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Für Freya, Frieda, Helena, Marius, Toni und Johanna

„Finsternis ist bei dir wie das Licht.“ (Psalm 139.12)

PHILIPP SCHAAB: „Der süße Duft der Kobralilie – Erzählungen“
1. Auflage, April 2016, Edition Subkultur Berlin

© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur
Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin
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Korrektorat: Marion A. Müller
Cover: Public Domain Picture (bearbeitet von Marion A. Müller)
Satz & Layout: Thomas Manegold


print ISBN: 978-3-943412-26-0
epub ISBN: 978-3-943412-75-8
E-Book-Version: 1.2

Philipp Schaab


Der süße Duft

der Kobralilie

 

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Meine Hoffnung

„Laß ab von Weinen. Bei den Toten unten

Im Schattenlande werden bald wir wohnen

Und ewig schlafen in den Tiefen drunten,

In den verborgenen Städten der Dämonen.“

Georg Heym – aus: Der Tod der Liebenden

I.

Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das Mädchen am Nebelsee zum ersten Mal gesehen habe und in ihren Bann geraten bin. Vielleicht mag es Ihnen seltsam erscheinen, dass ich jenen zauberhaften Moment erster Verliebtheit, der so vielen auch nach Jahren und Jahrzehnten noch in jeder Sekunde nachfühlbar ist, inzwischen vergessen habe. Ich ahne schon die Gedanken, die Ihnen durch den Kopf gehen:

„Wenn er es vergessen hat, war es wohl doch nicht so außergewöhnlich.“

„Er ist gar nicht verliebt gewesen.“

„Das muss ziemlich schiefgegangen sein.“

Der letzte Gedanke ist nicht ganz falsch, könnte aber zu Missverständnissen führen, ließe man ihn so stehen. Wenn Sie meiner Geschichte folgen, werden Sie verstehen.

Ich nehme an, Ihnen sind jene häufig genannten Flugzeuge im Bauch noch in bester Erinnerung. Sie erinnern sich vielleicht der Tages- oder gar der Uhrzeit, wissen Jahr, Monat, Woche, Tag, als sei es erst gestern gewesen, dass Sie das Objekt Ihrer Begierde das erste Mal erblickten. Eine solche Erinnerung kann später einmal ein großer Trost und Quelle zum Kraftschöpfen sein. Wenn Vitalität und Leidenschaft von Alter und Enttäuschung gebrochen sind, vermögen die Bilder der untergegangenen Jugend noch einmal für kurze Zeit einen rosigen, wohlriechenden Schleier über den eigenen Verfall zu drapieren, vergessen zu machen, was geschehen ist und was unvermeidlich kommen wird. Und daran ist nichts Schlechtes, denn warum sollten wir uns ob des Unvermeidlichen allzu viel den Kopf zerbrechen und mit melancholischer Grübelei Zeit verschwenden? Hoffnung und Lebensfreude auch in schwierigen Zeiten nicht zu verlieren, ist eine Charaktereigenschaft, der ich heute noch großen Respekt zolle. Ich habe stets versucht, meinen Charakter entsprechend zu schulen, aber ich kann nicht sagen, dass ich dabei erfolgreich war, was nicht zuletzt meiner Beziehung zu dem Mädchen geschuldet ist.

Selbstverständlich trägt das Mädchen nicht die alleinige Verantwortung für meine gegenwärtigen seelischen und körperlichen Probleme. Meine Leidenschaft ihr gegenüber ist trotz allem, was vorgefallen ist, noch nicht erloschen, sondern ist – auf eine gewisse Weise – noch viel stärker geworden. Nicht zuletzt, weil ich heute nichts anderes mehr habe, als diese eine Leidenschaft, die mir noch so etwas wie eine vage Hoffnung gibt. Erwächst die Hoffnung aber aus der Liebe – zu was auch immer –, dann liebe ich jenes Mädchen noch heute so sehr wie nichts anderes auf dieser Welt.

Lange hatte ich sie nicht verstanden und haderte mit meinem Leichtsinn, mit dem ich mich ihren Armen überantwortet hatte, nach gerade einmal drei Tagen, die wir uns kannten. Nun jedoch lebe ich schon eine gewisse Zeit in ihrer Heimat und ich habe einige Dinge erlebt an ihrer Seite, die den Beginn unserer Beziehung geradezu schal und langweilig erscheinen lassen. So verblassen allmählich die Bilder an jenen wundersamen Tag, als ich der schmalen Gestalt des Mädchens, ihrer hellen, blassen Haut, ihres dunklen, grünlich schimmernden Haares an den baumumwucherten Ufern des abgelegenen Nebelsees am Rande des Moores das erste Mal gewahr wurde. Und was ich heute noch berichten kann, ist wahrscheinlich schon von einem Urwald an Phantasien und Wunschvorstellungen überwuchert und bis zur Unendlichkeit entstellt. Wäre ich nicht in der Situation, in der ich heute bin, dann müsste ich die vergangenen Ereignisse als reine Einbildung oder als Traum oder Trip abtun, aber wenn dem wirklich so ist, dann schreibe ich Ihnen direkt aus dieser Imagination heraus.

Mein Bericht wird an manchen Stellen zynisch klingen, aber das sollte nicht überbewertet werden, denn ein Fünkchen Hoffnung trage ich noch immer in mir.

II.

Was ich aus der Schutthalde meiner Erinnerungen noch entnehmen kann, ist das Bild eines idyllischen Sommerabends, an dem ich jenen Nebelsee aufsuchte, um mich in dessen Wasser zu erfrischen. Ich war lange im angenehm kühlen Wasser geschwommen und hatte später noch eine ganze Weile die kleinen Wellen und das Schilfgras beobachtet, die durch einen leichten Wind in sanftem Aufruhr waren und in ihren gemächlichen, harmonischen Bewegungen ein Gefühl unbeschreiblicher Behaglichkeit vermittelten. Das Singen der Vögel, das Quaken der Frösche und das Zirpen der Grillen verschmolzen zu einem Chor und trugen bei zur friedlichen Atmosphäre dieses Abends.

Zu fortgeschrittener Stunde begab ich mich auf dem schmalen Waldpfad entlang des Sees zurück zu meinem Auto. Da erblickte ich das Mädchen, als es am Ufer einer kleinen, schattigen Bucht am Stamm einer mächtigen Esche lehnte, wo sie, wie zuvor auch ich, die Wellen beobachtete, die sich am Wurzelwerk der Uferböschung brachen. Ganz leise summte sie eine mir unbekannte Melodie, die mir ein Gefühl von süßer Traurigkeit vermittelte und mich bezauberte.

Sie verstummte, als sie mich bemerkte. Wir waren die letzten Besucher, die noch am Ufer waren. Die Schatten des Waldes zogen sich immer weiter über den See und deckten ihn zu mit ihrem schwarzen Tuch. Der Gesang der Vögel, der Insekten und der Frösche war nun fast verstummt, nur das ferne Rauschen des Straßenverkehrs und der Gesang einer einsamen Amsel waren zu hören. Das Mädchen wirkte verloren und unsicher und schlang die knochigen Arme um den schlanken Leib. Ihre grünen Augen flammten auf, als sie sich mir zuwandte. So schwach und hilflos sie auch wirkte, ihre Augen funkelten voller Kraft, strahlten so sehr, dass ich wie geblendet, ja hypnotisiert von ihrem Blick war. Als sie zu mir trat, konnte ich nur stammeln wie ein Kind.

Ihr Haar und ihr ganzer Leib waren feucht und ich atmete den modrigen Geruch von Algen und Moorwasser. Manchmal glaube ich, mich des Glanzes ihrer Lippen entsinnen zu können. Es schien, als ob der Tau des nahenden Abends sie benetzte. Ich wollte ihr ein Handtuch geben, denn ich fürchtete, sie könnte sich in der kühler werdenden Abendluft erkälten, aber sie schob meine Hand, mit welcher ich ihr das Tuch reichen wollte, lächelnd beiseite. Sie bedankte sich, drehte sich zur Seite und hieß mir mit ihrer anderen Hand, ein wenig mit ihr spazieren zu gehen. Alle vermeintliche Schwachheit war von ihr abgeglitten wie ein Tropfen Wasser von trockener Haut.

Sie erzählte, sie sei gerade ihrer Arbeit nachgegangen, dem Schutz und der Beaufsichtigung des Nebelsees und des ihn umgebenden Waldgebietes, welches sich am anderen Seeufer noch über viele Kilometer erstreckte und in ein kleines Moor überging. Sehr viel mehr erfuhr ich in dieser Nacht nicht von ihr. Wir redeten nicht viel, denn ich brachte vor Verlegenheit kaum einen Ton hervor, und auch sie bevorzugte es zu schweigen, während wir im Licht der untergehenden Sonne am Seeufer entlangflanierten. Sie lächelte still, während mein Puls raste und mein Blut kochte wie die Feuer des Phlegeton.

Einmal fragte ich, mehr aus Verlegenheit denn aus wirklichem Interesse, ob sie denn Försterin sei, und biss mir sofort auf die Lippen, weil mir die Frage so albern erschien. Aber sie lachte nur und meinte, sie sei etwas Ähnliches. Wir schwiegen wieder, während wir den restlichen Weg zurück zum Ausgangspunkt unseres Spaziergangs zurücklegten, aber ich empfand das Schweigen bald nicht mehr als unangenehm oder gar peinlich, so rasch war ein Gefühl der Vertrautheit zwischen uns entstanden.

Inzwischen war das Licht der Sonne fast gänzlich verschwunden, die schmale Sichel eines abnehmenden Mondes schob sich über die Scherenschnitt-Silhouette der Baumkronen in den Sternenhimmel.

Da ich am nächsten Tag früh arbeiten musste, verabschiedete ich mich von ihr schweren Herzens, und auch sie schien dies zu bedauern. Denn nun fing sie an zu erzählen. Sie sei ein Kind der Natur und vermeide den Besuch größerer Siedlungen, wann immer es ging. Die meisten Leute hielten sie wohl für absonderlich oder mieden den Nebelsee wegen der Unfälle, sie sei oft einsam und sehne sich nach Abenden in angenehmer Gesellschaft wie der meinigen.

Ich schluckte, war berührt von diesem Kompliment, das mir noch kein Mädchen vorher gemacht hatte. Sie bemerkte meine Erregung, ergriff meinen Arm und fragte: „Sag, magst du mich?“

Ich war ob dieser direkten Frage zunächst ein wenig verwirrt, beantwortete sie aber rasch mit einem überzeugten Ja.

Sie lachte glockenklar auf und ich war tief beeindruckt von ihrer offenen und ehrlichen Freude. Sie bat mich, so bald wie möglich wiederzukommen. Dann wandte sie sich von mir ab und verschwand in der Dunkelheit. Ich fuhr zurück in die Stadt, die nicht weit entfernt lag, und fühlte mich furchtbar elend, weil ich sie allein am See zurückgelassen hatte.

III.

Der hypnotisierende Blick des Mädchens ließ mich die ganze Nacht nicht zur Ruhe kommen, ihre leuchtenden Augen verfolgten mich. Im Schlaf wie auch im Wachzustand glaubte ich sie immer hinter mir, riesenhaft, furchterregend, in der leeren Dunkelheit einer weiten Ödnis, aber zugleich spiegelten sich in ihrem zyklopenhaften Antlitz auch tiefe Trauer und Einsamkeit, und als ich mich ihr zuwandte und ihrer Sehnsucht nach Zweisamkeit gewahr wurde, fiel alles Monströse von ihr ab und ich hatte wieder das süße Mädchen vor mir; immer wieder fühlte ich ihre Hand auf meinem Unterarm und nahm wieder den unvergesslichen Geruch ihrer feuchten, weichen Haut wahr.

Ich schlief trotz dieses intensiven Traumes nicht sonderlich gut und fühlte mich bedrückt von den dunklen Wänden meiner Wohnung, von der grauen Stadt, draußen vor meinen staubigen Fenstern. Ein nie gekanntes Gefühl von Verlassenheit überkam mich und aus dem Bedürfnis nach der Nähe des Mädchens wuchs sehr rasch eine tiefe Abneigung gegen mein altes Leben. Gegen die Stadt, in der ich wohnte, die mir plötzlich fremd geworden war. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr dorthin zu gehören, nur noch zum See zog es mich, zu ihr.

Bei der Arbeit am nächsten Tag war ich äußerst unwillig und erledigte sie nur mühsam. Auch die Anwesenheit meiner Kollegen ertrug ich nur schwer, sie waren mir über Nacht zu Fremden geworden. Das Arbeitsklima war rau, die Bezahlung schlecht und die Betriebsführung tat alles, damit es auch so blieb. Ich war eigentlich daran gewöhnt, aber an jenem Tag zitterte ich permanent, mein Herz raste, mein Geist flammte. Und ich bekam zum ersten Mal das Bedürfnis, Gewalt gegen meine Kollegen anzuwenden, sie mir mit einem Knüppel, einem Messer oder besser noch einem Gewehr vom Hals zu schaffen. Und das einfach nur, weil sie da waren.

Die Konturen und Gestalten meiner Kollegen begannen, ineinander zu verschmelzen zu einer widerwärtigen bunten, brodelnden Suppe aus Haut, Augen und Haaren, die mich anschwatzte, angaffte und mich offensichtlich ertränken wollte, während sich die Wände, die Möbel, Geräte und Pflanzen in rote, grüne und blaue Tröpfchen auflösten und in die Suppe hineinflossen. Mir wurde von diesem Anblick schwindelig und ich beschloss, an diesem Tag früher nach Hause zu gehen. Ich musste wohl wirklich einen ungesunden Eindruck gemacht haben, denn als ich mich bei meinem Vorgesetzten entschuldigte, ließ er mich ohne Probleme gehen.

Ich fuhr wieder zurück zu meiner Wohnung, aber sie war mir über den Tag noch widerlicher geworden. Nur das Antlitz des Mädchens, das ich mir in meinem Geiste vorzustellen versuchte, konnte mich ein wenig beruhigen. War sie nicht wie ein Tropfen Wasser, der dem Gepeinigten im Höllenpfuhl Linderung verschafft, die geschwollene Zunge mit seiner kühlen Nässe benetzt? Ich vergaß, wer ich war, wer um mich war, wo ich war.

Mein bisheriges Leben war mir mit einem Male so langweilig, ja abstoßend geworden, dass ich am liebsten auf der Stelle davongelaufen wäre. Irgendwohin, egal, Hauptsache weg.

IV.

Ich bin wieder an den Nebelsee gefahren. Es war gerade Mittag geworden und die Sonne brannte heiß. Ich sah ein paar Kinder am Ufer spielen, dazu Mütter, die das Ganze mehr oder weniger interessiert beobachteten und dabei schwatzten, aber das Mädchen sah ich nicht. Also wartete ich, legte mich in den Schatten und beobachtete den Lauf der Sonne, wie sie sich Sekunde um Sekunde dem Horizont annäherte.

An diesem Tag fiel mir auf, wie wenige Besucher der See anzog. Der Nebelsee war der größte und schönste See in der unmittelbaren Umgebung meiner Heimatstadt und an seinen schattigen Buchten könnten sich ohne Probleme zwei- oder dreihundert Stadtflüchtlinge erholen, aber er hatte trotz seiner magischen Schönheit keinen guten Ruf. Es gab viele Sagen und Geschichten über den seltsamen Nebel, der dort gelegentlich in Neumondnächten zu sehen war, über verschwundene Badegäste, deren Habseligkeiten man an den Ufern des Sees gefunden hatte.

Ein alter Bauer aus einem Dorf in der Nähe des Sees hatte mir einmal erzählt, dass der unheimliche Nebel, dem der See seinen Namen verdankt, immer dann zu sehen wäre, wenn ein unglückseliger Mensch dort wieder verschwunden sei. Der See, so der alte Bauer, sei verflucht und jeder, der in seiner Nähe wohne, vermeide es tunlichst, ihm auch nur nahezukommen.

Ich war daher umso überraschter, als ich plötzlich von einem Mann angesprochen wurde. Er fragte mich, ob ich denn ein Mädchen gesehen hätte, mit dem er sich hier am See treffen wollte. Wir kamen ins Gespräch und ich erzählte, dass auch ich zu einem Rendezvous an den See gekommen sei. Seine Augen leuchteten, als ich dies sagte. Dabei fiel mir auf, dass er dieselbe kräftig grüne Augenfarbe wie das Mädchen hatte, auch sein langes Haar glich dem Ihrigen. Er schien mein Erstaunen zu bemerken, und noch bevor ich etwas sagen konnte, erklärte er mir, dass er wisse, auf wen ich wartete.

„Sie ist meine …“, er überlegte kurz, so als wüsste er nicht recht, was er sagen sollte, „… Cousine.“ Daher kämen auch die Ähnlichkeit und die Liebe zu diesem See und generell zum Wasser, die sei familienbedingt.

Er verabschiedete sich, als eine junge Frau im Business-Kostüm an der Bucht erschien und ihm freudestrahlend zuwinkte. Er klopfte mir aber noch einmal auf die Schulter. „Sie ist sehr forsch mit ihren Fragen, nicht wahr? Sehr schnell bei der Sache, manchmal schneller, als einem lieb ist. Aber machen Sie sich keine Gedanken, nicht immer ist sofort eine Antwort vonnöten. Wenn Sie nicht wissen, was Sie auf Ihre Fragen antworten sollen, schweigen Sie einfach, sie wird es zu verstehen wissen.“ Er grinste, als er das sagte. „Irgendwann kommen die Antworten von ganz allein, dafür wird sie schon sorgen und sie hat eine Schwäche für schüchterne Menschen.“ Dann war er auch schon wieder verschwunden.

Das Mädchen kam, als die Sonne bereits hinter den Kronen der alten Ulmen verschwand und das Ufer des Sees, abgesehen von uns, völlig verlassen war. Den ganzen Tag hatte ich mich angespannt im Schatten aufgehalten, konnte weder klar denken, noch irgendetwas anderes tun, als ängstlich auf sie zu warten. Unruhig starrte ich auf den See, auf die Schilfpflanzen, die an der Böschung wuchsen, hörte auf das Rauschen der Wellen, als ob sie jede Sekunde durch sie hindurchbrechen könnte.

Die Luft war an jenem Abend rasch abgekühlt, und ich zitterte vor Kälte, nachdem ich mit meiner sommerlichen Kleidung über Stunden beinahe regungslos verharrt hatte. Aber als sie endlich zwischen den Dornbüschen hervorgetreten war, vergaß ich alle Schmerzen und Sorgen bereitwillig, und als sie mit ihren zarten Händen meinen linken Unterarm berührte, schwand auch alle Kälte des Abends.

Nie werde ich vergessen, wie ihre Augen aufloderten und leuchteten: noch viel stärker, noch zauberhafter als am vorigen Tage – und ich hatte Mühe, sie nicht blöde anzugaffen. Sie umarmte mich und ich erinnere mich noch gut, wie kraftvoll und gebietend, aber dennoch sanftmütig der Griff ihrer Hand war, und sie bedeutete mir, ihr durch die Dornen zu folgen. Sie bat um Verzeihung für ihr spätes Eintreffen, aber sie hätte nicht eher kommen können, als zur Zeit des ersten Zwielichts, denn sie vertrage das Sonnenlicht nicht sehr gut und bekomme leicht Verbrennungen auf ihrer Haut. Ihr Haar war wieder feucht und verströmte den gleichen Geruch modriger Nässe, nach Moos und Schlick wie am Abend zuvor. Er verstärkte noch die magische Aura, die sie umgab und ihr einen Schleier von exotischer Fremdartigkeit verlieh, der mich nur noch mehr reizte, ihr zu folgen, weg von den zugänglichen Ufern hin zu den abgelegenen Arealen. Während wir immer tiefer in den morastigen Wald vordrangen, empfand ich für eine Sekunde das Gefühl, dass Etwas an ihr nicht menschlich wirkte, vergaß dieses Gefühl jedoch schnell im Rausch der Verliebtheit, der mich damals beherrschte.

Der aufgehende Mond war inzwischen eine kaum noch wahrnehmbare Sichel, der Himmel war klar wie in der Nacht zuvor, sie schwieg, wie auch am gestrigen Abend zumeist, aber ich fühlte mich dabei nicht mehr unbehaglich, sondern genoss die Stille, vernahm wieder das leise Zirpen der Grillen und den fernen Gesang der Vögel, ebenso, wie sie es tat. Es war ein Sommerabend, so schön, wie er nur sein konnte, und ich badete geradezu in einem Meer der Glückseligkeit und meiner Liebe zu ihr, die mir, so glaubte ich damals, ein unfassbares Geschenk bereitet hatte.

Es war tiefe Nacht, als wir wieder zurückkamen zu den Badeplätzen und ich mich von ihr schweren Herzens verabschiedete. Wir standen so dicht beieinander, dass sich einige Strähnen unserer Haare berührten. Meine Hände zitterten, sie hob den Arm und schob mich sanft zurück. „Noch nicht“, sagte sie dann – und hatte mir meine Frage beantwortet, noch bevor ich sie überhaupt stellen konnte. Sie wies mit großem Unbehagen auf den verschwindend kleinen Sichelmond, dann ergriff sie mich mit beiden Armen, starrte mich mit nie gekannter Intensität an und sagte gebietend:

„Komm morgen wieder“, und sie setzte noch ein „Bitte“ hinzu, beinahe flehentlich. Und wie am Tag zuvor stellte sie mir zum Abschied noch eine letzte Frage:

„Sag, liebst du mich?“ Ich schluckte, aber bejahte, denn ich glaubte zu erkennen, dass sie um meine Gefühle sehr wohl Bescheid wusste und damit Lügen sinnlos gewesen wäre. Ihre Antwort war ein rascher Kuss auf meine Wange und ein fröhliches Lächeln, mit dem sie wieder zu den Wäldern ging. „Mein Name“, wandte sie sich noch einmal an mich, „ist übrigens Rusalka.“

V.

Ich konnte in dieser Nacht keine Sekunde schlafen. Nicht nur mein Verstand lief Amok, mein ganzer Körper zuckte, juckte, schmerzte, jede einzelne Nervenfaser drängte zu ihr, ich fühlte förmlich, wie sich ihre Spitzen aus meinem Muskelfleisch lösen wollten, um zu ihr zu gelangen. Mein Körper war süchtig nach ihr geworden, wie nach einer Droge. Als ich es nicht mehr aushalten konnte, nicht nur meine innere Aufwallung, sondern meine völlige Einsamkeit, meine hässliche Wohnung, mein Leben, meine Arbeit, all das, was mich mir zuvor nie hatte eingestehen wollen, betrank ich mich bis zur Besinnungslosigkeit.

Ich kann gar nicht mehr genau sagen, wann ich wieder wach geworden bin, nur, dass es viel zu spät war und ich einen heftigen Kater und Magenbeschwerden hatte. Mein Körper aber zeigte dennoch die gleichen Symptome, die Unruhe wie in der Nacht. Ich hatte nur betäuben, nicht aber bändigen können. Nachdem ich mir irgendetwas angezogen und dafür fast eine Stunde benötigt hatte, schleppte ich mich auf die Straße, aber ich konnte mich nicht mehr orientieren. Die Sonne stand im Zenit und blendete mich, es war heiß, ich war dehydriert, betrunken und konnte meine Umwelt nur noch schemenhaft wahrnehmen. Mauerwerk, Menschen, Autos, Mülleimer, Bäume, Hunde, Katzen, die Sonne und das ganze Universum, nichts weiter als ein milchiger Schleier, eine brodelnde Suppe, in der alles verschmolz und verging. Undeutlich konnte ich vernehmen, dass mich jemand ansprach, aber ich sah nur einen tosenden weißen Wasserfall, der in die Tiefe stürzte und sich plötzlich spiralförmig zu drehen begann. Dann musste ich mich übergeben und beschloss, wieder in meine Wohnung zurückzukehren.

Seltsamerweise wurden die Symptome nicht schlimmer, sondern ließen nach, je näher der Zeitpunkt des Treffens mit Rusalka rückte. Ich beruhigte mich und konnte mich waschen, zog saubere Kleidung an und aß sogar eine Kleinigkeit. Nie empfundene Zufriedenheit, Sicherheit und Gewissheit bemächtigten sich meiner.

Im aufkommenden Zwielicht des jungen Abends war ich wieder am Ufer des alten Sees, im Schatten der großen Esche und es dauerte nicht lange, da kam sie hinter dem Baum hervor, so als hätte sie dort schon auf mich gewartet. Sie ergriff meine Hand und zog mich ins Gebüsch, hin zum Moorwald, der sich am anderen Ende des Sees erstreckte. Ich hatte ein wenig Schwierigkeiten, weil ein unerwarteter Nebel alles in sein dichtes Tuch drängte und die Sicht stark einschränkte, was Rusalka jedoch nichts auszumachen schien. Wir stiegen über moosbewachsene, schwarze Erlen und Birken, wateten durch mit Sonnentau bewachsene Sumpfwiesen, über Farne und Mimosen, ehe sie an einer abgestorbenen Weide, deren graue Äste wie Spinnenbeine über dem Boden schwebten, innehielt. Wir waren nun am Rande eines verborgenen Seitenarms des Sees, der hier in Moorlandschaft überging. Zum ersten Mal an diesem Abend schaute Rusalka mich wirklich an. Ihre Augen glühten wie die Feuer eines Vulkans. Und wieder stellte sie mir eine äußerst direkte Frage: „Sag, willst du für immer bei mir sein?“

Aber dieses Mal konnte ich nicht antworten, war fassungslos. Gewiss, ich hatte davon geträumt, mich in schlaflosen Stunden danach gesehnt, aber dies waren meine Wünsche. Die Gespinste eines Verliebten. Es konnte nicht sein, dass sie das Gleiche fühlte. Oder doch? Ihre Miene verriet nicht den leisesten Anflug von Ironie. Ihre Gesichtszüge waren erstarrt, aber ihre Augen und ihr heftiger werdender Atem verrieten ihre Anspannung. Sie meinte diese Frage absolut ernst.

Ich schluckte, mir stockte der Atem, ich schwieg, brachte statt einer klaren Antwort nur ein verlegenes Räuspern heraus, da lief sie hinein in die noch warmen Wellen des Sees und zog mich mit beiden Händen hinterher. Ich weiß noch, wie sie mich dabei mit einem sardonischen Grinsen ansah, welches ich als Ausdruck ihres Glücks verstehen wollte, aber wenn dem tatsächlich so gewesen war, dann hatte ich nicht begriffen, welche Art Glück das war.

Bald standen wir bis zur Hüfte im Wasser. Nun zog sie mich ganz dicht an sich heran. Wir umarmten uns und ihre Finger krallten sich in meinen Rücken. Ich wollte es ihr gleichtun, war aber furchtbar verkrampft, und ihre Haut war so glatt und straff, dass ich sie kaum zu fassen bekam. Sie lockerte daraufhin ihren Griff und fuhr mir mit einer Hand sanft über meine Wange, lächelte schelmisch und drückte forsch und liebevoll zugleich ihre Lippen auf meine. Es war unser erster Kuss und ich wäre vor Erregung explodiert, hätte sie mich nicht mit aller Kraft festgehalten.

Wir bewegten uns ineinander verschlungen immer weiter in den See hinein und tauchten unter, aber die Intensität unseres Kusses ließ nicht nach. Im Gegenteil, sie verbiss sich regelrecht in meinen Mund und zog mich immer weiter hinab. Die Dunkelheit des trüben Wassers kam über uns und mit einem Mal erschrak ich, mir ging die Luft aus und ich wollte wieder an die Oberfläche, aber sie ließ nicht los, sondern hielt mich in eisiger Umklammerung fest. Ihr Kuss war inzwischen zu einem Biss geworden. Sie krallte die Nägel in meine Muskeln, ihre Arme und Beine dehnten sich aus und schnürten mich ein. Sie hielt mich wie ein Python im Würgegriff gefangen. Ich griff nach ihrem Arm und fühlte plötzlich schuppige, kalte Haut und starrte in die silberglänzenden, ausdruckslosen Augen eines Fisches, während ich vor Panik fast wahnsinnig wurde, mich aber weder bewegen, noch atmen, geschweige denn schreien konnte. So hatte sie keine Mühe, aus ihrem Maul eine Art Schlauch oder Stachel in meinen Hals hinein zu schieben. Das Letzte, was ich fühlte, war, dass etwas in meinem Fleisch grub und wühlte; etwas, das wuchs. In meinen Armen, in meinen Beinen, in meinem Kopf.

VI.

Ich vermag nicht zu sagen, wie viel Zeit seit diesen Ereignissen vergangen ist. Im Zwielicht des Nebelsees, an dessen Grunde ich bei den Welsen im Schlick durch die Algen kroch, schwamm oder einfach nur trieb, hatte ich rasch jedes Zeitgefühl verloren. Hier verschwanden die Unterschiede zwischen Tag und Nacht, gestern und heute, ja selbst zwischen Sommer und Winter. Ich befand mich vielleicht zehn oder fünfzehn Meter unter dem Wasserspiegel, aber ich konnte nicht auftauchen. Sie ließ es nicht zu, und selbst wenn sie es getan hätte, glaube ich nicht, dass ich als das, was ich nun war und es noch heute bin, an Land hätte überleben können.

Es war nicht leicht, die ewige Stille, die ewige Dunkelheit hier unten zu ertragen, wenn doch das alte Leben noch so nah zu sein schien. Gelegentlich konnte ich noch immer das Blau des Himmels an der Oberfläche des Sees schimmern sehen. Einige Male schwammen Menschen über mich hinweg oder tauchten wenige Meter über mir vorüber und ich streckte – so dachte ich – meine Arme aus, versuchte zu winken, in der Hoffnung, jemand möge sie ergreifen. Ich hatte schreien wollen, aber ich hatte noch nicht mal einen richtigen Mund, mit dem ich schreien konnte.

Einmal sah ich sogar einen Taucher, der mit einer Lampe den Grund des Sees nach irgendetwas absuchte. Ob er mich suchte, weiß ich nicht. Er hat mich jedenfalls nicht gefunden.

Ich wusste, dass irgendwo am Grunde des Sees noch andere mein Schicksal teilten. Ich hatte sie dort nie gesehen, aber ich glaubte in dieser ansonsten so unerträglichen Stille, ihren leisen Klagegesang zu hören, eine nie endende Litanei, fortgeführt von anderen Gefangenen. Die Vielstimmigkeit des Trauerchores nahm zu, gab Zeugnis für die wachsende Zahl der Verdammten.

Aber dies bedeutete mir bald nichts mehr, denn ich hatte mich mit diesem Dasein abgefunden und ja, ich genoss manchmal die Stille, das Zwielicht, den ewigen Frieden. Einige Zeit glaubte ich, ich wäre in einem schönen Traumland gefangen. In einer Art goldenen Käfig, denn es fehlte mir hier unten eigentlich an nichts. Alle Bande an das andere Leben hatte ich gelöst. Es gab nur noch mich, den See und sie; und es störte mich nicht.