www.edition.subkultur.de

HC Roth

H.C. Roth ist Anarcho-Liedermacher und Punkliterat, Comoderator und Mitbegründer der 1. Grazer Lesebühne. Er schreit gern auf Bühnen herum, mal liegend, mal stehend, mal mit Gitarre in der Hand, mal ohne, in Deutschland oder Österreich. Er verstört dann und wann das Publikum lokaler Poetry-Slams, weil es durchaus auch lauter werden kann, wenn der seit 1999 aktive Schreiber des Ox-Fanzines aus seinen Texten liest und performt.

Vor seiner Zeit bei Subkultur sind folgende Werke von ihm veröffentlicht worden: „Der Tag als Berta Bluhmfeld starb“ (2008) und „Wie ich verflucht wurde und die Zeit still stand“ (2010) sowie diverse Beiträge in Anthologien und Zeitschriften. Im März 2013 erschien dann der Roman „Der Flug des Pinguins“, es folgten zwei von Groß und Klein gefeierte, extrem coole Kinderbücher ebenfalls in der Edition Subkultur ...

H.C. Roth lebt mit Frau und seinen beiden Kindern in Graz/Österreich


hcroth.blogsport.de

HC Roth


GENPOOLPARTY

Und das Becken voller Tränen


Episodenroman


HC ROTH: „Genpoolparty“
Und das Becken voller Tränen

1. Auflage, Mai 2016, Edition Subkultur Berlin

© 2016 Periplaneta - Verlag und Mediengruppe / Edition Subkultur

Inh. Marion Alexa Müller, Bornholmer Str. 81a, 10439 Berlin, www.subkultur.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, Übersetzung, Vortrag und Übertragung, Vertonung, Verfilmung, Vervielfältigung, Digitalisierung, kommerzielle Verwertung des Inhaltes, gleich welcher Art, auch auszugsweise, nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags

Lektorat: Caroline Muth, Alisha Schulz,

Covermotiv & Grafiken: Arne Kulf (AKU!) www.akupower.de

Satz, Layout und Projektleitung: Thomas Manegold


print ISBN: 978-3-943412-25-3

epub ISBN: 978-3-943412-74-1

Stadt

Prolog

Ein Büro in einer Stadt – ein stinknormales Büro in einer stinknormalen Stadt. Schreibtisch, Stuhl, Foto von den Liebsten. Hochhäuser, Einkaufspassage, Reihenhaussiedlung. Computer, Telefon, Faxgerät. Straßenbahn, Bahnhofsvorplatz, Laufhaus am Schlachthaus.

Menschen wuseln durch die Fußgängerzone, Autos stehen zwischen den Häuserschluchten im Stau. Fahrradkuriere bringen Geschäftsleuten Pakete, Drogenkuriere geschäftigen Dealern ihre Ware. An den Imbissständen isst man Döner und Bratwurst – wahlweise auch vegan, in den Bars trinkt man Bier und Cocktails – wahlweise auch alkoholfrei. Der Supermarkt verkauft, was man zum Leben so braucht und zu brauchen glaubt und was man dann doch nicht braucht, wird auf die Straße geworfen – wahlweise auch in den Park, den Fluss oder das Wäldchen am Stadtrand.

Dieses spezielle Büro und diese ganz spezielle Stadt sind mein Leben oder zumindest ein nicht unwesentlicher Teil davon. Dieser Bürokomplex aus Glas, diese Stadt aus Beton, sind mir Heimat, Lebensraum, geben mir den Platz, den ich anderswo längst verloren und nie wieder gefunden habe.

Seit vielen Jahren schon lebe und arbeite ich hier, fahre mit der Straßenbahn, schlendere durch die Einkaufspassagen, besuche das Laufhaus am Schlachthaus, benutze den Computer, das Telefon, das Faxgerät, betrachte das Foto von den Liebsten.

Das ist mein Leben in dieser Stadt, in diesem Büro, und auch wenn es zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort noch trister, düsterer und aussichtsloser war, kotzt mich das hier alles an. Alles: Die Stadt, das Büro, das Leben. Mein Leben – mein tristes, düsteres und aussichtsloses Leben.

Kapitel 1

Ich

Ich sitze auf dem Schreibtisch und schaue aus dem Fenster. Der Schreibtisch ist aus dunklem, schweren Holz gebaut, das Fenster aus durchsichtigem Glas und ist genau genommen eine Glaswand. Bei näherer Betrachtung ist das ganze Ding hier, dieses ganze Hochhaus, dieser ganze Bürokomplex, dieses ganze gottverdammte Bürokomplexhochhaus aus Glas gebaut. Glaswände, soweit das Auge reicht, ein Meer aus Glas. Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen, sagt man, und wer ohne Sünde ist den ersten Stein werfen, sagt man auch. Sünden habe ich genug, dennoch, hätte ich einen Stein bei der Hand, ich würde ihn werfen. Glashaus hin, Sünde her, ich würde ihn werfen, diesen Stein, lieber Pflaster als Kieselstein, so groß und schwer wie nur irgendwie möglich. Ich würde ihn werfen, die Glasfront zum Zerbersten bringen, das Glashaus zu einem Müllberg machen. Denn es widert mich an, dieses Glas-, dieses Hochhaus, dieser Bürokomplex, dieses Büro hier. Mit seinen ach-so-reinen weißen Wänden, die natürlich nicht aus Glas sind, gab wohl Glasmangel, die große Glaskrise, der oft zitierte Glaskrieg, mussten sie also Ziegel nehmen, die Baumeister und Architekten.

Und als wäre das nicht genug der Widerwärtigkeit, sind da noch diese schweren Holzschreibtische, die surrenden Computer und die schnurrenden Sekretärinnen. Schnurrsex am Surrtisch steht hier an der Tagesordnung auf dem Flipchart und allen Beteiligten ins Gesicht geschrieben. Und auch das widert mich an, das ewige Gesurre, Geschnurre, Gevögele. Es widert mich an, ja, kotzt mich so unsagbar an. Denn ich bin nie dabei, darf nie dabei sein, bei diesem Gesurre, Geschnurre, Gevögele. Ich darf bloß hinterher die eingesauten Papiertaschentücher entsorgen und die vollgepumpten Kondome, die sie an jeder Ecke liegenlassen, die schmierigen Anzugmänner und die schminkverschmierten Kostümfrauen.

Und jetzt sitze ich also hier auf diesem Schreibtisch aus schwerem, dunklen Holz und schaue durch durchsichtige Wände hinaus auf die Stadt. Auf den Fluss mit seinen Bummelbooten und Frachtschiffen, auf die Brücken mit den Pendlerautos und dem ausklingenden Berufsverkehr, den Bahnhofsvorplatz mit den austrinkenden Schwerstalkoholikern und den sich gerade erst einfindenden leichten Mädchen. Ich sehe mir alles an, das ganze Szenario, das ganze Schauspiel, das ganze Theater eines stinknormalen Großstadtabends. Die heimgehfreudigen Bürohengste und Businessmiezen, die ausgehlustigen Discotiger und Tanzflächenküken, die, die da alle aufgeregt und lebensdurstig zum einen, ausgelaugt und todeshungrig zum anderen, die Straßen entlanglaufen. Allesamt sind sie auf dem Weg zu ihren höchst individuellen Zielen, in eine von den Tanz-, Nacht- und Nacktbars, in eines der Wohnsilos, Reihenhausghettos oder in einen der Penthousetempel.

Ich sehe manische Fahrradboten und ahndende Verkehrspolizeivollidioten, Pläne studierende Rucksacktouristen, Preise vergleichende Konsumfetischisten, Hyperaktive und -ventilierende und Beipackzettel lesende Hypochondrierende. Ich sehe das pralle Leben, sehe das fahle Leben.

Ich sehe vieles, beinahe alles, denn ich bin hoch oben, höher als alles, höher als alle anderen. Die Bürokomplexe dieser Stadt reichen weit hinauf in den Himmel und weit hinein in die Wolken, über sie hinaus, dorthin, wo die Freiheit angeblich grenzenlos ist. Hier, in diesem Hochhaus, ist die Freiheit aber nicht grenzenlos, auch wenn es das höchste von allen ist. New York City und Downtown LA sind ein schlechter Witz, ein müdes Gähnen dagegen.

Es ist 1Uhr, und weil Sommer ist, ist es noch ziemlich hell, und weil Freitag ist, ist es mittlerweile recht leer hier oben und recht voll da unten. Mir soll es recht sein, ich halte nichts vom Amüsiervolk und vom Amusement allgemein. Ich bin hier, um zu arbeiten und wenn ich dabei zumindest einmal in der Woche alleine sein kann, soll es mir recht sein. Ich will ihn nicht immer um mich haben, den geschäftigen Trubel des Wirtschaftslebens, will nicht immer dem gehetzten Treiben der Businessmenschen ausgesetzt sein. Ich will meine Ruhe haben und meinen Frieden suchen und will ich meine Arbeit machen. Deswegen bin ich hier, um zu arbeiten und der Gesellschaft zu dienen und mich den Chefs zu beweisen. Und wegen des Geldes. Aber bevor ich nun diene, bevor ich mich beweise, bevor ich wieder mache, was ich immer mache und weswegen irgendjemand mir Monat für Monat einen gewissen Betrag auf mein Konto überweist. Bevor ich mache, was mir im Einstellungsgespräch aufgetragen wurde und im Arbeitsvertrag verankert ist, wofür man mir fünf Wochen Urlaub pro Jahr auf einem goldenen Teller serviert, möchte ich mich dann doch kurz amüsieren. Denn ein kleines bisschen Amusement geht schon. Es muss nicht immer nur ein kleines bisschen Horrorshow sein, es darf auch mal kurz der Amüsierbetrieb in dieser Hölle aktiviert sein, die sich Arbeitsplatz nennt. Und deswegen nehme ich diesen kleinen Schlüssel zur Hand und sperre damit die oberste Lade des Schreibtisches auf, auf dem ich gerade noch gesessen habe, drehe den kleinen Schlüssel in dem kleinen Schloss um, bis es ein kleines Klickgeräusch gibt, und ziehe die Schublade heraus. Dann nehme ich das Foto in die Hand: Rosemarie mit ihrem dauergewellten Haar, Josephine, die süße kleine Josephine und Rüdiger, dieser Rüpel, dieser stachelköpfige zahnlose, potthässliche, strohdumme Grundschulrüpel. Ich nehme das Foto in beide Hände. Ich drücke es auf meinen Mund und gebe Rosemarie einen dicken Schmatzer und einen dickeren auf Josephine, die süße kleine Josephine, dieser zärtliche Engel. Ich küsse beide hingebungsvoll, Rüdiger zeige ich den Mittelfinger, diesem zahnlosen, potthässlichen, strohdummen Grundschulrüpel.

Kurz bin ich in Versuchung, auch meine Zunge ranzulassen, meine Zunge zärtlich mit Josephines Foto vertraut zu machen, doch ich verwerfe diesen Gedanken rasch und werfe nicht minder rasch einen weiteren Blick in die Lade, deren Inhalt ich fast auswendig kenne. Lediglich den Brief, der ganz weit oben liegt, noch ungeöffnet, kenne ich nicht. Absender ist ein gewisser Michael So-und-So, Michael Irgendwie, Michael Überhaupt und ich kenne ihn nicht, keine Ahnung, wer das schon wieder sein soll, wohnhaft in Nie-Gehört. Ich verbuche den Brief unter uninteressant, langweiliger Geschäftsmist wahrscheinlich, so etwas interessiert mich nicht, juckt mich nicht, geht mich nichts an.

Ich lege den Brief zurück in die Schublade und nehme mir das Bündel mit den Geldscheinen. Nehme einen Zwanziger und einen Fünfer. Den Fünfer stecke ich in die Schürze, den Zwanziger lege ich zur Seite. Dann krame ich ein wenig weiter, stecke mir zwei Zigaretten in die Schürze, eine in den Mund und auch gleich an und habe dann auch schon den Beutel mit dem weißen Pulver in der einen und die Mastercard in der anderen Hand. Beide Hände machen, was mit weißem Pulver und Mastercard zu machen ist und dann kommt auch schon der Zwanziger zum Einsatz. Nach getaner Arbeit kommen Marschierpulver, Mastercard und Zwanziger dorthin zurück, wo sie hingehören, also in die Schublade, ich schließe mit meiner einwandfreien Nachfertigung das Schloss ab und mache mich beschwingt wieder an die Arbeit. Da steht er ja schon, da an der Tür, der Wagen, der gute alte Putzwagen. Alles da, Mopp, Eimer, Arbeitsmotivation, Koks sei Dank, auch. Mach’s gut Büro, für heute halt. Denn da warten noch hundert andere Büros mit ihren Fotos, ihren Schreibtischkanten, ihren Koksschubläden. Warten auf mich. Die Putzfrau, die Reinigungsdame, das Saubermachfräulein.

Sie

Sie wankt, schwankt. Bald muss sie erbrechen, sich übergeben, hemmungslos kotzen. Sie spürt es hochkriechen, das ganze Magenzeug und das ganze Alkoholzeug auch. All die Tequilas und die Wodka-Oranges und die Warm-Up-Biere. Und den Probier-Zug vom Animier-Joint, das erste Mal tut bekanntlich immer weh. Und nun muss alles raus, immer nur raus damit. Wäre sie ein Kleidungsfachhandel, jetzt wäre Sommerschlussverkauf. Wäre sie eine Bundesrepublik freier Wahl, Deutschland, Österreich, vielleicht auch die Schweiz, wäre jetzt wieder einmal Zeit zum Abschieben. Aber das ist sie nicht, zum Glück, wie sie findet, denn Kleidungsfachhandel und Bundesrepubliken findet sie im wahrsten Sinne des Wortes zum Kotzen. Kleidung interessiert sie nicht, tangiert sie nicht, wenn sie dann doch etwas benötigt, gibt es Zalando und Papas Kreditkarte. Dass das Abschieben von irgendwelchen Leuten, die niemanden etwas getan haben, scheiße ist, weiß sie noch nicht, interessiert sie nicht, tangiert sie nicht.

Und natürlich ist sie betrunken, klar ist sie das, so betrunken, wie sie es noch nie zuvor war. Denn es ist ihr sechzehnter Geburtstag und der ist doch der wichtige, der große, der alles entscheidende, der alles verändernde und dementsprechend zu zelebrierende Geburtstag. Der sechzehnte Geburtstag ist dieses lange ersehnte Tor in ein lang ersehntes neues Leben, eine neue Unabhängigkeit, die Schwelle zum Erwachsensein. Und das muss ordentlich gefeiert werden und wurde bis zu diesem Zeitpunkt auch ordentlich gefeiert. Was ging, das ging und es ging vieles. Und jetzt geht es ihr scheiße, richtig scheiße. Der Geburtstag als Richtfest. Und sie würde so gerne einfach loskotzen, wenn da bloß nicht all diese Leute wären, all die Amüsier- und Partyleute. Partypeople everywhere, Partypeople, soweit das Auge reicht, ein Partypeople-Ozean, ein Partypeople-Universum. Und wenn der Weg zum Klo bloß nicht so unfassbar weit wäre und nicht überall so unfassbar viele Menschen stehen und Party machen würden. Und natürlich probiert sie dagegen anzukämpfen, dem Brechreiz standzuhalten, ihm Einhalt zu gebieten, natürlich versucht sie, alles menschen-, zumindest alles ihr in diesem Zustand jetzt gerade mögliche, um sich nicht hier und jetzt in die Menge des tanzwütigen Volkes zu erbrechen. Natürlich versucht sie auch weiterhin, sich zum Klo vorzukämpfen. Und natürlich weiß sie, dass es ein Kampf gegen Windmühlen sein wird.

Natürlich war sie schon öfter in Feierlaune im Feierabend, falls Schülerinnen so etwas wie Feierabend überhaupt haben, in Amüsierlokalen wie diesem hier und sie weiß, dass die Mädchenklos meistens mehr Andrang standhalten müssen, als der Glühweinstand beim Eisstockschießen. Und natürlich sagt sie, dann vergisst du heute eben deine Würde und deinen guten Ruf, und dass du Klassensprecherin bist und dein Papa der Obermacker drüben im Bürobunker. Was soll’s, also scheiß drauf, vergiss das alles, vergiss dich selbst und dann kotzt du halt ins Bubenklo, denkt sie sich. Scheiß auf die Würde, sagt sie sich. Scheiß auf deinen Ruf und auf den von Papa sowieso. Scheiß auf Klassensprecherin und Klassenkampf – auch wenn sie von Klassenkampf natürlich nichts versteht und auch noch nicht davon gehört hat, interessiert sie nicht, tangiert sie nicht. Und sie ist auch eigentlich zu gut erzogen, um „scheiß drauf“ zu sagen. In die Menge kotzen geht aber gar nicht, denkt sie sich, da kann ich nicht drauf scheißen, das würde mir meine Mutter nicht verzeihen. Denn an dieser Stelle klopft die gute Erziehung doch ganz sanft an die dünnen Wände ihres betrunkenen Restbewusstseins. Und dann denkt sie noch ein wenig über Etikette nach und guten Ruf und gesellschaftlichen Rang und Anerkennung, und dass sie doch besser ist, als der ganze Partypöbel hier und nimmt sich fest vor, sich nicht hier und jetzt in die Menge zu erleichtern. Vornehmen kann der Mensch sich vieles, und weil Vorsätze nun einmal dafür da sind, um gebrochen zu werden, kann sie es trotz allem nicht mehr zurückhalten und erbricht einen Schwall, der sich sehen lassen kann. Ja, sie kotzt mitten in die Menge, mitten in die Fresse, genau auf diesen süßen Typen da, den sie schon den ganzen Abend lang beim Tanzen beobachtet hat.

Der Papa

Ich liege im Bett, es ist 4:30 Uhr morgens. Wäre heute nicht Samstag und dazu ein freier Samstag, müsste ich in sechzig Minuten aufstehen, mich duschen, rasieren eventuell, mir die Zähne putzen. Dann würde ich das weiße oder das hellgraue Hemd anziehen und irgendeine Krawatte ... Nein, nicht irgendeine, ich liebe Krawatten, mehr als alles andere sogar, mehr als meine Frau, mehr als meine Kinder. Nein, ich hätte die Krawatte natürlich am Vorabend sorgfältig ausgesucht und würde es genießen, es nahezu feiern, geradezu zelebrieren, sie anzulegen. Ich würde in die gestern Abend frisch gebügelte Anzughose schlüpfen, das verbliebene Resthaar in Schuss bringen und mit stolzen Schritten in die Küche marschieren. Rosemarie hätte den Kaffee bereits aufgesetzt, er würde schon so herrlich duften, wie Rosemarie schon seit Jahren nicht mehr geduftet hat. Brot oder Semmeln hätte sie aufgeschnitten, einen Wurst- und einen Käseaufschnitt aufbereitet, Orangensaft ausgepresst. Dann würde sie mir zunicken und ich würde wissen, dass dieses Mahl das meine wäre und sie würde später, wenn ich schon im Büro wäre, ein Stück Schwarzbrot essen und einen Schluck Schwarztee trinken. Und auch Josephine würde bald kommen, die süße kleine Josephine. Sie würde sich verschlafen an den Tisch setzen, durch ihr zerzaustes Haar hervorlugen, das Nachthemd zurechtzupfen, fragen, ob sie rauchen dürfe, mein „Nein, natürlich nicht“ ignorieren, sich eine Zigarette anstecken und sich einen Schluck Kaffee aus der Kanne eingießen. Essen würde sie nichts. „Nur Loser essen Frühstück“, sagt sie immer. Und essen sei doch sowieso überbewertet und Knochen am Körper zu zeigen, sei besser als Knochen im Suppenteller zu haben, würde auch Heidi Klum sagen, und wenn es wer wissen würde, dann wohl Heidi Klum. Die sei zwar eine blöde Zicke – auch wenn Josephine niemals blöde Zicke sagen würde, weil sie dazu zu gut erzogen ist – und außerdem sähe die Heidi auch gar nicht so gut aus, aber immerhin hätte die etwas erreicht im Leben, würde sie weiter monologisieren. Und trotz all der Sinnlosigkeit des Moments und der Unsinnigkeit ihrer Aussagen würde ich sie anhimmeln, also Josephine und nicht Heidi Klum und schon gar nicht Rosemarie, denn Rosemarie würde mich anwidern, wie immer und alles würde seinen alltäglichen Alptraumablauf nehmen. Und der Bub, der wäre auch noch da.

So würde es sein, wäre heute nicht mein freier Samstag, mein einmal im Monat mir von mir selbst verordneter freier Samstag. An dem ich nicht ins Büro gehe, an dem die süße kleine Josephine nicht in die Schule geht und Rosemarie trotzdem das Klo putzen muss, den Einkauf macht und die Vorhänge wäscht, weil heute auch das Personal frei hat. Aber das geht doch alles später auch noch, jetzt wäre erst einmal die seltene Gelegenheit, sich auszuschlafen. Aber ich kann nicht mehr schlafen und liege wach im Bett in meinem Zimmer. Rosemarie hat, dem lieben Gott sei es gedankt, schon seit vielen Jahren ein eigenes Zimmer mit eigenem Bett. Und ich weiß, instinktiv ganz tief drinnen, in dem, was man wohl Seele nennt, weiß ich es, fühle ich es nicht nur, ahne ich es nicht nur, nein, weiß ich es eben: Josephine, die süße kleine Josephine, ist heute Nacht nicht nach Hause gekommen.