Wecker, Konstantin Die Kunst des Scheiterns

PIPER

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Für Annik, Tamino, Valentin und dem Andenken meiner Eltern gewidmet

ISBN 978-3-492-97414-1

Mai 2016

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2007

Covergestaltung: semper smile, München

Covermotiv: Thomas Karsten

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Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.

Samuel Beckett

In jedem Augenblick ereignet sich die Welt neu – aber mit der Erinnerung, wie sie vorher war.

Hans-Peter Dürr

vorwort

Jemand, der über sein Leben nur Gutes zu sagen weiß, lügt, weil jedes Leben von innen her gesehen nur eine Kette von Niederlagen ist – mit diesem Zitat Willy Brandts begrüßte ich letztes Jahr bei meinen Konzerten mein Publikum.

Aber, fügte ich hinzu, auf einer Leiter, deren Sprossen aus Niederlagen gebaut sind, kann man auch ganz schön nach oben klettern. Es scheint mir wenig hilfreich, auf das eigene Leben als eine Reihe von Erfolgen zurückzublicken, zumal ein solcher Rückblick nie frei von Selbsttäuschung ist. Psychologen haben neuerdings die menschliche Fähigkeit zur Selbstbewertung eingehend untersucht und dabei festgestellt, dass unsere Fähigkeit zur Selbsterkenntnis sehr bescheiden ist. Kaum jemand, war zu lesen, ist wirklich in der Lage, ein realistisches Porträt seiner eigenen Persönlichkeit zu zeichnen. Es scheint, als ob die mangelnde Einsicht ins eigene Ich ein Strukturfehler unserer Wahrnehmung ist. Das Hauptproblem ist die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten.

Also könnte man doch, um diese Gefahr der Überschätzung zu umschiffen, versuchen, seine Biographie anhand der erlittenen Misserfolge und Niederlagen zu betrachten. Nicht als Selbstgeißelung, sondern indem man sein Scheitern als Chance nimmt, sich selbst einmal unverklärt in die Augen zu schauen. Das kann durchaus liebevoll geschehen. Und ist es nicht ein Vorteil, wenn man sich einmal des Vorschusses beraubt, dessen man sich sein Leben lang so hemmungslos bedient hat?

Und oft sind Niederlagen ja auch, in einem größeren Zeitrahmen betrachtet, der Beginn einer längst fälligen Verwandlung, die einzige Chance zur Einsicht und zum Innehalten in einem Prozess der Entfremdung.

Was für eine Chance kann manchmal Krankheit sein, ein Misserfolg zur rechten Zeit, eine Trennung von einem geliebten Menschen – denn meistens kommt der Anstoß für eine Kurskorrektur im eigenen Leben doch durch einen unvorhergesehenen Schicksalsschlag.

Oder, um es mit C. G. Jung auszudrücken: »Ein kräftiges Leid erspart oft zehn Jahre Meditation!«

Was habe ich nicht alles über den Gleichmut gelesen, der nicht in Gleichgültigkeit ausarten darf, über die still lächelnde Ruhe des Herzens, über den tiefen Frieden derer, die »erwacht« sind.

Nicht nur gelesen – auch in der viel gerühmten Praxis der Kontemplation und Meditation habe ich mich versucht, was hilft einem schon das Wissen um etwas, das sich angeblich nur in der »Wolke des Nichtwissens1« offenbaren kann – aber die Kunst des Gleichmuts scheint anderen vorbehalten zu sein. Erleuchteten Zeitgenossen, Menschen von einem anderen Stern.

Einzig die Kunst des Scheiterns scheint wie für mich gemacht. Nun bedeutet dies nicht, ein Leben ohne Erfolge führen zu wollen. Und ich will auch das, was mir gelungen ist, keineswegs leugnen. Wir sehnen uns nach Erfolgen, und vor allem nach einem leidfreien Leben, nach Glück, und diese Sehnsucht gehört zu uns. Sie abtöten zu wollen wäre genauso töricht, wie unsere Niederlagen zu leugnen.

Als ich Dieter Hildebrandt vom Thema meines Buches erzählte, meinte er:

»Der Titel ist gefährlich. Ein gefundenes Fressen für jeden nicht wohlwollenden Kritiker. Das Wortspiel liegt auf der Hand. Und vor allem: Du wirst doch nicht den Fehler machen und irgendetwas beichten, was du besser weiter für dich behalten hättest?«

»Nein«, antwortete ich, »ich habe nichts zu beichten, was man nicht sowieso schon irgendwo gelesen hätte.«

»Aber warum schreibst du dann über deine Niederlagen?«

»Weil sie mich weitergebracht haben, weit mehr als alles, was mir geglückt ist!«

»Also schreibst du doch ein Buch über deine Erfolge!«

Dem Dieter kann man nichts vormachen.

Natürlich hat er recht. Ich will mich nicht suhlen in meinen Leidensgeschichten, und im Nachhinein rechtfertigt sich Leid nur, wenn es zu einer Erkenntnis führt.

Nur dass das Scheitern derart ausgeklammert wird aus der Biographie des modernen Menschen, als wäre es anstößig und unmoralisch, als ginge es immer darum, zu den Gewinnern zu gehören, halte ich für gefährlich.

Wir verlieren dadurch den selbstverständlichen Umgang mit unserer eigenen Geschichte und verschenken die Chance, wirklich erwachsen zu werden.

Und ist Kunst ohne Scheitern überhaupt vorstellbar? Muss man es nicht geradezu in die künstlerische Arbeit integrieren? Das Scheitern als Modell künstlerischen Handelns bedeutet auch, die Prozesse einer Profanisierung zu bekämpfen, die Kunst als simple Dekoration benutzt.

Und Scheitern darf auch deshalb keine Schande sein, weil mit dem Hinweis, Utopien seien immer zum Scheitern verurteilt, jede Veränderung schon im Keim erstickt würde.

»Mögen wir sein wie der Lotus, der im Schlamm zu Hause ist. So verbeugen wir uns vor dem Leben, wie es ist.«

Diese Zen-Verse kommen mir immer wieder in den Sinn, wenn ich nach einer besonders anständigen und besonders vorbildlichen Lebensphase wieder einen Einbruch erlebe. Je strenger ich versuche mich zu kasteien, umso jäher der Absturz.

Es ist gefährlich, den Schlamm, in dem man zu Hause ist, verdrängen zu wollen. Und seine verbotenen Früchte und Blumen des Bösen nicht ernst zu nehmen.

Ich habe sie manchmal zu ernst genommen und auch deshalb nicht immer ein vernünftiges Leben geführt. Aber wie vernünftig ist eigentlich die Vernunft? Ins Paradies hat sie uns ja nicht gerade katapultiert …

Die Beziehungen zu uns und den Dingen sind zusammengebrochen. Oder liegt es gar nicht an uns Menschen?

Ist die Welt vielleicht schon von Anfang an unvernünftig erschaffen worden? Fehlte vielleicht noch der eine oder andere Schöpfungstag? Hatte Gott sich nicht genügend Zeit genommen, war er eventuell im Stress?

Könnte die Welt nicht von ihrer Grundidee gerechter, zusammenhängender, gesetzmäßiger sein?

Einfach – vernünftiger?2

Hat sich Gott vielleicht nur einen Riesenspaß erlaubt?

Oder gibt es ihn etwa unverschämterweise gar nicht? Dann wären wir für das ganze Desaster ja selbst verantwortlich. Es wäre handgemacht. Von Menschenhand.

Nun, ich glaube, wenn es Gott gibt, dann müssen wir ihm dasselbe zugestehen wie uns selbst:

Die Kunst des Scheiterns.

begegnung mit dem wunderbaren

Bohr ein Loch in den Sand

sprich ein Wort hinein

sei leise

vielleicht

wächst dein kleines Vertrauen

irgendwann

groß in die Sonne.

(1965)

Als kleiner Junge fragte ich einmal meinen sanften, klugen Vater, ob es denn etwas gäbe, was ganz anders sei als alles, was man kennt. Anders als Menschen und Tiere und Dinge, anders als alle Farben und Klänge, ja sogar anders als das große, unbekannte Universum. Soweit ich mich erinnere, blieb mir mein Vater dieses Mal eine Antwort schuldig. Oder seine Antwort befriedigte mich nicht. Wie sollte er mir auch helfen? Selbst wenn er verstand, was ich meinte, wie sollte er Worte dafür finden?

Seitdem ließ mich die Sehnsucht nach dem ganz anderen nicht mehr los. Die Suche nach dem Unbekannten, Unerklärlichen, Unverfügbaren, Namenlosen. Die Suche nach dem Wunderbaren.

Diese verrückte Sehnsucht, etwas zu wollen, was man nicht kennt, hat mich wahrscheinlich dazu getrieben, Gedichte zu lesen und später dann selbst welche zu schreiben, hat mich dazu getrieben, stundenlang am Klavier zu improvisieren und mich später dann dem Leben und seinen Ausschweifungen hemmungslos hinzugeben.

Meine unvergessene Begegnung mit dem Wunderbaren bescherte mir Beethovens Violinkonzert.

Ich war gerade mal zwölf, allein zu Hause und lag auf dem Fußboden unseres Wohnzimmers vor dem Radioapparat.

Hatte ich vorher noch ohne ein bestimmtes Ziel einen einigermaßen rauschfreien Sender gesucht, so war ich schon nach wenigen Takten von der Schlichtheit des Geigenthemas berauscht.

Und schon bald konnte ich die Töne sehen, die Klänge schmecken und jedes einzelne Instrument des Orchesters deutlich unterscheiden. So plastisch hatte ich bis dahin noch nie Musik erlebt und so unabhängig von einem zeitlichen Ablauf.

Ich hatte damals wirklich das Gefühl, meinen Körper zu verlassen und mit den Tönen eins zu werden. Als wäre ich Komponist, Musiker und Zuhörer zugleich, nahm mich diese Musik mit auf eine Reise, die mich weg von der Realität und zugleich tief in mich hineinführte.

Nebenmotive sah ich als geometrische Linien um das Hauptthema kreisen, die Akkorde offenbarten sich mir als mathematische Formeln, und jeder Ton hatte seine eigene, unverwechselbare Farbe. Das D war orange, daran kann ich mich noch erinnern, in den tieferen Oktaven warm und dunkel, nach oben hin immer greller strahlend und von einer nie zuvor gesehenen Leuchtkraft.

Später, auf der Universität, habe ich einen Satz von Gottfried Wilhelm Leibniz gehört, der mir diese Schau der Töne auf eindrucksvolle Weise bestätigte: »Die Musik ist eine verborgene Übung der Seele, welche dabei nicht weiß, dass sie mit Zahlen umgeht.«

Mir war so warm und wohlig, und ich fühlte mich so aufgehoben in den Klängen, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass dieser Augenblick der Verzückung jemals ein Ende finden würde.

Farben und Töne waren nicht mehr zu unterscheiden, die ganze Welt bestand aus Wellen, auf denen ich mich frei von körperlicher Schwere durch das Weltall treiben ließ.

Wahrscheinlich war es meine heimkehrende Mutter, die mich aus der Verzückung zurück auf die Erde brachte, oder vielleicht auch nur ganz banal das Ende des Konzertes – jedenfalls hatte Musik seitdem für mich eine andere Bedeutung.

Bis heute hoffe ich beim Musizieren ausschließlich dieses Erlebnis wiederzufinden.

»Die Spaltung, die mit dem Menschen in die Welt kommt und die er unvermeidbar als schmerzlich empfindet – die Trennung in Ich und Welt, Subjekt und Objekt, Sein und Bewusstsein, Endlichkeit und Unendlichkeit –, ist Schein, mangelnde Kunst; sie ist nur dadurch aufzuheben, dass die Welt von einem Nullpunkt her verstanden, das Differente als ein Auseinander desselben, als innere Aktion des Identischen bestimmt wird.«

Bei meinem (abgebrochenen) Studium der Philosophie in München habe ich leider nie etwas von Salomo Friedländer3 gehört. Vermutlich nur, weil ich ein ziemlich lausiger Student war.

Möglicherweise hätte mich dieser, zugegebenermaßen etwas komplizierte Satz, auf eine Fährte geführt, die mir an der Uni verschlossen blieb. Damals nämlich konnte mir die abendländische Philosophie nicht annähernd das geben, was ich suchte. Auch wenn ich dieses vorschnelle und jugendliche Urteil heute revidieren muss – damals schien die mir bekannte Philosophie eine ausschließlich die intellektuelle Eitelkeit befriedigende Hirngymnastik zu sein, eine Übung die meine wirkliche Sehnsucht nicht einmal im Ansatz befriedigen konnte.

Vielleicht auch war ich etwas verwöhnt durch meine Leidenschaft für die Musik, habe hier in Bereiche hineingehört, die sich mir durch das Denken nicht erschließen wollten.

Die Musik ist eine nonrationale Sprache, aber eben auch eine Sprache, mit deren Hilfe man sich verständigen kann, mit deren Hilfe man Antworten erhalten kann.

Gustav Mahler sagte einmal, beim Musikhören wie auch beim Dirigieren höre er ganz bestimmte Antworten auf all seine Fragen. Und empfinde dann ganz deutlich, dass es gar keine Fragen seien.

Das konnte mir die Philosophie nicht bieten, sie hatte keinen »Soul«, sie ging nicht ins Blut, sie hatte nichts mit mir zu tun.

Dann entdeckte ich, beim Stöbern in der Universitätsbuchhandlung, gut versteckt in der hintersten Ecke, ein verstaubtes Buch: »Auf der Suche nach dem Wunderbaren«. Peter D. Ouspensky4 versuchte, den Menschen die Notwendigkeit der Arbeit an sich selbst näherzubringen, denn den Erfahrungen der anderen zu folgen verstärke weder unser Verständnis noch verändere es uns. Der Mensch ist eine Maschine. Laut Ouspensky kann er aus eigener Kraft keinen einzigen Gedanken und keine einzige Handlung hervorbringen. Alles was er sagt, tut, denkt, fühlt – all dies geschieht.

Ein Beispiel aus diesem Buch wollte mir nicht mehr aus dem Kopf, es hat mich fasziniert, und ich habe bis heute kein besseres Bild gefunden für unsere Unzulänglichkeit, größere Zusammenhänge zu verstehen. Ich versuche, ohne Anspruch auf Werktreue, aus dem Gedächtnis zu zitieren:

Man stelle sich ein zweidimensionales kleines Wesen vor, das sich in einem dreidimensionalen Raum bewegt. Es wird immer nur eine Linie sehen. Einen Kubus kann es sich nicht mal denken. Und nun stelle man sich eine menschliche Hand vor, die ihre fünf Fingerkuppen auf einen Tisch legt.

Selbst wenn dieses Wesen alle Finger noch so akribisch untersuchte und die Beschaffenheit der Haut und Nägel erforschte, es würde doch nie erkennen, in welchem Zusammenhang diese Fingerkuppen miteinander stehen, zu welch großem Ganzen sie sich endlich verbinden. So können wir das, was uns und unsere Welt miteinander verbindet, nur erahnen und in seiner Ganzheit nie erfassen.

Hier begegnete ich auf intellektuellem Gebiet einem der tausend unmöglichen Wege, einem Weg, den mir die Musik in meiner Kindheit schon etwas nahegebracht hatte.

Caruso und Tauber, Callas und Tebaldi und tagaus, tagein der verführerische Schmelz der Tenorstimme meines Vaters, sein unschuldiges, fast kindliches Timbre – all diese Klänge verzauberten unsere Wohnung, ließen sie über die Dächer der Stadt hinausfliegen in italienische Opernhäuser und Palazzi. Ich lernte mit Verdi zu hoffen und mit Puccini zu weinen, ich starb tausend Tode mit Manon und träumte, mit dem Tode ringend, von einer letzten Reise mit Mimi nach Paris.

Es herrscht ein reges Frauensterben in den Belcanto-Dramen jener Zeit, und mir, dem die Oper das einzige Tor zur Wirklichkeit war, schienen Liebe und Tod untrennbar verbunden.

Grade mal fünf Jahre alt, trällerte ich, wie Mutter mir erzählte, die Arien nach, die mein Vater unermüdlich übte. Dann lernte ich Klavier spielen, und schon bald begann ich zu improvisieren und bescheidene Melodien zu komponieren. Die Jahre vor dem Stimmbruch sang ich mich mit meinem Vater quer durch die Klavierauszüge seiner Lieblingsopern. Was für ein ungewohnter Zusammenklang der verwandten Stimmen in den schönsten Liebesduetten der Musikgeschichte vereint!

Ich war Mimi, und mein Pathos ließ sich durch keine musikalische Leitung zügeln. Ich ließ mich von Puccini selbst leiten und von der Liebe, die seinen Melodien und harmonischen Progressionen entströmt. Und damals wenigstens war ich mir sicher: Wer noch nie bei Puccini geweint hat, kann nicht zur menschlichen Spezies gezählt werden.

[© Konstantin Wecker, Der Klang der ungespielten Töne, Ullstein 2004.]

Mit dem Verlust der engelsgleichen Knabenstimme verlor ich die künstlerische Selbstsicherheit, und mein Musizieren wich einem trotzigen Aufbegehren gegen alles, was mir geschenkt worden war. Der gefallene Engel sank mit seiner Stimme um ein paar Oktaven tiefer in die Niederungen der Fleischlichkeit.

Von da an machte ich mich auf die Suche nach dem Paradies, das ich verloren hatte. Und ich begann zu fliehen.

ich war’s nicht

Liebes Leben, fang mich ein,

halt mich an die Erde.

Kann doch, was ich bin, nur sein,

wenn ich es auch werde.

Gib mir Tränen, gib mir Mut,

und von allem mehr.

Mach mich böse, mach mich gut,

nur nie ungefähr.

Liebes Leben, abgemacht?

Darfst mir nicht verfliegen.

Hab noch so viel Mitternacht

sprachlos vor mir liegen.

(1980)

Ich war’s nicht. Georg Trakl war’s!

Er war schuld, dass ich das erste Mal von zu Hause ausriss.

Und Georg Heym und Ernst Maria Stadler und Jakob van Hoddis. Viele Namen dieser oft so früh verstorbenen, so tief empfindenden, so unendlich traurigen Dichter des expressionistischen Jahrzehnts habe ich leider vergessen, aber ich kann mich noch gut erinnern an ein Taschenbuchbändchen, das sich ausschließlich den Gedichten dieser Zeit widmete und das mich nachhaltig davon überzeugte, dass dieses bourgeoise Gymnasium mit seinen bourgeoisen Karriereaussichten jeder freien künstlerischen Entwicklung im Wege stehen musste.

»Lyrik des expressionistischen Jahrzehnts«5 hieß das Buch, zu dem Gottfried Benn ein Vorwort geschrieben hatte, und kein weiteres Buch hat meine eigene lyrische Produktion auch nur annähernd so beeinflusst.

Ich litt mit diesen großen Leidenden, ich zog mit ihnen in den Krieg, ich lag verwundet im Schützengraben, ein Notizbüchlein auf den blutenden Knien, und reimte von blauen und trüben Stunden im »sinkenden Abend«, in der »austreibenden Flut«.

Ich berauschte mich an Trakls Versen und seinem tragischen Geschick, wie Jahre später an süßem Lambrusco, wir schwänzten die Schule und gaben uns in diversen Kaffeehäusern allmorgendlich eine Dröhnung expressionistischer Gedichte.

Mein Freund Stephan, ein stiller, scheuer Junge, der wunderschön Blockflöte spielen konnte, hörte zu. Ich rezitierte. Das verständnislose Kopfschütteln der übrigen Gäste wertete uns anfangs auf, ihre Verständnislosigkeit bestätigte uns in unserem Kampf gegen die Spießer dieser Welt, später vergaßen wir auch sie.

Die blaue Stunde wurde zum blauen Tag, zur blauen Woche, dem Bürger flog vom spitzen Hut der Kopf, und Anna Blume?

Ich liebte dir! Du, deiner, dich, dir, du tropfes Tier!

Nicht nur die Stunde war blau, auch unsere Herzen: blau. Keine Alkaloide damals, nicht mal ein Bier. Himbeerlimonade und Waldmeister, ein Kakao und eine Butterbreze, ab und zu eine Semmel tief in den Senftopf getaucht, mehr konnten wir uns sowieso nicht leisten.

Das Taschengeld war knapp bemessen, und ohne ab und zu in die Hosentasche unserer Väter zu greifen, hätten wir unsere Kaffeehausstunden nie finanzieren können.

Nein, keine Drogen, sondern einzig die wunderliche Komposition der Worte verrückte unsere Welt, der Fluss der Sprache und ein bedrohlicher, sich nur selten erhellender Rhythmus wie von fernen Kriegstrommeln angefacht.

Dann lasen wir erschaudernd vom frühen Kokaintod des Meisters, der als Sanitäter die Toten des Ersten Weltkriegs nicht mehr ertragen wollte, zu viele Leichen, zu viele Verstümmelte, und ihm war das Herz so schwer geworden, dass er, noch nicht mal dreißig Jahre alt, sein Leben hingab.

Nein, ich war’s nicht, Georg Trakl war schuld, dass dieser vierzehnjährige Romantiker statt in die Schule zu gehen, eines Morgens mit hochrotem Kopf am Bahnhof stand, um ein neues Leben als freier Dichter zu beginnen. Ein paar Unterhosen im Ranzen, ein paar Socken und natürlich Stifte und Papier, das musste genügen, die paar Mark Taschengeld, die wir uns angespart hatten, mussten reichen. Freie Dichter brauchen kein Geld, keine Wohnstatt, keine Eltern und vor allem keine Schule.

Es war Winter, und bei allem Verständnis für meinen kindlichen Wahnsinn, bei aller Sympathie für die Kraft meiner kindlichen Phantasie werde ich doch nie verstehen, warum ich mir nicht den Sommer ausgesucht hatte für diesen unumstößlichen Schritt in mein neues Leben.

Ich war doch ein Sommerkind, der Winter fand nicht statt in meiner Kindheit, außer ein paar Mal Schlittschuhlaufen und Schlittenfahren.

Meine Kindheit hat außer mit Singen, ausschließlich mit Sommer zu tun und Baden an der Isar, an unserem Lehel-Lido auf der Praterinsel. Schulranzen in die Ecke geschmissen, Badehose angezogen und dann runtergerast vom vierten Stock am Mariannenplatz 1, über die Steinsdorfstraße und rein in die Fluten.

Dort stand damals noch ein Damm, von dem man, wenn man die richtige Stelle wusste, reinhechten konnte. Wusste man die Stelle nicht, schlug man sich halt, wie so mancher Fremde, den Kopf auf an den Felsen, die von der Gischt der reißenden Isar verdeckt waren und nur im Frühjahr, bei der jährlichen Bachauskehr, ausgemacht werden konnten.

Nun stand ich also im Winter am Bahnhof, und damals waren die Winter noch kalt und verschneit und machten ihrem Namen alle Ehre.

Stephan hatte sich etwas verspätet, das machte nichts, ich liebte es, am Bahnhof zu sein, den Geruch von Ferne in der Nase, die erwachsenen Reisenden im sehnsüchtigen und bewundernden Blick, und jedem dichtete ich eine spannende Lebensgeschichte an. Dichter und Diebe waren das, Gräfinnen und Spieler, Geheimagenten und Anarchisten.

Damals gab es noch keine flauschigen Daunen-Wintermäntel für Kinder, wir hatten ein paar Pullover übereinandergezogen, eine Jacke im Gepäck, Stoffhandschuhe, die, sobald sie etwas nass wurden, zu Eiszapfen gefroren. Und ein Übermaß an Gottvertrauen.

Wir stiegen in den Zug, der uns am besten gefiel. In einen Zug, der heute nur noch im Deutschen Museum zu besichtigen wäre. In einen wunderschönen Zug. Schwarz und glänzend. Uns war egal, wohin er fuhr.

Der Zug sollte uns immerhin nach Augsburg bringen, bekannt als Tor zur großen Welt.

Dort mussten wir aussteigen, der Schaffner hatte uns entdeckt und schon durch den Zug gejagt. Man ist in diesen Nachkriegsjahren nicht viel gereist, wir Kinder sind grad mal an den Starnberger See geradelt und mit den Eltern nach Andechs in den Biergarten. Und da war Augsburg schon ganz schön spannend.

Speziell an diesem Tag allerdings war der Winter noch scheußlicher und kälter als sonst. Und bei aller Begeisterung für die Lyrik: So ein Gedichtband hält nur bedingt warm. Er mag die Herzen erwärmen, aber nicht die Füße, und so beschlossen wir schon nach ein paar bitterkalten Stunden in einem völlig verwaisten Park, die Nacht doch nicht auf der Parkbank, sondern zu Hause im warmen Bett zu verbringen.

Das heißt, eigentlich beschlossen wir es gar nicht, sondern fanden uns, ohne ein Wort über den Rückzug zu verlieren, gegen Abend im Zug wieder und spielten noch eine Runde mit dem Schaffner Verstecken.

Als wir uns voneinander verabschiedeten, wussten wir, dass wir es noch einmal versuchen würden. Aber dann doch lieber im Sommer oder wenigstens, wenn er nicht mehr weit ist und der Himmel ein Opal.

Diese Verzauberung durch Worte, diese Begeisterung, mich von der Poesie in eine eigene Welt entführen zu lassen, Metaphern für wahrhaftiger zu halten als die Realität, ist mir nie verloren gegangen, auch in den schwersten Zeiten nicht. Dichter können Freunde sein, manchmal sind es die einzigen in einer verständnislosen, prosaischen Welt, gegen die man wie gegen Windmühlen anrennt.

Auch heute noch finde ich den meisten Trost in Büchern, oft auch in alten, zerschlissenen, die man immer wieder liest. Fast kein Tag vergeht ohne ein Rilke-Gedicht zur Hand zu nehmen. Von ihm lasse ich mich am liebsten entführen in eine Welt jenseits von Reportage und Analyse, Sensationen und Klatsch.

Und sind Worte nicht manchmal wirklicher als die sogenannte Wirklichkeit?

flucht nach rom

Dass der Himmel heut so hoch steht,

kann doch wirklich kein Versehen sein.

Und es ist bestimmt kein Zufall,

dass die Lichter sich vom Dunst befrein.

Ich sitz regungslos am Fenster,

ein paar Marktfraun fangen sich ein Lächeln ein.

Irgendwo da draußen pulst es,

und ich hab es satt, ein Abziehbild zu sein.

Nichts wie runter auf die Straße,

und dann renn ich jungen Hunden hinterher.

An den Häusern klebt der Sommer,

und die U-Bahn-Schächte atmen schwer.

(1977)

Ein paar Jahre später gelang es mir, endlich nach Italien durchzukommen. Es war Sommer und »alles hell und die Erde für Spaten leicht«, wie es Gottfried Benn gefordert hatte.

Die Flucht war diesmal nicht so einfach, denn ich war immer noch minderjährig, und meine Mutter hatte mir wegen häufigen Ausreißens den Pass entzogen.

Ich bediente mich eines schäbigen Tricks und fälschte mit nicht zu unterschätzender krimineller Energie ein Schreiben meines Gymnasiums. Auf Originalpapier, das ich ein paar Tage vorher aus dem Sekretariat des Direktors geklaut hatte, ließ ich mich auffordern, meinen Personalausweis wegen einer Volkszählung in die Schule mitzubringen.

Meine Mutter sah mir tief in die Augen und sagte: »Ich vertraue dir, denn ohne Vertrauen kann man nicht miteinander leben. Und du versprichst mir, dass du mir den Ausweis gleich nach der Schule wieder aushändigst!«

Ich kam Mittags gar nicht mehr nach Hause, sondern war schon der Sonne entgegen in irgendeinem Lastwagen auf der Autobahn Salzburg unterwegs.

Die Vorfreude auf die Reise ließ mich keinen unnötigen Gedanken an daheim verschwenden, und eigentlich erst, seit ich selbst Vater bin, kann ich nachvollziehen, welche Schmerzen ich meinen Eltern mit meinen fast schon pathologischen Ausrissen zugefügt hatte.

Ich hatte einen Matchsack und meine Gitarre im Gepäck, auf der ich leidlich spielen konnte, und war mir wieder mal sicher, ich würde den Rest meines Lebens auf diese Weise vervagabundieren. In Venedig, am Markusplatz, sang ich den amerikanischen Touristen deutsche Volkslieder vor, wenn die Kaffeehausmusiker Feierabend hatten. Ich zog von Tisch zu Tisch, intonierte »Am Brunnen vor dem Tore« oder »Ännchen von Tharau«, erntete entzückte Begeisterungsschreie und vor allem eine dollargespickte Sammeldose.

So konnte es weitergehen.

Eine sehr schöne und sehr vornehme junge Frau aus Florida, Gattin eines sehr alten und sehr reichen Geschäftsmanns, lud mich auf eine Gondelfahrt nach Murano ein. Wahrscheinlich wollte sie mich in einer Pension auf der Insel verführen.

Ich kann mich noch an ihre zerbrechliche, schlanke Gestalt erinnern und dass ich viel zu verwirrt war, zu verliebt, zu verzückt, um in diesem zauberhaften Moment an Sex zu denken. Mein Englisch war damals (wie heute) sehr bescheiden, und so fand meine innere Verwirrung ihre perfekte Entsprechung in einem radebrechenden Gestammel, das auf die Angebetete vielleicht ganz niedlich, aber keinesfalls erotisierend wirkte. Jedenfalls drückte sie mir auf der Insel ein paar Dollarnoten in die Hand, verabschiedete sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und sauste mit einer dieser unbezahlbaren Motorboot-Taxen nach Venedig zurück.