Informationen zum Buch

No risk – no fun

Mitten im Sommer hat Alex eine jener apathischen Phasen, gegen die nur eines hilft: wegfahren! Unterwegs liest er die Studentin Esther auf – und plötzlich ist es da, das Gefühl, unbesiegbar und unsterblich zu sein, jung und stark und verliebt.

Eines Tages entdeckt Alex diese vier Worte in einer Kölner Kneipe, und fortan glaubt er an sie. Man muß etwas riskieren können, wenn man nicht immer Karussell, sondern lieber Achterbahn fahren möchte. Als er sich kurz darauf in die Studentin Esther verliebt, ist es plötzlich da, das Gefühl, unbesiegbar und unsterblich zu sein, jung und stark. Aber während er noch meint, ganz oben zu schweben, saust er schon abwärts ins Chaos der Einsamkeit, von nichts begleitet als den coolen Sprüchen von Freund Henry: »Keep on fighting!«

Selim Özdogan

Es ist so einsam im Sattel, seit das Pferd tot ist

Roman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

ZU-GA-BE

Über Selim Özdogan

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Wißt ihr, daß Wörter nur Brandblasen der Seele sind?

Rolf Dieter Brinkmann

What’s the point of changing things?

A young man said to me

You can’t make people change their minds

You can’t set them free

Well, fuck you asshole

I’ll set myself free first

The rest can wait

Rodney Orpheus

1

Es war ein Sommerabend, mein Bier war kalt, der Fernseher flimmerte in dem halbdunklen Raum, und ein leichter Wind kam durch das offene Fenster. Ich saß im Sessel, die Füße auf dem Tisch, eine Zigarette im Mund, und starrte abwesend auf die bunten Bilder, es lief ein Krimi, einer von denen, die man auch versteht, wenn man nur die letzten fünf Minuten sieht. Es waren noch genug Erdnüsse auf dem Tisch, es war genug Bier im Kühlschrank, ich hatte 5 000 Mark auf dem Konto, vielleicht hätte ich mich wohl fühlen können, ich weiß es nicht, nenn es Sommerloch oder nachpubertäre Depression, aber irgendwie kotzte mich alles an – Bücher, Sex, Drogen, Musik, Kino, Tanzen, Schreiben, Schwitzen –, ich wollte mehr oder das Handtuch schmeißen. Mir fehlte das kleinste bißchen Energie, mich zu erheben. Mitten im Sommer, mitten im Leben, lebte ich seit Wochen eine meiner apathischen Phasen aus. Lebensdurst & Todessehnsucht und das lähmende Gefühl, das alles schon mal erlebt zu haben, daß nichts die Mühe lohnt, machten sich breit. Auf dem Bildschirm gab es eine Schießerei, der Böse wurde angeschossen und verhaftet, Friede, Freude, Eierkuchen und dazu noch das nonchalante Grinsen des Kommissars, ein Querkopf, immer Ärger mit seinem Vorgesetzten, ein machohaft-lässiges Auftreten mit der Gewißheit, wieder mal alles richtig gemacht zu haben, einfach unwiderstehlich zu sein. Und Millionen von frustrierten Hausfrauen wünschten sich jetzt insgeheim einen Kerl wie ihn, während ihr Mann in der Kneipe die Kellnerin begrapschte. Das Leben war ein Scheißdreck.

Dann die Spätnachrichten, ich holte mir vorsichtshalber noch eine Flasche Bier, stellte die leere in den Kasten, ging pinkeln, wusch mir die Hände und besah mich eindringlich im Spiegel. Es klappte, ich kam rechtzeitig zur Wettervorhersage, ich wollte nicht hören, wie schlecht es um die Welt stand, die Welt kümmerte mich nicht, ich hatte genug Probleme mit mir selbst. Der Meteorologe kündigte in Anzug und Krawatte für morgen wieder hochsommerliche Temperaturen an – bis zu 32 Grad im Süden Deutschlands – und wünschte mir noch eine gute Nacht.

Ich dankte ihm und wünschte mir nichts sehnlicher, als ein paar Tage durchzuschlafen. Ich fand mein Leben unerträglich, vielleicht würde mir eine Abwechslung guttun, ab und an muß man sich selber in den Arsch treten, um nicht völlig zu versumpfen, schon seit vier Tagen fuhr ich abends in Gedanken weg, unfähig, auch nur den Autoschlüssel zu suchen. Ich wollte noch einen Schluck nehmen, doch ich knallte mir die Flasche gegen die Zähne, und ein Stück vom Schneidezahn brach ab, ich war wohl ziemlich besoffen.

Jeden Abend ein paar Flaschen, ein Telefon, das nicht klingelte, und ein Fernsehprogramm, das ich oft genug wie ein Taubstummer über mich ergehen ließ, so sah es bei mir im Moment aus. Es stellte sich natürlich die Frage, warum das so war und wer daran schuld hatte. Ich kannte eine Menge Leute, allesamt nichtssagende Langweiler, ich war froh, mich nicht mit ihnen abgeben zu müssen, aber ich fühlte mich gleichzeitig ignoriert. Ich wollte, daß man sich für mich interessierte, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich überhaupt etwas Interessantes zu bieten hatte.

Okay, sagte ich mir, das war’s, genug in der Scheiße gebadet, fahr wirklich weg, versuch mal, ’nen klaren Kopf zu kriegen.

– Hallo Kai, ich bin’s, Alex.

– Hi, wie geht’s?

– Geht so … Ist es in Ordnung, wenn ich morgen früh bei dir bin?

– Klar, aber was ist denn?

– Ich muß einfach weg hier.

– Kein Ding, komm vorbei.

Ich hatte zusammen mit Kai das Abitur gemacht, und irgendwie hatte es ihn nach München verschlagen, hinterher. Er war mein Freund, für ihn und Henry würde ich mir jederzeit meinen rechten Arm abhacken lassen, bedenkenlos, für die beiden bin ich da, wenn es hart auf hart kommt. Und in guten Zeiten gehen wir zusammen flippern, machen einen hohen Deckel, liegen in der Sonne, fahren weg oder was auch immer, jedenfalls haben wir eine Menge Spaß.

Henry trieb sich schon seit einem halben Jahr in Mexiko rum. Kai erzählte mir, er würde Geschichte studieren. Klar, er war eingeschrieben an der Uni, aber irgendwie konnte ich ihm nicht richtig glauben, er sich selbst wohl auch nicht. Wir sahen uns in letzter Zeit nicht mehr so oft, wir schrieben uns auch nicht unbedingt, was zwischen uns herrschte, brauchte nicht bekräftigt zu werden. Zum ersten Mal war es mir in der Schule aufgefallen, als die Lehrerin fragte: – Seid ihr auch alle vollzählig da? Kai und ich blickten uns an und mußten breit grinsen, wir dachten dasselbe, wir hatten die Augen und Ohren weit offen, das war manchmal frustrierend, da man sehr viel Elend und Dummheit um sich herum entdeckte, doch meistens amüsierten wir uns köstlich, wenn es auch manchmal nichts zu lachen gab. Ich hatte Kai geholfen, als seine Freundin ihn nach vier Jahren verlassen hatte, ich hatte ihm Geld geliehen, als er eine Pechsträhne beim Spielen erwischt hatte, ich hatte seine neue Wohnung tapeziert und gestrichen, als der mit Fieber flachlag und sein Auszugstermin immer näher rückte. Er hatte meine Abiturklausur in Mathe geschrieben, ohne ihn wäre ich garantiert durchgerasselt.

Mit Henry verhielt sich die Sache etwas anders. Henry war unzuverlässig, er konnte fröhlich lachend und ohne Gewissensbisse anderthalb Stunden zu spät zu einer Verabredung kommen, selbst wenn man ihm gesagt hatte, man brauche gerade dringend jemanden zum Reden. Ihn schätzte ich mehr für seine Fähigkeit, einen mitzureißen, seine bodenlose Begeisterung auf andere zu übertragen, seinen starken Willen und die Gelassenheit, mit der er Dinge so nahm, wie sie kamen, oder sie sich nachträglich zurechtbog, wenn sie ihm nicht paßten. An Henry mochte ich vor allen Dingen die Seiten, die ich an mir vermißte.

Egal, wie sehr ich mich selbst bemitleide, egal, was auch immer kommen mag, es gibt mir ein gutes Gefühl, gleich zwei Freunde auf diesem Planeten zu haben. Egal, wie weit sie weg sind, ob ich sie gerade erreichen kann oder nicht, sie sind irgendwo da draußen und denken ab und zu an mich.

Ich schmiß eine Handvoll Amphetamine ein, ich wollte sofort los, doch zuerst mußte ich den Autoschlüssel suchen. Nach einer halben Stunde fand ich ihn in der Tasche meiner Lederhose, die hatte ich zuletzt Anfang Frühling angehabt.

Kurz vor der Autobahnausfahrt mußte ich wenden und zurück nach Hause fahren, ich hatte ein paar Sachen vergessen, Schlafsack, frische T-Shirts und Shorts, eine Zahnbürste und drei oder vier Kassetten für unterwegs. Man sollte nichts überstürzen im Leben.

Manchmal ist es ein tolles Gefühl, nachts auf der Autobahn zu fahren, mit fettigen Haaren, Bartstoppeln und glutroten Augen, Richtung Süden, Smoke on the water, Sally MacLennane, Sweet child o’mine und A new England im Recorder, mit 120, 140 Stundenkilometern, immer vorwärts, den Mond vor Augen, bis es langsam dämmert und die Sonne, rot wie eine Blutorange, urplötzlich hinter einer Kurve auftaucht, nicht unerwartet, aber trotzdem überraschend. Einfach so fahren, mit dem Auto verschmelzen, an nichts mehr denken, nur geradeaus, immer weiter, während die Straße wie von alleine vorüberzieht, dafür kann ich mich begeistern, so könnte ich ziellos weiterfahren, oder wie einmal jemand gesagt hat: Leben ist wie fahren. Alles, was da ist, ist nur für einen kurzen Augenblick da.

Es ist, als ob der Motor das Knurren der Seele übertönen würde.

Kurz nach Sonnenaufgang hielt ich an einer Raststätte, tankte und pinkelte, sehr gute Gründe anzuhalten. Außerdem fühlte ich mich etwas steif, ich joggte ein wenig und dehnte meine schmerzenden Muskeln. Dann setzte ich mich auf die Motorhaube, um zu verschnaufen, und rieb mir die Augen, noch 150 Kilometer, ein Klacks, dachte ich. Und irgendwie hatte ich ein gutes Gefühl.

Das gute Gefühl wollte mit Kaffee gefüttert werden, doch ich hatte keine Lust auf Menschen, also entschied ich mich für den Automaten. Kaum hatte ich mein Markstück eingeworfen, tippte mir von hinten jemand auf die Schulter, ich drückte den Knopf für Schwarz mit Zucker und drehte mich um – ich war auf alles gefaßt, manchmal erleichtert es einem die Sache, sich auf das Schlimmste vorzubereiten, nur weiß man nie genau, was nun das Schlimmste ist.

Er war vielleicht einen Kopf größer als ich, schmächtig, unauffällig, aber teuer gekleidet, mit einer Gesichtsfarbe wie Leberwurst.

– Läßt du mich mal von deinem Kaffee probieren, der da drinnen kostet drei fünfzig die Tasse, das ist eine Unverschämtheit, und mit Automaten habe ich schlechte Erfahrungen gemacht. Ich will da jetzt nicht eine Mark einwerfen und dafür nur so eine billige Brühe bekommen, das wäre ja die Höhe, also ich wollte mal einen Schluck probieren. Vor ein paar Stunden hatte ich einen Kaffee aus dem Automaten, der schmeckte original nach Hühnerbrühe, und letzte Woche, letzte Woche da …

Ich drückte ihm meinen Becher in die Hand und schenkte ihm ein Lächeln obendrein, ich glaube, ich habe ihm sogar freundschaftlich auf die Schulter geklopft, bevor ich zu meinem Wagen ging. Er brüllte mir noch hinterher.

– Hey, warte, so war das nicht gemeint … ich wollte doch nur …

Die Ohren des Schmerzes sind taub für die Schreie der Dummheit. Trotzdem ließ ich es mir nicht nehmen, meinen rechten Mittelfinger in die Luft zu strecken.

In spätestens zwei Stunden würde ich bei Kai in der Küche sitzen, wir würden Kaffee mit Cointreau trinken. Brötchen, Toast, Wurst, Käse, Marmelade, Quark, vielleicht sogar Waffeln mit Sahne, es würde alles geben, was das Herz begehrt, der Idiot konnte mir meinen leichten Anflug guter Laune nicht wirklich verderben, außerdem bekam ich seit Wochen zum ersten Mal richtig Hunger, wenn ich an den gedeckten Tisch dachte. Das war schon mal ein gutes Zeichen.

2

Kai schluckte seinen letzten Bissen runter, trank noch einen Schluck Kaffee und fragte:

– Sag mal, irgendwas Besonderes?

Das Fenster war weit auf, die Sonne knallte auf all die Leckereien auf dem Küchentisch, und während Kai sich eine Zigarette anzündete, antwortete ich mit vollem Mund:

– Sehnsüchte, Depressionen, Langeweile, Lethargie, Einsamkeit, halt die ganze Palette.

Er sah mich an, und ich wußte, daß er ein Grinsen unterdrückte, nichts ist komischer als die Tragik des Lebens und das Unglück. Ich mußte auf einmal laut loslachen, über mich, mein Leben, diesen häßlichen Drei-Tage-Bart, über die schmelzende Butter, so richtig befreiend, aus dem Bauch heraus, und Kai stimmte auch sofort mit ein. Ich lachte so lange, bis ich das Gefühl hatte, mein Frühstück würde mir wieder hochkommen, und dann brauchte ich noch mal fünf Minuten, um mich zu beruhigen.

Ich war müde, völlig erledigt, das Ganze schien mir nur noch ein schlechter Witz zu sein. Ich liebe diese Momente, in denen man so fertig ist, daß es sich auf einmal wieder in Euphorie verwandelt, in denen irgendwelche köstlichen Drogen freigesetzt werden im Körper, Momente, in denen man seinem Gegenüber einen Löffel voll Schlagsahne ins Gesicht flitscht. Ich begann, mich gut zu fühlen, und genehmigte mir noch einen Schluck aus der Cointreau-Flasche.

Kai nahm seine Brille ab und wischte mit einem Taschentuch die Sahne weg. Ich verkündete mit feierlicher Stimme:

– Mein Leben kommt mir vor wie ein achtlos weggeworfener Liebesbrief.

Wir saßen eine Weile schweigend am Tisch und lauschten der ersten Pixies-LP, die Kai aufgelegt hatte, das war Sommermusik, ungestüm, laut, wild, ohne klare Strukturen, aber mit zuckersüßen Melodien, die aus dem Krach emporstiegen.

Es war ein angenehmes Schweigen, keiner bemühte sich krampfhaft um Worte, mein letzter Satz schwebte im Raum, aber das war in keiner Weise peinlich. Ich konnte mich ruhig zurücklehnen, einen allerletzten Schluck nehmen, noch eine allerletzte Zigarette rauchen, in die Sonne blinzeln. Ich konnte mir Zeit lassen, bevor ich mich erhob, nichts war in diesem Moment wirklich wichtig, außer diesem angenehmen, schweren Gefühl, der Vertrautheit und dem Lachen der Morgensonne.

Ich weiß beim besten Willen nicht, wie lange wir so dagesessen haben, die Platte war auf einmal zu Ende, und ich merkte, wie müde ich war.

Kai hatte die Füße auf der Fensterbank und ein Lächeln auf den Lippen, der Sommer schien ihm gutzutun.

– Haste was dagegen, wenn ich mich erst einmal ein paar Stunden hinlege?

– Ne, kein Ding. Knall dich einfach auf mein Bett … Willste heute abend was Besonderes machen? Ich habe noch eine Flasche Wild Turkey im Kühlfach …

– Klar. Trinken ist vielleicht nicht die beste Lösung, aber die einzige. Hab ich mal irgendwo gelesen.

Das Bett fühlte sich sehr gut an, doch ich versuchte, noch so lange wie möglich wach zu bleiben, versuchte, mit diesen zauberhaften Verwirrungen und Halluzinationen des Halbschlafs zu spielen, kurz vor dem Eintauchen in den Schlaf. Ein Dahingleiten auf der Oberfläche, ohne Kontrolle über das Hirn, aber immer wach genug, um mitzukriegen, was darin passiert, das allerschönste Chaos, ein Gefühl wie ein Vollrausch. Mit einem Hauch von Begeisterung umgeben, verlor ich dann die Kontrolle und fiel in einen Schlaf, der sich anfühlte wie ein Stein.

Als ich aufwachte, dämmerte es bereits, Scheiße, dachte ich, gerade jetzt, wo du beginnst, dich besser zu fühlen, ändert sich dein Rhythmus so, daß du kein Tageslicht mehr abkriegst, du mußt aufpassen, daß du nicht versackst, gerade jetzt, wo das Ende der Talfahrt abzusehen ist, gerade jetzt, gerade jetzt, gerade jetzt, echote es in meinem Kopf, dabei ist kein Zeitpunkt besser oder schlechter als ein anderer.

Ich ging in die Küche und machte den Kühlschrank auf, ich hatte fürchterlichen Brand, da stand eine Tüte Grapefruitsaft, ich schnappte sie mir, riß die Ecke mit den Zähnen auf und kippte die erste Hälfte stehend in einem Zug. Dann erst schmiß ich die Kühlschranktür zu. Auf dem Tisch lag ein Zettel: Moin Alex, bin mal zwei Stunden weg, fühl Dich wie zu Hause, Du weggeworfener Liebesbrief. Die Welt ist schlecht, das Leben ist schön. Kai.

Auch gut, ich legte die Miami von Gun Club auf, drehte den Knopf am Verstärker ziemlich weit nach rechts und ging dann unter die Dusche. Während das Wasser auf meinen Schädel prasselte, fühlte ich mich wie zu Hause. Tropfend stellte ich mich dann vor den Spiegel, nahm Kais Rasiergel, ein grünlichschleimiges Zeug, das sich auf wunderbare Weise auf meinen Wangen in weißen Schaum verwandelte, ich steckte eine neue Klinge in den Rasierer und gab mir wirklich Mühe, am Ende war mein Gesicht so glatt, daß eine Fliege darauf ausgerutscht wäre. Gerade als ich fertig war, hörte ich den Schlüssel in der Tür, und kurz darauf stand Kai im Türrahmen und sah mich an.

– Na, was für ’ne Schweinerei veranstaltest du denn hier?

Ich grinste als Antwort.

– Ich hab dir ’ne Familienpackung Erdnüsse mitgebracht, trocken geröstet.

Mein Grinsen wurde breiter.

Eine Viertelstunde später hatten wir den ersten Drink geext und nippten gemächlich am zweiten, während sich jeder über seine Fischstäbchen hermachte.

Danach erzählten wir uns Geschichten, belanglose Geschichten, bei denen wir uns totlachten – wie Gerd auf der Auffahrt der Tiefgarage eine Rolle rückwärts gemacht hatte, sturzbetrunken, nachts um halb drei, wie wir mal zu dritt eine Flasche Ouzo in zehn Minuten geleert hatten, wie Kai den Highscore beim Flippern geholt hatte, wie gut diese Fete und jener Exzeß gewesen waren, all die kleinen Besonderheiten und Überraschungen, die das Leben bis jetzt für uns bereitgehalten hatte, packten wir aus an dem Abend und bestaunten sie. Und das ist auch das Gute daran, wenn man Geschichten sammelt, selbst wenn nichts passiert und die guten Momente zur Zeit rar sind, kann man einen Heidenspaß haben.

Es ging auf elf Uhr zu, wir hatten schnell getrunken, zwischen zwei Schlucken hatte ich immer eine Handvoll Erdnüsse eingeworfen – die schmeckten nicht nur fabelhaft, sie machten auch Durst –, die Flasche war leer, und eigentlich hatte ich mir fest vorgenommen, nicht davon zu reden, doch ich war schon zu betrunken.

– Seit zwei Jahren der gleiche Scheiß, ich habe wieder eine Ablehnung bekommen, weißt du, Kai, ich zähl sie schon gar nicht mehr, vielleicht tapeziere ich eines Tages mein Zimmer damit … Ich weiß nicht, was für Schwachköpfe das eigentlich sind, die schreiben, »Ihre Stärken sind zugleich Ihre Schwächen« … Meine Gedichte sind besser als alles, was in den letzten zwanzig Jahren veröffentlicht wurde – geradeaus, direkt, verständlich, mit wunderschönen Bildern, nicht so ein elitäres Zeug mit tausend literarischen Anspielungen, alles zu stilsicher, zu gekonnt, um noch echt zu wirken – Secondhand-Erfahrungen. Vielleicht, aber auch nur ganz vielleicht, bin ich nicht so gut, wie ich glaube, aber die anderen sind mit Sicherheit gottverdammt schlecht … Scheißdreck, komm, laß uns flippern gehen.

Kai lächelte wie ein Boxer, der gerade nach Punkten verloren hat, er mochte meine Gedichte, und ich erzählte ihm nie, wie oft mich Selbstzweifel überkamen.

Also gingen wir flippern, es war schwer, die Kugel zu verfolgen und schnell genug zu reagieren, doch auch im volltrunkenen Zustand können wir beide halbwegs gut flippern, manchmal ist sogar dann noch ein Freispiel drin, alles eine Frage der Übung.

Jedesmal, wenn wir einen Fünfer verspielt hatten, gingen wir in die Kneipe auf der anderen Straßenseite, tranken zwei Tequila und torkelten dann fröhlich lachend zurück, wobei wir auch schon mal parkende Autos anrempelten. Aber die Wagen hielten brav den Mund, wahrscheinlich waren sie Provokationen gewöhnt, es schien ihnen sogar nichts auszumachen, als wir auf ihre Motorhauben pinkelten, nachdem wir aus der Spielhalle rausgeworfen worden waren. Sie hatten etwas von zwei Uhr und Schließen erzählt, aber wie das zusammenhing, begriffen wir beide an dem Abend nicht mehr.

Ich kann mich kaum erinnern, wie ich ins Bett kam, ich weiß nur noch, daß wir irgendwann bei einem Abschlußbier in der Küche saßen und zu laut und zu lange lachten. Als nächstes erinnere ich mich daran, daß ich mit einem säuerlichen Geschmack im Mund auf einem Feldbett aufwachte und es gerade noch bis zur Kloschüssel schaffte, ein großer Schwall und zwei kleinere, ich wusch mich, trank etwas Saft und legte mich wieder hin, glücklich, wieder mal nicht auf den Teppich gekotzt zu haben.

Es kann ein großes Vergnügen sein, im Supermarkt einzukaufen, all die Delikatessen in den Wagen zu packen, durch die Gänge zu schlendern, mit einem Liedchen auf den Lippen und dem Gefühl der Vorfreude. Wir wollten eine Paella machen, das heißt, Kai wollte sie machen, ich wollte nur zuschauen und großen Hunger verspüren.

Die beste Zeit für so einen ausgedehnten Einkauf, bei dem einem noch tausend Sachen auffallen, die man mitnehmen kann, ist montags vormittags. Kein Mensch geht montags vormittags einkaufen, der Supermarkt ist leer.

Aber es war natürlich Freitag nachmittag, und ich war genervt, bevor wir den Laden überhaupt betraten, vielleicht lag es an meiner negativen Haltung, vielleicht wäre es aber so oder so passiert.

Ich schob den Wagen bereits Richtung Kasse, als Kai sagte:

– Laß uns mal kurz in die Spirituosenabteilung, ich hätte gerne was Leckeres zu Hause … kann ja nicht schaden.

Wir waren morgens nicht besonders gut rausgekommen, und ehrlich gesagt hatte ich ein etwas flaues Gefühl im Magen. Wir waren erst vor zwei Stunden aufgewacht, aber die Gewißheit, einen großartigen Abend erlebt zu haben, hielt noch an, nur im Supermarkt war sie eingefroren, ich freute mich schon, in zehn, fünfzehn Minuten den Wagen raus in die Sonne schieben zu können, mit einem Gourmet-Lächeln

ohnegleichen.

Unentschlossen standen wir vor den Flaschen. Mehr was Süßes oder nicht? Vielleicht doch den Rum aus dem Angebot oder lieber Wodka? rätselten wir, als mir von hinten jemand mit einem Affenzahn in die Hacken donnerte, daß mir die Luft wegblieb.

Freitag nachmittag ist die ganze Palette menschlichen Elends im Supermarkt, Choleriker, Debile, Paranoiker, Frustrierte, alles, was du willst, Hausfrauen, die dich an der Art, wie du die Konservendose aus dem Regal nimmst, völlig durchschauen, weil sie montags abends einen Psychologiekurs an der Volkshochschule belegt haben.

Ich drehte mich um, ich wollte sehen, zu welcher Kategorie das Arschloch gehörte, das es so eilig hatte.

Es war ein Mann, und er schien von allem etwas zu haben, das machte mir fast schon angst.

Er trat einen Schritt zurück, wollte seinen Wagen nun doch um mich herum manövrieren, und er blickte mir mit einer unglaublichen Selbstgefälligkeit in die Augen.

– Oh, entschuldige. Mußt du pünktlich zur Tagesschau zu Hause sein, oder was? Sackgesicht!

Wir standen auf gleicher Höhe, er war etwa zehn Jahre älter als ich, blond, braungebrannt und mit einem gewaltigen Brustkorb.

– Jetzt werd nicht frech, ja? Sonst gibt’s gleich was hinter die Löffel! Du kannst doch nicht einfach den ganzen Gang versperren!

– Hör mal zu, Alter, mach hier nicht den Lauten. Verpiß dich, okay?

Es war die kräftigste Ohrfeige, die ich je in meinem Leben bekommen habe, ich taumelte einen Schritt zurück. Ich hatte verdammtes Glück gehabt, daß er nicht mit der Faust zugeschlagen hatte, das hätte mir garantiert den Schädel gebrochen. Er stand da und grinste schadenfroh, kostete seinen Sieg aus, er war zu sehr beschäftigt mit sich, und ich gab ein paar Schmerzlaute von mir, um ihn noch weiter abzulenken. Ich drehte mich etwas zur Seite, schnappte mir dann blitzschnell eine Flasche aus dem Regal und knallte sie mit reichlichem Schwung in sein Gesicht. Ehe zwei Sekunden vergangen waren, war ich draußen und lief, als gelte es mein Leben. Vielleicht war es ja so, ich weiß nicht, ich traute mich nicht, mich umzudrehen, bis ich schweißüberströmt war und meine Lunge schmerzte, meine linke Wange brannte wie Feuer, mir wurde schlecht, und ich blieb stehen, am liebsten hätte ich geheult.

– Du spinnst wohl, was? … Du hast ihm ’nen K.o. gegeben!

Kai war mir nachgelaufen, er keuchte, ich blickte ihm in die Augen, kann sein, daß meine glasig waren.

– Der hat sofort geblutet wie ein Schwein. Du bist ein Vollidiot!

Er grinste jetzt, er hatte wohl nur Angst bekommen, genau wie ich. Ein Schweißtropfen fiel von seinem Kinn und hinterließ einen Fleck auf dem Pflaster.

– Das konnte ich doch nicht auf mir sitzenlassen, oder?

– Ja … aber hätte ja gereicht, wenn du ihm einfach nur die Zähne ausgeschlagen hättest. War doch schade um den schönen Wodka.

Meine Hände zitterten, das war eine ganz schöne Anspannung gewesen, mit dem Lachen lockerte sich das ein wenig, ich fischte eine Zigarette aus Kais Hemdtasche, ich brauchte dringend ein Bier.

– Ich glaube, ich fahre morgen zurück, war nur mal eine Abwechslung angesagt, ich muß das irgendwie hinkriegen.

Kai nickte, wir saßen in einem spanischen Restaurant, tranken Bitter Lemon und Cola und warteten auf unsere Paella, wir wollten beide etwas Luxus genießen, uns zurücklehnen und uns bedienen lassen, die Sache im Supermarkt hatte zu viele Nerven gekostet.

– Kein Ding, fahr ruhig, aber laß uns noch mal zusammen weg, bevor der Sommer zu Ende geht.

– Klar, aber zuerst muß ich zur Toilette.

Ein guter Klospruch ist manchmal besser als ein ganzer Gedichtband, man hält seinen Penis in der Hand, liest etwas Kurzes, Prägnantes, das einen vielleicht noch den ganzen nächsten Tag begleitet, und freut sich. Es ist außerdem nicht nur den Bildungsbürgern vorbehalten, und überhaupt: Achteinhalb Bier, und der Tag gehört dir, sagt mir mehr über mein Leben als eine ganze Bibliothek über die Freiheit des Handelns.

Aber hier bei diesem Spanier hatte jemand ein Gedicht hinterlassen, das mich trotz seiner Ungelenkheit und Holprigkeit stärker beeindruckte als das Gesamtwerk von Ingeborg Bachmann. Oder ähnlichen Nullen.

Ich liebte ein Mädchen

sie war die stählerne Faust

auf dem Kiefer meines Herzens

und ich wünschte die ganze Zeit

sie wäre nur der Schmiedehammer

auf dem Amboß meiner Seele

Das Loch das blieb war ekelhaft

Als ich sechzehn war, hatte ich in einer Disco auf dem Klo einen Spruch entdeckt: NO RISK – NO FUN, und es ist bis zum heutigen Tage so etwas wie ein Leitspruch für mich. Damals hatte ich es in der Schule nicht geschafft, zu den Auserwählten zu gehören, den coolen, leicht brutalen, witzigen Jungs, auf die alle Mädchen standen. Ich war schüchtern und fand mich häßlich. Da ich es unter diesen Leuten nicht schaffte, Anerkennung zu finden, ging ich immer in diese Disco, in der alle schwarze Klamotten trugen, sich die Augen schwarz schminkten und so taten, als würden sie ihr Leben betrauern. Anfangs dachte ich noch, wir würden zusammengehören, wir wären eine Anzahl von Außenseitern, die sich zusammenschließt, um stark zu sein, aber es herrschte die gleiche Hackordnung wie auf dem Schulhof. So wurde ich zum Außenseiter unter den Außenseitern, und eines Nachts entdeckte ich diese vier Worte, und fortan glaubte ich an sie. Man muß etwas riskieren können, das von Bedeutung ist, wenn man nicht immer nur Karussell, sondern lieber Achterbahn fahren möchte, das fiel mir in dem Augenblick, in dem ich das Gedicht las, wieder ein, ich fühlte mich auf einmal stark genug, mutig genug, ich hatte es immerhin bis hierhin geschafft, und ich hatte ein idiotisch entrücktes Lächeln auf dem Gesicht, als ich zurück an unseren Tisch ging, ich weiß die guten Momente genüßlich auszukosten.

– Na? Hat dir ’ne Frau den Schwanz gehalten beim Pinkeln oder haste was eingeworfen?

– Weder noch.

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