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Problemgeschichte der Gegenwart

 

herausgegeben von Dominik Geppert

Guido Thiemeyer

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland

Zwischen Westbindung und europäischer Hegemonie

Verlag W. Kohlhammer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1. Auflage 2016

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-023254-9

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-030476-5

epub:    ISBN 978-3-17-030477-2

mobi:    ISBN 978-3-17-030478-9

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Inhaltsverzeichnis

 

 

 

 

  1. 1 Die internationalisierte Nation
  2. 2 Positionen der Forschung und begriffliche Eingrenzungen
  3. 3 Deutschland als Objekt alliierter Politik und die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland 1945–1955
  4. 3.1 Alliierte und deutsche Debatten über die Deutsche Frage
  5. 3.2 Wirtschaftliche Integration im Zeichen des Wiederaufbaus 1945–1955
  6. 3.3 Europa-Diskurse zwischen 1945 und 1955
  7. 4 Supranationale Einbindung und wirtschaftlicher Wiederaufstieg 1956–1969
  8. 4.1 Europäische (Selbst-)Bindung und nationale Außenpolitik
  9. 4.2 Der Aufstieg der Bundesrepublik zum wirtschaftlichen Zentrum Europas
  10. 4.3 Westernisierung, Amerikanisierung und Europadiskurs
  11. 5 Wirtschaftliche Dominanz und politische Zurückhaltung 1970–1989
  12. 5.1 »Partner in Leadership«? Europäische und atlantische Bindungen
  13. 5.2 Wirtschaftliche Führungsmacht und gesellschaftlicher Wandel
  14. 5.3 Transnationaler Terror und Protest
  15. 6 Deutschlands halbe Hegemonie in Europa 1990–2014
  16. 6.1 Das vereinigte Deutschland als Führungsmacht Europas?
  17. 6.2 Die deutsche Wirtschaft zwischen europäischer und globaler Orientierung
  18. 6.3 Europapolitische Debatten in der Bundesrepublik Deutschland 1990–2014
  19. 7 Strukturen und Prozesse der Internationalisierung
  20. Endnoten
  21. 8 Literatur (Auswahl)
  22. Personenregister
  23. Begriffsregister

 

1

Die internationalisierte Nation

 

 

 

 

Die Bundesrepublik Deutschland war ohne Zweifel der am weitesten internationalisierte Staat in der deutschen Geschichte. Zwar war das Kaiserreich bis 1914 in wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht ebenfalls sehr stark in internationale Strukturen eingebunden. Dies galt allerdings nicht für den Bereich der Politik, in dem die Reichsregierung ganz im Gegenteil stark auf den Erhalt der nationalen Unabhängigkeit achtete. Auch die Republik von Weimar blieb in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht – trotz mancher Bemühungen – dem Ideal des unabhängigen Nationalstaates verpflichtet, im Nationalsozialismus wurde die Autarkie sogar zum wichtigsten wirtschaftspolitischen Ziel.

Diese Internationalisierung der Bundesrepublik Deutschland wurde der deutschen Öffentlichkeit allerdings erst in den 1990er Jahren bewusst. Unter dem Schlagwort der Globalisierung wurden die Vor- und Nachteile der Internationalisierung diskutiert. Einige befürchteten die Auflösung des Nationalstaates, den Verlust der sozialen Sicherheit ebenso wie die politische Steuerungsfähigkeit der Demokratie. Andere wiesen auf die wirtschaftlichen Vorteile der Globalisierung hin. Nicht zuletzt als Reaktion auf die politischen Diskussionen entstand eine wissenschaftliche Debatte über die Internationalisierung der Nationalstaaten. Auch die Geschichtswissenschaft widmete sich seither wieder verstärkt der internationalen Verflechtung der deutschen Gesellschaft und Politik. In diesem Zusammenhang wurde bald deutlich, dass viele der im Kontext der öffentlichen Debatte formulierten Argumente für oder wider die Globalisierung wenn nicht falsch, so doch oft zu einfach sind. Je nach Fokus spricht man daher in der Geschichtswissenschaft differenzierend von der Amerikanisierung, der Westernisierung und der Europäisierung. Zudem wurde deutlich, dass die Internationalisierung kein Phänomen der 1990er Jahre war, sondern eine grundsätzliche Tendenz in der deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Inzwischen liegen einige Spezialuntersuchungen vor, die das Problem weiter differenzieren.

Es ist das Ziel dieses Buches, eine Zwischenbilanz in der geschichtswissenschaftlichen Debatte um die Internationalisierung zu ziehen. In wie weit wurde die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von internationalen Strukturen und Prozessen beeinflusst? Was bedeutete das für die deutsche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft? Kann man überhaupt noch von einem deutschen Nationalstaat sprechen? Dies sind die leitenden Fragen der folgenden Darstellung. Es wird die These aufgestellt, dass die Bundesrepublik tatsächlich der am weitesten internationalisierte deutsche Staat in der Geschichte ist. Doch muss dies eingeschränkt werden: Zum einen ist das kein rein deutsches Phänomen, es gilt für alle europäischen Staaten, wenn auch in je spezifischer Form. Zweitens spricht wenig für die These, dass sich der Nationalstaat auflöst. Er befindet sich vielmehr in einem permanenten Anpassungs- und Transformationsprozess an transnationale Strukturen und Prozesse, dessen Intensität jedoch wechselt.

 

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Positionen der Forschung und begriffliche Eingrenzungen

 

 

 

 

Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland kann insgesamt als sehr gut erforscht gelten. Vor allem für die Zeit bis 1990 liegen inzwischen zahlreiche Überblicksdarstellungen und Spezialstudien vor, die den westdeutschen Teilstaat geschichtswissenschaftlich untersuchen. Ein eindeutiger Schwerpunkt der Forschung lag bislang auf dem Zeitraum zwischen 1945 und 1980, was vor allem mit dem Zugang zu den Archiven zusammenhängt. In diesem Zusammenhang entstanden bereits früh zwei Ansätze zu einer Gesamtinterpretation der Geschichte des zunächst westdeutschen Teilstaates, die allerdings noch stark normativ geprägt waren. In der ersten Version wurde die Geschichte der Bundesrepublik vor allem vor dem Hintergrund der gescheiterten Weimarer Republik, des Nationalsozialismus und der DDR als Erfolgsgeschichte präsentiert. So interpretierte Hans Peter Schwarz schon früh die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland unter dem Schlagwort der Stabilität. Im Gegensatz zur ersten deutschen Republik in der Zwischenkriegszeit habe sich die Bundesrepublik Deutschland sehr schnell als krisenfeste Demokratie bewiesen, die unter dem System der »Sozialen Marktwirtschaft« zudem auch ökonomisch erfolgreich sei.1 Ein zweiter Ansatz zur Gesamtinterpretation stellt demgegenüber die gesellschaftliche, politische und kulturelle Liberalisierung Westdeutschlands zwischen 1945 und 1990 in den Mittelpunkt. Autoritäre Strukturen in Staat und Gesellschaft seien vor allem in den 1960er und 1970er Jahre aufgebrochen und demokratisiert worden. Damit habe die deutsche Gesellschaft zwar spät, aber doch deutlich mit den autoritären Systemen des Kaiserreiches und des Nationalsozialismus gebrochen und sich westlichen Entwicklungsmustern angenähert. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde als nun letzte Phase der deutschen Geschichte auf dem »langen Weg nach Westen« gedeutet.2

Diese Interpretationen sind jedoch in den letzten Jahren in Frage gestellt worden. Vor allem drei Argumente wurden gegen sie vorgebracht:

Zum einen enthält die These »vom langen Weg nach Westen« ein teleologisches Element. Die deutsche Geschichte vor allem des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird als Vorgeschichte der Vereinigung von 1990 interpretiert. Deutschland sei zwar auf Umwegen, aber schließlich doch erfolgreich im »Westen« angekommen. Eine solche Interpretation neigt dazu, Alternativen, die nicht in dieses Muster passen, als nicht zur deutschen Geschichte gehörig zu ignorieren. Und auch die Frage, ob es Alternativen zur Deutschen Einheit im Jahr 1990 gegeben hat, wird nicht gestellt.

Zum zweiten ist vielfach kritisiert worden, dass der Begriff des »Westens« unklar ist. Zwar definierte Heinrich August Winkler den Westen sehr allgemein als politisches und kulturelles Modell, das auf den Menschen- und Bürgerrechten in der Tradition der Habeas-Corpus Akte (die jedem Angeklagten einen Rechtsbeistand zusicherte) von 1679 sowie den US-amerikanischen und französischen Verfassungsentwürfen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts steht. So gesehen kann kaum bestritten werden, dass sich die deutsche Geschichte der letzten 200 Jahre als Annäherung an diese Prinzipien schreiben lässt. Andererseits verdeckt dieser Ansatz die sehr verschiedenen Entwürfe politisch-kultureller Ordnung, die sich auch in der westlichen Welt finden lassen.

Drittens schließlich kann man fragen, ob die Interpretation der bundesrepublikanischen Geschichte als Erfolgsgeschichte nicht vor allem politisch und nicht wissenschaftlich motiviert ist. Unbestreitbar hat der westdeutsche Staat dazu beigetragen, die Demokratie in Deutschland zu verankern, unbestreitbar ist auch der ökonomische Erfolg. Doch ist die »Berliner Republik« nicht das Ziel oder gar das Ende der deutschen Geschichte. Zugespitzt gefragt: Hat die Geschichtswissenschaft mit dieser Interpretation nicht ihre traditionelle Rolle als Hüterin und Erzeugerin der Nation, die sie vor allem im 19. Jahrhundert spielte, fortgeführt? Übernahm sie nicht in zu starkem Maße eine politische Legitimationsfunktion, die sich mit wissenschaftlichen Maßstäben nicht rechtfertigen lässt?

Unter diesen Bedingungen hat in den vergangenen zehn Jahren die Suche nach alternativen Interpretationen bundesrepublikanischer Geschichte jenseits der großen Erfolgserzählungen begonnen. Man könnte auch von der beginnenden Historisierung der Bundesrepublik sprechen, insofern als nun nach anderen Analysekategorien für die bundesrepublikanische Geschichte gesucht wird. Ein erster, von der Welle der Kulturgeschichte beeinflusster Ansatz, plädiert dafür, die Bundesrepublik unter dem Aspekt einer »Kulturgeschichte der Politik« zu interpretieren. So schlägt Thomas Mergel beispielsweise vor, die Geschichte der Bundesrepublik als eine Geschichte der Entstaatlichung zu schreiben. Ihm scheint es evident, dass

 

»der Staat unverkennbar auf dem Rückzug ist, vorläufig noch in den Bereichen der Gesellschafts- und Sozialpolitik, warum nicht aber auch […] auf den klassischen Gebieten der Verteidigungspolitik und inneren Sicherheit?«

Klassische Kriege zwischen Staaten, so greift er eine gängige Argumentation auf, gehörten ohnehin der Vergangenheit an; Attentate, Guerrilla-Aktivität und ähnliches seien in Zukunft zu erwarten. Staatlichkeit, so vermutet er, sei vielleicht nichts anderes als ein aus der Neuzeit kommendes historisches Phänomen, das sich in Auflösung befinde. Aus diesem Grund sollten bei künftigen Interpretationen der bundesrepublikanischen Geschichte nicht mehr der Staat und die Gesellschaft als Akteure im Zentrum stehen. Vielmehr sollte auch die Bundesrepublik als kommunikative Konstruktion aufgefasst werden, »das bedeutet, die Wirklichkeit als ein Ensemble von Produktionen, Deutungen und Sinngebungen aufzufassen.«3 Der theoretischen Faszination dieses Ansatzes steht jedoch seine begrenzte Anwendbarkeit entgegen. Zweifellos lassen sich Staat, Wirtschaft und Gesellschaft als je eigenständig codierte Kommunikationsprozesse verstehen und dieses Verständnis fördert gewiss neue Perspektiven zu Tage. Doch erfasst man damit allenfalls einen Teilaspekt der Realität. Zudem erhebt sich die Frage, ob die These von der Entstaatlichung tatsächlich in dieser Weise zutrifft.

Demgegenüber hat Eckart Conze vorgeschlagen, den Begriff der »Sicherheit« als Analysekategorie für die Bundesrepublik zwischen 1945 und 2006 zu verwenden. Er bezeichnet »Sicherheit« als mögliches Narrativ für eine »moderne Politikgeschichte« der Bundesrepublik Deutschland, weil dieser Begriff, wenn auch in sich wandelnden Inhalten, in allen Epochen der bundesrepublikanischen Geschichte eine Schlüsselrolle gespielt hat. Das gilt für die äußere Sicherheit insofern als die Wahrnehmung der Bedrohung durch einen potenziellen sowjetischen Angriff zwischen 1949 und 1990 eine zentrale Rolle für die Bundesrepublik spielte. Das gilt auch für die materielle Sicherheit, sei es die Versorgungssicherheit oder auch die soziale Sicherheit. Schließlich spielte immer auch die innere Sicherheit, vor allem in den 1970er Jahren, aber auch nach 2011, eine wichtige Rolle. »Die Suche nach Sicherheit« war daher ganz gewiss ein Leitmotiv in der Bundesrepublik Deutschland, für die Wirtschaft, die Gesellschaft und auch die Politik.4

Während Conze unter dem Begriff der »Sicherheit« die Kontinuitäten in der Geschichte der Bundesrepublik über die Epochenwende von 1989/90 hinweg betont, stellt Peter Graf Kielmannsegg in seiner Darstellung den rasanten, aus seiner Sicht gar revolutionären Wertewandel in das Zentrum seiner Interpretation. Kielmannsegg diagnostizierte eine seit den 1960er Jahren plötzlich einsetzende

 

»starke Beschleunigung des im Allgemeinen langsam, stetig, phasenweise kaum merklich fortschreitenden Prozesses der Veränderung grundlegender normativer Orientierungen«.5

Unterstützung fand diese These durch Andreas Rödder, der ebenfalls einen raschen Wertewandel zwischen 1965 und 1990 diagnostizierte. In Anschluss an eine Formulierung von Helmut Klages spricht er von einer »Verschiebung von Pflicht- und Akzeptanzwerten – Akzeptanz verstanden als die Hinnahme des Vorfindlichen – hin zu Freiheits- und Selbstentfaltungswerten.« Freiheit- und Selbstbestimmung, Autonomie des Individuums, Emanzipation sowie hedonistische Werte seien an die Stelle von Pflichterfüllung, Verzicht und Treue, Anpassung und Gehorsam sowie Bindung und Verpflichtung getreten. Oder anders gewendet: Die aus dem 19. Jahrhundert tradierten Werte des Bürgertums wurden seit den 1960er Jahren abgelöst von neuen, postmodernen Werten. Das geht einher mit der skeptischen Frage nach den Werten, die die bundesrepublikanische Gesellschaft in der Gegenwart noch zusammenhalten. In diesem Sinne argumentiert zuletzt auch die Darstellung des Freiburger Historikers Ulrich Herbert. Er bettet die Geschichte der Bundesrepublik in die deutsche Geschichte insgesamt ein und sieht die Jahre zwischen 1890 und 1990 als eine Epoche der »Hochmoderne« in Deutschland. Sie ist charakterisiert durch die Dominanz der Schwerindustrie und der industriellen Massenarbeit, durch den Kompromiss zwischen Kapitalismus und Sozialstaat und jenem zwischen liberalen und planerischen Steuerungskonzepten.6

In diesem Buch wird eine andere Perspektive gewählt: Die Geschichte der Bundesrepublik soll als eine Geschichte ihrer Internationalisierung interpretiert werden. Die zentrale These lautet, dass die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen zwischen 1945 und der Gegenwart in erheblichem Maße von außen, das heißt durch internationale politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Strukturen geprägt wurde. Auch wenn die Bundesrepublik ab 1955 im völkerrechtlichen Sinne ein (mit Einschränkungen) souveräner Staat war, kann ihre Geschichte nicht ohne die transnationale Einbindung verstanden werden. Das betraf die politische Einbindung etwa in die NATO und EWG/EU ebenso wie die wirtschaftliche Verflechtung mit den europäischen und den globalen Märkten. Auch in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht war die Bundesrepublik so intensiv mit europäischen und globalen Strukturen verflochten, dass man ihre Geschichte ohne den internationalen Kontext nicht verstehen kann. Gewiss war diese Verflechtung nicht auf allen Sektoren und zu allen Zeitpunkten gleich stark. Es kann auch nicht grundsätzlich gesagt werden, dass es sich um einen sich intensivierenden Prozess handelt. Ebenso muss betont werden, dass eine solche Interpretation die Existenz eines deutschen Nationalstaates keineswegs relativiert oder gar leugnet. Im Gegenteil, der Begriff des Internationalen setzt ja schon semantisch die Existenz von Nationalstaaten voraus. Der Nationalstaat war auch im hier relevanten Zeitraum zwischen 1945 und der Gegenwart der politische, gesellschaftliche und kulturelle Bezugsrahmen der meisten Menschen. Es entsteht vielmehr ein ambivalentes Bild. Einerseits stand die Bundesrepublik Deutschland unter massivem Einfluss von internationalen und transnationalen Strukturen, die ihre Geschichte wesentlich bestimmten. Andererseits nahm sie aber auch selbst erheblichen Einfluss auf diese Strukturen. Gerade diese wechselseitige Beziehung gilt es daher in den Blick zu nehmen.

Analytisch lassen sich vier Sektoren unterscheiden, in denen sich die Internationalisierung der Bundesrepublik Deutschland vollzog. Im Bereich der Politik bedeutet Internationalisierung die Einbindung des westdeutschen Staates in die internationalen Organisationen vor allem Europas und der westlichen Welt. Diese Organisationen verfolgten sehr verschiedene Ziele, sie hatten sehr unterschiedliche Strukturen und auch die spezifische Rolle der Bundesrepublik Deutschland in diesem Kontext war verschieden. Der Grad der Internationalisierung variierte, rein intergouvernementalen Organisationen standen supranationale Organisationen gegenüber, denen die Mitgliedstaaten Teile ihrer nationalen Souveränität übertrugen. Dominierende Akteure im Bereich der Politik waren die Regierungen der jeweiligen Staaten, vor allem der Bundesrepublik, die aus verschiedenen, zum Teil kontroversen Argumenten die Internationalisierung des Staates vorantrieben. Die Beziehung zwischen der Bundesrepublik und diesen Organisationen war ambivalent: Einerseits beeinflussten die Organisationen mit ihren vielfältigen Interessen und Aufgaben die Politik der Bundesrepublik, andererseits nahm aber auch die Bundesrepublik zum Teil erheblichen Einfluss auf die internationalen Organisationen.

Ein zweiter Sektor der Internationalisierung war die Wirtschaft. In diesem Kontext spielen vor allem grenzüberschreitende Märkte eine Rolle, also der Austausch von Waren, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital über politische Grenzen hinweg. In der Tat wurde die Bundesrepublik Deutschland seit 1949 in immer stärkerem Maße in internationale Märkte integriert, indem sie vor allem Rohstoffe und Arbeit im Ausland nachfragte und Fertigwaren, Industrieprodukte und Kapital exportierte. Auch hier gilt, was bereits für den politischen Sektor gesagt wurde. Die Bundesrepublik wurde zum Teil massiv beeinflusst vom Geschehen auf den europäischen und globalen Märkten, war aber spätestens ab Mitte der 1960er Jahre zumindest für Westeuropa selbst ein wesentlicher Faktor der wirtschaftlichen Verflechtung. Wichtigste Akteure der Internationalisierung im wirtschaftlichen Sektor waren Produzenten und Konsumenten, Anbieter und Nachfrager von Gütern, Dienstleistungen, Arbeit und Kapital. Insbesondere in Bezug auf wirtschaftspolitische Maßnahmen waren auch Regierungen von Bedeutung.

Drittens spielte die Internationalisierung für die bundesrepublikanische Zivilgesellschaft eine Rolle. Von Beginn an stand die bundesrepublikanische Gesellschaft unter starkem Einfluss von internationalen Strömungen in nahezu allen Bereichen. Verhaltensweisen und Konsummuster glichen sich an und die transnationalen Kontakte auf zivilgesellschaftlicher Ebene intensivierten sich dank einer immer besseren Infrastruktur und wachsender Sprachkenntnisse. Doch kann man nicht einfach von einer Angleichung sprechen, es entstanden vielmehr komplexe Prozesse von Transfer, Verflechtung und Anpassung. Auch wenn die internationalen gesellschaftlichen Strömungen die bundesrepublikanische Gesellschaft stark beeinflussten, übernahm die deutsche Gesellschaft diese Strömungen nicht einfach. Vielmehr wurden sie in bereits bestehenden Strukturen eingepasst, in spezifischer Weise verändert, so dass insgesamt eine hybride Gesellschaft entstand, die gleichwohl in deutschen Traditionen verankert war. Die Akteure dieses Prozesses sind die klassischen Akteure der Zivilgesellschaft, wie beispielsweise Vereine, Verbände und nicht zuletzt die Medien.

Diese gesellschaftlichen Internationalisierungsprozesse sind wiederum eng verbunden mit jenen im kulturellen Sektor. Hier steht der Austausch von Ideen, Werten und Denkmustern im Mittelpunkt. So entwickelte sich im bundesdeutschen Diskurs eine besondere Bedeutung des Wortes »Europa«, das nicht losgelöst von internationalen Diskursen blieb, aber gleichwohl seine spezifisch deutschen Eigenheiten erhielt. Eng mit diesem Begriff von »Europa« verbunden war die bundesrepublikanische Selbstverständigung über die Nation. Was war »deutsch« und in welcher Beziehung stand das Deutsche zum Europäischen und Globalen?

Im Folgenden soll, wenn es sich um grenzüberschreitende Kontakte zwischen Regierungen und/oder internationalen Organisationen handelt, von internationalen Beziehungen gesprochen werden. Bestanden die Kontakte im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen oder kulturellen Bereich, so soll von transnationalen Beziehungen gesprochen werden. Es ist offensichtlich, dass sich die Internationalisierungsprozesse in den verschiedenen Sektoren wechselseitig beeinflussten.

Der Begriff der Internationalisierung ist noch nicht abschließend definiert. Hier soll er als Überbegriff für die Verflechtung Deutschlands mit dem Ausland in politischer, wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht benutzt werden. Diese Internationalisierung wurde Deutschland einerseits von außen oktroyiert (passive Internationalisierung), andererseits trieben deutsche Akteure diese Internationalisierung selbst voran (aktive Internationalisierung). Zudem muss unterschieden werden zwischen Europäisierung und Globalisierung. Beide werden hier als spezifische Formen der Internationalisierung verstanden. Von Europäisierung wird gesprochen, wenn die beschriebenen Verflechtungen sich primär auf europäische Staaten bzw. europäische Gesellschaften beziehen. Globalisierung hingegen verweist stärker auf außereuropäische Verflechtungen. Eine exakte Unterscheidung ist in der Empirie kaum möglich.

Insbesondere der Begriff der Europäisierung hat in der kultur- und sozialwissenschaftlichen Europa-Forschung der letzten Jahre eine wichtige Rolle gespielt, wobei allerdings eine allgemein akzeptierte Definition fehlt. In den Politikwissenschaften wird der Begriff seit den 1990er Jahren intensiv diskutiert, wobei sich im Kern zwei Definitionen von Europäisierung ausmachen lassen: Die erste versteht darunter die Entstehung einer neuen politischen Ordnung im Sinne eines hybriden Systems zwischen Nationalstaat und supranationaler7 Organisation, die »Staatswerdung« der EU also, deren konkrete Form jedoch (noch) nicht erkennbar ist. Insbesondere die Definition von Claudio Radaelli hat sich in diesem Kontext durchgesetzt, der als Europäisierung den »Prozess der Konstruktion, Verbreitung und Institutionalisierung von formalen und informalen Regeln, Praktiken, Paradigmen und Handlungsweisen« versteht, die zunächst auf EU-Ebene und dann in den Diskursen und politischen Strukturen der Nationalstaaten durchgesetzt werden.8 Es geht also nicht nur um die unmittelbare, sondern auch um die indirekte Veränderung der politischen Strukturen und Prozesse in der Bundesrepublik Deutschland durch ihre Integration in Europa. Sozialhistorisch orientierte Ansätze verstehen dagegen unter Europäisierung gesellschaftliche Prozesse und Strukturen, die über nationale Grenzen hinweg Verbindungen herstellen oder verändern im Sinne eines Austauschs, der Angleichung und Verflechtung von Gesellschaften in Europa.9 Kulturwissenschaftlich orientierte Historiker haben dafür plädiert, diese Definition zu ergänzen: Europäisierung findet dann statt, wenn diese transnationalen Prozesse, die ja keineswegs nur in Europa stattfinden, mit dem Begriff »Europa« oder »Europäische Integration« verbunden werden.10

 

»Europa ist da, wo Menschen von Europa reden und schreiben, wo Menschen Europa malen oder in Stein meißeln, oder, anders ausgedrückt, wo Menschen Europa imaginieren und visualisieren, wo Menschen in Verbindung mit dem Namen und dem Begriff Europa Sinn und Bedeutung konstituieren.«11

Die Motive und Antriebskräfte der Europäisierung sind verschieden. Es gibt das intentionale Europa, das heißt die Akteure haben das Ziel, eine wie auch immer konstruierte europäische Einheit zu schaffen. Es gibt aber auch die nicht intendierte Europäisierung. Hier ging es beispielsweise Ingenieuren darum, ein technisch optimales Netz von Infrastrukturen zu errichten.

Die Abgrenzung der Europäisierung von anderen Internationalisierungsprozessen ist wie bereits erwähnt schwer, insbesondere in Bezug auf den transatlantischen Raum. So wurde in der Geschichtswissenschaft in den letzten Jahren unter dem Schlagwort der Amerikanisierung intensiv über den politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Einfluss der USA auf die Bundesrepublik Deutschland debattiert. In diesem Kontext ist zwischen den Begriffen der Amerikanisierung und der Westernisierung analytisch unterschieden worden, zwei Phänomene, die ebenfalls als Sonderfälle der Internationalisierung gelten können und sich nur unscharf von der Europäisierung trennen lassen. Unter Amerikanisierung versteht man den Transfer von US-amerikanischen Verhaltensweisen, Konsummustern, Werten und Symbolen in andere Teile der Welt, auch in die Bundesrepublik Deutschland. Während die USA also der bewusste oder unbewusste Sender dieser Werte waren, war die Bundesrepublik die Empfängerin. Nicht in allen Bereichen war der Einfluss amerikanischer Kultur gleich stark, es gilt zu unterscheiden zwischen verschiedenen sozialen Schichten und Zeiträumen. Unumstritten jedoch ist der bedeutende Einfluss der US-amerikanischen Kultur auf Westeuropa und die Bundesrepublik Deutschland insbesondere zwischen 1945 und 1970. Demgegenüber steht Westernisierung für den Kreislauf politischer, sozioökonomischer und kultureller Ordnungsvorstellungen im transatlantischen Raum, das heißt »die Herausbildung einer gemeinsamen Werteordnung in den Gesellschaften diesseits und jenseits des Nordatlantik.«12 In Bezug auf die Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren steht Westernisierung für die bewusste, von den USA und den westlichen Alliierten gestaltete Umorientierung der deutschen politischen und gesellschaftlichen Eliten

 

»mit dem Ziel, in der ideellen Neuordnung der Gesellschaft nach dem Faschismus nun den Kommunismus zu bekämpfen und die sozialistischen Parteien für die politisch und wirtschaftlich liberale Ordnung des euroatlantischen Westens einzunehmen.«13

Den Kulturtransfer von den USA nach Europa im Sinne der Amerikanisierung gab es bereits vor dem Ersten Weltkrieg und in der Zwischenkriegszeit. Anselm Doering-Manteuffel weist allerdings darauf hin, dass er in den 1950er und 1960er Jahren besonders intensiv war. Demgegenüber ist die Westernisierung ein Phänomen, das sich recht exakt auf die Nachkriegszeit zwischen 1945 und 1970 begrenzen lässt.

Der hier zu Grunde gelegte Begriff der Internationalisierung umfasst alle diese Phänomene und es ist ein Ziel dieses Buches, sie in ihrer wechselseitigen Wirkung darzustellen. Es ist keineswegs so, dass sie parallel liefen, vielmehr beeinflussten sie sich gegenseitig, verhielten sich bisweilen sogar gegensätzlich zueinander. So ging die 1969 beginnende europäische Währungsintegration einher mit der währungspolitischen Desintegration im transatlantischen Raum. Damit wird deutlich, dass die hier beschriebene Internationalisierung der Bundesrepublik kein zielgerichteter Prozess ist, an dessen Ende die Auflösung des deutschen Nationalstaates stehen muss. Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1945 und heute soll vielmehr in ihrer internationalen Dimension dargestellt werden.

Es ist selbstverständlich, sollte aber der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass die hier skizzierten verschiedenen Strukturen und Prozesse der Internationalisierung nicht vollständig dargestellt werden können, vor allem aus zwei Gründen. Zum einen erlaubt es der Umfang nicht, eine auch nur annähernd vollständige Beschreibung und Analyse der Internationalisierung der Bundesrepublik zu geben. Deswegen werden immer nur Beispiele für die allgemeine These analysiert. Grundsätzlich werden diese immer zunächst aus dem politischen, dem wirtschaftlichen und schließlich dem gesellschaftlich-kulturellen Bereich entnommen. Zum zweiten muss eine Eigenart der geschichtswissenschaftlichen Forschung berücksichtigt werden: Während es für die Zeit zwischen 1945 und 1980 inzwischen einige grundlegende Studien zur Internationalisierung der Bundesrepublik gibt, wird die Quellen- und Literaturbasis seit den 1980er Jahren bis in die nahe Gegenwart immer dünner – nicht unbedingt in einem quantitativen, als vielmehr in einem qualitativen Sinne. Eine profunde geschichtswissenschaftliche Analyse setzt nach wie vor die solide Archivrecherche voraus.

 

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Deutschland als Objekt alliierter Politik und die Anfänge der Bundesrepublik Deutschland 1945–1955

 

 

 

 

3.1       Alliierte und deutsche Debatten über die Deutsche Frage

Mit der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 7. Mai 1945, die zwei Tage später auf sowjetischen Wunsch in Berlin-Karlshorst noch einmal wiederholt wurde, endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Anders als 1918, als nach dem Waffenstillstand das Reich als politische Einheit bestehen blieb, gab es nach der Berliner Erklärung der vier alliierten Militärgouverneure vom 5. Juni 1945 keinen deutschen Staat mehr. Es war ein völkerrechtliches Novum, noch nie war ein Staat gezwungen worden »bedingungslos« zu kapitulieren, wie die in Casablanca zwischen Winston Churchill und Franklin Delano Roosevelt im Januar 1943 vereinbarte Formel hieß. Die »oberste Regierungsgewalt« in Deutschland ging damit auf die vier Siegermächte über. Dies hatte sich schon zuvor angedeutet. Im Oktober 1943 war auf der Außenministerkonferenz in Moskau eine »Europäische Beratende Kommission« mit Sitz in London eingerichtet worden, in deren Rahmen die Repräsentanten der Sowjetunion, der USA und Großbritanniens über die Zukunft Deutschlands verhandelten. Im Sommer und Herbst 1944, als sich nach der Landung der Westalliierten in der Normandie und der erfolgreichen Sommeroffensive der Roten Armee die Niederlage Deutschlands abzuzeichnen begann, fielen in diesem Gremium grundlegende Entscheidungen für die künftige Gestalt Deutschlands. Sie wurden im Wesentlichen auf der Konferenz der »Anti-Hitler-Koalition« in Jalta im Februar 1945 zum Beschluss erhoben. Die »Großen Drei« bestätigten noch einmal ihre Absicht Deutschland vollständig militärisch zu besetzen, die Forderung nach militärisch-politischer Totalkapitulation des Landes, seine Zerstückelung (ohne dass dies präzisiert wurde) und die Aufteilung in Besatzungszonen für die (ebenfalls unbestimmte) Zeit der militärischen Besatzung. Zudem sollte Deutschland entmilitarisiert und entnazifiziert werden. Ein alliierter »Kontrollrat« mit Sitz in Berlin sollte für alle Besatzungszonen verbindliche Entscheidungen fällen und somit als Regierung für Deutschland dienen. Allerdings wurde schon jetzt klar, dass es im Falle von Meinungsverschiedenheiten im alliierten »Kontrollrat« den Militärgouverneuren der Besatzungszone möglich sein sollte, eigene Entscheidungen zu treffen. Damit war von Beginn an die Möglichkeit einer nicht-einheitlichen Deutschlandpolitik gegeben, was angesichts der politisch-gesellschaftlichen Gegensätze zwischen den Partnern der »Anti-Hitler-Koalition« schon zu diesem Zeitpunkt nicht unwahrscheinlich war. Schon unmittelbar nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht entstanden erhebliche Meinungsverschiedenheiten über die Frage der Reparationen zwischen den Siegermächten. Vor allem die Sowjetunion drängte darauf, die Reparationssumme auf 20 Milliarden Dollar zu fixieren, wovon die Hälfte Moskau zustehen sollte. Die Westalliierten reagierten sehr zurückhaltend und waren nicht bereit, der Sowjetunion Reparationen aus ihren jeweiligen Besatzungszonen zuzugestehen. Auch wenn auf der Potsdamer Konferenz ein Kompromiss gefunden wurde, zeigten sich in der Reparationsfrage weitere Risse in der »Anti-Hitler-Koalition«. Angesichts der gemeinsamen Verantwortung der Siegermächte für Deutschland war dessen Zukunft 1945 gänzlich ungewiss. Deutschland war vom Subjekt der Politik zum Objekt internationaler Verhandlungen geworden.

Auch die Besatzungspolitik der vier Mächte (Frankreich war auf der Konferenz von Jalta als vierte Besatzungsmacht akzeptiert worden) war keineswegs einheitlich. Das oberste Ziel der französischen Politik war die Sicherheit vor Deutschland. Über die Frage, wie diese zu erreichen sei, gab es jedoch keine prinzipielle Einigkeit. Zwei Grundkonzeptionen standen einander gegenüber, die, beide schon während der Kriegsjahre entwickelt, eine Lösung für die Question Allemande suchten. Die erste strebte eine enge wirtschaftliche und gesellschaftliche Verflechtung Frankreichs und Deutschlands in einem europäischen Kontext an. Schon in der französischen Exilregierung (Comité Français de Libération Nationale, CFLN) waren diese Vorstellungen von Jean Monnet und anderen seit 1943 entwickelt worden. Monnet schlug die Aufteilung Deutschlands in verschiedene Teilstaaten vor, die jedoch als gleichberechtigte Mitglieder in eine europäische Organisation aufgenommen werden sollten. Die neuen deutschen Staaten dürften keinesfalls – wie das Reich 1918 – diskriminiert werden, weil sie sich sonst erneut zu einem deutschen Nationalstaat im Zentrum Europas vereinigen würden. Ähnliche Lösungen wurden von Hervé Alphand, René Mayer und dem Chef der französischen Résistance-Gruppe Combat, Henri Frenay, angestellt. Dem stand eine zweite Konzeption französischer Deutschlandpolitik gegenüber, die stärker in der Tradition der Machtpolitik des 19. Jahrhunderts verwurzelt war. Deutschland sollte in diesem Konzept durch langfristige militärische und politische Bündnisse Frankreichs mit den anderen europäischen Großmächten, insbesondere der Sowjetunion und Großbritannien, kontrolliert werden. Der erste Regierungschef des befreiten Frankreich, Charles de Gaulle, und Außenminister Georges Bidault waren die Hauptvertreter dieser Konzeption, die sie mit dem französisch-sowjetischen Beistandspakt vom 10. Dezember 1944 umzusetzen gedachten. Dem folgte am 4. März 1947 eine französisch-britische Allianz gegen eventuelle deutsche Aggressionen. Da de Gaulle noch 1945 von einem raschen Rückzug der USA aus Europa ausging und Großbritannien weiterhin als Seemacht mit globalen Interessen sah, wäre Frankreich in dieser Konzeption unweigerlich die Führungsrolle in Westeuropa und die Mittlerfunktion zwischen den Weltmächten Großbritannien/USA auf der einen und der Sowjetunion auf der anderen Seite zugefallen. Die Gestalt Deutschlands blieb bei de Gaulle unklar: Mal sprach er von »Zersplitterung«, mal von der »Dezentralisierung« Deutschlands. Die Länder (mit Ausnahme Preußens) sollten wiederhergestellt und durch eine lose »Konföderation« miteinander verbunden werden. Diese »doppelte Deutschlandpolitik« (Dietmar Hüser) prägte auch die französische Besatzungspolitik in Deutschland. Einerseits bemühte sich Frankreich alle Zentralisierungstendenzen in Deutschland grundsätzlich zu unterbinden und isolierte die französische Zone daher schnell von jenen der Briten und Amerikaner. Die französische Besatzungspolitik wurde von der deutschen Bevölkerung vor allem als repressiv wahrgenommen und unter den Alliierten galten die Franzosen bald als Hindernis für eine konstruktive Deutschlandpolitik. Andererseits bemühten sich die französischen Behörden im Sinne der kooperativen Konzeption der Deutschlandpolitik aber auch um die gesellschaftliche und kulturelle Einbindung der Bevölkerung. Deutsch-französische Jugendtreffen, breitenwirksame Kulturprogramme und eine starke pro-französische Ausrichtung der Universitäten Mainz, Freiburg und der neuen Verwaltungshochschule (nach dem Vorbild der französischen ENA) in Speyer mögen als Beispiele für die kooperativen Aspekte der französischen Besatzungspolitik dienen.

Ebenso ambivalent und zum Teil widersprüchlich war die britische Deutschlandpolitik. Auch für London stand nach den Erfahrungen mit Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Sicherheit vor einer neuen Aggression im Vordergrund. Britische Deutschlandpolitik beruhte daher auf zwei Elementen. Zum einen dem Bemühen, die »Anti-Hitler-Koalition« aufrecht zu erhalten, um Deutschland zu kontrollieren. Das bedeutete, dass die USA als Bündnispartner möglichst lange auch militärisch in Europa präsent sein sollten, weil die europäischen Staaten, Frankreich und Großbritannien insbesondere, nicht in der Lage waren, das wirtschaftliche und politische Potenzial Deutschlands einzuhegen. Aus diesem Grunde bemühte sich die neue Labour-Regierung in London auch lange um ein Einvernehmen mit der Sowjetregierung. Das zweite Element war die gezielte Demokratisierung, Entmilitarisierung und Entnazifizierung der deutschen Gesellschaft. Man ging in London noch 1945 von einer Besatzungszeit von mindestens zehn Jahren aus, um diese Ziele zu erreichen. Bevorzugter Kooperationspartner für die neue Labour-Regierung waren hierbei zunächst die deutschen Sozialdemokraten. Zwei strukturelle Bedingungen jedoch beeinträchtigten die Umsetzung dieser Doppelstrategie. Zum einen setzte sich in der britischen Regierung noch schneller als in den USA die Meinung durch, dass eine Kooperation mit der Sowjetunion unmöglich sei. Nicht nur die rasche gesellschaftlich-politische Umgestaltung der sowjetisch besetzten Zone nach marxistisch-leninistischen Prinzipien irritierte die Londoner Regierung, auch die aus ihrer Sicht konfrontative Politik Moskaus im Rahmen der UNO ließ die Labour-Regierung skeptisch werden. Im Februar 1946 hielt Winston Churchill seine berühmte Rede in Fulton (Missouri), in der er – eine von Joseph Goebbels geprägte Metapher aufgreifend – von einem »eisernen Vorhang« sprach, der Europa teile. Im April 1946 setzte sich innerhalb der britischen Regierung die Vorstellung durch, dass nicht mehr Deutschland, sondern die Sowjetunion der entscheidende Gegner britischer Interessen sei. Ziel wurde es nun, die eigene Besatzungszone, vor allem die dortige SPD, gegen sowjetischen Einfluss abzuschirmen. Damit verließ die britische Regierung ganz bewusst die noch in Potsdam vertretene Absicht, Deutschland als Ganzes zu behandeln. Ein anderes wichtiges Strukturelement, das die britische Deutschlandpolitik stark beeinflusste, war die wirtschaftliche und demographische Struktur der britischen Zone. In ihr lebten ca. 23 Millionen Menschen, sie umfasste mit dem Ruhrgebiet das Zentrum der deutschen Schwerindustrie und durch Flucht und Vertreibung aus den früher deutschen Ostgebieten und der sowjetischen Zone stieg die Bevölkerung sogar noch an. Aus diesen Gründen war die Ernährungslage in der britischen Zone besonders schlecht. Insbesondere in den Wintern 1945/46 und 1946/47 konnte nur durch massive Nahrungsmittelimporte, die von Großbritannien bezahlt werden mussten, eine Hungerkatastrophe vermieden werden. Der damalige Schatzkanzler Hugh Dalton sprach sarkastisch davon, dass nun Großbritannien Reparationen an Deutschland zahle. Dies war angesichts der Opfer, die die britische Zivilbevölkerung im Krieg erlitten hatte und immer noch erbrachte, innenpolitisch kaum zu rechtfertigen. Ab Mitte 1946 zielte die britische Besatzungspolitik daher auf eine Erweiterung der Wirtschaftsbasis der eigenen Zone durch die Zusammenlegung mit jener der USA, vor allem um den Deutschen die Möglichkeit zu geben, selbst für ihre Ernährung zu sorgen. Aus innenpolitischen Gründen lief die Demontage von Industrieanlagen im Ruhrgebiet dennoch weiter, so dass auch die britische Besatzungspolitik von der deutschen Bevölkerung als widersprüchlich wahrgenommen wurde.

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