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CHRISTOPH GUTKNECHT

GAUNER,
GROßKOTZ,
KESSE LOLA

 

DEUTSCH-JIDDISCHE
WORTGESCHICHTEN

 

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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ebook im be.bra verlag, 2016

 

© der Originalausgabe:

edition q im be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2016

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

post@bebraverlag.de

Lektorat: Matthias Zimmermann, Berlin

Umschlaggestaltung: Ansichtssache, Berlin

ISBN 978-3-8393-2126-3 (epub)

ISBN 978-3-86124-696-1 (print)

 

www.bebraverlag.de

Inhalt

 

 

Vorwort

 

Wortgeschichten

Reden wir Tacheles

Von Schabbes- und Gewittergojim

Alles im Dalles

Billiger Tinnef

Die kesse Lola

Eizes geben

Ganz schön mies

Weder Gurken noch sauer

Red’ keinen Stuss

Wenn der Vielfraß achelt

Gehackte Zores, seidene Zores

Schmonzes mit Lakritze

Macke, Meise und meschugge

Betucht hat nichts mit Textilien zu tun

Geseire und Geschmus

Polente, Knast, Kassiber

Dingsbums und Ploni Almoni

Codewort Schibboleth

Schund und Schofel

Aderlass im Adar

Zwischen Bettelei und religiöser Pflichterfüllung

Mein Freund, der Haberer

Pleite und andere Geier

Was für eine Chuzpe!

Falscher Vogel

Red’ keinen Kohl!

Schmiere ist kein Fett

Rochus und broches

Ab in den Knast

Schickern, bis man molum ist

Mischpoche

Vom Zank zur Affäre

Alles für lau

Wo der Barthel den Most holt

Esoterik und Intrigen

Mäuse, Moos und Möpse

Journalisten und andere Schmocks

»A real Mentsh!«

»Ick find dir dufte!«

Der Gannef

Vom Griechen zum Gauner

Der Großkotz ist keineswegs vom Brechreiz geplagt

Die geheimnisvolle Chonte

Viel Glück und viel Segen

Schick, die Schickse!

Eigenname oder Spottname?

Schmus

Mammon

Alle Jubeljahre ein Jubel-Jahr?

Wenn Essig weniger mit Wein als mit dem Geschäftsleben zu tun hat

Wer in schwierige Umstände gerät, steckt im Schlamassel

Viel Bohei um Bohei

Bloß keinen Zoff!

Von Käffern und Kaffern

Zossen sind nicht nur alte Pferde

A tuches un a halb

Nebbich e Wort

Stieke und hintenrum

Mosern ist nicht gleich Mosern

Backware? Pustekuchen!

Baldowern

»Total Manoli!«

Alles nur aus Daffke

Vom Lachen, Spielen und Betrügen

Rutsch, Rosch und Rausch

 

»Mir sayen wider do …« – Eine kleine Geschichte jiddisch-deutscher Sprachbeziehungen

 

Anmerkungen

Bibliografie

Der Autor

VORWORT

 

 

In einem am 18. April 2013 im Jewish Journal veröffentlichten Interview Ian Shulmans mit dem Wiener Jiddisch-Experten Thomas Soxberger hob dieser die Lebendigkeit und Wandlungsfähigkeit der jiddischen Sprache hervor.[1] Schon in seinem zwei Jahre zuvor veröffentlichtem Beitrag »Warum Jiddisch?« in der Zeitschrift Lichtungen konnten wir bei Soxberger lesen: »Das Schlüsselwort ›Umfeld‹ heißt auf Jiddisch ›svive‹. Wo finden jiddisch Schreibende heute eine svive? Eine jiddische ›svive‹ ist heute das akademische Umfeld.«[2]

Hoffnungsvoll schrieb die Autorin Shirley Kumove, die sehr viel aus dem Jiddischen ins Englische übersetzt hat, in ihrer Sammlung Words like arrows: »The obituary for Yiddish is premature and unseemly.«[3] In ihrem ebenso abwägenden wie aufrüttelnden Aufsatz »Hat das Jiddische sein letztes Wort noch nicht gesprochen?« schreibt auch Ursula Homann, man sage dem Jiddischen die reichste Entwicklung und die umfangreichste eigene Literatur nach, denn so wie die Sprache sei auch die jiddische Literatur: bunt und vielfältig. Sie verweist auf Isaac Bashevis Singer, denn der »lobte 1978 in seiner Nobelpreisrede, die er demonstrativ auf Jiddisch hielt, also in der Sprache des Exils, die Magie und den sanften Humor, den unprätentiösen, aber sophistischen Scharfsinn, die Lebenslust wie den Überlebenswillen einer ehemals boomenden Literatur. Und er sagte außerdem: ›Jiddisch hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen. Es hält Schätze bereit, die der Welt noch nicht zu Augen gelangt sind. Es war die Sprache von Märtyrern und Heiligen, von Träumern und Meistern der Kabbala – reich an Humor und Erinnerungen, die das Menschengeschlecht nicht vergessen darf. Im übertragenen Sinne ist Jiddisch die weise und bescheidene Sprache von uns allen, die Sprache der furchtsamen und hoffenden Menschheit.‹«[4]

Gesprochen wird das Jiddische heute in Deutschland nur noch vereinzelt. Dass in der NS-Zeit jiddische Lexeme nicht einmal benutzt werden durften und dass man die als Eindringlinge diskreditierten Wörter und Wendungen im Rahmen antisemitischer Propaganda einsetzte, hatte zur Folge, dass sie Nachkriegsgenerationen zum Teil unbekannt waren und dass vor der Schoa vertraute Konnotationen nicht mehr wahrgenommen wurden, wie Gertrud Reershemius zu Recht betont.[5] Zugleich erklärt Marie Kukučková in ihrer jüngeren Studie, dass die Frequenz von Jiddismen im heutigen Deutsch sehr hoch sei: »Die Jiddismen sind in die Verkehrssprache gekommen und gelten als sehr produktiv. Das heißt, dass von ihnen neue Wörter abgeleitet werden.«[6] Beide Feststellungen sind bei einem Blick in die heutige Zeitungslandschaft belegbar: So trägt beispielsweise ein Artikel des in Zürich ansässigen Wirtschaftsdienstes finanznachrichten.de, der im Oktober 2008 darüber berichtete, dass sich die Banken als Folge milliardenschwerer Rettungspakete der Regierungen wieder Geld liehen, den Titel: »Der Staat als Zocker«[7].

Neben diesem für deutsche Leser nicht ohne Weiteres erkennbaren Jiddismus Zocker stelle ich in der nachfolgenden Sammlung rund fünf Dutzend weitere jiddisch- und hebräisch-stämmige Wörter vor, die uns seit rund drei Jahrzehnten wieder vermehrt begegnen und nach meiner Wertung unsere Sprache bereichern – ob in der Literatur, in der Presse oder in der Alltagssprache. Es war nicht immer leicht, aber ich hoffe, meine Bemühungen, die oft verschlungenen Herkunftswege der Lexeme nachzuvollziehen, waren von Erfolg gekrönt – eingedenk des von Raphael Jacob Fürstenthal 1834 angeführten talmudischen Spruchs: »Spricht jemand zu Dir: ich habe mir (im Studium) Mühe gegeben, aber keine Kenntnisse erlangt, so glaube ihm nicht; spricht er: ich habe Kenntnisse erlangt, ohne mir Mühe gegeben zu haben, so glaube ihm ebenso wenig; spricht er aber: ich habe mir Mühe gegeben und meinen Zweck erreicht, dann kannst Du ihm glauben.«[8]

Die Antwort auf die Frage, wie lexikalische Elemente übernommen wurden, lässt erkennen, dass sich gegenüber deren ursprünglichem Gebrauch oft bemerkenswerte semantisch-pragmatische Modifikationen ergaben. Dies gilt umgekehrt übrigens auch für die meisten der über 1.500 deutsch- bzw. jiddischstämmigen Lehnwörter im Hebräischen, die der israelische Übersetzer Uriel Adiv seit 2006 dokumentiert hat. Dessen in Zusammenarbeit mit dem Institut für Deutsche Sprache vom Computerlexikografen Peter Meyer überarbeitete Wortsammlung ist inzwischen auf der Online-Plattform »Lehnwortportal Deutsch« des IDS als Internetwörterbuch in vielfältig durchsuchbarer und mit anderen Lehnwörterbüchern vernetzer Form frei zugänglich.[9]

Die Mehrzahl der von mir präsentierten Wortgeschichten ist im Laufe der vergangenen fünf Jahre in Kurzform in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung in Berlin publiziert worden. Daher gilt mein besonderer Dank dem Kulturredakteur Michael Wuliger, M.A., dem ich für die liebenswürdige Zusammenarbeit und seine stets anregenden Kommentare außerordentlich verbunden bin. Gleichermaßen erfreulich war bei der Inverlagnahme die Kooperation mit den Repräsentanten des be.bra verlags, Herrn Ulrich Hopp, Herrn Dr. Robert Zagolla und Herrn Matthias Zimmermann.

 

Christoph Gutknecht

REDEN WIR TACHELES

Von der hebräischen Vollendung zum deutschen Klartext

Seit Ende der 1980er-Jahre hat der Jiddismus Tacheles Hochkonjunktur bei Journalisten. Die Augsburger Allgemeine berichtete 2012: »Jetzt spricht die Rating-Agentur Moody’s wieder Tacheles«[1], die österreichische Kronenzeitung charakterisierte ein Übersetzungsprojekt mit den Worten »In der Volxbibel wird Tacheles geredet«[2] und die schweizerische NZZ am Sonntag titelte: »USA reden Tacheles mit Israel«[3]. Die Popularität des Wortes ist relativ neu. Früher war die Wendung, wie Hans Peter Althaus in Chuzpe, Schmus und Tacheles bemerkt, in nicht-jüdischen Kreisen kaum bekannt.[4] Noch 1941 fügte der Bearbeiter im Frankfurter Wörterbuch dem Eintrag Mer wolle von Dachles redde erläuternd hinzu: »Wir wollen den Gesprächsgegenstand wechseln, wir wollen von etwas anderem, Erfreulicherem, Vernünftigerem reden.«[5]

Tacheles reden steht für »Klartext reden«, in dem Sinne, den auch der Duden umschreibt: unverhüllt, ohne falsche Rücksichtnahme seine Meinung sagen. Der für seine Sticheleien bekannte Karl Kraus kontrastierte Tachles, das er mit Vernünftigem gleichsetzte, gern mit Schmonzes (»Unsinn«), wie 1934 in seiner Fackel mit den parodistischen Zeilen: »Der Schmonzes sind genug gewechselt, / lasst mich auch endlich Tachles sehn.«[6]

Bei Kraus und erst recht in der heutigen Standardsprache wird damit ein neuer Akzent gesetzt. Denn im Jiddischen benutzte man das vom hebräischen Wort tachlît (»Vollendung, Äußerstes«) abgeleitete tachlis, wenn man auf den Zweck oder eine zweckmäßige Handlung abhob. So etwa in Sprüchen wie Da länger sitzen ist kein Tachlis oder Wer kein Tachlis hat, der drischt leeres Stroh. Auch in Salomon H. Mosenthals Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben (1878) heißt es über eine heiratsfähige Tochter: »Folgt mir, Reb Tobiah, und seht zu, dass Ihr das Kind in die Stadt bringt. Was hat sie hier für ein Tachlis? (praktischen Zweck).«

Doch auch die heutige Bedeutung findet sich schon zur damaligen Zeit. Abraham Tendlau zitiert in seinen Jüdischen Sprichwörtern und Redensarten (1860) den Einwurf eines Landwirts, den dieser, »ein seiner Meinung nach eitles Gespräch unterbrechend«, vorgebracht hatte: »Lass uns von Tachlis reden – was gilt der Wagen Mischt (Mist).« Tachlis! für »Komm endlich auf den Punkt!« war der Ordnungsruf bei fruchtlosen Debatten. Schmus tachlis hieß schlicht »Red’ Zweckmäßiges«, will sagen, »Red’ vom Geschäft«.

Ähnlich standen Mach tachlis! für »Beeil dich« oder »Komm zur Sache«, und das hat keinen tachlis für »das hat weder Hand noch Fuß«. Und da im Hebräischen und Jiddischen die Silbe bal als erstes Element einer Wortverbindung oft eine Person anzeigt, die mit dem Inhalt des zweiten Elements verbunden ist – wie bei bal-kíss (»Kapitalist«), bal-míschpet (»Querulant«) oder bal-tówe (»Wohltäter«) –, galt der bal-táchlis als praktischer, entschlossener Mensch.[7]

VON SCHABBES- UND GEWITTERGOJIM

Wenn Juden von Nichtjuden reden,
ist das nicht abwertend gemeint

»Der Jid fangt mit dem Goi an«, schreibt Abraham Tendlau in seiner 1860 erschienenen Sammlung Jüdische Sprichwörter und Redensarten und erläutert: »Goi, biblisch: der Fremde, Nichtjude; später auch der nicht streng religiöse Jude.«

Der Ausdruck Goi – in der femininen Form Goje oder Gojte – findet sich auch in etlichen, teils ironischen Redewendungen in Werner Weinbergs Die Reste des Jüdischdeutschen (1973): »Was fängt der Jud mit’m Goi an! Bedeutet: Wozu muss man sich mit dem Nichtjuden einlassen; man zieht doch den Kürzeren. Wurde aber auch allgemein gebraucht in dem Sinne: man soll sich gar nicht mit jemandem einlassen; oder: man hätte sich nicht einlassen sollen.«[1] So’n Goi ist nach Weinberg »ein besonders großer, starker, auch typisch nichtjüdisch aussehender Christ«; auch Gewittergoi bezeichnet einen Nichtjuden.

Der Berliner Journalist, Erzähler und Kulturhistoriker Hans Ostwald (1873–1940), der sich ab 1932 opportunistisch der NS-Ideologie verschrieb,[2] lässt in seiner Sammlung von Schnurren und Anekdoten mit dem Titel Frisch, gesund und meschugge einen misstrauischen Blick auf den Goi zu: »Nu, wie war’s in der Schule?« wird der kleine Moses von seinen Eltern nach seinem ersten Schulbesuch gefragt. »Der Goi an der Kass’ gefällt mer nischt«, antwortet der Kleine, den der am Pult sitzende Lehrer einmal zurechtgewiesen hat.[3]

Von einem Juden, der die Religionsgesetze verletzt, wird gesagt: Er ist ein großer Goi, also ein Ungläubiger, auch Goi gomer (»vollkommener Heide«). Ein jofener Goi dagegen ist ein freundlicher, nicht antisemitischer Christ. Der Schabbesgoi war traditionell der Nichtjude, der am Schabbat verbotene Arbeiten für Juden erledigte. Das Adjektiv goiisch erläutert Weinberg am Beispiel goiischer Kopp, dem er augenzwinkernd hinzufügt: »einer, der schwer lernt (meistens von einem Juden gesagt)«. Lillian M. Feinsilver nennt in The Taste of Yiddish unter anderem goiische massel für unverdientes Glück.[4]

Der Kabbalaforscher Gershom Scholem berichtet am 25. April 1920 aus München seiner Mutter vom Besuch seines Großvetters: »Am Abschied hat er mich noch angenehm überrascht durch die Entdeckung eines jüdischen Antiquariats bei einer hiesigen goiischen Buchhandlung, was einige schöne Folgen hat, indem es dort wirklich billig zuzugehen scheint, da der Goi gar nicht ahnt, welch teure und gesuchte Sachen er da viele unter den Händen hat.«

Betty Scholem wiederum schrieb ihrem Sohn am 12. März 1930 aus dem Urlaubsort Meran: »Unsere Pension ist in Magenwirtschaft und Unterkunft vorzüglich, aber die Belegschaft ist ein G.N. sondergleichen.«[5] Die Abkürzung G.N., die zuweilen scherzhaft als »ganz nett« ausgelegt wurde, steht hier für goiische Naches (oder Góiennaches), was im Jiddischen nichtjüdische, oft auch unsinnige Vergnügungen meint.[6]

Dass sinnlose oder unsinnige Aktivitäten zuweilen scherzhaft den Gojim zugeschrieben und somit karikiert werden, belegt eine der kleinen Miniaturen (1925) von Paul Nikolaus[7]:

Wotan kommt aus der Schule

»Was haste gelernt?«, fragt der Alte.

»Naturgeschichte.«

»Wieso?«

»Von de Tausendfißler.«

»Tausendfißler? Was is das?«

»Tausendfißler sin Tiere, die 1000 Fiß haben.«

»No, wer hat das gezählt?«

»Wer wird es gezählt haben? Di Gojims!«

Auch die Gojte kommt übrigens nicht ungeschoren davon. Die Wiener Psychotherapeutin Elisabeth Jupiter gibt davon ein Beispiel in ihrer Sammlung No, warum nicht? Der jüdische Witz als Quelle der Lebenskunst (2010):

»Ich hab gehört, du hast geheiratet! A Insrige?«

»Nein, a Gojte!«

»Wieso das?«

»Na, du weißt doch, den Jüdinnen tut einmal des weh, einmal jenes …«

»Na, und den Gojten nicht?«

»No, soll ihnen wehtun!«

Präzise umreißt Alexander Moszkowskis Abhandlung Der jüdische Witz und seine Philosophie (1922) das Wesen solcher Scherze: »E jüdischer Witz / Mit e jüddisch Akzent; / Was e Goi nischt versteht / Und e Jüd immer schon kennt.«[8]

Und heute? Man könnte das Thema politisch korrekt angehen, um zu zeigen, dass die Bezeichnung Gojim für nichtjüdische Mitglieder der Gesellschaft nicht, wie zuweilen unterstellt, abwertend gemeint ist. Wobei Tucholsky meint: »Christen sind dümmer als Juden, und werden aus diesem Grund Gojim genannt.«[9] Die Internetseite www.talmud.de berichtet: »Um auf die diesbezügliche Sensibilität der christlichen Bevölkerung Rücksicht zu nehmen und jeden Verdacht auszuräumen, das Christentum würde durch das Judentum diskriminiert, wurde etwa in einer groß angelegten Rückhol-Aktion der im deutschen Sprachraum gebräuchliche Siddur überarbeitet und die Bracha ›Sche lo asani goi‹ durch ›Sche lo asani nochri‹ im Morgengebet ersetzt.«

Oder man betrachtet das Thema humorvoll, wie Alan Posener, der in der Welt auf einen neueren jüdischen Witz verwies: »Wie erkennt man in Deutschland den Unterschied zwischen einem jüdischen und einem nichtjüdischen Haushalt? Antwort: Bei den Gojim spielt man Klezmer.«[10]

ALLES IM DALLES

Von der hebräischen Armut
zu leeren deutschen Portemonnaies

»Was ist Dalles?«, fragt Chaim Jossel in dem Buch Schabbes-Schmus. Schmonzes Berjonzes (1907). Seine eigene Antwort: »Dalles ist ein jiddisches Wort, dos auch bei Gojim zu finden ist.«[1] Im Deutschen sogar zweimal: Zum einen bedeutet es »zerbrochen« (»Die Tasse hat den Dalles«), stand als »Talles« schon in Sebastian Francks Weltbuch von 1534 und geht laut Kluge-Seebolds Etymologischem Wörterbuch auf das hebräische Wort Tallit zurück, also den Gebetsschal. Das andere Wort, seit dem 18. Jahrhundert aus dem westjiddischen dales entlehnt, steht für »Geldnot« und leitet sich vom gleichbedeutenden mittelhebräischen dallūth (»Armut, Geldverlegenheit«) ab.

Im Jiddischen hieß es beispielsweise: Der daless faijft im in ale winkelech. Aus Frankfurt am Main gelangte das Wort über Regionalvarietäten ins Standarddeutsche, dann ins Rotwelsche.[2] Wer kein Geld hatte, war im Dalles oder hatte den Dalles (seit 1820 belegt) – eine leere Kasse und einen leeren Magen. Ab 1900 meinte das Wort auch »Übelkeit« oder »Erkältung«.

In Johann Jacobus Fries’ Humoristischen Memoiren (1892) war Dalles in Frankfurt »jener öffentliche Platz am östlichen Ende der Zeil«, an dem sich Tagelöhner trafen. Die Breslauer Zeitung zitierte 1864 einen Berliner Gefangenen: »… da ich an Barem Mangel leide, was durch meinen guten Humor ersetzt wird: Ein lustiger Dalles geht über Alles.«[3] Werner Weinberg bezeichnet diese Maxime in Die Reste des Jüdischdeutschen (1973) als »verächtlich für Menschen, die ihre Armut leicht zu nehmen schienen«.[4]

Für den Sozialdemokraten Hermann Molkenbuhr war 1910 der Militarismus »Ursache des Reichsdalles«. Erich Mühsam notierte zu einem Auftrags-Chanson: »Schweinerei, was der Dalles geistigen Menschen für Prostitution aufzwingt!«[5] Kurt Tucholsky greift in seinem Roman Schloss Gripsholm (1931) Presseleute an: »Noch wenn sie den Dalles schildern, ist es ein feiner Dalles. Sie schweben eine Handbreit über dem Boden.«

Guido Knopp und Ekkehard Kuhn erwähnen in ihrer Studie Das Lied der Deutschen (1988) eine Mainzer Karnevals-Persiflage von 1916: »Deutschland, Deutschland schwer im Dalles / Schwer im Dalles in der Welt, / wenn die Marmelad nit alles / brüderlich zusammenhält.« Die Bombe, eine Czernowitzer deutsch-jüdische Streitschrift, brachte 1931 den Vers: »Ausgleich, Ausgleich über alles! / Niemand hat noch heute Geld! / Und von Kopf bis Fuß auf Dalles / Sind wir nebbich eingestellt.« Schon ein Vierteljahrhundert zuvor hatte der Wiener Kabarettist Fritz Grünbaum resümiert: »Mein ganzer Reichtum war mein Lied, / Und das erklärt euch alles. / Denn unverträglich seit tausenden Jahrn / Sind Frauenliebe und – Dalles!«

Heute hört man Dalles nur noch in wenigen, meist regionalen Wendungen: im Rheinland als em den Dalles gin (»den Rest geben«), in Schwaben der hat sein Dalles (»seinen Teil abbekommen«). Robert Sedlaczek schreibt in den mit Reinhardt Badegruber verfassten Wiener Wortgeschichten (2012), ihm habe »als Student der Dalles außighängt«, und Teuschls Dialektlexikon (2007) zitiert aus Wien: Eahm geht der Dalles hint net zsamm (»er ist in Nöten«) und dem rennt der Dalles nach.

Vielleicht ist es an der Zeit, angesichts galoppierender Staatsschulden und leerer öffentlicher Kassen, den Dalles wieder in den allgemeinen Sprachgebrauch zurückzubringen. Schließlich gab schon Hans Ostwald in Frisch, gesund und meschugge (1928) auf die Frage »Was ist Dalles?« die Antwort: »E jiddisches Wort für eine Sach, die bei Christen ebenso gut vorkommt.«

BILLIGER TINNEF

Wie aus hebräischem Kot deutscher Schund wurde

Das Wort Tinnef hat eine bunte etymologische Reise hinter sich. Im Aramäischen und Hebräischen stand tinnûf für Kot oder Schmutz. Auch dem jiddischen Wort tin(n)eph schreibt Friedrich C. Avé-Lallemant in seiner Untersuchung Das deutsche Gaunertum (1858) die Bedeutungen »Kot, Dreck, Unflat« zu und ergänzt, tinef sein heiße: »verloren, überführt, verurteilt sein«. Ignaz Bernstein deutet Tünuf in Jüdische Sprichwörter und Redensarten (1907) gleichfalls als Unrat oder Dreck, in Ernst Rabbens Über die Gaunersprache (1906) taucht Tineffer-Gannew für einen Dieb schmutzigen Charakters auf.

Ein halbes Jahrhundert später führt Siegmund A. Wolf in seinem Wörterbuch des Rotwelschen (1956) für Tinnef neben dem skatologischen Bereich noch die Bedeutung auf, die man heute vor allem kennt: Schund.

Für Juden trägt tinnef traditionell einen ganzen »Strauß« negativer Bedeutungen: neben Dreck und der Nachgeburt beim Vieh auch schlechte Warenqualität oder Ausschuss. Werner Weinberg erzählt in Die Reste des Jüdischdeutschen (1973) die Anekdote vom jüdischen Händler, der einen Bauern heimbrachte und (in der Hoffnung, dieser verstünde kein Jiddisch) seine Frau bat: »Koch ’ne gute Tasse Kaffee – melochen tinnef!«, sprich: »Mach sie schlecht.«

Aufgemotzter Schund war im Jiddischen Tinnef mit Lakritze. Das Buch Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten (2000) zitiert den Schriftsteller Walter Kiaulehn: »Im Winter verkaufte er auf den Berliner Plätzen und Weihnachtsmärkten Tinnef mit Lakritze: billigen Schmuck, Mokkalöffel, Messer und Spazierstöcke.«

In Artur Landsbergers Roman Bankhaus Reichenbach von 1928 zweifelt der Angeklagte Gregor Haase, »ob der Schmuck wohl echt sei, und er flüstert seinem Nachbarn zu: ›Tinnef!‹« Carl von Ossietzky schrieb 1931 in der Weltbühne: »Die wirksamste deutsche Industriepropaganda bleibt die Qualität, Tinnef mit der Handels-Gösch wird nicht begehrt.«[1]

Der jüdische Witz und seine Philosophie, den Alexander Moszkowski 1922 in seinem gleichnamigen Buch skizziert, beleuchtet den Tinnef in dieser Episode über eine »Wunderkur«: »Zum Wunderrabbi kommt Jekel Klesmer. ›Rabbi, ich bin geschlagen von Gott, Ihr müsst mir helfen. Erstens kann ich nicht reden e wahres Wort, und zweitens hab’ ich ka Geschmack auf de Zung’. Der Rabbi geht ins Nebenzimmer und kehrt mit einem Medikament zurück: ›Zerbeißt diese Pille und schluckt se runter.‹ Klesmer beißt auf die Pille und schreit: ›Was gebt ihr mer da zu essen? Das ist doch Tinnef?‹ Der Rabbi: ›Schon ist Euch geholfen. Denn erstens habt Ihr den richtigen Geschmack auf der Zung’, und zweitens habt Ihr die Wahrheit gesprochen: es ist wirklich Tinnef!‹«

Auch in Paul Nikolaus’ Jüdischen Miniaturen (1925) wird auf die mangelnde Qualität abgehoben: »Löwenstein war als Sachverständiger geladen. Er wurde aufgerufen, trat vor dem Richter und wurde vereidigt. Dann tat er einen Schritt vor, befühlte mit zwei Fingern das grüne Tuch auf dem Richtertisch und sagte: ›Tinnef‹.«

Im übertragenen Sinne taugt der Tinnef auch zur Allzweck-Invektive. Karl Kraus zitierte 1930 einen Berliner Theaterwitz: »Bessere Zeiten werden erst kommen, wenn man statt Weekend wieder Schabbes sagen wird und statt Girl wieder Chonte« und ergänzt mit den Zeilen: »Da fehlt noch, meinte ich, zum guten End’, dass man auch ›Tinnef‹ sagt statt ›prominent‹.«[2]

Schon in seinem Mammutdrama Die letzten Tage der Menschheit (1918) ließ Kraus die jüdische Hofrätin Schwarz-Gelber ihren Gatten angehen: »Ohne mich bist du ein Tinnef für die Gesellschaft!« Das Schimpfwort Tinnef traf gelegentlich aber auch den Fackel-Herausgeber selbst. Der Journalist Anton Kuh, der Kraus literarisch befehdete, beschimpfte 1925 in einer Stegreifrede dessen publizistische Aktivitäten als »Tinnefologie« und Kraus’ Umfeld als »Tinnef-Hierarchie«.[3]

Etwa ab 1930 wurde Tinnef auch mit Unwahrheit gleichgesetzt, wie Heinz Küpper im Wörterbuch der deutschen Umgangssprache (1990) deftig erklärt: »Lügen wird mit Verunreinigung durch Kot gleichgesetzt: vgl. bescheißen.«

Und heute? Wolfgang Teuschls Wiener Dialektlexikon (2007) verrät, dass man das Idiom in der österreichischen Hauptstadt immer noch versteht; einen Tinnef haben heißt in Oberösterreich: nichts besitzen. In Deutschland wird Tinnef in der Alltagssprache für »wertloses Zeug«[4] und im übertragenen Sinne auch für »Unfug« verwendet. Zu Glücksratgebern befragt, sagte etwa der Autor Heinz Strunk alias Mathias Halfpape: »Wie kann sich jemand anmaßen, mir sagen zu wollen, wie ich glücklich werde? Das ist doch Tinnef.«[5]

DIE KESSE LOLA

Wie aus einer hebräischen Letter
ein deutsches Adjektiv wurde

Der Große Duden klassifizierte es 1934 als berlinisch-volkstümlich und wies ihm zwei Bedeutungen zu: dreist und schneidig-frech. Die Rede ist vom Adjektiv kess, das in etlichen Kontexten vorkommt und in der jiddischen Aussprache den hebräischen Buchstaben Chet bezeichnet, der für »Weisheit« (Chochma) steht. Unsterblich wurde das Modewort der 1920er-Jahre allerdings nicht – wie sich Hellmuth Karasek in seinem Buch über Billy Wilder (1992) fälschlich erinnerte – durch Marlene Dietrichs Evergreen in Joseph von Sternbergs Spielfilm Der Blaue Engel: Robert Liebmanns Text lautete nämlich »Ich bin die fesche Lola, der Liebling der Saison«.

Agathe Lasch hilft uns in ihrer umfänglichen philologischen Abhandlung Berlinisch: Eine berlinische Sprachgeschichte (1928) mit einem historischen Exkurs auf die Sprünge: »Kess ist derjenige, der in alle Diebs-, Gaunersachen eingeweiht ist, der klug ist ›in specie in Diebessachen‹, zugleich verschwiegen, dem man vertrauen kann, ›kesse Penne‹ ein Diebslokal; ›ein kesser Junge‹, klug und verschwiegen, wird so in der Gaunersprache zum Lob und geht schließlich als lobendes Beiwort überhaupt aus dieser über viele Mittelpersonen fort in die Alltagssprache ein. Die ›kesse Lola‹ war nach der Polizeiliste von 1847 der ›Fachname‹ einer ›Berliner Schottenfellerin‹, d. i. Ladendiebin. Das Schimpfwort ›kesse Beere‹ (freches Mädchen) behält doch noch etwas von der Verachtung, die die ›Gesellschaft‹ gegen den kessen Verbrecher hat.«[1]

Dass kess auch Sexuelles meinen kann, zeigt nicht erst Jody Skinners Lexikon Warme Brüder, kesse Väter (1997) mit Ausdrücken für Lesben, Schwule und Homosexualität. Eine ähnliche Anspielung blitzte schon beim Kritiker Alfred Kerr auf: »Dann gibt es eine Schlüpfrigkeit in Geschlechtswitzen, die leider nicht frech und kess und scharf ist: sondern bloß unangenehm vertraulich, so sachte mit prächtigem Zwinkern und einem ganzen Gemütlichkeitsbrodem.«[2]

Die Bedeutungsvielfalt und Unschärfe machen den Reiz des Wortes aus. So findet es sich in den Redensarten eine kesse Sohle aufs Parkett legen für »flott tanzen« und eine kesse Lippe riskieren für »frech daherreden«. Für Hermann Kesten war daher der Schriftstellerkollege Alfred Döblin »ein chinesischer Philosoph auf dem Alexanderplatz, halb kess, halb profund«.[3] Als Udo Lindenberg 2010 der Jacob-Grimm-Preis verliehen wurde, weil er sich »im besonderen Maße um die Anerkennung, Weiterentwicklung und Pflege des Deutschen als Kultursprache« verdient gemacht habe, gratulierte er der Jury »zu dieser kessen Entscheidung«.

Kess spielt eine wichtige Rolle für den deutschen Sprachpurismus. Im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts tobte der Kampf um deutsches Wesen, wie seit der Alamodezeit des 17. und 18. Jahrhunderts, in wechselnder Härte gegen griechisch-, lateinisch- und französisch-stämmige Fremdwörter und deren gefürchtete kulturelle Dominanz. Nach Inkrafttreten der »Nürnberger Gesetze« (1935) erklommen die »Sprachreiniger« die letzte, ihre rassistisch motivierte Stufe. Der Germanist Alfred Götze äußerte sich in der Zeitschrift Muttersprache, dem Organ des Deutschen Sprachvereins, 1936 unverblümt antisemitisch. Im Aufsatz »Kess und die Abkürzungssprache« hetzte er gegen den »in Landstreicherei und Verbrechertum gesunkenen Teil der Judenschaft« und die »bekämpfte Abkürzungssprache, auf deren Ursprung damit ein Streiflicht fällt, grell genug, sie auch den Volksgenossen zu verleiden, die sie, unbegreiflich genug, immer noch dulden. Gottlob haben wir wieder gelernt, dass wir Germanen sind.« Zynisch fragte er: »Wie verträgt sich damit die Pflege einer im jüdischen Verbrechertum wurzelnden Unsitte?« Schließlich mahnte er, sich auch auf die Herkunft von Wörtern wie berappen, beschummeln, Schlamassel und ihresgleichen zu besinnen: »Es ist (des Deutschen) nicht würdig, seinen Wortschatz aus dem Getto zu beziehen und aus der Kaschemme zu ergänzen.«[4]

Götze negierte den Wortgebrauch, ging einzig von etymologischen Prämissen aus und urteilte ideologisch. Der Sprechkundler Ewald Geißler sprach 1937 auf der Pfingsttagung des Deutschen Sprachvereins gar von der Sprachpflege als Rassenpflicht: »In der Sprache haben wir für die Aufnordung der Rassenseele eine unvergleichliche Triebkraft.« Er drohte: »Nun, so werden wir auch fertig werden mit dem Deutsch, das geheimes Jüdisch war.«[5]

Er hat zum Glück nicht Recht behalten. Götze und Geißler sind vergessen. Kess lebt. Das Duden-Universalwörterbuch (2006) führt den Begriff auf, im Sinn von jung, hübsch, unbekümmert über frech-respektlos bis zu modisch-flott.[6]

»Ganz schön kess« seien neu geschlüpfte Pelikanjunge im Zoo, vermeldete im Mai 2010 die Kölner Boulevardzeitung Express; als »kess« lobte die Berliner B.Z. eine »Deutschland sucht den Superstar«-Teilnehmerin, die Juror Dieter Bohlen über den Mund gefahren war.[7] Da fragen wir uns doch: Was gefällt uns an der kessen Jöhre aus Berlin? Ihre kessen Antworten, ihr kesser Pulli oder ihr kess ins Gesicht fallender Pony?

EIZES GEBEN

Ratschläge auf Jiddisch

Wolf Biermann erwähnte 2007 in seiner Laudatio bei der Verleihung des Leo-Baeck-Preises an die deutsche Bundeskanzlerin, dass er sein Lied Ach, die erste Liebe deshalb vorgetragen habe, »weil mir am Vortag mein Ostberliner Freund Ekke Maaß Eizes gegeben hatte: Die Merkel liebt die Lieder des ›russischen Biermann‹, Bulat Okudshava.«[1] Bereits 1992 hatte der Dichter das Wort im Titel eines Buches benutzt, in dem er mit dem DDR-Spitzelsystem abrechnete: Der Sturz des Dädalus oder Eizes für die Eingeborenen der Fidschi-Inseln über den IM Judas Ischariot und den Kuddelmuddel in Deutschland seit dem Golfkrieg.

Als Variante des nur im Plural gebrauchten (auf der Erstsilbe mit Lang- oder Kurzvokal betonten) Substantivs Ezzes führt der Duden Eizes für »Ratschläge« auf.[2] Das Wort wurde über das Rotwelsche aus dem westjiddischen eize/eizes entlehnt, das auf das hebräische eza(h)/ezot (»Rat«) zurückgeht. Eduard Naschérs Buch des jüdischen Jargons (1910) nennt aus der Kochemer Sprache das etzebajis(»Rathaus«). Erich Bischoffs Jüdisch-deutscher und deutsch-jüdischer Dolmetscher (41916) verweist auf das gaunersprachliche Ezesgeber für einen Richter, wobei anklingt, dass Eizes einem auf die Nerven gehen können.[3]

Schon in Abraham Tendlaus Sammlung jüdischer Sprichwörter und Redensarten (1860) werden nutzlose Ratschläge (»Der füttert aan das ganze Johr mit Eezes«) lapidar kommentiert: »Was tu ich mit Eezes, baar Geld brauch« ich.« Bei Werner Weinberg liest man »Mit Eizes bin ich versorgt«,[4] eine nach Jan Meyerowitz »stehende, sehr viel verwendete Redensart; sie wehrt aufdringliche Ratgeber ab«.[5] Dazu passt der Witz über zwei in Tiroler Tracht gewandete vollbärtige Fahrgäste, die nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 in der Eisenbahn sitzen. Sagt der eine: »Wan i a Jud waar, tat i mi als a Tiroler vakloadn!« Sagt der andere: »Hob ach ejzes gefrogt fun ajch?«

In amerikanisch-jiddischen Internetforen ist oft von eytses die Rede (Kh’bin vider tsu aykh gekumen far an eytse). In Deutschland ist das Wort inzwischen weitgehend aus dem Sprachgebrauch verschwunden. Als es noch geläufiger war, konnte man gut gemeinte Ezzes geben, einholen, befolgen, missachten und so weiter. In der Wochenzeitung Die Zeit beschrieb Hans Daiber noch 1961 den Sprachmischmasch in TV-Studios: »Man sagt’s nach Möglichkeit englisch, wenn nicht jiddisch. Man bekommt nicht Hinweise, sondern hints oder auch eizes.«[6]

Bei unseren österreichischen Nachbarn dagegen leben die Ezzes munter fort. Heinz Dieter Pohl zählte 1999 in einem Artikel zum österreichischen Deutsch Ezzes zu den binnendeutschen Ausdrücken, die über Wien in Österreich eingebürgert worden sind.[7] Das Variantenwörterbuch des Deutschen (2004) spricht von einem »saloppen Grenzfall des Standards«. 2011 fragte der Wiener jüdische Autor Rafael Schwarz rhetorisch im Titel seines Buches Darf man Juden Ezzes geben? – und warnte, wegen gut gemeinter Ratschläge seien »schon Freundschaften auseinandergegangen, wurden Sitzplätze in der Synagoge getauscht oder gar das Kaffeehaus gewechselt«.

Einen sentimentalen Rückblick auf das Wort bietet Salcia Landmann in ihrem Buch Die klassischen Witze der Juden (1989) durch den Verweis auf einen in südöstlichem Jiddisch festgehaltenen Dialog, dem sie eine wörtliche Übersetzung anfügt:[8]

A jid kimt zu gejn zum rebn un git im a frejg: »Rebe, ir solt mir gebn an ejze. Bin ich heymgekimen nechten un hob ungetrofn majn wajb mit majn kompanion oifm sofa. Wuss sol men tin?«

Entfert im der rebe: »Nu, schmajss arouss den kompanion!«

»Rebe, duss is nischt kajn gite ejze! Schmajss ich arouss den kompanion, mus ich im ousszuln sajn antajl, bin ich doch plajte!«

»Nu – schmajss arouss duss wajb!«

»Rebe! Wen ich schmajss arouss dus wajb, mus ich ir arousgebn dem nadn (Mitgift), bin ich doch awade (erst recht) plajte!«

Nuch a tug kimt der jid wider zum reben un sugt: »Rebe-leben! Ich hob gehat a gite machschuwe (Einfall, Gedanken), ich hob aroussgeschmissn dem sofa!«

Hier die Übersetzung:

Ein Jude begibt sich zum Rabbi und stellt ihm eine Frage: »Rabbi, Ihr sollt mir geben einen Rat. Ich bin heimgekommen gestern und habe angetroffen mein Weib mit meinem Compagnon auf dem Sofa. Was soll man tun?«

Antwortet ihm der Rabbi: »Nun, schmeiß heraus den Compagnon!«

»Rabbi, das ist kein guter Rat! Schmeiß ich heraus den Compagnon, muss ich ihm auszahlen seinen Anteil, bin ich doch pleite!«

»Nun, schmeiß heraus das Weib!«

»Rabbi! Wenn ich schmeiß heraus das Weib, muss ich ihr herausgeben die Mitgift; bin ich doch erst recht pleite!«

Nach einem Tag kommt der Jude wieder zum Rabbi und sagt: »Rabbi-Leben! Ich habe gehabt einen guten Einfall, ich habe herausgeschmissen das Sofa!«

GANZ SCHÖN MIES

Ein hässliches Wort mit hebräischen Wurzeln

Anlässlich der größten Pleite auf dem liberalisierten deutschen Energiemarkt konnte man in einer Wirtschaftszeitung lesen: »Anlaufverluste wurden zu Dauermiesen.« Wer jetzt glaubt, das Wort gehe auf das lateinische Miseria für Elend zurück, irrt. In dem Begriff steckt das jiddische mies, das seinerseits dem aramäischen me’iss (»widerlich«) und dem biblisch-hebräischen ma’ass (»verachten«) beziehungsweise miuss (»Ekel«) entstammt. Gängige Vokabeln wie Miesmacher, Miesepeter und Miesling sind Übertragungen des jiddischen Miesnik mit slawisch geprägtem Suffix.

Mies findet man auch in regionalen Sondersprachen. Klaus Siewerts Wörterbuch der Münsterschen »Masematte« Von achilen bis Zulemann (2009) nennt miswettermalocherrente für »Schlechtwettergeld«, mies ausse kowe reunen (»dumm aus der Wäsche gucken«), ne miese lobbe ziehen (»ein langes Gesicht machen«), dat is ’n ganz miesen seeger! (»das ist ein schlechter Mensch!«) und der hacho kneisterte mies (»der Bauer schaute bös drein«). Im Hamburger Hafen war ne miese schlicht wenig, im Rotlichtviertel steht miese noch heute für »in der Schuld«, beim Kartenspiel und auf dem Konto.

In der deutsch-jüdischen Literatur war mies gängige sprachliche Münze. So etwa in Salomon H. Mosenthals Erzählungen aus dem jüdischen Familienleben (1878): »Nehmt Euch die Bule ins Haus; alt genug und mies genug seid ihr alle Zwei.« In Rudolf Picks Nelkenburg von 1905, einer Satire über Parvenüs der vorigen Jahrhundertwende, liest man: »Ich hab schon vorher gewusst, die Mad (= Maid) is mies.«

In Hans Ostwalds Schnurren und Anekdoten Frisch, gesund und meschugge (1928) ist das Adjektiv mies in den unterschiedlichsten Kontexten vertreten, z. B. auch bei der Charakterisierung der glücklichen Ehe: »Ich sage Dir nur eins, Selma, seit ich dich geheiratet hab, ist mir mies vor dir.« – »Warte, bis ich erst tot bin. Du wirst mich noch mal aus der Erde herauskratzen.« – »Oh, wie kratzt mer schon!«

In den USA, schreibt Leo Rosten in seinem Kompendium Jiddisch von 2002, »scheint die ästhetische Bedeutung besonders wichtig«.[1] Ein Satz wie She’s a mieskayt für eine unansehnliche Frau »ist sehr kränkend und wird fast nur in übler Nachrede gebraucht«. Jan Meyerowitz zitiert in Der echte jüdische Witz (1971) einen der »faulen Wortwitze«, über die in den 1920er-Jahren deutsche Juden Tränen lachten: »Bilde mir einen Satz mit Buenos Aires, Sarasate und Mississippi!« – »?« – »Bu, e Nos eire Sarah hatse, und mies is se, pi!« Werner Weinberg schreibt in Die Reste des Jüdischdeutschen (1973): »Man hörte sogar miese Maschine als Beschreibung einer dicken oder hässlichen Frau.«

Diese »Maschine« ist nicht dem lateinischen machina entlehnt, sondern geht auf das jiddische misso meschunno und weiter auf das hebräische mita m’schuna (»jäher, absonderlicher Tod«) zurück. Miesemeschinne kann auch wie miese mase für eine »schlechte Sache« stehen,[2] wie in Oskar Panizzas Erzählung Der Goldregen (1893): »Gott, wie Se redde! Schaue Se doch de Misemaschin an!« Mit Flüchen wie Du sollst die miese meschinne kriegen! oder Miesemeschinne auf deinen rosch! wünschte man seinen Feinden hässliche Krankheiten an den Hals, die Itzig Feitel Stern in seinem Lexicon der jüdischen Geschäfts- und Umgangssprache (1833) sogar benannte: Schwermut oder Epilepsie.

Auch Paul Nikolaus beschreibt in seinen Jüdischen Miniaturen (1925) einen solchen Fluch: »Naphtali ging abends über die Straße. Plötzlich sah er etwas blinken, strahlte, bückte sich und zuckte zusammen: ›De miese Meschinne soll kriegen der Kerl, der spucken kann wie e Fünfmarkstück!‹«

Die Miesemeschinne kann man aber nicht nur bekommen, sondern sich auch nehmen. Werner Weinberg erläutert diese Wendung mit einer Anekdote. Ein Jude bietet einem Antisemiten eine Prise Schnupftabak mit den Worten an »Nimm dir eine«. Die Anwesenden wissen, dass man sich das Miesemeschinne dazu denken muss. Er hat sich ne miese meschinne genommen bedeutet hier: Er ist verreckt.[3]

WEDER GURKEN NOCH SAUER

Wie aus missverstandenem Jiddisch
die nachrichtenarme Sommerzeit wurde

Für deutsche Zeitungen und andere Medien ist die ereignisarme Spanne des Sommers die Sauregurkenzeit. Das Wort gab es schon im 19. Jahrhundert. An Goethe schrieb der Musiker Carl Friedrich Zelter am 31. Juli 1821 aus Berlin: »Unser Theater ist jetzt wieder lavierend, wie immer in der Sauregurkenzeit.«[1] Und am 7. Oktober 1854 vermeldete die in Dessau erschienene Zeitschrift Atlantis in einem Bericht aus London »Sauregurkenzeit in der Literatur«.[2] Der Kladderadatsch, ein Berliner humoristisch-satirisches Wochenblatt, attestierte den Verlegenheitsberichten der Presse im Sommer 1856 einen »starken Beigeschmack der Sauregurkenzeit«.[3]

Sogar im Englischen gibt – beziehungsweise gab – es eine dem Deutschen analoge cucumber time. Sie bezog sich allerdings nicht auf Zeitungen, sondern auf arme Schneider, die, wie man im Volksmund witzelte, Gurken essen, wenn sie arbeitslos sind, und Kohl, wenn sie viel zu tun haben. Die nachrichtenarme Zeit in den Medien heißt in Großbritannien hingegen silly season, die Saison der Albernheiten. Angesichts der Schlagzeilen und Artikel in vielen Blättern ein sehr passender Begriff – allerdings das ganze Jahr über.

Fast alle deutschen Wörterbücher führen die Sauregurkenzeit im Sinne des medialen Sommerlochs auf ein Scherzwort Berliner Kaufleute und die regionalen Spreewälder Gurken zurück. Dabei könnte man es besser wissen: Die geografische Verortung stimmt, die etymologische Herleitung nicht. Etliche Publikationen haben den Weg zu einer plausibleren Erklärung gewiesen.[4] Sie führt zu einer jiddischen Quelle, die tatsächlich in Berlin stand. Denn wie der Marburger Germanist Norbert Nail 1983 anmerkte: »(…) gerade Berlin ist eines der Einfallstore für rotwelsches und jiddisches Sprachgut in die deutsche Sprache gewesen.«[5]

Unser Wort hat ursprünglich nichts mit Gurken zu tun. Die Zores- und Jokresszeit bezeichnete im Jiddischen die Periode der Leiden und der Teuerung. Die Begriffe leiten sich vom hebräischen zará/zarót (»Not, Bedrängnis, Sorgen«) und jakrút (»Preisanstieg, Teuerung«) ab, jiddisch zóre[6] und jóker (»teuer«).

Die schon erwähnte Zeitung Kladderadatsch lag 1857 deshalb ziemlich richtig, als sie einer mageren wirtschaftlichen Periode die Zeilen widmete: »Beglückt der Mann, / der, von Geschäften fern, / In dieser Zeit des sauren Gurkentums / Hinaus kann eilen.«[7] Oder wie die Berliner Zeitung 1995 in einer Rezension zu Nachamas Buch die Sauregurkenzeit berlinerisch definierte: »(…) eene Zeit, in der man nischt vakoofen kann, weil man sich nach ’nem Preisanstiech nur noch Sorjen machen kann.«[8]

Dass aus Leiden, Not und Teuerung am Ende saure Gurken wurden, ist ein klassischer Fall von Volksetymologie, jenem Sprachwandel, bei dem ein unbekanntes Fremdwort nach dem Vorbild eines vertraut klingenden Wortes in die eigene Sprache eingegliedert wird. Gelegentlich kann es später sogar passieren, dass das Missverständnis in die Ursprungssprache zurückgelangt. So im Fall unserer Sauregurkenzeit: Auch im Hebräischen kennt man heute die onat ha’melafefonim.

RED’ KEINEN STUSS

Dummes Geschwätz vom alten Hebräisch
bis zur heutigen Jugendsprache

Wer Blödsinn daherredet, dessen Worte qualifizieren wir ab – als Gefasel oder Geschwafel, Gewäsch oder Humbug, kalten Kaffee oder Kokolores, Mumpitz oder Pipifax, Quatsch oder Schnickschnack.

Doch es gibt noch einen weiteren Ausdruck, den wir Dummschwätzern gern entgegenschleudern: Red’ keinen Stuss! Er entstammt dem westjiddischen schtūß, hergeleitet aus dem hebräischen schtūt für »Irrsinn, Narrheit, Unsinnigkeit«, und taucht zu Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst in westlich-niederdeutschen, mitteldeutschen und rheinfränkischen Mundarten auf. Die semantische Skala reicht von »Spaß«, »Albernheit« und »dummer Streich« über »Scherz«, »Rappel« und »fixe Idee« bis zu »Unsinn« und »Fehlurteil«, so Eduard Naschér im Buch des jüdischen Jargons (1910).

J. A. Schmellers Bayerisches Wörterbuch (1836) vermerkt Stuss für »Zank und Streit«, eine Variante, die man auch in Amerika findet. Leo Rosten zitiert in seinem Standardwerk Jiddisch (2002) beispielsweise die Äußerung: »She made such a stus that they had to go to court.« Und im ostfriesischen Niederdeutsch, so ein Eintrag im Doornkaat-Koolmannschen Wörterbuch von 1884, steht Stuss für einen »stupiden, ungehobelten Menschen«.[1]

Als ›Unsinn« ist der Ausdruck über rotwelsche und studentische Sprecher, teils sogar schriftsprachlich vermittelt, in andere Regionalvarietäten gelangt. Christian Wilhelm Kindleben beschrieb »Stusse« im Hallenser Studentenlexikon (1781) als »Torheiten«.[2] Im Straßburger Idiom tauchen in Johann Georg Daniel Arnolds Lustspiel Der Pfingstmontag (1816) »gelehrde stüsse« auf,[3] in den »hinterlassenen Papieren eines französischen Offiziers«, die Johann Konrad Friederich 1848 als Vierzig Jahre aus dem Leben eines Toten publizierte, heißt es an einer Stelle: »Auweih geschrien, Herr Baron, was mache Se vor än dumme Stuss!«[4]

Stuss war ein Kommunikationswort, das, so das Grimm’sche Wörterbuch, »teilweise wohl auf unmittelbarer Kenntnis jüdischer Kreise oder rabbinischen Schrifttums beruhte«. Besonders in Berlin war es außerordentlich beliebt. Das in Revolutionszeiten etablierte Lokalblatt Berliner Krakehler wartete 1848 mit der Erkenntnis auf: »Der stusz, der is grausz!«[5] In den Scherzen in jüdischer Mundart, die 1860 ein gewisser Pseudonymus »Schmock Achtzehn« unter dem Titel Heißt’n Stuss! publizierte, liest man: »Geh, Du Schmockleben, was redst Du für Stuss!«[6]

Aber auch in gebildeten Kreisen fand das Wort Freunde. Eduard Dedekind schrieb 1860 an den Philosophen Feuerbach: »Wo in der Welt, sage mir, kannst du einen ›solideren Stuss‹ wiederfinden als hier im glücklichen Amerika?«[7] Selbst die Thora blieb vom Stuss nicht verschont. Abraham Tendlau erklärte in den Jüdischen Sprichwörtern und Redensarten (1860) die Lebensmaxime Frankfurter Juden Unrecht ist mir lieber als Stuss mit Bezug auf die Sprüche Salomos (18,2), wo es heißt: »Dem Unrecht gegenüber kann man sich verteidigen; aber der Narr ist von seiner Narrheit nicht abzubringen.«

Heute ist Stuss längst in die Standardsprache eingegangen, wie die Lektüre von Zeitungen beweist. Die Welt beurteilte eine Musiksendung als »Einheitsbrei statt unterhaltsamem Stuss«[8], der Berliner Tagesspiegel schrieb von »Lifestyle-Stuss«[9]. Und jugendsprachliche Internetblogs belegen auch den kreativen Gebrauch durch die junge Generation – beim Verb (Wenn Lehrer stussen) und beim Adjektiv (Bisse bestusst oder wat?).[10]

WENN DER VIELFRAß ACHELT

Wie das hebräische »Mahlzeit«
das Umgangsdeutsche bereichert hat

»Achele, bachele, bofe is die beste meloche« (»Essen, Trinken, Schlafen ist das beste Handwerk«), zitiert Franz Kafkas Hebräischlehrer Jirí Mordechai Langer in seiner Schrift Das jüdische Ideal der körperlichen Arbeit und seine Schicksale (1928) den »ironisch gemeinten Spruch des reichsdeutschen Jargon«.[1]

Bofen dürfte, wie das dialektale pofen, für »schlafen« stehen. Seine etymologische Herkunft ist laut Duden ungeklärt. Bacheln deutet Abraham Tendlau in seinem Korpus jüdischer Sprichwörter und Redensarten (1860) als »bechern, vom lateinischen poculum, Pokal«. Ingeborg-Liane Schack rückt in Der Mensch tracht un Got lacht (1977) die jiddische Variante bajchelen zu den deutschen Verben »picheln« beziehungsweise »pitschen«.

Es bleibt das schöne Verb acheln – für das Grimm’sche Wörterbuch »ein aus der jüdischen und Gaunersprache entnommenes Wort«, das schon 1572 in Johann Fischarts frühneuhochdeutschem Werk Aller Praktik Grossmutter auftauchte: »wann sie den Hans von Geller (= das grobe Brot) nicht acheln mögen«.

Bis heute steht das über das Rotwelsche in die Umgangssprache gelangte Lexem acheln vor allem im Berlinischen, Hessischen, Moselfränkischen, Pfälzischen, Rheinischen und in Wien für »tüchtig und/oder mit Behagen essen«. Es leitet sich vom jiddischen achilen her, das auf das hebräische Verb a’chal (»essen«) und das Deverbativ achi’lah (»Mahlzeit«) zurückgeht. Aus dieser Wortwurzel entstanden auch jiddische Begriffe wie der Achler (»Fresser«) und der Achelpeter (»Vielfraß«), der bei Auricher, Eichstätter und Engadiner Juden auftauchte. Bei Letzteren heißt es etwa: »Emene Achelpejter sinn aach zwei Stick Kuche nit zu vill.« Im Rotwelschen ist der Achelpeter ein Armenhäusler, dem es an Achelkies (»Verpflegungsgeld«) für das Acheliniken (»Essen«) und die Achelsore (»Esswaren«) fehlt.

Auch in der Literatur wurde gern geachelt. »Laß uns nach dem langen Reisen hier ein wenig ruhn und acheln«, heißt es in Karl Immermanns Lustspiel Die Verkleidungen (1828). Kurt Tucholsky witzelte unter dem Pseudonym Theobald Tiger 1929 in der Weltbühne in einer Persiflage über das deutsche Vereinsleben: »Der Igel saß stumm, ohne zu acheln und sträubte träumerisch seine Stacheln – Messer und Gabel rollten über die Decke. Sie rollten zum Reichsverband Deutscher Bestecke.«[2]

Der populäre Nachkriegsautor Stefan Andres fragt im Roman Der Knabe im Brunnen (1953): »Willste hören die Spitzmäus’ acheln?« Und dem Hebraisten Werner Weinberg schließlich verdanken wir einen schönen Schüttelreim: »Was nützet mir ein Kachelofen, kann ich mir nichts zum Acheln kofen.«[3]

GEHACKTE ZORES, SEIDENE ZORES

Wie man seinem Frust und Ärger auf Jiddisch Luft macht

In ihrer Schrift Hat das Jiddische sein letztes Wort noch nicht gesprochen? (2009) urteilt Ursula Homann: »Jiddisch ist eine hart geprüfte Sprache, gebrannt im Feuer, geschmiedet durch Zores.«[1] Das vom hebräischen Wort sara(h) für »Not, Bedrängnis, Kummer« stammende jiddische Lexem Zores[2]Jüdische Miniatur[3]Zastersáster