Haydon, Elizabeth Tochter des Feuers

Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michael Siefener

ISBN 978-3-492-98276-4

April 2016

© Elizabeth Haydon 2001

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Destiny«

© Piper Fahrenheit, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2004

Covergestaltung: Tanja Winkler

Covermotiv: Unsplash (Frau) und geralt (Feuer)

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivilund/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich Piper Fahrenheit nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Dieses Buch ist gewidmet: der anderen Hälfte meiner Seele, meinem Reisegefährten in die Ewigkeit,

meinem Mit-Elternteil, besten Freund, meiner Traumerfüllung und allgemein bevorzugten Person,

dem herzlosen Tölpel,

der einige meiner Lieblingsdialoge ausradiert hat,

der Stellen gestrichen hat, an denen ich sehr hart gearbeitet habe, der glaubt, »ja, ganz nett« sei das beste Kompliment,

der mit beiden Beinen auf dem Boden steht

und ohne den keines dieser Bücher existieren würde.

Für Bill in Liebe ewiglich

Die Prophezeiung der Drei

Die Drei werden kommen; früh brechen sie auf, spät treten sie in Erscheinung,

Die Lebensalter des Menschen:

Kind des Blutes, Kind der Erde, Kind des Himmels.

Ein jeder Mensch, entstanden im Blute und darin geboren,

Beschreitet die Erde, wird von ihr genährt, Greift zum Himmel und genießt seinen Schutz, Steigt indes erst am Ende seiner Lebenszeit zu ihm

auf und gesellt sich zu den Sternen. Blut schenkt Neubeginn, Erde Nahrung.

Der Himmel schenkt zu Lebzeiten Träume – im Tode die Ewigkeit.

So sollen sie sein, die Drei, einer zum anderen.

Die Prophezeiung des ungebetenen Gastes

Er geht als einer der Letzten und kommt als einer der Ersten,

Trachtet danach, aufgenommen zu werden, ungebeten, an neuem Ort.

Die Macht, die er gewinnt, indem er der Erste ist,

Ist verloren, wenn er als Letzter in Erscheinung tritt. Unwissend spenden die, die ihn aufnehmen,

ihm Nahrung,

In Lächeln gehüllt wie er, der Gast;

Doch im Geheimen wird die Vorratskammer vergiftet. Neid, geschützt vor seiner eigenen Macht –

Niemals hat, wer ihn aufnimmt, ihm Kinder geboren, und niemals wird dies geschehen,

Wie sehr er sich auch zu vermehren trachtet.

Die Prophezeiung des Schlafenden Kindes

Das Schlafende Kind, sie, die Jüngstgeborene, Lebt weiter in Träumen, doch weilt sie beim Tod, Der ihren Namen in sein Buch zu schreiben gebot, Und keiner beweint sie, die Auserkorene.

Die Mittlere, sie liegt und schlummert leise, Zwischen dem Himmel aus Wasser und

treibendem Sand,

Hält stille, geduldig, Hand auf Hand,

Bis zu dem Tag, an dem sie antritt die Reise.

Das älteste Kind ruht tief, tief drinnen

Im immer-stillen Schoß der Erden.

Noch nicht geboren, doch mit seinem Werden

Wird das Ende aller Zeit beginnen.

Die Prophezeiung des letzten Wächters

Im Innern des Kreises der Vier wird stehen ein

Kreis der Drei,

Kinder des Windes sie alle, und doch sind sie’s nicht, Der Jäger, der Nährer, der Heiler.

Furcht führt sie zueinander, Liebe hält sie zusammen, Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Höre, o Wächter, und besehe dein Schicksal: Der, welcher jagt, wird auch beschützen,

Der, welcher nährt, wird auch verlassen, Der, welcher heilt, wird auch töten,

Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Höre, o Letzter, auf den Wind:

Der Wind der Vergangenheit wird sie geleiten nach Haus

Der Wind der Erde wird sie tragen in die Sicherheit

Der Wind der Sterne wird singen das Mutterlied, das ihrer Seele am vertrautesten klingt,

Um das Kind vor dem Wind zu verbergen.

Von den Lippen des Schlafenden Kindes werden kommen Worte von höchster Weisheit:

Hüte dich vor dem Schlafwandler, Denn Blut wird das Mittel sein,

Um zu finden, was sich verbirgt vor dem Wind.

Die Prophezeiung des Soldatenkönigs

Bei dem Anbeginn jeden Lebens wird Blut zusammengeführt, doch auch vergossen; es teilt sich zu leicht, um den Riss zu heilen.

Die Erde teilen sich alle, doch geteilt ist auch sie, zwischen Vorfahr und Nachkomme.

Nur der Himmel umfasst alles, und der Himmel

ist nicht teilbar; daher ist er das Mittel, das Frieden und Einheit bringen wird.

Wenn du den Riss heilen willst, General, achte auf den Himmel, damit er nicht herniederfällt.

Zuerst musst du den Riss in deinem Innern heilen. Durch Gwylliams Tod bist nun du der König der Soldaten, doch erst wenn du den Niedrigsten deines Volkes gefunden hast und diesen Hilflosen beschützt, bist du würdig der Verzeihung. Und so sei es, bis du entweder erlöst wirst oder ohne Vergebung stirbst.

Der Ruf des Blutsverwandten

Beim Stern werde ich warten, werde ich beobachten, werde ich rufen und gehört werden.

Der Orden der Filiden

LLAURON, DER FÜRBITTER

Hauptpriester:

Khaddyr, Llaurons Tanist (Nachfolger) und Heiler

Lark, lirinsche Kräuterfrau

Gavin, Hauptwaldhüter

Ilyana, Vorsteherin der Landwirtschaft

Der Kreis (niedere Ebene der Priester und Förster)

Die patriarchische Religion Sepulvartas

SILINEUS, DER PATRIARCH

Die Segner:

Philabet Griswold, der Segner von Avonderre-Navarne

Nielash Mousa, der Segner von Sorbold

Lanacan Orlando, der Segner von Bethe Corbair Ian Steward, der Segner von Canderre-Yarim Colin Abernathy, der Segner der Neutralen Zone

Die Basiliken der Elemente: Äther: Lianta’ar, Sepulvarta Feuer: Vrackna, Bethania

Wasser: Abbat Mythlinis, Avonderre Luft: Ryles Cedelian, Bethe Corbair Erde: Terreanfor, Sorbold

FINALE

Am Rande der Krevensfelder

Die Zeit neigte sich dem Ende zu;
das wusste Meridion

Das siebeneinhalb Fuß große Ungeheuer im Kettenhemd warf den Kopf zurück, entblößte hauerähnliche Fänge und brüllte. Das Wutgeschrei hallte durch die Dunkelheit, die sich an die zahnähnlichen Felsspitzen schmiegte, und löste lockere Schieferplatten sowie Schneeschichten, die über eine Meile tief in die Schlucht stürzten.

Achmed die Schlange, der König der Firbolg, warf rasch einen Blick auf Rhapsody und Krinsel, die Hebamme, die ihnen bei den Reisevorbereitungen half. Dann wandte er sich wieder seinen eigenen Geschäften zu und grinste hinter seinem Gesichtsschleier über das Entsetzen in den großen grünen Augen der Sängerin.

»Worüber regt sich Grunthor denn so auf?«, fragte sie und reichte der Hebamme einen Beutel mit Wurzeln. Krinsel schnupperte daran und schüttelte den Kopf, worauf Rhapsody den Beutel wieder fortlegte.

»Anscheinend ist er mit dem Quartiermeister und dessen Regiment nicht einverstanden«, antwortete Achmed, als ein neuerlicher Strom von bolgischen Flüchen über die Heide toste.

»Ich glaube, er ist weit mehr beunruhigt über die Tatsache, dass er uns nicht begleiten kann«, meinte Rhapsody und betrachtete im grauen Licht der ersten Dämmerung mitfühlend die entsetzten Soldaten und ihren Anführer, der krampfhaft stillzustehen versuchte und unter der harten Standpauke des Majors erbebte. Die Hebamme reichte ihr eine Börse, und Rhapsody lächelte.

»Zweifellos, aber daran ist nichts zu ändern.« Achmed schnallte einen Lederbeutel zu und stopfte ihn in die Satteltasche. »Zum gegenwärtigen Zeitpunkt darf man die Bolglande nicht führerlos zurücklassen. Hast du alles, was du für die Entbindung benötigst?«

Das Lächeln der Sängerin wich einem ernsten Ausdruck.

»Vielen Dank, Krinsel. Mach’s gut, und kümmere dich bitte um meine Enkel, während ich fort bin, ja?« Die Bolg-Frau nickte, verneigte sich flüchtig vor dem König und verschwand dann durch einen der vielen Fluchttunnel des Kessels.

»Ich habe keine Ahnung, was ich für diese Entbindung brauchen werde«, sagte sie leise und mit einer Spur von Anspannung. »Ich habe noch nie ein Kind zur Welt gebracht, das von einem Dämon gezeugt wurde. Du etwa?«

Achmeds dunkle, ungleiche Augen starrten sie kurz unter dem Schleier hinweg an, dann schaute er beiseite und packte weiter seine Sachen zusammen. Rhapsody strich sich eine goldene Haarsträhne aus dem Gesicht, stieß die Luft aus und legte sanft eine Hand auf den Unterarm des Bolg-Königs. »Entschuldige meine Gereiztheit. Diese Reise bereitet mir große Sorgen.«

Achmed warf sich die mit Schnee bedeckte Satteltasche über die Schulter. »Ich weiß«, sagte er gleichmütig. »Das ist richtig so. Ich nehme an, wir sind hinsichtlich dieser Kinder immer noch einer Meinung? Du begreifst die Voraussetzungen, unter denen ich meine Hilfe gewähre?«

Rhapsody erwiderte sein durchdringendes Starren mit einem milden, aber ebenso entschlossenen Blick. »Ja.«

»Gut. Und jetzt sollten wir den Quartiermeister vor Grunthors Zorn retten.«

Der frisch gefallene Schnee des frühen Wintertages knirschte unter ihren Füßen, als sie über die Heide gingen. Rhapsody blieb kurz stehen, wandte sich vom westlichen Vorgebirge und der weiten Ebene der Krevensfelder ab und betrachtete den schwarzen östlichen Horizont hinter den Gipfeln der Zahnfelsen, deren gezackte Umrisse nun vom blassen Grau erhellt wurden.

Eine Stunde bis Sonnenaufgang, vielleicht weniger, dachte sie und versuchte zu schätzen, wann sie und Achmed sich trennen würden. Es war für sie wichtig, an einem Ort zu sein, wo sie die Morgendämmerung mit den rituellen Liedern der Liringlas, der Rassee ihrer Mutter, begrüßen konnte. Sie sog die klare, kalte Luft ein, atmete wieder aus und sah den gefrierenden Wölkchen im bitter kalten Wind nach.

»Achmed«, rief sie dem König zu, der etwa zwanzig Schritte vor ihr stand. Er wandte sich um und wartete schweigend, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Ich bin dir für deine Hilfe in dieser Angelegenheit wirklich dankbar.«

»Das brauchst du nicht zu sein, Rhapsody«, meinte er ernsthaft. »Ich will dir nicht dabei helfen, die Brut der F’dor vor der Verdammnis zu retten. Meine Beweggründe sind vollkommen selbstsüchtig. Das solltest du inzwischen wissen.«

»Wenn deine Beweggründe völlig selbstsüchtig wären, würdest du mich nicht auf dieser Suche begleiten, sondern allein gehen und sie zur Strecke bringen«, sagte sie und entwirrte den Riemen ihrer Tasche. »Ich schlage dir einen Handel vor: Ich behaupte nicht mehr, deine Beweggründe seien selbstlos, und du beharrst nicht mehr darauf, dass sie eigensüchtig sind. Einverstanden?«

»Ich bin mit allem einverstanden, wenn du dich nur beeilst und endlich zur Abreise bereit machst. Wenn wir nicht losziehen, bevor die Sonne hoch am Himmel steht, könnten wir gesehen werden.«

Sie nickte. Beide eilten über die Heide und hinunter zu den tiefer gelegenen Verteidigungsanlagen, in denen Grunthor und die Truppen des Quartiermeisters warteten.

»Ihr seid ’ne Schande für dieses Regiment, ihr alle!«, knurrte Grunthor gerade die zitternden Bolg-Soldaten an. »Noch ein falsch ausgeführter Befehl, und ich werd euch auspeitschen, in Scheiben schneiden und fürs Abendessen in Öl sieden – jeden Einzelnen von euch! Und du, Hagraith, du bist der Nachtisch!«

Achmed räusperte sich. »Sind die Pferde bereit, Sergeant-Major?«

»So bereit wie möglich«, brummte Grunthor. »Die Ausrüstung kommt auch gleich, sobald der Obergefreite Hagraith den Kopf aus dem Hintern nimmt, sich die Hrekin aus den Ohren puhlt und die zusammengerollten Verbände holt, die ich schon vor zwei Stunden verlangt habe!« Der Soldat rannte sofort los.

Rhapsody wartete in rücksichtsvollem Schweigen, bis Grunthor den Rest der Versorgungstruppen entlassen hatte, dann trat sie hinter ihn und schlang die Arme um seine ausladende Hüfte. Es war ein Gefühl, als umarmte sie einen ausgewachsenen Baum.

»Ich werde es vermissen, dass deine Truppen nicht mehr vor meinem Zimmer auf und ab marschieren und mich mit ihrem Gesang wecken«, sagte sie scherzhaft. »Die Morgendämmerung wird nicht mehr dieselbe sein, wenn so schöne Choräle wie ›Und kein Knochen bleibt ungebrochen‹ fehlen.«

Auf dem ledrigen Gesicht des Riesen machte sich ein entspanntes Lächeln breit. »Also, du könntest doch für immer hier bleiben«, meinte er und betrachtete nachdenklich ihre schimmernden Locken.

Wenn er sie so ansah, erstaunte es ihn immer wieder, wie sehr sie dem Großen Feuer glich, das sie auf jener Reise vor so langer Zeit zusammen durchschritten hatten. Als sie an den Wurzeln der Sagia, des Weltenbaumes, entlanggekrochen waren, die sich um den inneren Kreis der Erde wanden, hatte er gelernt, vor dieser kleinen Frau Hochachtung zu haben, obwohl seine eigene Rasse die ihre in der alten Welt als Beute gejagt hatte.

Rhapsody seufzte. »Wie gern ich das täte.« Sie sah, wie sich seine bernsteinfarbenen Augen traurig verdunkelten. »Wirst du zurechtkommen, Grunthor?«

Ein scharfer Laut der Verärgerung ertönte hinter ihrer Schulter. »Den Berg zu bewachen ist ein Kinderspiel für Grunthor.«

»Überhaupt nich. Ich erinner mich kaum an Kinderspiele. Aber das hier gefällt mir ganz und gar nich«, murmelte der Firbolg-Riese und verzog das Angst einflößende Gesicht zu einer schrecklichen Grimasse. »Wir hätten dich fast schon mal an ’n Bastardkind von so einem Dämon verloren. Ich will nich, dass du dein Leben – oder dein Nachleben – wieder aufs Spiel setzt, Herzchen. Ich wünschte, du würdest dir’s noch mal überlegen.«

Sie klopfte ihm auf den Arm. »Das kann ich nicht. Wir müssen es tun; es ist der einzige Weg, das Blut zu bekommen, das Achmed braucht, um den Wirt des F’dor aufzuspüren.«

»Er muss es vielleicht tun«, sagte Grunthor. »Aber kein Grund für dich mitzugehn, Gräfin. Seine Hoheit arbeitet sowieso am besten allein. Wir haben schon Jo verloren, und ich seh keinen Grund, warum wir dich auch noch verlieren sollten.«

Als Grunthor den Tod des Straßenkindes erwähnte, das sie als Schwester adoptiert hatte, brannten Rhapsody die Augen, doch sie zeigte keine äußerlichen Anzeichen von Trauer. Sie hatte Jos letztes Grablied erst vor wenigen Tagen zusammen mit den Totenklagen für all die anderen gesungen, die sie ebenfalls verloren hatten. So schluckte sie eine bittere Antwort herunter, denn sie erinnerte sich daran, dass Grunthor Jo beinahe so sehr geliebt hatte wie sie selbst.

»Jo war kaum mehr als ein Kind. Ich hingegen bin eine von den besten Kämpfern ausgebildete Kriegerin. Ich kann mich selbst verteidigen. Außerdem bist du ja die höchste Obrigkeit, der unter allen Umständen zu gehorchen ist. Befehle mir doch einfach zu überleben, dann muss ich es wohl tun. Ich würde es niemals wagen, deinen Zorn heraufzubeschwören, indem ich entgegen deinem Befehl sterbe.«

Grunthor ergab sich mit einem Lächeln. »In Ordnung, sieh es als Befehl an, Herzchen.« Er drückte sie gefühlvoll mit seinen gewaltigen Armen. »Pass auf dich auf, Hoheit.«

»Das werde ich.« Rhapsody sah hinüber zu Achmed, der die Sättel an den Pferden festschnallte, die Grunthor für sie hatte bereitstellen lassen. »Bist du so weit, Achmed?«

»Bevor wir aufbrechen, solltest du noch etwas sehen«, antwortete der König, während er die Schnallen überprüfte.

»Wie bitte? Wolltest du nicht vor Sonnenaufgang losreiten?«

»Es wird nur wenige Augenblicke dauern, doch es ist jede Verzögerung wert. Ich möchte die Dämmerung im Observatorium verbringen.«

Freude huschte über ihr Gesicht, das nun so hell strahlte, wie es bald die Sonne tun würde. »Im Observatorium? Sind die Arbeiten an der Treppe beendet?«

»Ja. Und wenn du dich beeilst, können wir uns einen Überblick über die Inneren Zahnfelsen und die Krevensfelder verschaffen, bevor wir sie bereisen.« Er drehte sich um und deutete auf den Eingang zum Kessel, jenes dunkle Netz aus Tunneln, Kasernen und Staatsgemächern, das Sitz seiner Macht in Ylorc war.

Rhapsody drückte Grunthor ein letztes Mal, befreite sich sanft aus seiner Umarmung und folgte dem König durch die düsteren, fensterlosen Hallen und an den alten Statuen vorbei, die nun von bolgischen Kunsthandwerkern gesäubert und in ihrer alten Pracht wieder hergestellt wurden. Sie waren über eintausenddreihundert Jahre alt und stammten aus dem cymrischen Zeitalter, in dem Ylorc, das damalige Canrif, erbaut worden war.

Sie betraten die Große Halle durch ausladende Doppeltüren, die aus Gold bestanden und mit verschlungenen Symbolen verziert waren, und durchquerten den weiten Thronsaal, in dem bolgische Steinmetzen vorsichtig den Schmutz der Jahrhunderte von dem blauschwarzen Marmor der vierundzwanzig Säulen entfernten, welche die Stunden des Tages darstellten.

»Die Restaurierungen machen gute Fortschritte«, bemerkte Rhapsody, als sie durch die Flecken aus staubig-grauem Licht eilten, die aus Glasblöcken fielen, welche vor vielen Jahrhunderten in die runde Decke eingelassen worden waren und nicht nur für Beleuchtung sorgten, sondern auch den Blick nach oben auf die Inneren Zahnfelsen freigaben. »Als ich das letzte Mal hier war, bestand dieser Ort nur aus Schutt.«

Achmed umrundete ein gewaltiges, sternenförmiges Mosaik im Boden; es war das letzte einer Reihe von Abbildern des Himmels aus vielfarbigem Marmor, das durch den Staub von den Bauarbeiten nur verschwommen sichtbar war. »Pass hier gut auf. Wenn ich mich recht erinnere, bist du beim letzten Mal an dieser Stelle von einer Vision überwältigt worden.« Rhapsody erzitterte und ging schneller. Die Gabe des Vorhersehens besaß sie, so lange sie sich erinnern konnte. Doch jedes Mal, wenn sie von einer Erinnerung heimgesucht wurde, die nicht ihre eigene war, wenn ihr eine Vision etwas über die Vergangenheit offenbarte oder – schlimmer noch – sie vor der Zukunft warnte, erwischte es sie unvorbereitet. Dann blieb ihr nichts anderes, als die intensiven Gefühle zu durchleben, die am Ort zurückgeblieben waren wie die qualmenden Überreste eines lange erloschenen Waldbrandes.

Auch ihre nächtlichen Albträume quälten sie wieder, denn nun war Ashe nicht mehr da, der sie regelmäßig vertrieben hatte. Bei dem Gedanken spürte Rhapsody, wie ihr Hals trocken wurde. Sie bezwang die Erinnerung an ihren früheren Liebhaber, indem sie noch schneller lief. Ihre gemeinsame Zeit war vorbei. Er hatte seine eigenen Pflichten, von denen die wichtigste darin bestand, die cymrische Frau aus der Ersten Generation zu finden und sie zu heiraten, damit sie mit ihm herrschen konnte, wie der Ring der Weisheit es vorgesehen hatte. Sie hatten beide von Anfang an gewusst, dass ihre Beziehung nur von kurzer Dauer sein würde, doch dieses Wissen hatte das Ende nicht weniger schmerzhaft gemacht.

Achmed war durch eine offene Tür hinter der Empore verschwunden, auf der die Throne des Herrn und der Herrin der Cymrer standen. Bei diesen Sitzen handelte es sich um zwei der wenigen Altertümer, welche die Plünderungen Canrifs durch die Bolg am Ende des cymrischen Krieges überlebt hatten.

»Beeil dich«, hallte Achmeds Stimme durch den kreisrunden Saal.

»Ich laufe so schnell ich kann«, gab Rhapsody zurück, während sie durch die Tür huschte. »Du bist einen Kopf größer als ich, Achmed, und du machst längere Schritte.« Dann verstummte sie und bewunderte die Schönheit der wieder hergestellten Treppe zum Observatorium hoch oben in einem der Gipfel der Zahnfelsen.

An der einen Seite des Raumes wand sich eine Wendeltreppe aus poliertem dunklem Holz mit einer leichten Blautönung in vielen Drehungen hoch zu dem Turm über ihnen empor. An der anderen Seite stand ein seltsamer Apparat auf dem Boden, an dem offenbar noch gearbeitet wurde. Er glich einem kleinen, sechseckigen Zimmer mit Glaswänden.

»Das ist eine Art von senkrecht fahrendem Förderwagen, so wie wir sie in den Minenschächten benutzen«, erklärte Achmed, der ihre Gedanken gelesen hatte. »Eine weitere von Gwylliams Erfindungen. Er hat genaue Pläne für die Errichtung und Wartung gezeichnet. Anscheinend hat er damit Höflinge und ähnliche Leute befördert, die zu bequem waren, um die Stufen zu ersteigen. Ein pfiffiges Gerät.«

»Bemerkenswert. Ich gehe trotzdem lieber zu Fuß, selbst wenn es bereits einsatzbereit wäre. Mir gefällt die Vorstellung nicht, in einem Glaszimmer über einem Steinboden zu schweben.«

Achmed verbarg ein Grinsen. »Wie du willst.«

Sie erkletterten die polierte Treppe und stiegen immer höher in den hohlen Berggipfel hinein. Als sie sich der Spitze näherten, griff Achmed in seinen Stiefel und zog einen großen Messingschlüssel hervor. Rhapsody warf einen Blick über das Geländer auf den fernen Fußboden und erbebte leicht.

»Ich bin durchaus beeindruckt von deinen Neuerungen, Achmed, aber warum konnten wir mit dieser Besichtigung nicht bis zu unserer Rückkehr warten? Der Blick über die Krevensfelder ist auch von der Heide oder vom Turm der Hohen Warte aus sehr schön. Aber dann wären wir wenigstens schon in westlicher Richtung unterwegs.«

Der König der Firbolg steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte ihn mit einem hörbaren Klicken herum. »Vom Observatorium aus kannst du etwas sehen, was dir auf der Heide oder dem Turm der Hohen Warte entgeht.«

Die schwere, von stark verrostetem Eisen gehaltene Tür schwang knarrend an den kürzlich geölten Scharnieren auf und gab den Blick in einen überwölbten Raum frei. Rhapsody hielt den Atem an. Das Observatorium war noch nicht restauriert worden. Weiße, mit dicken Staubschichten überzogene Decken waren über Möbel und andere frei im Raum stehende Gegenstände gebreitet. Sie schimmerten im ungewissen Licht des Zimmers wie Geister in der Dunkelheit.

Achmeds starke Hand packte ihren Arm; er zog sie in den Raum und schloss rasch die Tür hinter ihnen.

Der Raum war rechteckig; seine Decke wölbte sich zu einer Kuppel, die von Strebepfeilern gehalten wurde. Sie war in die Spitze des Berggipfels eingelassen; die Wände waren so blank und glatt wie Marmor. In jeder der vier Wände steckte ein großes Fenster – verschlossen, von der Zeit selbst vergessen. Uralte, seltsame Fernrohre mit großen Okularen standen vor jedem Fenster. Magie und Geschichte hingen erstarrt in der Luft dieses so lange verschlossen gewesenen Raumes. Sie hatte einen bitteren Geschmack, einen Geschmack nach Staub aus der Krypta, nach leuchtender Hoffnung, die so lange schon verweht war.

Rhapsody überblickte rasch den Rest des Raumes: Regale mit alten Tagebüchern und Karten, verschlungene Fresken in den Deckengevierten, welche die vier Elemente Wasser, Luft, Feuer und Erde in jeder Richtung darstellten, während das fünfte Element, der Äther, durch eine Kugel symbolisiert wurde, die vom Schlussstein herabhing. Rhapsody hätte den Raum gern eingehend untersucht, doch Achmed stand vor dem westlichen Fenster und machte eine ungeduldige Handbewegung.

»Hier«, sagte er und deutete auf den gewaltigen Horizont, der sich unter ihnen in alle Richtungen ausdehnte. »Sieh dir das an.«

Sie trat vor das Fenster und blickte nach draußen auf das Land, das im ersten Licht des Tages erwachte. Diese Aussicht war großartiger als alles, was sie bisher erblickt hatte. Hier, im höchsten Gipfel der Zahnfelsen, fühlte sie sich, als schwebte sie in der Luft hoch über den wispernden Wolken, mit der ganzen Welt buchstäblich zu ihren Füßen. Kein Wunder, dass sich die Cymrer für Götter gehalten haben, dachte sie ehrfürchtig. Sie standen im Himmel und schauten durch das Werk ihrer eigenen Hände auf die Erde hinab. Es muss ein sehr tiefer Sturz gewesen sein.

Einst hatte dieses Observatorium über Canrif geblickt, das Wunder seiner Zeit, ein Königreich aller Rassen, aus den erbarmungslosen Bergen herausgemeißelt durch den schieren Willen des cymrischen Herrschers Gwylliam, den man bisweilen einen Visionär genannt, doch in jüngerer Zeit mit weniger schmeichelhaften Bezeichnungen bedacht hatte. Nun, Jahrhunderte nach dem Krieg, in dem sich die Cymrer selbst und ihre Herrschaft über den Kontinent zerstört hatten, waren ihre alten Bergstädte, ihre Observatorien und Bibliotheken, Grüfte und Vorratsräume, Paläste und Straßen Eigentum der Bolg geworden, der Abkömmlinge der plündernden Stämme, die Canrif gegen Ende des blutigen cymrischen Krieges überrannt hatten.

Das graue Licht des frühen Morgens glättete das Panorama der Zahnfelsen zu dichten Lagen aus Halbdunkel. Wenn die Sonne höher stieg, würde sie eine atemberaubende Landschaft beleuchten, in unzähligen Spitzen und Ritzen glimmern, ihr Licht über die zahlreichen Schluchten und Hochwälder sowie die Ruinen der alten Stadt Canrif ergießen – über die gewaltigen Gebäude einer Zivilisation, die aus dem Antlitz der vielfarbigen Berge herausgemeißelt worden war. Nun aber, in den letzten Augenblicken der Nacht, erschienen die zerklüfteten Gipfel flach und stumpf, schweigend und tot vor dem Angesicht der Welt.

Rhapsody beobachtete, wie die ersten zögernden Strahlen der Morgensonne die schwarze Gruft der Nacht zerbrachen und einige der Gipfel mit ihrem reinsten Licht beschenkte – einem Licht, in dem die ewigen Eiskappen auf den Spitzen der Zahnfelsen hoffnungsvoll erglühten. Eine bemerkenswerte Metapher für die Bolg, dachte sie.

Die Bewohner der angrenzenden Reiche erachteten diese primitive Kultur als monströs und nur halb-menschlich. Die Bolg waren für sie nichts weiter als ein verstreuter Schwarm von kannibalischen Jägern, welche die Berge durchstreiften und jedes lebende Wesen zur Beute nahmen. Sie hatte diesen Legenden selbst einmal Glauben geschenkt, vor langer Zeit, bevor sie auf Grunthor und Achmed gestoßen war, der aufgrund seiner Abstammung ein halber Bolg war.

Nun sah sie die Bolg, wie sie wirklich waren. Die Neigungen, um deretwillen man sie fürchtete, entbehrten nicht unbedingt jeder Wahrheit. Bolg waren grimmig und kriegerisch, und wenn sie keinen starken Anführer hatten, waren sie bei den Mitteln, die ihnen das Überleben sicherten, nicht wählerisch, was auch den Verzehr von menschlichem Fleisch einschloss. Aber inzwischen, da sie unter einem solch starken König lebten, bewunderte Rhapsody diese einfache Rasse, diese primitiven Überlebenden, diese von Natur und Menschheit Ausgestoßenen, die sich auch unter den härtesten Bedingungen ihre Werte und Legenden bewahrt hatten.

Es war ein schlichtes Volk, schön und einfach in seiner Handlungsweise, jedem Selbstmitleid abhold und zielstrebig in der Erhaltung ihrer Gesellschaft. Während blutende Krieger unbeachtet auf dem Schlachtfeld lagen und an nicht tödlichen Wunden starben, wurde alle ärztliche Aufmerksamkeit den gebärenden Frauen geschenkt, weil man der Ansicht war, dass Kinder die Zukunft bedeuteten, während der Soldat lediglich die Gegenwart darstellte. Alles, was sich auf die Vergangenheit bezog, war unwesentlich mit Ausnahme einiger Geschichten und all jener Dinge, die für den alles umfassenden Überlebenswillen notwendig waren.

Die ersten langen Sonnenstrahlen stiegen über den Horizont. Das dünne Schneetuch der Krevensfelder glitzerte wie ein diamantenes Meer. Das Licht wurde vom heller werdenden Himmel zurückgeworfen und enthüllte die vielen Gebirgszüge in all ihrer Schönheit. Silberne Bäche ergossen sich wie Bänder über das Antlitz der Hänge in den Strom tief unten am Boden der Schlucht. Der Anblick der Dämmerung über den Zahnfelsen benahm Rhapsody regelmäßig den Atem.

Leise begann sie mit ihrer Aubade, dem Liebeslied an die aufgehende Sonne, das seit Anbeginn der Zeit von den Liringlas in der Morgendämmerung angestimmt wurde. Die Melodie pulsierte gegen das Fenster, schwebte durch die frostige Luft hinter dem Glas und verwehte dann im Wind, als wäre sie gleich Flachs über die weiten Felder und Hügel unter ihr ausgestreut worden.

Als ihr Lied endete, spürte sie Achmeds Hand auf der Schulter.

»Schließ die Augen«, sagte er ruhig. Rhapsody gehorchte. Sie lauschte der Stille der Berge und dem Gesang des Windes, der über das Gestein hinwegtanzte. Achmed nahm die Hand von ihrer Schulter. Sie wartete darauf, dass er weitersprach, doch er sagte nichts mehr.

»Nun?«, fragte sie. Als auch darauf keine Antwort kam, klang ihre Stimme gereizt. »Achmed?«

Als sie immer noch nichts hörte, öffnete Rhapsody die Augen. Die Verärgerung, die ihr die Wangen gerötet hatte, verschwand beim Anblick des Grauens im Tal unter ihr.

Die ganze Weite der Krevensfelder, die sanft gewellte Steppe, die vom Fuß der Zahnfelsen nach Westen durch die Provinz von Bethe Corbair bis nach Bethania reichte, ertrank in Wellen aus Blut. Die rote Flut stieg im Tal drunten und schlug wie eine aufgewühlte Blutsee gegen die Felsen des Vorgebirges, das die Berge umschloss.

Rhapsody keuchte und schaute hoch zu den Bergen. Die glitzernden Wasserfälle, welche die Bergflanken durchfurchten, waren ebenfalls rot; es regnete blutige Tränen auf die Heide und die Schlucht tief unten. Mit zitternden Händen griff sie nach dem Fenstersims und schloss wieder die Augen.

Sie wusste, dass es nur eine Vision war. Die Gabe des Vorhersehens hatte sie schon gehabt, bevor sie und die beiden Bolg die alte Welt verlassen hatten und an diesen neuen und rätselhaften Ort gelangt waren, wo die Geschichte ein Lobgesang auf großes Trachten und Streben war, das durch böswillige Dummheit vernichtet wurde.

Sie wusste jedoch nicht, was diese Vision bedeutete – ob sie ihr die Vergangenheit oder, was noch schrecklicher wäre, die Zukunft zeigte.

Langsam schlug sie wieder die Augen auf. Das Tal war nicht mehr rot, sondern grau wie nach einem verheerenden Feuer.

Aber jetzt sah sie statt der weiten Ebene, die sich noch vor wenigen Herzschlägen dort unten erstreckt hatte, das hügelige Ackerland, das eigentlich eine halbe Welt entfernt von hier lag. Es waren die weiten Weiden von Serendair, wo sie geboren worden war. Es war ein Ort aus ihrer Jugend, den sie die Flickendecke genannt hatte.

Die Wiesen und Dörfer aus ihrer Kindheit waren verbrannt, das Weideland schwelte, die Gehöfte und Stallungen lagen in Schutt und Asche. Alles war dem Erdboden gleich gemacht, und Schlacke erstreckte sich von den Zahnfelsen bis zum Horizont. Das war der Anblick, den sie in vielen Träumen gesehen hatte – in Albträumen, die bereits genau so lange ihr Fluch waren, wie das Vorhersehen eine Gabe gewesen war. Rhapsody erbebte. Sie wusste aus Erfahrung, was als Nächstes kam.

Sie spürte große Hitze um sich und hörte das Knistern von Flammen. Dieses Feuer war nicht das warme und reine Element, durch das sie und ihre Gefährten während der Reise durch das Erdinnere auf dem Weg hierher geschritten waren. Es war ein dunkles, gefräßiges Inferno, das Zeichen des F’dor, des Dämons, den sie jagten und der zweifellos auch sie jagte.

Die Wände und Fenster des Observatoriums waren verschwunden. Nun stand sie in einem Dorf oder Feldlager, das von schwarzem Feuer verzehrt wurde, während Soldaten durch die Straßen ritten und jeden töteten, dem sie begegneten. Ein Crescendo aus Schreien erfüllte ihre Ohren. In der Ferne sah sie am Ende des Horizonts rot umrandete Augen, die sie inmitten des jammernden Todeschores stumm angrinsten.

Im Donner der Pferdehufe drehte sie sich um, wie sie es immer in diesem Traum tat. Er war da, unwandelbar, der blutbespritzte Krieger auf dem wütenden Ross, der mit leblosem Blick auf sie zuritt.

Rhapsody blickte hoch in die vom Rauch verpestete Luft. Wie immer in diesem Teil des Traumes wurde sie von der Klaue eines großen, kupfernen Drachens in die Luft gehoben, der plötzlich in den schwarzen Wolken erschien und sie rettete.

Doch jetzt befand sich über ihr nichts außer dem ungeteilten Himmel aus wogenden schwarzen Wolken und Schauern flammender Funken in der rußigen Luft.

Der donnernde Lärm wurde lauter. Rhapsody drehte sich wieder um.

Der Reiter war über ihr.

Er hielt ein zerbrochenes Schwert in der Hand, von dem Blut und schwarzes Feuer heruntertropfte. Er hob es über den Kopf.

Mit großer Schnelligkeit, die sie von Oelendra, der lirinschen Kampfmeisterin gelernt hatte, zog Rhapsody die Tagessternfanfare, das Schwert des Feuers und ätherischen Lichts, das sie als Iliachenva’ar trug. Noch während sie einatmete, lag es schon in ihrer Hand, und als sie die Luft ausstieß, schlug sie die flammende Klinge gegen die Brust des Kriegers und warf ihn von seinem Schlachtross. Blut, das wie Säure dampfte, spritzte ihr auf die Stirn und brannte ihr in den Augen.

Bebend erhob sich der Krieger und hielt seine triefende Waffe aufrecht. Die Zeit verlangsamte sich, als er auf sie zu wankte. Eine große, klaffende Wunde teilte seinen Brustkorb. In den Augenhöhlen war nichts außer Dunkelheit.

Rhapsody holte tief Luft und zwang sich zur Ruhe. Sie berechnete die Bahn seines Angriffs. Als dieser mit qualvoller Langsamkeit erfolgte, sprang sie aus dem Weg. Ihre Glieder fühlten sich an, als wären sie aus Marmor. Mit großer Anstrengung hob sie die Arme, zielte mit der Tagessternfanfare auf die Nackennaht in der Rüstung des Mannes und schlug zu. Der Lichtblitz, der so hell wie ein berstender Stern war, zeigte die hergestellte Verbindung an.

Eine Fontäne dampfenden Blutes schoss in den Himmel, benetzte sie erneut und ätzte ihre Haut. Der Hals des Kriegers zuckte schrecklich, dann rollte der Kopf nach vorn, trennte sich vom zerfetzten Fleisch der Schultern und fiel vor ihren Füßen zu Boden. Die blicklosen Augen starrten sie an; in ihnen sah Rhapsody winzige Flammen, die schnell erstarben.

Rhapsody stand nach vorn gebeugt und keuchend da und stützte die Hände auf den Knien ab. Im Licht der Tagessternfanfare beobachtete sie, wie der kopflose Rumpf zur Seite schwankte und umzukippen drohte.

Während sie ihn ansah, richtete er sich plötzlich wieder auf. Der Rumpf drehte sich ihr mit dem Schwert in der Hand erneut zu und ging ihr entgegen. Als er das Schwert hob, hörte sie Achmeds Stimme aus weiter Ferne, als riefe er ihr von der anderen Seite der Zeit etwas zu.

Rhapsody.

Sie wandte sich um und sah, dass er hinter ihr stand und sie aus dem Inneren des Observatoriums anstarrte. Dann warf sie rasch wieder einen Blick über die Schulter.

Der kopflose Soldat war verschwunden. Nichts von ihrer Vision war geblieben.

Sie stieß den angehaltenen Atem aus und legte die Hand gegen die Stirn. Einen Augenblick später stand der König der Firbolg neben ihr.

»Was hast du gesehen?«

»Es geht mir gut, vielen Dank, es geht mir wirklich gut«, murmelte sie leise. Sie war zu erschöpft für Sarkasmus.

Achmed packte sie bei den Schultern und schüttelte sie heftig. »Bei allen Göttern, sag es mir«, zischte er. »Was hast du gesehen?«

Rhapsody verengte die Augen zu smaragdenen Schlitzen.

»Du hast das absichtlich getan, nicht wahr? Du hast mich hier hinauf geführt, an diesen Ort, der voller Magie und alter Erinnerungen steckt, damit er in mir eine Vision entzündet, oder etwa nicht? Das hast du gemeint, als du gesagt hast, ich könnte hier etwas sehen, was ich von der Heide oder der Hohen Warte aus nicht erkennen kann. Du hinterhältiger Bastard!«

»Ich muss wissen, was du gesehen hast«, sagte er ungeduldig. »Das hier ist der höchste Aussichtpunkt in den Zahnfelsen und der beste Ort, um einen bevorstehenden Angriff frühzeitig zu erkennen. Und es wird ein Angriff erfolgen, Rhapsody. Ich weiß es, und du weißt es auch. Ich muss wissen, aus welcher Richtung er kommt.« Seine unnatürlich kräftigen Hände packten noch ein wenig fester zu.

Rhapsody drückte sie fort und entwand sich seinem Griff.

»Ich bin nicht deine persönliche Sklavin. Beim nächsten Mal fragst du mich vorher. Du hast keine Vorstellung, was mich diese Visionen kosten.«

»Ich weiß, dass es ohne sie dein Leben kosten wird – mindestens«, knurrte Achmed. »Natürlich nur, wenn du Glück hast. Aber die anderen Möglichkeiten sind wahrscheinlicher und weitaus schlimmer. Und weitaus üblicher. Hör endlich auf, dich wie ein verdrießlicher Balg zu benehmen, und sag mir, was ich wissen muss. Aus welcher Richtung erfolgt der Angriff?«

Rhapsody sah wieder aus dem Fenster auf die glitzernde Ebene und die Berge, die im Licht der Morgendämmerung zu rosigem Leben erwachten. Einen Augenblick stand sie schweigend da, atmete die frostige Luft ein und lauschte der Stille, die nur von dem gelegentlichen Jammern des bitteren Windes durchbrochen wurde, der immer kälter wurde.

»Überall«, sagte sie. »Der Angriff erfolgt von überall her.«

Von seinem hohen Beobachtungspunkt in der Zukunft aus starrte Meridion voller Abscheu auf die Personen in dem runden, gläsernen Observatorium zwischen den Fäden der Zeit, mit deren Hilfe er die Geschichte dieses Ortes in der Hoffnung verändert hatte, sie würden den feurigen Tod abwenden, der nun die Überreste der Erde verzehrte.

Er ließ den Kopf auf die Instrumententafel des Zeit-Editors sinken und weinte.

Das Licht ergoss sich über die ganze Weite der Krevensfelder, als Achmed und Rhapsody aufbrachen. Sie trugen Umhänge, Handschuhe und Kapuzen und ritten auf den Pferden, die Grunthor für sie ausgewählt hatte, durch das dünne Schneetreiben, das mit dem Morgenwind eingesetzt hatte.

Der Weg, der vom Vorgebirge hinab in die Steppe führte, war steinig und erlaubte nur ein langsames Fortkommen. Rhapsody betrachtete nachdenklich den Himmel; ihre Gedanken waren nun dunkler als in der Stunde vor Tagesanbruch. Es war nicht zu übersehen, dass sie still und grüblerisch geworden war, und schließlich unterbrach Achmed das Schweigen.

»Was beunruhigt dich?«

Rhapsody wandte ihm ihren smaragdenen Blick zu. Ihr Gang durch das reine Feuer im Inneren der Erde hatte dazu geführt, dass sie dieses Element in sich einsaugte und auf eine hypnotische Weise anziehend geworden war, genau wie das Element selbst. Wenn sie erregt war, war sie atemberaubend; wenn eine Unterströmung von Sorge in ihren Zügen lag, war sie vollkommen bezaubernd. Achmed stieß vernehmlich die Luft aus. Es nahte die Zeit, wo seine Theorie über die Macht ihrer Schönheit einer Überprüfung unterzogen werden würde.

»Glaubst du, dem Erdenkind wird es gut gehen, so lange wir weg sind?«, fragte sie.

Achmed schaute in ihr sorgenvolles Gesicht und dachte ernsthaft über diese Frage nach.

»Ja«, sagte er nach einem Augenblick. »Der Tunnel zum Loritorium ist fertig, und die anderen Eingänge sind versiegelt. So lange ich fort bin, zieht Grunthor aus der Kaserne in meine Gemächer und bewacht den Eingang.«

»Gut«, meinte Rhapsody. Sie hatte in der Dunkelheit des frühen Morgens vor dem Tunneleingang gestanden und dem Schlafenden Kind, dem seltenen und wunderbaren Geschöpf aus Lebendigem Gestein, das auf ewig in den Grüften meilentief unter Achmeds Gemächern schlummerte, ein Lied gesungen. Es war ihr schwer gefallen, die Stimme ruhig zu halten, denn sie wusste, dass der F’dor, nach dem sie suchten, seinerseits auf der Suche nach dem Kind war.

Lass das, was in der Erde ruhtt, ungestört schlafen, hatte der dhrakische Weise gesagt. Sein Erwachen kündet von ewiger Nacht. Von allem, was sie während ihrer Zeit in dieser neuen Welt gelernt hatte, ängstigte sie am meisten der Umstand, dass solche Prophezeiungen meist mehr als nur eine Bedeutung hatten.

Yarim, dachte sie traurig, warum musste die erste Dämonenbrut in Yarim stecken? Diese Provinz lag im Nordwesten, an der dem Wetter abgewandten Talseite der unfruchtbaren Ebene, die an die nördlichen Zahnfelsen grenzte. Sie war früher einmal mit Ashe in der verkommenen, verfallenden Stadt gewesen und hatte in dem untergehenden Tempel Manwyns, der Seherin der Zukunft, nach Antworten gesucht. Diese Antworten hatten sie zu der Reise veranlasst, die sie nun unternahmen. Rhapsody schüttelte den Kopf, um die Erinnerung an das irre Lachen der Wahnsinnigen zu vertreiben.

»Bist du bereit?« Achmeds Stimme zerschmetterte ihre Gedanken.

Rhapsody sah sich um. Sie hatten die Steppe und das felsige Land am Fuß der Berge erreicht. Sie streichelte ihr Pferd.

»Ja«, sagte sie. »Bringen wir es hinter uns.«

Gemeinsam trieben sie ihre Pferde zu einem gleichmäßigen Galopp an. Sie schauten nicht zurück, als die vielfarbigen Gipfel ihrer Bergheimat hinter ihnen wie eine Erinnerung verblassten.

In den Schatten des Grivven, eines der höchsten Berge der Zahnfelsen und des westlichsten militärischen Außenpostens, folgten vier Bolg-Augenpaare, Nachtaugen einer Rasse, die sich aus den Höhlen erhoben hatte, den Pferden, bis diese die Steppe durchquert hatten und in der gewaltigen Weite des orlandischen Plateaus verschwunden waren.

Als der Bolg-König nicht mehr zu sehen war, wandte sich einer der Bolg an die anderen und nickte bedächtig. Die vier Männer tauschten einen letzten Blick und verschwanden dann in vier verschiedene Richtungen in den Bergen.

Auch Meridion beobachtete sie und kämpfte darum, seine Verzweiflung im Zaum zu halten. Das Licht aus dem Zeit-Editor, der nun schlummernden Maschine vor ihm, ergoss sich über die Glaswände seines runden Turmes, der zwischen den Sternen hing. Unten wurde es dunkel in der Welt; das schwarze Feuer, das sie verzehrte, hatte beinahe das Landende erreicht.

Bald würde es auch ihn verschlingen. Angesichts der übrigen Zerstörungen aber bedeutete das kaum etwas.

Er lehnte sich zurück gegen das Vibrationsfeld, das von seinem Namenslied erzeugt wurde und nun wie ein gepolsterter

Sessel geformt war. Er faltete die Hände und versuchte Ruhe zu bewahren. Überall um ihn herum glühten die Lichter seines Laboratoriums einsatzbereit.

Meridion seufzte. Er konnte nichts mehr tun. Er streckte die Hand aus und legte den Schalter um, der das blendende Licht aus der Kraftquelle der Maschine von dem Hauptstrang des Editors abschnitt. Mehr nicht.

In der neuen Dunkelheit sah er nur noch den Bildschirm und die geisterhaften Projektionen der letzten Stränge des Zeitfilms, die er zusammengebunden hatte, wobei er Fäden aus der Vergangenheit benutzt hatte. Er hatte sie gespalten und gehofft, er könne das Unheil abwenden, das hinter ihm lauerte. Angesichts des heraufziehenden Albtraums war ihm nie der Gedanke gekommen, dass seine Lösung noch schlimmer sein könnte als das ursprüngliche Problem.

Woher hätte ich es wissen sollen?, dachte er. Der Untergang der Erde in Blut und schwarzem Feuer war ihm absolut und schrecklicher als jedes andere Schicksal erschienen. Es war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Pfade, die er eingeschlagen hatte, zu einer noch größeren Verwüstung führen mochten, die gar den Tod überdauern und bis in die Ewigkeit hineinreichen konnte.

Bitte, flüsterte er still. Öffne die Augen und schaue. Bitte. Während er zusah, wurde der Zeitstrang trübe und wechselte von der Vergangenheit in die Gegenwart. Bald würde es die Zukunft sein. Was immer geschah, er konnte nichts mehr dagegen unternehmen; der Faden würde nie wieder so fest sein, dass er veränderbar war.

Meridion lehnte sich in den summenden Sessel zurück, schloss die Augen und wartete.

Bitte

1

YARIM PAAR, PROVINZ YARIM