Neumann, Christoph Darum nerven Japaner

PIPER

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Meiner lieben Nao

ISBN 978-3-492-97573-5

April 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2006

© Eichborn AG, Frankfurt am Main 2002

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Tokyo Space Club/Corbis

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

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Vorwort

Dürfen Japaner nerven?

»Japaner sind schon manchmal komisch, aber die Kulturen sind eben verschieden.« Europäer schildern Begegnungen mit Japanern gerne mit dem Weichzeichner der Toleranz. Wer sein Kopfschütteln nicht mehr kontrollieren kann, rettet sich zumindest in ein nervöses Lachen (»Japaner sind schon drollig« – »Ja, ja, die lieben Japaner, die sind ein rätselhaftes Völkchen«). Worüber man im sicheren Abstand von 10.000 Kilometern gerne schmunzelt, das treibt einen allerdings leicht zur Weißglut oder auch in tiefe Depression, wenn man mit diesem Volk auf seinen kleinen Inseln eingesperrt ist – so wie ich. Seit sechs Jahren lebe ich in Japan. Und in der Tat, die Japaner gehen mir oft schwer auf die Nerven. Deshalb habe ich die Erlebnisse, Phänomene und Beobachtungen aufgeschrieben, die mich und meine nicht-japanischen Bekannten schockiert, gefrustet oder einfach sprachlos gemacht haben.

Dieses Buch erschien im März 2001 auf japanisch (»Iketenai-nippon – Nihonjin-no honto-no tokoro«) und ist damit eines der wenigen Werke ausländischer Japan-Kritik, das die Japaner direkt erreichte.

Also: Sie müssen keine Gewissensbisse haben, wenn Ihnen dieses Buch gefällt – den Japanern hat es nämlich auch gefallen! Sie haben es gekauft und über sich gelacht und nachgedacht. In unzähligen Mails, Briefen und Gesprächen haben sie sich gerechtfertigt, mit mir gestritten oder auch gelitten.

Natürlich dürfen Japaner nerven, aber man muß sich auch über sie aufregen dürfen!

Tokio im Februar 2002 Christoph Neumann

Regeln

Das Volk will belehrt werden

Japanische Affinität zu Kafka.

Transparente über alles.

Darf man sprechende Kugelschreiber

am Tag des Reisepasses benutzen?

Sony erhebt vorsichtshalber mal den Zeigefinger.

Narita, der internationale Flughafen von Tokio, begrüßte ankommende Passagiere bis vor wenigen Jahren mit zwei Tafeln. Eine tätschelte auf japanisch: »Otsukaresama deshita. Nihon e yokoso.« (Nach der langen Reise sind Sie bestimmt müde. Willkommen in Japan.), während die zweite auf englisch den Zeigefinger hob: »Welcome to Japan. Please respect the rules.« (Willkommen in Japan. Bitte beachten Sie die Regeln.) Beide Schilder zusammengenommen ergaben also folgende Botschaft: »Ihr Ausländer könnt ja sowieso kein japanisch, also können wir unsere aus der Fremde heimkehrenden Kinder ruhig freundlich begrüßen, ohne daß ihr es merkt. Bevor wir euch die gleiche Zuneigung zuteil werden lassen, zeigt uns erst mal, daß Ihr euch anpassen könnt, dann sehen wir eventuell weiter.« Wie aber diese geheimnisvollen »Regeln« aussehen, darüber wurde der ausländische Gast im Unklaren gelassen. Wenn nun aber schon so groß auf die »Regeln« hingewiesen wurde, dann mußten diese doch wahrscheinlich andere als die der Herkunftsländer der Touristen sein. Man erwartete, daß sie ebenfalls groß und deutlich aufgelistet werden. Aber die englische Tafel schickte einen ins Leere. Kein konkreter oder irgendwie weiterführender Hinweis war zu sehen. Wer den Text wirklich ernst nahm – unmittelbar nach der Paßkontrolle war er immerhin der erste offiziell wirkende englische Text auf japanischem Boden –, der mußte sich gleich in den ersten Minuten im Land wie Herr K. aus Kafkas »Prozeß« fühlen. Wahrscheinlich fiel diese Quälerei doch irgendwann einem kosmopolitischen Landsmann auf, und so wurde rechtzeitig vor den Olympischen Spielen in Nagano das englische Schild auf ein einfaches »Welcome to Japan« verkürzt.

Ausländern muß also zunächst einmal mitgeteilt werden, daß es in Japan überhaupt Regeln gibt. So unklar ihre Definition auch ist, ihre bloße Existenz ist viel zu wichtig, als daß sie auch nur ein Geschäftsmann auf Drei-Tage-Businesstrip ignorieren dürfte.

Auch im Land selbst entgeht der Ausländer der Belehrung über die Existenz von Regeln nicht. »Globalisierung ja – aber halten wir die Regeln ein!« Das steht (auf Japanisch) auf der einen Seite der Kugelschreiber in der Ausländerbehörde, die für die naturgemäß ausländischen Antragsteller bereitliegen. Auf der Rückseite lesen wir auf japanisch: »Ihre Mitarbeit, damit illegale Beschäftigung gestoppt wird!« Aha, endlich mal eine konkrete Regel. Bloß eine ziemlich unverschämte, denn entklausuliert sollen wir wohl lesen: »Ihr Ausländer brecht dauernd die Gesetze und arbeitet auch noch schwarz. Hört endlich auf damit!« Dabei sind die Firmen, die Ausländer illegal beschäftigen, fest in japanischer Hand und werden kaum in Kontakt mit Kugelschreibern der Ausländerbehörden kommen. Wir Ausländer verstehen wohl die subtile Sprache des Regelwesens einfach nicht.

Diese Kugelschreiber sind die extreme Ausgeburt einer an sich gar nicht so extremen Grundüberzeugung der Japaner: In der sozialen Gemeinschaft hat jeder gegenüber den andern die gleichen Rechte und vor allem die gleichen Pflichten. Diese Pflichten verbrämen die Japaner heute gerne mit dem Wort »gute Manieren«. Manieren sind dabei nicht ein bloßes Zeichen guter Kinderstube, sondern überlebenswichtig. Denn die natürliche menschliche Reaktion auf die Enge in den japanischen Riesenstädten ist Aggression. Damit sich nicht alle vor Platzangst totschlagen, sind vielfältige Pflichten nötig, um das Zusammenleben in den Ballungszentren zu ermöglichen. Dieses System von Rechten, Pflichten und Manieren manifestiert sich in den ominösen Regeln.

Die Notwendigkeit von Regeln kann man also einsehen. Sie sollen Ordnung schaffen und so die Gemeinschaft erhalten. Deswegen empfinden Japaner Regeln nie als aufdringlich oder bevormundend. Aber mit dieser Regelhörigkeit nimmt das Drama auch schon seinen Lauf. Denn wer bestimmt Regeln eigentlich? Gesetze werden vom Parlament verabschiedet, Modestile von den Zeitschriften verbreitet und Tischsitten den Franzosen nachempfunden. Das Handikap der von allen Japanern so dringend gewünschten und benötigten Regeln aber ist, daß es keine anerkannte Autorität gibt, die sie festschreibt. Das heißt: Jeder kann eine Regel entwerfen und damit rechnen, daß sie auch bis zu einem gewissen Grad von denen befolgt werden wird, die von ihr erfahren. Es setzen sich nicht die Regeln durch, die nützlich für das Gemeinwohl sind, sondern die die meisten Leute erreichen. Je marktschreierischer ich eine Regel in die Welt hinausposaune, desto mehr wird sie allgemein akzeptiert werden. Dabei gilt das Gießkannenprinzip: Wir sagen es so laut, daß es jeder hört – dann sind garantiert auch die darunter, die gemeint sind. Seit Jahr und Tag mahnt der Zugschaffner per Lautsprecher jeden Morgen aufs Neue, das Handy auszuschalten. Aber auch die 99,9% der Fahrgäste fühlen sich nicht bevormundet, die selbst diese Vorschrift schon längst beachten. Keiner ärgert sich, denn jeder ist davon überzeugt, daß Regeln richtig sind, und da beißt man eben die Zähne zusammen, wenn es einen selbst nichts angeht.

Noch beliebter als die akustische Regelverbreitungsmethode ist die von Kugelschreibern und Flughafen bekannte Slogan-Methode: Regeln in eine knackige Parolenform packen und an gut sichtbaren Stellen ins Blickfeld rücken. »Das Feuer ist dein Feuer, bis es erlischt.« An diesem poetischen Slogan erkennt man im Winter ein Feuerwehrgebäude. Er steht auf riesigen Transparenten, die von den Wänden des Gebäudes herabhängen. Viele Japaner heizen mit relativ primitiven Ölöfen mit offener Flamme. Da entstehen natürlich viele Brände aus Unachtsamkeit. Diese Warnung scheint so wichtig zu sein, daß sie im Winter sogar im Fernsehen bei Sendeschluß nach der Nationalhymne eingeblendet wird. Die meisten Slogans werden wie bei der Feuerwehr auf große Transparente gespannt: »1998 – Jahr der Verbrechensbekämpfung – die Stadtpolizei« prangte zweckfrei an den Brückengeländern über den breiten Schnellstraßen der Stadt Tsukuba, wo bei uns höchstens ein prägnantes »Stau!« zu erwarten wäre. Ist das eine Selbstverpflichtung oder eine an potentielle, autofahrende Verbrecher gerichtete Drohung? Welche Pflicht oder Regel kann ich als unbescholtener Autofahrer daraus ableiten? Daß ich im Jahr 1999 schleunigst in eine andere Stadt ziehen sollte, weil sich die Polizei in Tsukuba dann aus dem nebensächlichen Aufgabengebiet der Verbrechensbekämpfung zurückziehen wird? Auf jeden Fall hat dieses Transparent soviel mit dem Verkehr zu tun wie ein leuchtend rotes »1989–40 Jahre deutsch-sowjetische Freundschaft« und erzielt auch genauso viel Aufmerksamkeit. Die Verwaltungen des Ostblocks und die Japans scheinen ihre Vorstellungen darüber, wie man die Bürger manipuliert oder erzieht, der gleichen obskuren Quelle entnommen zu haben; vielleicht der Broschüre eines Herstellers von Transparentstoffen.

Schnell merkt man, daß die japanischen Behördenhengste und Firmen über die Regelei ihre eigene Verantwortung auf die Individuen abzuschieben versuchen. Lieber eine neue Regel unters Volk bringen, statt selbst den Hintern zu heben und qua Amt einen mißliebigen Zustand zu verbessern. Statt die Betriebe schärfer zu überwachen, werden ein paar Kugelschreiber bedruckt. Statt kleine Mülleimer in den Zugwaggons aufzustellen, werden die Fahrgäste lieber aufgefordert: »Schauen Sie noch ein zweites Mal nach, ob Sie etwas liegengelassen haben.« Warum wehren sich Japaner, Bürger einer Demokratie und solvente Kunden, nicht gegen diese Verantwortungsdrückebergerei von Obrigkeit und Firmen? Vielleicht, weil in Japan gesellschaftlich akzeptiert ist, was im real existierenden Sozialismus genervt hat: Regeln müssen nicht nur, sie dürfen und sollen lärmend unters Volk gebracht werden. Im Verhältnis zum sonstigen Aktivitätsniveau entwickeln die Schreibtischtäter eine schier für unmöglich gehaltene Energie, jede noch so kleine Mitteilung mit Pauken und Trompeten dem Untertanen nahezubringen. Der Traum eines jeden Regelliebhabers ist dabei die Schaffung eines eigenen Gedenktages. Am 1. September findet jedes Jahr der »Tag der Katastrophenübung« statt. Im ganzen Land zeigen Feuerwehren, Krankenhäuser und andere Notfallinstitutionen, wie gut sie auf ein großes Erdbeben oder einen Großbrand vorbereitet sind. Die Bürger können sich alles ansehen und erhalten Tips zur persönlichen Vorsorge. Der Hauptsinn aber ist es, daran zu erinnern, daß das große Desaster jederzeit kommen kann, und daß man jährlich überprüfen soll, ob die Batterien in der Nottaschenlampe noch voll sind und ob die Notration an Lebensmitteln noch haltbar ist. Was liegt da näher, als für alle Japaner einen einheitlichen Tag der Überprüfung festzusetzen? Man kann den Sinn eines solchen Gedenktages (der kein Feiertag ist) im erdbebengeplagten Japan noch recht gut verstehen. Aber was ist mit dem 20. Februar? Das ist nämlich der »Tag des Reisepasses«. Von dieser Blüte der japanischen Bürokratie-Kultur las ich zum ersten Mal auf einem Plakat, wieder in der Ausländerbehörde. Auf dem Plakat hält der markant gewichtige Sumo-Ringer Konishiki, ursprünglich Amerikaner aus Hawaii, der bei seiner Einbürgerung auch gleich einen ganz neuen japanischen Namen bekam, voller Stolz einen japanischen Paß in seiner Hand: »Shioda Yasokichi kann auf der ganzen Welt mit seinem Paß beweisen, daß er Japaner ist.« Im eigenen Land nützt dieses exklusive Vorrecht übrigens nichts: Japaner mußten bis in jüngste Zeit am Flughafen bei jeder Ausreise wie damals die DDR-Bürger einen »Ausreiseantrag« mit Angabe von Reiseziel, Reisegrund, Flugnummer und Aufenthaltsdauer stellen, der natürlich immer genehmigt wurde. Nach wie vor wird jede Aus- und Einreise mit einem Stempel im Paß dokumentiert. Aber so wertvoll ihnen der Paß auch immer sein mag, stellt er doch noch lange keinen Anlaß dar, einen Gedenktag festzulegen – dachte ich. Schließlich bringt der Tag keine besonderen Verpflichtungen oder Sonderzuteilungen, es gibt keine Gedenkveranstaltungen oder Preisverleihungen. Dieser Gedenktag dient einzig und allein dazu, alle daran zu erinnern, daß es Reisepässe gibt. Ich fand das so albern, daß ich gleich am nächsten Tag meine japanische Freundin fragte: »Wußtest du, daß es einen ›Tag des Reisepasses‹ gibt?« »Der ist doch am 20. Februar«, meinte sie ganz ernsthaft, meinen glucksenden Unterton vollkommen ignorierend. Sie zog ein kleines Blatt mit 20 gleichen Aufklebern aus ihrer Handtasche: »Guck, das hat mir meine Freundin geschenkt.« Auf den Aufklebern stand am Rand: »20. Februar – Tag des Reisepasses«. In der Mitte prangte eine Comicfigur namens »Paspo-kun« (»das kleine Reisepaß-Bärchen«). Hersteller: die Ausländerbehörde höchstselbst. »Möchtest du einen?« – »Arghh!«, schrie ich innerlich auf und klebte resignierend ein Reisepaß-Bärchen auf die Rückseite meines deutschen Passes. Warum ausgerechnet der 20. Februar? Der 23. September (»Tag der Immobilien«, eingeführt vom Verband der japanischen Makler) war schon weg, ebenfalls der 15. August (»Tag der Taxis«). Der 11. 11. ist bereits der »Tag der Pokki-Salzstangen« (eingeführt vom Nahrungsmittelhersteller »Glico« aus dem einzigen Grund, daß die vier Einsen im Datum an vier nebeneinandergelegte Salzstangen erinnern), und nachdem es selbst einen »Tag des Salates« (7. Juni) gibt, kann man glaubhaft annehmen, daß der Paßbehörde einfach keine große Auswahl mehr geblieben war.

Die Verbreitung hehrer Gemeinschaftsziele wird nicht nur von den Behörden, sondern auch von den Firmen unterstützt. An einem milden Aprilabend stand ich allein an einer Haltestelle der von einer privaten Firma betriebenen Straßenbahn der Stadt Otsu am Biwasee. Gerade brach die Dämmerung über die hohen bewaldeten Berge der Umgebung herein, die Stille wurde nur vom Zirpen der ersten Insekten durchbrochen, und die laue Frühlingsluft trug meine Sinne davon. Da knarzte plötzlich der Lautsprecher an der Haltestelle. ›Oh Gott‹, dachte ich, von der Tokioter Yamanote-Bahn geschädigt. Würden sie jetzt bekanntgeben, daß es einen Personenunfall gegeben hat und die nächste Straßenbahn erst in einer Stunde eintrifft? Nein. In Wirklichkeit tönte aus dem Lautsprecher: »Heute sind bekanntlich die Wahlen zum Provinzparlament. Die Wahllokale haben noch bis acht Uhr geöffnet. Laßt uns alle die Demokratie unterstützen und wählen gehen!« Wieder schrie ich innerlich auf. Was geht es denn diese Firma an, ob ihre Fahrgäste wählen gehen oder nicht? Sie scheucht die Leute auf, stört die Ruhe, nur, um uns auch noch Vorschriften zu machen. Wir sind wohl mündig und intelligent genug, um aus den viertausend Prospekten in unseren Brief-kästen, den Millionen Werbeplakaten in der Stadt und den im Minutentakt durch die Straßen rasenden Wahlautos mit ihren Lautsprecherparolen gefolgert zu haben, daß da was im Gange ist. Vor allem aber ist eine private Firma die letzte Institution, von der ich an die Wahl erinnert werden möchte. Von ihr will ich als Kunde behandelt werden, mit Respekt. Ich erwarte eine Art Dank dafür, daß ich eine Fahrkarte gekauft habe, und möchte nicht belehrt werden.

Die Manager der Straßenbahnfirma aber handeln in dem guten Glauben, die Gemeinschaftsziele durch ihre Verlautbarungen zu unterstützen. Richtig pervertiert und ausgenutzt wird dieser Gemeinschaftsgeist aber noch von vielen anderen Firmen: »Auch bei Kopfhörern wollen wir die guten Manieren einhalten!«, steht auf einem Plakat, auf dem der neueste, glitzernde MD-Walkman von Sony groß abgebildet ist mit gezeichneten Ohrsteckern, die im Ohr eines Bahnbenutzers stecken. Das ist kein weiterer Ratschlag der Bahngesellschaft, das ist eine Ermahnung des multinationalen Konzerns Sony an Kunden in seinem Stammland Japan. Zu Deutsch: Immer leise drehen, auch unsere tollen Walkmänner, die – das will Sony dann doch nicht ungesagt lassen – mit der neuesten Digitaltechnologie ausgestattet sind und absolut cool aussehen. In Deutschland verbittet man sich solche Moralpredigten. »Wollt Ihr Eure Walkmänner verkaufen oder uns erziehen?« – mit solchen Gedanken im Hinterkopf würde sich der deutsche Kunde schnell von Sony abwenden. Die Japaner dagegen finden nichts Anstößiges an der Anzeige, nach dem Motto: »Wir Japaner müssen uns alle an Regeln halten, um zusammenleben zu können – und einer muß die Regeln schließlich machen.« Sei es der Staat, sei es die Feuerwehr oder sei es eine ganz normale Firma. Natürlich will Sony in erster Linie Geschäfte machen. Der verführerisch glitzernde Walkman der Sony-Anzeige weckt erstmal Kauflust. Man schaut hin und – ätschibätsch – kriegt man einen Schlag in den Magen: »Kaufen – ja gerne. Aber ja nicht zu laut drehen.« Wahrscheinlich gibt diese Ermahnung japanischen Käufern mit Maso-Tendenzen den letzten Kauf-Kick. In der gleichen Sprache, in der Firmen zur Einhaltung von Regeln ermahnen, ermahnen sie auch zum Kauf ihrer Produkte.

Am besten werden beide Stretegien kombiniert. »Laßt uns gute Manieren kaufen!« lautet die Werbung für ein Etui namens »Pockero«, das als »tragbarer Aschenbecher« angepriesen wird. So ist man der Peinlichkeit enthoben, den Zigarettenstummel einfach auf die Straße zu schmeißen. Und dafür, daß man sich nicht danebenbenimmt, darf man der Herstellerfirma pro Einweg-Aschenbecher 100 Yen* überreichen, wofür man fast eine halbe Packung Zigaretten bekommt. Der Unterschied zwischen diesem reinen Werbeplakat und dem danebenhängenden klassischen »Parolenplakat« der Bahngesellschaft (»Wollen wir aufhören, uns auf den letzten Drücker in den Zug zu quetschen!«) verschwimmt für den ungeübten Beobachter völlig.

Anfang 1997, als Handys in Japan noch nicht so lange verbreitet waren, daß sich ein Regelkodex für den richtigen Gebrauch hätte durchsetzen können, mietete die Telefongesellschaft J-Phone ganze Waggons für ihre Anzeigen. Da stand: »Laßt uns damit aufhören, die Leute im Zug mit unseren Anrufen zu belästigen! Laßt uns das Telefon auf die Anrufbeantworter-Funktion stellen, wenn wir in den Zug steigen!« Nach dem Wort »Anrufbeantworter« befand sich ein Sternchen, und in der zugehörigen Fußnote las man dann: »J-Phone ist übrigens die einzige Telefongesellschaft überhaupt, deren Handys eine Anrufbeantworter-Funktion haben.«

Japan ist wohl das einzige Land auf der Welt, in dem in der Werbung der Appell an den Gemeinschaftsgeist, an die guten Manieren, als Kaufargument zieht und in dem Werbeslogans als ermahnende Pflichterinnerungen formuliert werden können. Es spricht eigentlich für die Japaner, daß sie Wert auf den Gruppengeist und das gute Benehmen legen. Aber gegenüber Bürgern einer Demokratie und potentiellen Kunden wirken solche Befehle arrogant, beleidigend und, angesichts des tatsächlichen niederen Beweggrundes, als kulturelle Amtsanmaßung.

Aber die Japaner sind gegenüber der Regelei sehr tolerant. Im Studentenwohnheim der Universität Tsukuba sind auf jedem Gang mehrere Lautsprecher installiert. Ursprünglich wohl, um wichtige Bekanntmachungen auch den Studenten nahezubringen, die gerade schlafend den Unterricht schwänzten. Aber wenn einmal ein solch bequemes System installiert ist, dann verführt es auch zur Benutzung – vor allem, wenn sich die Benutzer einbilden, daß ihre Mitteilungen von höchster Dringlichkeit sind. So hat es sich eingebürgert, daß jeden Morgen um sieben Uhr der Lautsprecher knarzt, eine halbe Minute nur Husten und Räuspern zu hören ist, und dann ein aufdringliches »Guten Morgen!« erschallt. Und was sagen sie dann? »Heute nachmittag findet um vier Uhr das Baseballspiel gegen die Meiji-Universität statt. Wollen wir alle recht zahlreich kommen!«, oder: »Das Seminar bei Professor Kumazawa in altfranzösischer Literatur beginnt eine Stunde später.« Wie aufmerksam, daß sie sich die Mühe machen, mir und 5.000 anderen unbeteiligten Studenten mitzuteilen, daß wir genau wie vier Romanistik-Studenten noch länger hätten schlafen können, hätte uns nicht so eine dumme Durchsage geweckt.

Ein deutscher Freund, der zwei Monate in einem ähnlich ausgestatteten Firmenwohnheim in Kioto untergebracht war, rang lange mit sich, bevor er sich dazu entschließen konnte, auf die wertvollen allmorgendlichen Informationen fortan zu verzichten. Er lieh sich eine Kneifzange.

Schuhe

Das Elfte Gebot:
»Du sollst Deine Schuhe ausziehen!«

Sanitäter zeigen Stil.

Die unzertrennliche Beziehung zwischen Ausländern

und Toilettenschuhen, zwischen Filz und Privilegien

und zwischen Schnürsenkel und Fersenteil.

Ein deutscher Bekannter in Tokio hatte vor Jahren ein tragisches Erlebnis. Sein ebenfalls deutscher Mitbewohner beging in der gemeinsamen Wohnung Selbstmord, er hatte sich eine Plastiktüte über den Kopf gestülpt, sie zugeschnürt und in ein vorher dafür genau zugeschnittenes Loch den Schlauch vom Gashahn eingeführt und das Gas aufgedreht. Als der Gasgeruch bis in das Zimmer meines Bekannten vorgedrungen war, stürmte er zu seinem Mitbewohner, stellte das Gas ab, riß ihm die Tüte vom Kopf – er rührte sich nicht mehr – und rief den Rettungsdienst. Der Krankenwagen war in fünf Minuten da. Die Sanitäter und der Arzt hetzten die Treppe hoch, traten in den Flur – und blieben dort erst einmal alle stehen, um sich die Schuhe auszuziehen, bevor sie es wagten, in Strümpfen das Zimmer des Selbstmordkandidaten zu betreten und die dringenden Notfallmaßnahmen einzuleiten. Es lag hoffentlich nicht an den 15 Sekunden, die das Ausziehen der Schuhe gedauert hatte, daß der Patient noch auf dem Weg ins Krankenhaus starb. Die Persistenz dieser Sitte selbst in einer Extremsituation zeigt, wie ernst sie den Japanern ist. Und sie macht deutlich, wie groß der Fauxpas in ihren Augen sein muß, wenn ein Ausländer die Sitte des Schuheausziehens nicht respektiert. Dabei unterläuft Ausländern eher selten der Fehler, eine japanische Wohnung mit Straßenschuhen zu betreten. Viel eher passiert es, daß wir uns im innerhäusischen Schuh-System verheddern.

Dabei betet doch jeder Reiseführer gebetsmühlenhaft herunter: Im Hauseingang aus den Straßenschuhen in die bereitstehenden Pantoffeln schlüpfen. Mit Reisstrohmatten ausgelegte Zimmer aber immer nur in Strümpfen betreten. Vor den Toiletten die Pantoffeln ausziehen und in die extra bereitstehenden Toilettenschuhe schlüpfen. Nach dem Verlassen der Toilette wieder in die Hausschuhe wechseln. Leider bin auch ich schon mehrmals in Toilettenschuhen wieder in das Speisezimmer zurückgeschlurft, wo nach einem streifenden Blick auf meine Füße in Sekundenbruchteilen die Atmosphäre gefror. Meinen japanischen Gastgebern versagte die Stimme und sie schauten angestrengt höflich nach oben, um ja nicht noch mal den Stein des Anstoßes sehen zu müssen. Daß sie derart auf den Anblick von Klopantoffeln reagieren, spricht nicht gerade für die Sauberkeit japanischer Toiletten. Ein deutscher Freund plädiert daher sogar für eine Verschärfung der Regeln: »Gummistiefel statt Toilettenpantoffeln!«

Wie die Wohnungen, so ist das ganze Land scharf in schuhfreie und schuhbare Zonen unterteilt. Geschäfte, Gaststätten, Behörden und die meisten Bürogebäude kann man meist ungehindert in Straßenschuhen betreten. Vor Sportzentren, Tempeln, Krankenhäusern, Arztpraxen und vielen Museen heißt es dagegen unmißverständlich auf großen Schildern: »Schuhe aus!«. Und während man eine Modeboutique ganz normal in Straßenschuhen durchläuft, achten die Verkäuferinnen scharf darauf, daß man vor dem Betreten der Umkleidekabine auch ja die Schuhe vor dem Vorhang läßt.

In den Schulen hat jeder Schüler in seine mit Namen gekennzeichneten Plastikschlappen zu schlüpfen, die in ebenfalls namentlich gekennzeichneten kleinen Boxen am Eingang stehen. So stauen sich die Schüler vor Schulbeginn jeden Morgen im Eingangsbereich, weil alle gleichzeitig die Schuhe wechseln und in die Boxen stellen. Auch an meiner Uni gab es einen Vorlesungsbereich, den man nicht mit Straßenschuhen betreten durfte. Entsprechend standen am Eingang gleich zwei große Boxen für die Straßenschuhe, in denen gleichzeitig Pantoffeln bereitgestellt waren. Eine Box war für das Lehrpersonal, die andere für die Studenten. Die Studenten bekamen die normalen Plastikschlappen in der einfachsten Ausfertigung, während das Lehrpersonal besondere, gefütterte Pantoffeln erhielt, die weicher und somit luxuriöser waren. Ein Text auf jedem Professoren-Pantoffel wies noch einmal auf dessen Exklusivität hin: »Nur für Lehrpersonal und Universitätsbesucher. Benutzung für Studenten streng verboten!«

Ob Filz oder Plastik – es ist nicht nur unangenehm, sondern auch unhygienisch, wenn man an den verschiedensten Orten in Pantoffeln schlüpfen muß, in denen bereits ein paar tausend Füße gesteckt haben. Kein Wunder, daß Reklamespots für Mittel ge-gen Fußpilz ein Dauerbrenner im japanischen Werbefernsehen sind …

Die strenge Sitte des Schuhablegens ist allerdings selbst den Japanern lästig. Ein Gasableser muß sich jeden Tag über fünfzig Mal seiner Schuhe entledigen (und tut es), wenn er an die Zähler in den Wohnungen heranmöchte. Das Auf- und Zubinden der Schnürsenkel wird da zur Sisyphusarbeit: Kaum drin, schon wieder raus. Nur wenige Leute entfliehen diesem Zwang, indem sie in einfach abzulegenden Sandalen oder Straßenslippern durch die Gegend ziehen. Diese Blöße möchte sich im hypermodebewußten Tokio auch wiederum niemand geben. Die meisten verzichten da lieber aufs Auf- und Zubinden und quälen sich direkt in den gebundenen Schuh hinein oder aus ihm heraus. Eine solche Behandlung zerdrückt natürlich schon nach wenigen Malen das Fersenteil des Schuhes, und so haben in der Armee von Schuhen im großen Eingangsbereich meines Sportzentrums fast alle ein eingedelltes Fersenteil. Aber selbst die schönsten italienischen Lederschuhe sehen schäbig aus, wenn sie so behandelt werden. Die hübschen jungen Japaner mit ihren gepflegten Frisuren und den teuren Klamotten wirken seltsam widersprüchlich, wenn man den Blick ganz nach unten wandern läßt und die zerdellten Treter sieht.

Auch wenn das Schuhschnüren entfällt, muß man immer noch das Fersenteil hochziehen. Sich bücken und es mit der Hand hochziehen macht den Zeitgewinn schon fast wieder zunichte. Daher beherrschen die meisten es im Laufen: Beim Schritt vorwärts rutscht der Fuß tief in den Schuh nach vorne, mit dem Rückschwung kann man dann mit der Ferse das Fersenteil wieder hochstülpen. Das sieht allerdings immer ein bißchen behindert aus, vor allem wenn man eine größere Gruppe ein Gebäude der schuhfreien Zone verlassen und die ersten paar Schritte kollektiv hinken sieht. Noch unästhetischer wirken nur die radikal Faulen. Sie verzichten ganz aufs Hochschieben des Fersenteils und stehen mit nach hinten offenen Schuhen in der U-Bahn und im Büro. ›Da wären praktische Slipper dreimal ansehnlicher‹, denkt der ungeschulte westliche Beobachter, dem das komplexe Verhältnis von Landesbräuchen, aktueller Mode und Bequemlichkeit im fernöstlichen Wertesystem verborgen bleibt.

Diese undurchschaubare Wertewelt muß auch der Grund sein, warum Japanerinnen um jeden Preis an hochhackigen Absätzen festhalten. Während der Kampf mit dem Schuhschnüren hauptsächlich die Männer betrifft, scheinen Frauen keine normalen Schuhe im Schrank zu haben. Selbst durch den seltenen Tokioter Schnee stapfen sie mit hohen Absätzen. Diese sind nicht nur Modeaccessoire, sondern essentielles Mittel gegen den Komplex, zu klein zu sein. Mittlerweile erreicht dieser kaufbare Zusatz an Körperlänge bis zu 30 Zentimeter. Riesenabsätze heben selbst eine kleine Frau von 1,49 m auf Ausländerhöhe. Erst in der Wohnung (Schuhe aus!) merkt man dann, daß einem die Japanerin gerade bis unter die Brust reicht.

Der Sinn des Schuheausziehens scheint vielen Japanern gar nicht mehr so präsent zu sein. Warum sonst fragt jeder japanische Besucher, der zum ersten Mal in meinem Wohnungseingang steht: »Muß ich bei dir auch die Schuhe ausziehen?« Als ob das Schuheausziehen nicht eine Sache der Hygiene, sondern ein weiterer, auf Ausländer und ihre Wohnungen nicht anwendbarer Brauch wäre, wie Verbeugen oder demokratisches Karaoke-Singen. Ich will es nicht beschreien, aber bei vielen, die mich am Eingang fragen, ob auch in meiner Wohnung das Schuhverbot gilt, sehe ich den Blick in mein Wohnzimmer, der zu fragen scheint: »Darf ich es bei dir vielleicht mal ausprobieren, wie es sich anfühlt, einen Teppich MIT Schuhen zu betreten?«

Essen

Die mit dem Bauch denken

Warum man rohen Fisch nicht mögen darf.

Das einzige Land, das seinen Nationalcharakter

über Sojabohnenbrei definiert.

200 Kilometer Autofahrt für ein Kilo Pfirsiche.

Wann Astronautennahrung Rotwein vorzuziehen ist.

Na, wie wär’s zur Abwechslung mal mit ein bißchen vergorenem, schleimartigen Sojabohnenbrei aufs Abendbrot?

Das japanische Gericht »Natto«, dessen zutreffende, plastische Beschreibung aus einem deutschen Reiseführer stammt, ist ein äußerst beliebter Imbiß, der zusammen mit Reis gegessen wird. Aber zum Glück muß der Gast in Japan seinen Respekt vor der Kultur des Gastlandes nicht zeigen, indem er selbst die widerwärtigsten Speisen mit einem möglichst in Landessprache geäußerten »Lecker« herunterwürgt. Im Gegenteil, den japanischen Gastgeber freut es, wenn man ein paar der typischen Landesgerichte angeekelt stehenläßt. Vor allem Natto, rohen Fisch und Tintenfisch sollte man nicht anrühren. Warum? Weil auch beim Essen der Ausländer nicht einfach Mensch ist – er ist in erster Linie Ausländer und damit kein Japaner. Deshalb darf er auch nicht einfach mögen, was Japaner gern essen. Nichts ist den Japanern lieber als ein Ausländer, der ihre Vorurteile über Ausländer bestätigt. Japaner lieben es, darüber nachzudenken, was sie unterscheidet von allen anderen Menschen auf diesem Planeten. In ihren selbst so definierten Nationalcharakter packen sie asiatische Geistesströmungen wie ihre angeborene Höflichkeit, den Unterschied zwischen dem Gesagten und dem Gemeinten, den Respekt vor den Höherstehenden. Aber eben auch ganz unphilosophisch das, womit sie ihren Bauch füllen: ihr Essen.

Die ersten beiden Fragen, die Japaner einem Ausländer stellen, unterscheiden sich kaum von denen des Rests der Welt: »Woher kommen Sie?«, und: »Wie gefällt Ihnen unser Land?«. Die dritte Frage ist schon ein bißchen japantypischer: »Warum können Sie so gut Japanisch?« Aber die vierte Frage taucht wohl so schnell in keinem anderen Land auf: »Mögen Sie japanisches Essen?« (Eine fünfte Frage gibt es übrigens auch – aber dazu später mehr.) Zögert der ausländische Besucher auch nur kurz auf die Frage nach dem Essen, präsentiert ihm sein japanischer Gesprächspartner garantiert sofort eines der drei oben genannten Gerichte, Natto, Tintenfisch oder rohen Fisch. Dann wartet er erwartungsvoll auf die einzige seinem Weltbild entsprechende Antwort: »Nein, das ist ja eklig. Wie kann man so etwas essen?«, um verschmitzt in sich hineinlächeln zu können: »Die Ausländer werden uns nie verstehen. Wir sind eben so unheimlich toll verschieden.« Der Gast wird aber nur ein verständnisvolles, fast entschuldigendes Lächeln gezeigt und zu hören bekommen:

»Wir sind ja auch seltsam, es ist nur natürlich, daß Sie sich davor ekeln.«