühlsam, jedoch recht ausdrücklich gegen jedwede Avancen seinerseits positioniert hatte. Und da er dies nun erkannt habe, sei er endlich auch bereit, den Schmerz der Klarheit zuzulassen und sich zurückzuziehen.