Rafael Cardoso
Sechzehn Frauen
Geschichten aus Rio
Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Peter Kultzen
FISCHER E-Books
Rafael Cardoso lebt derzeit in Berlin, wo er an einem Buch über seine Familie arbeitet. Sein Urgroßvater war der Kunstsammler, Bankier und Politiker Hugo Simon, der mit Albert Einstein und Thomas Mann befreundet war und Gemälde von Oskar Kokoschka, Max Pechstein und Edvard Munch sammelte. Cardoso, geboren 1964 in Rio, wuchs in den USA auf. Er ist Autor und Kunsthistoriker und hat bereits mehrere Bücher veröffentlicht.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, unter www.fischerverlage.de
Obra publicada com o apoio do Minestério
da Cultura do Brasil/Fundação Biblioteca Nacional
Veröffentlicht mit Unterstützung des Kulturministeriums
von Brasilien/Fundação Biblioteca Nacional
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Entre as mulheres bei Editora Record, Rio de Janeiro
© Rafael Cardoso, 2007
In Zusammenarbeit mit Michi Strausfeld, Berlin-Barcelona
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013
Covergestaltung: buxdesign, München und Carla Nagel
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402329-8
»Nichts Menschliches ist uns gleichgültig –
Ihre Feuerwehr.«
Motto der 17. Städtischen Feuerwehrbrigade,
Copacabana, Rio de Janeiro
»Und da war die alte Rua do Catete, und alles war wie immer, eine Straße, auf der einem die ganze Welt zu begegnen schien und die es so trotzdem nur in Rio de Janeiro geben konnte. Heldenhaft verteidigte sie die letzten Stadthäuser aus längst vergangener Zeit gegen den rasenden Ansturm bauwütiger Spekulanten …« Renata klappte das Buch zu und sah sich um. »Die letzten Stadthäuser aus längst vergangener Zeit« – ganz falsch war das nicht, aber komisch klang es trotzdem: »Aus längst vergangener Zeit.« Es war überhaupt eine komische Geschichte: Sie war in der Mittagspause die Rua do Catete entlangspaziert, und plötzlich war ihr am Stand eines Straßenhändlers dieses Buch aufgefallen. Auf dem Umschlag war eine Frau zu sehen, die dem Meer entstieg, ein schwarzer Umriss vor einem weißen Hintergrund, und dazu die roten Buchstaben des Titels: As cariocas – Die Frauen von Rio. Einfach, aber wirkungsvoll. Gutes Design, Renata mochte so was. Auch der Titel klang vielversprechend, schließlich war sie selbst eine waschechte Carioca, und ein Buch nur über die Frauen von Rio de Janeiro war ihr, soweit sie sich erinnern konnte, bislang nicht untergekommen. Den Namen des Autors kannte sie irgendwoher – Sérgio Porto. Hieß nach dem nicht das Kulturzentrum in Humaitá, wo sie einmal mit ihrer Kusine Juliana gewesen war? Sie hatten sich dort ein grässliches Stück von Gerald Thomas angesehen. Doch, doch, es war derselbe Name. War dieser Sérgio Porto denn Schriftsteller? Sie hatte das Buch in die Hand genommen und die Seite aufgeschlagen, die mit dem Satz anfing: »Und da war die alte Rua do Catete.« Und wo hatte sie sich in ebendiesem Augenblick befunden? In der Rua do Catete. Na so was. Ein leichter Schauder war ihr über den Rücken gelaufen. Und da redeten die Leute von Zufall.
Den Zufall gibt es nicht, da war sich Renata ganz sicher. Der Zettel, zum Beispiel, den sie in Mauricios Hosentasche gefunden hatte. Noch nie hatte sie bei seinen schmutzigen Kleidern die Taschen kontrolliert, sie gehörte nicht zu den eifersüchtigen Frauen, für die es nichts Schöneres gibt, als dem eigenen Mann hinterherzuschnüffeln. Deshalb war es auch mehrfach vorgekommen, dass sie Visitenkarten, Quittungen, ja sogar Geldscheine von ihm mitgewaschen hatte. Woraufhin er ihr, wenn er es mitbekam, jedes Mal eine Riesenszene machte. Die Geldscheine hatten den Aufenthalt in der Waschmaschine einigermaßen unbeschadet überstanden, alles Übrige jedoch hatte sich in weißliches Pappmaché verwandelt, das nach dem Trocknen in mühseliger Arbeit abgerieben und aus Falten und Säumen gepuhlt werden musste. Gestern hatte sie endlich einmal daran gedacht und im letzten Augenblick die Taschen der grauen Hose geprüft, die ihr Mann am Donnerstag abgelegt hatte, nachdem er später als sonst von der Arbeit zurückgekehrt war. Und dabei war sie auf einen zerknüllten Zettel gestoßen, auf dem, offensichtlich von Mauricio selbst geschrieben, stand: »Jamilly, 4107 4122«. Jamilly – wer war das denn? Und was hatte Jamillys Telefonnummer in Mauricios Hosentasche zu suchen? Sie wollte ihn schon darauf ansprechen und eine Erklärung einfordern, ließ es dann aber bleiben – sie hatte keine Lust, sich zum x-ten Mal für verrückt erklären zu lassen, Gelegenheiten zum Streit gab es auch so genug. Deshalb hatte sie den Zettel weggeworfen, sich die Telefonnummer allerdings gemerkt.
Und für Nummern hatte Renata ein hervorragendes Gedächtnis. Das war von klein auf so gewesen. Stets hatte sie sagen können, wie die Autokennzeichen oder Telefonnummern ihrer Freunde und Bekannten lauteten. Offensichtlich handelte es sich um eine angeborene Begabung, und kaum etwas war ihr im Berufsleben nützlicher gewesen: Während ihre Kollegen noch mühsam die Adressbücher oder die Telefonlisten ihrer Handys durchforsteten, hatte sie längst mit der gesuchten Zahlenkombination glänzen können. Wenigstens solange sie Kollegen gehabt hatte. Sie hatte neun Jahre lang als eine von vier einander abwechselnden Empfangsdamen bei einer großen Anwaltskanzlei gearbeitet. Inzwischen war sie jedoch bereits im fünften Jahr in der Zahnarztpraxis von Doktor Paulo Ivo Nascentes de Mendonça und dessen Gattin, Frau Doktor Francineide de Jesus Silva Mendonça, angestellt, wo sie ganz allein am Empfang saß. Das war ihr auch lieber so. Die Arbeitszeiten waren angenehmer, sie verdiente besser, vor allem aber war sie nicht mehr dem Neid und der Missgunst ihrer Kolleginnen ausgesetzt. Außerdem war Frau Doktor eine Seele von Mensch. Renata wurde von ihr behandelt, als gehörte sie zur Familie. Nie vergaß Frau Doktor Renatas Geburtstag, sogar ihren Hochzeitstag hatte sie im Kopf und ließ Renata jedes Mal Grüße an ihren Mann ausrichten, den sie gar nicht persönlich kannte. Doktor Paulo war zugegebenermaßen nicht ganz so angenehm im Umgang, aber dass sich seine Art nicht aushalten ließ, hätte Renata keinesfalls behaupten können. Er war um einiges älter als Frau Doktor, die Renata einmal im Vertrauen gestand, dass ihr Mann während der Zeit, als er in Roraima als Zahnarzt des Luftwaffenstützpunkts arbeitete, offenbar ziemlich hatte leiden müssen. Zweiundzwanzig Jahre in Roraima … Nicht auszumalen!
Renata erinnerte sich noch genau, welchen Ärger es jedes Mal in der Kanzlei gegeben hatte, wenn sie bei der Mittagspause auch nur ein klein wenig überzog. Das war jetzt vollkommen anders, sie verschwand für eineinhalb Stunden, und bei ihrer Rückkehr gab es niemals auch nur den geringsten Vorwurf, und sei es in Form eines unzufriedenen Blicks. Wobei sie normalerweise gar nicht richtig zu Mittag aß. Sie begnügte sich mit einem mitgebrachten Sandwich oder, falls am Morgen die Zeit nicht gereicht hatte, mit einem kleinen Snack im Park des Museu da República oder, was billiger war, mit einer gefüllten Teigtasche vom Imbiss an der U-Bahnstation. Schließlich wollte sie abnehmen. Im Augenblick wog sie 58 Kilo, für ihren Geschmack drei Kilo zu viel. Die restliche Zeit nutzte sie für einen Schaufensterbummel bis zum Machado-Platz. Dabei kaufte sie sich manchmal irgendeine Kleinigkeit in der Galeria Condor oder bei Catete 228. In der Rua do Catete herrschte jederzeit geschäftiges Treiben, zu dem auch die vielen Straßenhändler beitrugen, die an ihren Ständen Kunsthandwerk, Stickereien oder T-Shirts anboten. Irgendetwas Originelles war immer darunter, und wer so viele Nichten und Neffen hatte wie sie, brauchte dauernd passende Geburtstagsgeschenke. Allein in diesem Monat hatte sie für Cláudio Henrique ein Real Madrid-Trikot erstanden, für Clarissa eine CD von den Red Hot Chili Peppers und ein mit Stickereien verziertes Kleidchen für Jade, die kleine Tochter von Danielly. Ihre Nichten und Neffen waren immer ganz begeistert von den Geschenken von Tante Renata. Von Tante Renata, die bis heute keine eigenen Kinder hatte. Das Schicksal schien es nicht anders zu wollen.
Heute jedoch war ein besonderer Tag, da war sich Renata zusehends sicher. Schließlich blieb sie, um nur ein Beispiel zu nennen, normalerweise nie vor Bücherständen stehen. Sie las nur wenig, und gebrauchte Bücher schon gar nicht. Gebrauchte Bücher – bei dem bloßen Gedanken glaubte sie etwas Fettig-Schmieriges an den Fingern zu spüren. Trotzdem hatte sie sich, warum auch immer, von dem an dem Stand ausliegenden Buch angezogen gefühlt. Als sie sich nach dem Preis erkundigt hatte, hatte es geheißen: Sechs Reais. Sechs Reais! »Das ist aber teuer, geht’s nicht ein bisschen billiger?« Am Ende bekam sie es für vier, und ein Lächeln dazu. »Schöne Frauen zahlen nicht, bekommen aber auch nichts dafür«, hatte ein listiger Straßenhändler gesagt, der sich zu ihnen gesellte. Sie eine schöne Frau? Wenigstens einer, der das noch so sah. Wenn sie Maurício gefragt hätte … Der schaute sie ja nicht mal mehr an! Als sie ihn letzte Woche, mitten in der schlimmsten prämenstruellen Depression, gefragt hatte, ob er sie dick finde, hatte er die Zeitung in den Schoß sinken lassen und sie mit abschätzigem Blick von Kopf bis Fuß gemustert, als hätte er einen Gebrauchtwagen vor sich, den er nicht im Traum zu erwerben gedachte. Anschließend hatte er sich, ohne ein Wort zu sagen, wieder in die Lektüre vertieft. Noch nie hatte sie sich so gedemütigt gefühlt. Sie hatte sich nicht einmal getraut, die Frage zu wiederholen. Dass er sie dick und hässlich fand, war nicht zu übersehen, von irgendwelcher sexuellen Anziehung ganz zu schweigen.
Sie steckte das Buch in eine Plastiktüte, die Tüte wiederum verstaute sie in ihrer Handtasche und betrat dann die zur Linken gelegene Einkaufspassage, wo sie entschlossen die Konditorei ansteuerte. Sie setzte sich allein an einen Tisch und bestellte einen Espresso und ein extra großes Stück Mousse au Chocolat-Torte. Mir doch egal, sagte sie sich, von mir will sowieso keiner was. Besser eine kleine Freude als gar keine. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, gute Schokolade könne einen Orgasmus durchaus ersetzen. Während sie auf die Torte wartete, musste sie unaufhörlich an den Zettel mit der Telefonnummer von dieser Jamilly denken. Hartnäckig erschien die Zahlenfolge vor ihrem geistigen Auge: 4107 4122. 4107 4122. 4107 4122. Als sie sich schließlich über die Torte hermachte, genoss sie jedes einzelne Stückchen mit einer Mischung aus Entzücken über den süßen Schmelz und wachsendem Widerwillen beim Gedanken an ihren unfreiwilligen Fund. Jamilly. Mit Doppel-L und Ypsilon. Klang ganz wie der Name einer Nutte. Na ja, ebenso gut konnte es sich um eine Kundin handeln. Wer als Vertreter arbeitet, bekommt es schließlich auch mit weiblicher Kundschaft zu tun. Renata versuchte, die düsteren Überlegungen zu verdrängen, und verschlang das letzte Stück Torte mit bitterem Triumphgefühl. In einer plötzlichen Anwandlung fragte sie den Kellner, ob hier auch einzelne Zigaretten verkauft würden. Vor vier Monaten hatte sie zu rauchen aufgehört, jetzt aber sagte sie sich beschwichtigend, eine kleine Zigarette könne nicht schaden. Ja, antwortete der Kellner, Marlboro oder Free. Eine Free, bitte, und die Rechnung.
Sie trank den letzten Schluck Kaffee und zündete gleich darauf die Zigarette an. Aaah! Sie lehnte sich zurück, blies den Rauch zur Decke und folgte den Windungen der bläulichen Wolke mit den Augen. Sie hatte bloß deshalb mit dem Rauchen aufgehört, weil Mauricio eines Tages verkündet hatte, Frauen, die während der Schwangerschaft rauchten, seien nichts anderes als Mörderinnen. Sie wünschte sich so sehr ein Kind, dass sie den Kommentar als versteckten Hinweis verstanden hatte, ihr Mann sei keinesfalls bereit, über Kinder auch nur nachzudenken, solange sie sich von diesem Laster nicht befreit hätte. Sie versuchte es mit doppelter Unterstützung: Nikotinpflaster und Unmengen von Kaugummi. Und sie wurde Stammkundin im nahegelegenen Bonbonladen. Nach dreiwöchiger Quälerei schien das Schlimmste überstanden. Als der erste Monat ohne Zigaretten geschafft war, war Mauricio zur Feier des Tages mit ihr essen gegangen – von Kindern war aber nie wieder die Rede gewesen. So dass Renata sich schließlich hatte eingestehen müssen, dass die strengen Worte ihres Mannes über das Rauchen gar keine geheime Botschaft enthalten hatten, sondern offensichtlich bloß die spontane Reaktion auf einen Antiraucherspot im Fernsehen gewesen waren, woraufhin sie beschlossen hatte, sich künftig wenigstens ab und zu im Geheimen die eine oder andere Zigarette zu gönnen.
Als sie den Blick von der Rauchspirale löste und zur Tischplatte senken wollte, stellte sie fest, dass ein Paar hübscher, grüner Augen ihre Aufmerksamkeit zu erregen suchte. Die Augen gehörten zu einem gutaussehenden jungen Mann, der sie unverhohlen anstarrte. Er war vielleicht nicht übermäßig sorgfältig gekämmt, was ihm aber nichts von seiner Anziehungskraft nahm. Man hätte meinen können, Chico Buarque als jungen Mann vor sich zu haben. Renata schlug hastig die Augen nieder und machte ein abweisendes Gesicht, innerlich aber lächelte sie. Dann sah sie auf die Uhr, drückte die Zigarette aus und stand auf. Aus dem Augenwinkel konnte sie feststellen, dass der junge Mann ihrem Beispiel folgte. Sie griff nach der Rechnung und trat zur Kasse, um zu bezahlen. Der Mann kam hinter ihr her. Renata merkte, dass sie Herzklopfen bekam. Wann war ihr so etwas zum letzten Mal passiert? Ob er sie wirklich ansprechen würde? Vielleicht war er ja bloß zufällig zur selben Zeit aufgestanden. Vielleicht hatte auch er nichts anderes vor als zu zahlen. Vielleicht bildete sie sich das alles bloß ein. Als sie anfing, auf der Suche nach dem Portemonnaie ihre riesige Handtasche zu durchwühlen, fiel das Buch zu Boden. Augenblicklich trat der Unbekannte auf sie zu, hob das empfindlich wirkende Päckchen auf und überreichte es ihr mit einer anmutigen Handbewegung und einem unwiderstehlichen Lächeln auf den Lippen.
»Ihnen ist etwas runtergefallen.«
Renata war bemüht, sich die Aufregung nicht anmerken zu lassen, spürte jedoch, dass ihre Wangen zu glühen begannen. Sie lächelte unsicher und bedankte sich, tat dabei aber, als versuchte sie Ordnung in den Inhalt ihrer offenstehenden Tasche zu bringen, der kurz davor schien, sich dem freundlichen Herrn in seiner Gesamtheit zu offenbaren. Schließlich presste sie Handtasche und Portemonnaie mit der Rechten gegen ihren Bauch und hielt dem Fremden die Linke hin, um das Päckchen mit dem Buch entgegenzunehmen. Sie blickte so tief in seine Augen, dass ihre Finger das Ziel knapp verfehlten und die Plastiktüte nur am Rand zu fassen bekamen, woraufhin das malträtierte Buch erneut zu Boden glitt. Er bückte sich ein zweites Mal, um es aufzuheben.
»Allzu viel scheinen Sie dafür ja nicht übrig zu haben.«
Sein ohnehin schon breites Lächeln zog sich noch mehr in die Breite. Sie lächelte zurück, unbeholfen und verführerisch zugleich, und erwiderte dann ein wenig heftig:
»Stimmt nicht, ich habe es gerade erst gekauft.«
Seine Augen blitzten verräterisch. Selbstsicher, fast hochmütig, hob er das Buch in die Höhe und nahm es, ohne um Erlaubnis zu fragen, genauer in Augenschein. Mit leisem Triumph in der Stimme las er vor, was auf dem Umschlag stand:
»›Die Frauen von Rio. Sérgio Porto.‹ Na sieh mal an. Taugt es was?«
»Das weiß ich nicht, ich hab’s noch nicht gelesen.«
»Lesen Sie gern?«
»Ja. Das heißt, nicht besonders viel. Also, ich meine, ich sollte wahrscheinlich mehr lesen, oder? Heißt es wenigstens. Alle sagen immer, man … Aber am Ende sehen die Leute ja doch bloß fern.«
Ihre Nervosität stand im krassen Gegensatz zur Lockerheit des jungen Mannes, der sie weiterhin mit sanfter Herablassung anlächelte, während auf dem Grund seiner Augen eine so leise wie erregende Unverfrorenheit aufschien.
»Ich heiße Rafael«, sagte er, als wäre es die natürlichste Sache der Welt, dass das Schicksal sie soeben an dieser Stelle zusammengeführt hatte.
»Renata. Freut mich«, erwiderte sie ergeben wie ein säumiger Schuldner, der unversehens dem Gerichtsvollzieher gegenübersteht.
»Ganz meinerseits. Hören Sie, Renata, haben Sie nicht Lust, noch einen Kaffee zu trinken?«
Die Einladung kam so unverfänglich daher, dass Renata fast verdrängt hätte, mit welcher Dreistigkeit sie ausgesprochen wurde; was sie als unverschämte Aufdringlichkeit hätte betrachten können, präsentierte sich so als scheinbar harmlose Entscheidungsfrage: Ja oder nein? Sie spürte, wie sich ihr Puls beschleunigte. Das hartnäckige Pochen in den Schläfen gab ihr zu verstehen, dass sie nichts lieber getan hätte, als ja zu sagen.
»Einen Kaffee? Nein, das geht nicht, ich hab gerade einen getrunken.«
»Das habe ich gesehen. Und was meinen Sie, wie neidisch ich auf die Zigarette war, die Sie geraucht haben! Ich versuche nämlich gerade, mit dem Rauchen aufzuhören.«
»Ach ja? Ich auch! Das war meine erste Zigarette seit vier Monaten!«
»Und wieso sind Sie heute schwach geworden?«
»Keine Ahnung. Ich hatte einfach solche Lust …«
»Dann werden Sie noch mal schwach und trinken Sie einen Kaffee mit mir!«
Auf seinen Lippen zeigte sich weiter ein sanftes, einladendes Lächeln, und auch seine Augen blickten sie immer noch selbstsicher und entschlossen an. Renata hatte plötzlich einen trockenen Mund. Sie wollte schon um ein Glas Wasser bitten, hatte aber Angst, noch länger am Rand des Abgrunds dieser grünen Augen zu verharren. Als hätte er ihre Gedanken erraten, fügte der junge Mann hinzu:
»Oder ein Glas Wasser, wenn Sie keinen Kaffee mehr trinken wollen.«
Renata sah zu Boden, dann nach oben, als wollte sie die Rolltreppe um Hilfe bitten, die den einzigen Ausgang aus diesem Teil der Ladenpassage darstellte, der ihr auf einmal düster und unwirtlich vorkam. Wer war dieser Mann? Warum tauchte er ausgerechnet jetzt auf, wo sich alles in ihrem Leben verschworen zu haben schien, um sie dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben? Ob er sie auch dick finden würde, wenn er sie ohne Kleider sähe? Mit letzter Kraft zwang sie sich zu der Antwort:
»Das geht nicht. Ich muss zurück zur Arbeit.«
Ungerührt versetzte er:
»Dann sehen wir uns eben nach der Arbeit.«
»Warum sollten wir?«
»Keine Ahnung. Vielleicht, weil Sie Lust dazu haben? Ich weiß jedenfalls, dass ich große Lust habe.«
»Und warum?«
»Weil Sie wunderschön sind und weil Sie mir sehr gut gefallen.«
Der letzte Satz wurde so entschieden und stimmig vorgetragen, dass er, so banal er hätte wirken können, voll ins Schwarze traf. Renata spürte, dass ihr buchstäblich die Knie weich wurden. Die Schutzmauer ihrer moralischen Gewissheiten fiel in sich zusammen, und an deren Stelle trat eine schier unbezwingliche Lust, ihn zu verführen – sie war selbst überrascht, wie abenteuerlustig ihre kurze Antwort klang:
»Da sind Sie ganz sicher, stimmt’s?«
»So ist es.«
»Und wer sagt, dass es mir mit Ihnen genauso geht?«
»Diese Frage können nur Sie selbst beantworten. Jetzt sind Sie am Zug.«
»Da haben Sie recht.«
»Also, treffen wir uns nachher?«
»Mal sehen …«
Einen kurzen Augenblick lang schauten sie sich so durchdringend an, dass Renata ein unzweideutiges Lustgefühl verspürte. Er brach als Erster das Schweigen:
»Um sieben in der Adega Portugália, am Machado-Platz. Ich reserviere einen Tisch. Sie werden es nicht bereuen, glauben Sie mir.«
»Ich denk drüber nach.«
Mit diesen Worten schnappte Renata sich das Buch, das er immer noch in der Hand hielt, und machte sich auf den Weg Richtung Rua do Catete. Ihren Kaffee und die Torte konnte gerne dieser Rafael bezahlen.
Ganz außer Atem traf sie in der Praxis ein. Im Wartezimmer saßen bereits zwei Patienten. Renata machte sich sofort an die Arbeit, gab Daten in den Computer ein und beantwortete gleichzeitig das Telefon. Erst gegen vier wurde es etwas ruhiger – und da fiel ihr auf einmal die Telefonnummer wieder ein. 4107 4122. Riesig groß und überdeutlich stand sie wie eine himmlische Vision vor ihrem geistigen Auge. Es war gerade niemand im Raum, und so nutzte Renata die Gelegenheit und wählte. Ganz langsam, Ziffer für Ziffer. Jedes Mal, wenn sie auf eine der Tasten drückte, hatte sie das Gefühl, eine der unsichtbaren Fesseln zu lösen, die ihre Seele schon so lange in Leid und Kummer gefangen hielten. Bei der achten Ziffer angekommen, erfasste sie eine seltsam rauschhafte Begeisterung, als hätte sie gerade ganz allein eine Flasche Champagner geleert. Vom anderen Ende der Leitung erklang gereizt eine leise, harte Stimme.
»Hallo?«
»Hallo, könnte ich bitte Jamilly sprechen?«
»Am Apparat.«
Die letzten Worte wirkten nicht restlos überzeugt, so als wäre ihre Gesprächspartnerin selbst nicht ganz sicher, ob es sich bei ihr um die Person handelte, nach der Renata gefragt hatte. Sie sprach in einem höflichen, aber wenig einladenden Ton. Und jetzt? Was hätte Renata sagen sollen? Es verstand sich von selbst, dass sie nicht einfach nach Mauricio fragen konnte – damit hätte sie die Karten von vornherein auf den Tisch gelegt. Wenn das Misstrauen dieser Jamilly aber erst einmal geweckt war, würde sie ihr bestimmt weiß der Himmel was erzählen, und am Ende wäre Renata genauso schlau wie vorher. Also sagte sie kein Wort. Bis die andere unfreundlich nachhakte:
»Wer ist denn da?«
Einer dieser rätselhaften Eingebungen folgend, wie sie Leuten, die regelmäßig spielen, nur zu vertraut sind, fragte Renata unvermittelt:
»Wie viel nehmen Sie?«
Kurze Pause, offensichtlich musste die Frage erst verarbeitet werden.
»Hundertzwanzig, für zwei Stunden, hier bei mir.«
»Vielen Dank.«
»War das alles?«
Erschrocken legte Renata auf. Also genau wie sie sich gedacht hatte! Wie viele waren es gewesen? Und seit wann? Oder hatte er es zum ersten Mal gemacht? Ob er ein Kondom benutzt hatte? Gleich darauf jedoch stellte sie fest, dass sie innerlich zu kochen begann. Ihr Kopf glühte, und in ihrem Hals bildete sich ein harter Kloß, den hinunterzuschlucken sie sich lange Zeit vergeblich abmühte. Wie betäubt durch ihre Entdeckung arbeitete sie mechanisch weiter, ohne zu merken, wie die Zeit verging. Erst als sie den letzten Patienten abgefertigt hatte, warf sie einen Blick auf die Uhr. Halb sieben. Gerade rechtzeitig, sagte sie sich.
Den Zufall gibt es nicht, dachte sie einmal mehr, als sie in Richtung Machado-Platz die Rua do Catete entlangging. Die Straßenbeleuchtung war bereits eingeschaltet, und auf den Bürgersteigen drängten sich die Menschen, die den Rest des Frühlingstages genießen oder vor Ladenschluss rasch noch etwas einkaufen wollten. Renata beschleunigte den Schritt, um die Zeit aufzuholen, die sie vor ihrem Aufbruch, noch in der Praxis, dafür verwendet hatte, um sich schön zu machen. Sie wollte um fünf vor halb acht eintreffen, keine Minute früher oder später, und so seine Geduld auf die Probe stellen und zugleich seine Begierde entfachen. Länger als eine halbe Stunde würde er nicht auf sie warten, da war sie sich sicher. Exakt fünfundzwanzig Minuten nach der verabredeten Zeit durchquerte sie nervös die auf Saloon getrimmte Schwingtür des Restaurants. Sie entdeckte ihn nicht sofort, er hatte sich an einem Ecktisch gleich neben dem Eingang postiert, von wo aus man übersehen konnte, wer hereinkam, ohne gleich selbst ins Blickfeld zu geraten. Enttäuscht registrierte sie die ein wenig heruntergekommen wirkende Leere, die nur von einer Handvoll Kellner in speckigen Jacken, dickbäuchigen Männern in Bermudashorts und zwei stummgestellten Fernsehern gefüllt wurde. Sie wollte schon auf dem Absatz kehrtmachen und nach Hause gehen. Aber da stieß sie doch noch auf das schon bekannte Lächeln, das jetzt umso verschmitzter wirkte, und auf das grüne Augenpaar, dessen Anziehung ihr endgültig unwiderstehlich schien. Auf dem Tisch vor Rafael stand ein halbvolles Bierglas, daneben eine Schachtel Marlboro light. Er erhob sich und trat auf sie zu.
»Ich dachte schon, Sie kommen nicht mehr«, log er, ergriff zur Begrüßung ihre Hände und drückte ihr je einen festen und doch sanften Kuss auf beide Wangen.
»Stimmt nicht, Sie haben gewusst, dass ich kommen würde«, erwiderte Renata und stellte fest, dass er sich umgezogen hatte und seine Haare noch feucht vom Waschen waren. Das schwarze, enganliegende T-Shirt brachte seine Arm- und Brustmuskulatur wirkungsvoll zur Geltung, sie war kräftiger ausgebildet, als es zuvor den Anschein gehabt hatte. Und an den Oberarmen war er tätowiert – einmal Tom und einmal Jerry. Wie süß! Unter Aufbietung aller ihr zur Verfügung stehenden sinnlichen Reserven ließ Renata sich an dem Tisch nieder, wo sie zuerst einmal feierlich ihr Handy ausschaltete. Für den Fall, dass Mauricio auf die Idee kommen sollte, sie anzurufen – bitte schön, wozu gab es denn die Mailbox? Er konnte sie mal.
Mit dem Taxi brauchten sie keine drei Minuten bis zum Hotel Love Time. Renata wäre zu diesem Zeitpunkt aber ohnehin nicht auf den Gedanken gekommen, auf die Uhr zu sehen – nach vier Caipirinhas gab es Wichtigeres als die Tatsache, dass es reichlich spät war. Stattdessen überlegte sie, was für einen Slip sie eigentlich am Morgen angezogen hatte, dass es höchste Zeit war, sich Achseln und Bikinizone enthaaren zu lassen, und in wie vielen Tagen wohl ihre Periode einsetzen würde. Rafaels Zunge erforschte derweil ihre Mundhöhle, durchfuhr den schmalen Kanal zwischen Zahnfleisch und Lippen, kitzelte sie mit köstlicher Könnerschaft am Gaumen. Zum ersten Mal geküsst hatten sie sich, als sie sich gerade vom Tisch erheben wollten. Er hatte sich ihr entschlossen genähert und umstandslos die Arme um sie gelegt. Sie hatte hastig und verstohlen – wie jemand, der sich im Vorbeigehen an einer Kirche bekreuzigt – ihren Mund auf den seinen gedrückt. Zum ersten Mal seit neun Jahren hatte es sich nicht um Mauricios Mund gehandelt. Der Kuss tat gut, er war feurig und schien nicht enden zu wollen, wie die Küsse von früher, aus einer Zeit, die sie längst für unwiederbringlich verloren gehalten hatte. In den letzten Jahren hatte der Strom ihres Begehrens sich unmerklich verflüchtigt und zuletzt nur noch ein ausgetrocknetes Bett hinterlassen. Jetzt trat seine Feuchtigkeit wieder mit Macht zwischen ihren Beinen hervor, füllte ihren Mund mit Speichel, der sich mit Rafaels Speichel vermischte, durchdrang als Schweiß das synthetische Gewebe der Bluse, die ihr inzwischen am Rücken klebte.
Als sie seinen Schwanz vor ihrem Mund zur Seite schob und entschlossen in ihre Scheide einführte, wusste sie endlich, was sie wollte und dass sie das Werkzeug ihrer Rache buchstäblich in der Hand hielt. Woher sie das wusste, spielt keine Rolle – sie wusste es einfach, wie und weshalb hätte sie selbst nicht sagen können. Entscheidend war natürlich, dass Rafael nicht einmal auf die Idee kam, zu fragen, ob er ein Kondom überziehen solle. Aber auch in diesem Fall hätte Renata Mittel und Wege gefunden, ihr Vorhaben umzusetzen. Auf einmal war sie sich ihrer Sache so sicher, dass sie absichtlich auf dem Rücken liegen blieb und ihn so lange in sich behielt wie irgend möglich, um in biologischer Hinsicht bloß nichts falsch zu machen, die – ohnehin wenig dauerhafte – Lust war da längst nicht mehr so wichtig.
Als die Schwangerschaft unzweifelhaft feststand und sie Mauricio davon in Kenntnis setzte, machte dieser zunächst ein Riesentheater – das war doch nicht möglich, sie taten es doch nie ohne! Als Renata ihm daraufhin vorhielt, dass rein statistisch gesehen auch der Gebrauch von Kondomen keine hundertprozentige Sicherheit garantiert, und außerdem durchblicken ließ, dass sie womöglich von seinen außerehelichen Vergnügungen Wind bekommen hatte, gab er sich missmutig geschlagen. Das Kind kam in der Sankt Sebastians-Klinik in Catete zur Welt und wurde auf den Namen Rafael getauft.
Ein herrlicher Tag am Meer – Helena, im goldenen Glanz ihrer sechzehn Jahre, warf lachend den Kopf in den Nacken. Dass sie gerade den glücklichsten Augenblick ihres Lebens genoss, war ihr nicht bewusst, wie auch? Über derlei denkt man erst später nach, wenn man sich wehmütig all die verpassten Gelegenheiten vor Augen führt. Solange man lebt, gibt es auch Hoffnung, dass es besser werden kann, dass sich die verlorene Zeit aufholen lässt, dass es noch einmal aufwärtsgeht. Erst mit dem Tod kommt das Leben endgültig ans Ziel, erst dann lässt sich sein Verlauf genau zurückverfolgen – doch die Toten interessieren sich nicht für das Auf und Ab einer Biographie. Aber lassen wir die Toten beiseite, Helena war schließlich noch am Leben, und wie! Ganz und gar ihrem Dasein hingegeben war sie, nie wieder sollte sie die innere und äußere Welt so mühelos als Einheit erleben. Kein Zweifel, für sie ging es im Augenblick aufwärts.
Bê reichte ihr den Joint, und sie zog wieder daran. Als sie dem Rauch hinterhersah, traf ihr Blick auf den roten Sonnenball, der in einer Explosion aus Rosa-, Lachs- und Grautönen hinter dem Morro Dois Irmãos versank. Am Himmel drehten sich Spiralen aus geschmolzener Schokolade und Maracujasirup, die weiter unten ineinanderflossen und sich über dem purpurroten Meer vor dem Strand von Ipanema ausbreiteten, aus dem sich hier und da vor dem tief orangefarbenen Horizont die schwarzen Umrisse der Inseln erhoben. Helena musste an das gestreifte T-Shirt denken, das sie Leo zum Geburtstag geschenkt hatte. Irre, dass der Himmel so bunt wie ein T-Shirt sein konnte! Aber was war das eigentlich für eine schwachsinnige Feststellung? Fast so schwachsinnig wie ihre Hausangestellte, die imstande war zu sagen, eine Blume sei so schön, man könne fast meinen, sie sei aus Plastik. Oder ein Stück Obst. Aus Plastik. Obst. Hausangestellte. Essen. Hunger. Die Vorstellungen begannen immer heftiger in ihrem bekifften Kopf zu kreisen, doch da wurde sie von Manus Stimme unterbrochen:
»Schau mal, da kommt Leo.«
Mit dem Surfbrett unterm tätowierten Arm stieg er aus dem Meer. Von der Hautschutzcreme und den vielen im Wasser zugebrachten Stunden klebte ihm das blonde Haar im Nacken. Helena sah, wie er auf sie und die kleine Gruppe ihrer Freunde zukam, seinen langen, gelenkigen Hals, die schlanken Hüften. Wirklich hübsch, mein süßer kleiner Geliebter, sagte sie sich. Oha, was war das denn? Süß? Klein? Was für Ausdrücke hatten sich da bei ihr eingeschlichen? Mein süßer Kleiner. Süßer. Kleiner. Süßer Kleiner, süßer Kleiner, süßer Kleiner … Die beiden Worte schienen auf einmal wie eine elektronische Laufschrift vor ihr über den Horizont zu wandern. Seit wann war irgendetwas an Leo süß oder klein? Sie waren jetzt sechs Monate zusammen, und nie war ihr im Zusammenhang mit Leo etwas anderes als der Superlativ angemessen erschienen. Alles hatte damit angefangen, dass sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt hatte, sie hatte jeglichen Appetit verloren, war nächtelang wach gelegen, hatte in nichts mehr einen Sinn erkennen können, es sei denn, es hatte mit ihrer großen Liebe zu tun. Dann hatte die eigentliche Liebesgeschichte begonnen. Der erste Kuss. Das erste Mal. Das zweite, dritte, vierte Mal, und die zahllosen Male danach, zu jeder Tages- und Nachtzeit, immer wenn sie es irgendwie geschafft hatten, allein zu sein. Manchmal auch nicht ganz allein, zum Beispiel in Manus Zimmer, bei deren Geburtstag. Oder im Bad bei Bê, als sie dort im Garten gegrillt hatten. Oder auf dem Schiff von Leos Vater, während alle anderen schliefen. Und seit ein paar Wochen konnte man ihre Liebe tatsächlich als eine Beziehung betrachten, fand Helena jedenfalls. Immerhin waren sechs Monate ihr bisheriger Rekord. Während der ganzen Zeit war Leo ihre unvergleichliche Liebe gewesen, der Mann ihres Lebens: Groß, gutaussehend, stark, zärtlich, attraktiv, kurz: in jeder Hinsicht der Tollste von allen.
Aber wieso hatte sie ihn dann gerade eben als ›mein süßer Kleiner‹ bezeichnet? Zugegeben (ihr blieb nichts anderes übrig), so gut sah er auch wieder nicht aus, Brad Pitt war er nicht. Er war ein hübscher Kerl, ganz bestimmt, aber ein bisschen unreif war er auch. Ehrlich gesagt, hatte sie manche seiner Kindereien inzwischen ein bisschen über: Es war einfach albern, dass er die ganze Zeit Yakult trank, das war doch was für Kinder, und ständig diese Eifersucht (als ob sie auf diesen grässlichen Paulinho Bernardes stehen würde, nur weil der einen Job als Schauspieler bei Globo TV hatte – ein alter Knacker, der Typ war bestimmt fast dreißig); außerdem hockte er dauernd mit seinen Surfer-Freunden zusammen (letzten Samstag hatte er sie alleine sitzenlassen, nur weil er sich bei Bocão zu Hause unbedingt ein Surf-Video ansehen musste). Leos kleine Welt beschränkte sich auf Strand, Wellen, Gras und Reggae. Und wenn es etwas gab, was Helena nervte, dann Reggae. So eine Schrottmusik. Helena war schon seit längerem auf der Suche nach etwas anderem, sie wollte Schauspielerin werden. Sie hatte Kurse am Theater belegt, und im März wollte sie an der Casa das Artes anfangen, in Laranjeiras, angemeldet hatte sie sich schon. Leo interessierte das alles nicht. Was der Unterschied zwischen Stanislawski und Stanley Kowalski war, hätte er nicht sagen können. Hätte ihn jemand danach gefragt, hätte er wahrscheinlich geantwortet, das Erste müsse irgendwas mit Anabolika zu tun haben, und Kowalski sei doch der Bassist von Motörhead. Jedenfalls – und das fand Helena noch schlimmer – tat er immer, als wüsste er genau Bescheid, selbst wenn er keine Ahnung hatte. Deswegen hatten sie auch regelmäßig Streit, immer wenn Leo hartnäckig auf dem größten Schwachsinn bestand, kriegten sie sich in die Haare. Das war auch beim letzten Mal so gewesen, da hatten sie so heftig gestritten, dass sie danach zwei Tage nicht mehr miteinander gesprochen hatten. Leo wollte sich einfach nicht ausreden lassen, dass Bali die Hauptstadt von Indonesien sei, das muss man sich mal vorstellen. Na gut, er hatte auch seine netten Seiten. Zur Versöhnung hatte er ihr damals diesen riesigen Plüsch-SpongeBob geschenkt – manchmal war er wirklich süß! Süß? Mein kleiner Süßer … Eben, Leo war auf einmal nur noch süß. So ein Mist.
Kaum war Leo bei seinen Freunden angekommen, kam er auf Helena zu und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Ebenso schnell drehte sie den Kopf zur Seite und tat dabei, als müsste sie unbedingt den Rauch ausstoßen, den sie schon so lange inhaliert hatte. Sie merkte, dass ihm nicht entging, wie heftig sie sich abwandte. Für einen kurzen Moment erschien auf seinem Gesicht der traurige Hundeblick, den er sonst nur aufsetzte, wenn er sich im Innersten verletzt fühlte. Gut so, sagte sich Helena, dann lernt er endlich, mir mehr Raum zu lassen.
Auf einmal stand ein Junge vor ihnen, der Flyer verteilte. Er drückte jedem von ihnen einen in die Hand.
»Hier, Leute, geile Party, morgen in der Fundição Progresso.«
Helena bestaunte die langen Dreadlocks des Jungen. Er hatte sie im Nacken locker zusammengeknotet. Wie die Schlangen am Haupt der Medusa verteilten sie sich in wilden Windungen über seine glänzend schwarze Haut. Von den Haaren richtete sie den Blick auf sein strahlend weißes Lächeln und ließ ihn dann verstohlen an dem glatten Körper hinunterwandern, bis sie bei dem knallig gelben Badeslip angekommen war. Der Stoff spannte sich gefährlich, es war nicht zu übersehen. Ob es stimmte, was die anderen erzählten? Sie musste insgeheim über sich lachen und senkte den Blick rasch zu Boden. Gleich darauf ließ sie ihn an Leos Beinen wieder hinaufgleiten, über die weitgeschnittenen bunten Bermudashorts, die ihm von den Knien bis über die Hüften reichten. Bei seinem Gesicht angekommen, stellte sie fest, dass er damit beschäftigt war, den Flyer zu lesen. Dabei bewegte er leise die Lippen. (Oh nein!) Sie nahm sich selbst den Flyer vor:
Bald ist Karneval!
TECHNO FUNK X-SALADA
MC Lucky und Gäste
2 Dancefloors und Aquädukt-Lounge
Samstag, 26. Februar, ab 22.30 Uhr
DJ Cassiano (funk & black music)
DJ Rafael (electro & pop rock)
D Doctor J (techno & house)
MC Strike Z (hip-hop)
Eintritt: R$ 24 – mit Flyer: R$ 20 – Studenten: R$ 12
Zutritt ab 18 Jahren
Location: Fundição Progresso – Rua dos Arcos, 24 – Lapa
Sponsored by Pintoff Ice
Manu gab als Erster einen Kommentar ab:
»Krass, meine Kusine war bei der Party in Rocinha, wo MC Lucky aufgelegt hat, sie hat gesagt, es war total geil.«
»Dieser Cassiano ist auch nicht schlecht. Voll old school«, bekräftigte Bê.
»Dann lass uns doch hingehen«, sagte Helena. »Diesen Rafael hab ich schon mal im Circo gesehen, der ist super, total gut zum Tanzen.«
Nur Leo musste mal wieder aus der Reihe fallen:
»Ach nee, nicht mit mir, Funk bringt’s einfach nicht.«
»Mann, Leo, das is nich bloß Funk. Die spielen auch andere Sachen. Komm, lass uns hingehen«, erwiderte Manu.
»Echt, Leo, immer musst du übertreiben. Das wird bestimmt total geil.« Auch Bê wollte nicht nachgeben.
Aber Leo blieb dabei:
»Nee, Mann. Ohne mich. Ich hasse Funk. So was hören bloß Gangster und die aus den Favelas.«
»Na gut, du musst ja nicht mitkommen«, sagte Helena.
Die anderen blickten sie erstaunt an. Das war deutlich. Damit zeigte sich zum ersten Mal ein Riss in der bis dahin scheinbar so perfekten Beziehung der beiden. Am stärksten überrascht war Leo. Einen Moment lang sah er Helena mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund an (was aber bloß Helena auffiel), dann sagte er beleidigt:
»Schon okay. Macht doch, was ihr wollt.«
Er schnappte sich sein Surfbrett und verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung Uferpromenade. Bê lief hinter ihm her, Helena und Manu blieben allein zurück.
»Was war das denn, Lê? Habt ihr euch gestritten?«
»Keine Ahnung. Ach, mir doch egal. Weißt du, was? Ich hab echt genug von Leos Getue, der ist so was von kindisch.«
Sichtlich bemüht, die Tränen zurückzuhalten, blickte Helena zum Horizont. Manu legte ihr den Arm um die Schultern und sah sich nach den beiden Jungs um. Leo entfernte sich immer weiter, während Bê mit hängendem Kopf durch den Sand zu ihnen zurücktrottete.
Am nächsten Abend war die Fundição rappelvoll. Aus Baixo Gávea war alles gekommen, was Rang und Namen hatte, dazu noch B-Boys und Funkfans aus den Vorstädten, schicke Party-People aus Barra, ältere Mitglieder der Alternativszene. Alles bunt gemischt, schließlich befand man sich in Lapa, der Mutter aller Ausgehzonen von Rio de Janeiro, ein neutrales Gebiet, wo der Nord- und der Südteil der Stadt aufeinanderstoßen, was für ein heilloses Durcheinander sorgt. Unter der Regie von Electro-DJ Rafael gab Helena sich auf der Tanzfläche dem süßen Vergessen hin. Sie hatte sich mit Manu ein Ecstasy geteilt und wiegte sich jetzt auf einer Welle des Wohlbehagens, während ihr Körper zum unvermeidlichen Stampfrhythmus eines Presslufthammers zusehends mit der Umgebung verschmolz. Irgendwann schloss sie die Augen und sank in einem Traum bis auf den Grund eines endlosen Kindheitssommers. Als sie die Augen nach, wie ihr schien, ewig langer Zeit wieder aufschlug, stellte sie erstaunt fest, dass immer noch die gleiche Musik lief. Lachend fiel sie Manu und Bê um den Hals, und so tanzten sie weiter, vereint in einem einzigen gemeinsamen Rhythmus.
Um kurz nach zwei beschlossen sie, erschöpft vom Tanzen und mit völlig ausgetrockneten Mündern, etwas trinken zu gehen. Mühsam bahnten sie sich einen Weg von der immer noch randvollen Tanzfläche, bis sie irgendwann auf dem Hof des Gebäudes standen, das in seinem früheren Leben eine Gießerei gewesen war. Sie traten an die Bar und tranken jeder gierig eine Flasche Wasser. Mit ernster Miene fuhr Bê sich mit dem Ärmel über die feuchten Lippen, zog geräuschvoll die Nase hoch und verkündete:
»Jetzt habe ich Bock auf ein bisschen Funk.«
Die beiden Mädchen lachten und folgten ihm ohne Widerrede bis zu einer Stelle, von wo aus man die andere Tanzfläche überblicken konnte. Gesteuert von MC Luckys Team – der Meister selbst war gerade nicht persönlich anwesend – drängte sich unter ihnen eine Ansammlung ziemlich eigenwilliger Gestalten. Die eine Hälfte der Fläche wurde von waschechten Funk-Fans eingenommen, auf der anderen befanden sich vor allem geschniegelte Popper. Die beiden Gruppen kehrten einander beim Tanzen den Rücken zu – man hätte meinen können, gleich werde es losgehen wie in einem Videoclip von Michael Jackson, mit einem perfekt choreographierten Tanzduell zwischen Niggern und Bleichgesichtern, das irgendwann in einer utopischen Verbrüderung endet. Auf das eiserne Geländer gestützt genossen die drei eine Weile die Szenerie, aus der sich vor allem eine Vielzahl wohlgeformter und aufreizend kreisender weiblicher Hinterteile und die schrillen Schreie eines Mädchens hervorhoben, das offensichtlich bemüht war, den dumpf dröhnenden Bassnoten etwas entgegenzusetzen.
»Und, Bê, bist du bereit? Gehen wir runter?«, fragte Manu schließlich.
»Was?«, fragte Bê zurück; er musste schreien, um den Lärm zu übertönen.
»Ob du runterwillst?«, schrie Manu zurück.
»Weiß nich, irgendwie find ich’s ’n bisschen lahm.«
Bês wiederum laut schreiend vorgebrachte Ablehnung fiel mit einer kurzen Unterbrechung der dröhnenden Geräuschkulisse zusammen. In der plötzlich eingetretenen Stille waren seine Worte für die Umstehenden deutlich zu hören und riefen ein Lachen hervor, dem die Worte folgten: »Superlahm, aber echt!«
Bê, Manu und Helena sahen nach links, von wo die klangvolle Stimme zu ihnen gedrungen war, und erblickten einen vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alten Schwarzen, der sich nicht weit von Helena entfernt mit den Ellbogen auf das Geländer stützte. Er war allein. Als er die auf ihn gerichteten Augen bemerkte, richtete er sich zu voller Größe auf – er maß gut einen Meter achtzig – und lächelte die drei höflich an. Alles an ihm machte den Eindruck von Gelassenheit und Stärke, von den entschlossen dreinblickenden Augen bis zu den kräftigen gepflegten Händen, von dem schlichten Sankt Georgs-Figürchen an seiner Halskette bis zum wundersamerweise makellos blauen Veloursleder seiner Adidas-Schuhe. Unwillkürlich drehte Helena sich ihm zu, bis sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Wieso hatte sie ihn nicht schon vorher wahrgenommen? Jetzt machte es jedenfalls den Eindruck, als kreiste nicht nur die gesamte Fundição, sondern ein weit größeres Gebiet um ihn als ihren unbestrittenen Mittelpunkt.
»Hallo, ich heiße Rarlei. Aber alle nennen mich Zulu.«
Auch wenn seine Worte eigentlich an sie drei gerichtet waren, spürte Helena die magnetische Anziehung, die sein Blick auf sie ausübte, weshalb sie es nur normal fand, dass sie diejenige war, die antwortete:
»Ich heiße Helena, und das sind meine Freunde Manu und Bê.«
Nachdem man sich so miteinander bekannt gemacht hatte, sagte Rarlei:
»Ich wollte gerade zu ’ner richtigen Party – habt ihr Lust, mitzukommen?«
»Weiß nich, eigentlich ist es schon ein bisschen spät«, sagte Bê unsicher.
»Was heißt hier spät, Bê? Der Abend fängt doch gerade erst an«, erwiderte Manu.
Rarlei lächelte Helena gelassen an. Ihm ging es offensichtlich nur um ihre Antwort. Davon abgesehen schien er nicht im Geringsten daran zu zweifeln, dass sie seinen Vorschlag annehmen würden.
»Wo ist denn die Party?«, fragte Helena.
»In Turano. Bei mir draußen.«
»Und wie sollen wir da hinkommen?« (Helenas Frage sollte bloß davon ablenken, dass die Sache längst entschieden war.)
»Ich lade euch ein, ihr könnt bei mir mitfahren.«
»Okay, einverstanden.«
»Ich hol das Auto und warte draußen auf euch.«
Mit lässiger Eleganz in den Knien federnd verschwand Rarlei Richtung Ausgang.
»Spinnt ihr?«, sagte Bê ärgerlich.
»Wieso denn?«, erwiderten die Mädchen einstimmig.
»Wollt ihr wirklich mit dem Typen zu einer Funk-Party fahren, mitten in einer Favela? Wir kennen ihn doch gar nicht. Vielleicht ist er ein Dealer!«
»Umso besser«, sagte Helena. »Dann traut sich keiner an uns ran.«
»Nee, also ich finde, das geht nicht, das können wir nicht machen.«
»Musst ja nicht mitkommen, dann fahren wir eben allein. Stell dir vor: Zwei hilflose Mädchen aus Rio-Süd unter lauter schlimmen Jungs.«
Manu kicherte, und Bê musste irgendwann einsehen, dass er außerstande war, seinen Begleiterinnen klarzumachen, weshalb ihr Vorhaben solche Ängste in ihm erzeugte. Angesichts der entschlossenen Miene der Mädchen gab er sich geschlagen und versuchte sich mit der Vorstellung abzufinden, dass er schon in wenigen Augenblicken im Auto dieses Rarlei sitzen und eine Favela ansteuern würde.
»Meinetwegen. Aber vorher muss ich noch mal auf Toilette.«