001_Canetti_Blendung_BS_U1_FIN.jpg

 

 

 

 

 

Über das Buch

Der weltweite Ruhm dieses erstaunlichen Romans eines Sechsundzwanzigjährigen kam spät – obwohl er von Thomas Mann, Hermann Hesse und anderen in seiner Bedeutung sogleich erkannt und enthusiastisch begrüßt worden war. Heute steht fest, dass Die Blendung zu den großen Werken der europäischen Literatur des 20. Jahrhunderts gehört: Halb Höllenbild, halb Weltgericht, schildert der Roman die Tragödie des verblendeten Geistes, der geblendeten Gesellschaft, der Menschen in ihrer Verführbarkeit und Brutalität.

 

HanserLogo

 

Hanser E-Book

 

 

Elias Canetti

Die Blendung

Roman

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

Erster Teil

Ein Kopf ohne Welt

Der Spaziergang

Das Geheimnis

Konfuzius, ein Ehestifter

Die Muschel

Blendende Möbel

Liebste Gnädigste

Mobilmachung

Der Tod

Das Krankenlager

Junge Liebe

Judas und der Heiland

Die Millionenerbschaft

Prügel

Die Erstarrung

Der Spaziergang

Was tust du hier, mein Junge?«

»Nichts.«

»Warum stehst du dann da?«

»So.«

»Kannst du schon lesen?«

»O ja.«

»Wie alt bist du?«

»Neun vorüber.«

»Was hast du lieber: eine Schokolade oder ein Buch?«

»Ein Buch.«

»Wirklich? Das ist schön von dir. Deshalb stehst du also da.«

»Ja.«

»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«

»Der Vater schimpft.«

»So. Wie heißt dein Vater?«

»Franz Metzger.«

»Möchtest du in ein fremdes Land fahren?«

»Ja. Nach Indien. Da gibt es Tiger.«

»Wohin noch?«

»Nach China. Da ist eine riesige Mauer.«

»Du möchtest wohl gern hinüberklettern?«

»Die ist viel zu dick und zu groß. Da kann keiner hinüber. Drum hat man sie gebaut.«

»Was du alles weißt! Du hast schon viel gelesen.«

»Ja, ich lese immer. Der Vater nimmt mir die Bücher weg. Ich möchte in eine chinesische Schule. Da lernt man vierzigtausend Buchstaben. Die gehen gar nicht in ein Buch.«

»Das stellst du dir nur so vor.«

»Ich hab's ausgerechnet.«

»Es stimmt aber doch nicht. Laß die Bücher in der Auslage. Das sind lauter schlechte Sachen. In meiner Tasche hab ich was Schönes. Wart, ich zeig's dir. Weißt du, was das für eine Schrift ist?«

»Chinesisch! Chinesisch!«

»Du bist aber ein aufgeweckter Junge. Hast du schon früher ein chinesisches Buch gesehen?«

»Nein, ich hab's erraten.«

»Diese beiden Zeichen bedeuten Mong Tse, der Philosoph Mong. Das war ein großer Mann in China. Vor 2250 Jahren hat er gelebt, und man liest ihn noch immer. Wirst du dir das merken?«

»Ja. Jetzt muß ich in die Schule.«

»Aha, da siehst du dir auf dem Schulweg die Buchhandlungen an? Wie heißt du denn selbst?«

»Franz Metzger. Wie mein Vater.«

»Und wo wohnst du?«

»Ehrlichstraße 24.«

»Da wohn ich ja auch. Ich kann mich gar nicht an dich erinnern.«

»Sie sehn immer weg, wenn jemand über die Stiege geht. Ich kenne Sie schon lange. Sie sind der Herr Professor Kien, aber ohne Schule. Die Mutter sagt, Sie sind kein Professor. Ich glaube schon, weil Sie eine Bibliothek haben. So was kann man sich gar nicht vorstellen, sagt die Marie. Das ist unser Mädchen. Bis ich groß bin, will ich eine Bibliothek. Da müssen alle Bücher drin sein, in allen Sprachen, so ein chinesisches auch. Jetzt muß ich laufen.«

»Wer hat denn dieses Buch geschrieben? Weißt du das noch?«

»Mong Tse, der Philosoph Mong. Vor genau 2250 Jahren.«

»Schön. Du darfst einmal in meine Bibliothek kommen. Sag der Wirtschafterin, daß ich es erlaubt habe. Ich zeig' dir Bilder aus Indien und China.«

»Fein! Ich komm! Ich komm bestimmt! Heut nachmittag?«

»Nein, nein, mein Junge. Ich hab zu arbeiten. Frühestens in einer Woche.«

Professor Peter Kien, ein langer, hagerer Mensch, Gelehrter, Sinologe von Hauptfach, steckte das chinesische Buch in die volle Tasche, die er unterm Arm trug, verschloß sie sorgfältig und sah dem klugen Jungen nach, bis er verschwand. Wortkarg und mürrisch von Natur, machte er sich einen Vorwurf aus dem Gespräch, das er ohne zwingenden Grund begonnen hatte.

Auf seinen Morgenspaziergängen zwischen sieben und acht pflegte er in die Auslagen jeder Buchhandlung, an der er vorüberkam, einen Blick zu tun. Beinahe angeheitert stellte er fest, daß Schund und Schmutz immer weiter um sich griffen. Er selbst besaß die bedeutendste Privatbibliothek dieser großen Stadt. Einen winzigen Bruchteil führte er immer mit sich. Seine Leidenschaft für sie, die einzige, die er sich in einem strengen und arbeitsreichen Leben gestattete, zwang ihn zu Vorsichtsmaßregeln. Bücher, auch schlechte, verlockten ihn leicht zum Kauf. Die meisten Buchhandlungen öffneten zum Glück erst nach acht. Manchmal erschien ein Lehrjunge, der das Vertrauen seines Chefs erringen wollte, schon früher und wartete auf den ersten Angestellten, dem er die Schlüssel feierlich abnahm. »Ich bin seit sieben hier!« rief er oder: »Ich kann nicht hinein!« So viel Eifer steckte einen Kien leicht an; es kostete ihn Überwindung, nicht auf der Stelle zu folgen. Unter den Besitzern kleinerer Läden gab es oft Frühaufsteher, die sich ab halb acht hinter ihren offenen Türen zu schaffen machten. Diesen Versuchungen zum Trotz pochte Kien auf seine wohlgefüllte Tasche. Er hielt sie eng an sich gepreßt, auf eine besondere Art, die er sich ausgedacht hatte, um möglichst viel von seinem Körper mit ihr in Berührung zu bringen. Die Rippen spürten sie durch den dünnen, schlechten Anzug hindurch. Der Oberarm lag in der seitlichen Vertiefung; er paßte genau hinein. Der Unterarm stützte von unten. Die gespreizten Finger verbreiteten sich über alle Flächen, nach denen es sie gelüstete. Seine übertriebene Sorgfalt entschuldigte er vor sich mit dem Wert des Inhalts. Fiel die Tasche zufällig zu Boden, öffnete sich der Verschluß, den er jeden Morgen vor dem Weggehen nachprüfte, doch gerade in diesem gefährlichen Augenblick, so war es um kostbare Werke geschehen. Nichts haßte er mehr als schmutzige Bücher.

Als er heute auf dem Heimweg vor einer Auslage stehenblieb, trat plötzlich ein Junge zwischen das Fenster und ihn. Kien empfand diesen Schritt als Ungezogenheit. Platz war wohl genug da. Er stellte sich immer in einem Meter Entfernung von der Scheibe auf; trotzdem las er spielend, was sich an Buchstaben dahinter fand. Seine Augen funktionierten nach Belieben; bei einem vierzigjährigen Menschen, der den ganzen Tag über Büchern und Manuskripten sitzt, eine Tatsache von Bedeutung. Morgen für Morgen bewiesen ihm seine Augen, wie gut es ihnen ging. Im Abstand von den feilen und öffentlichen Büchern drückte sich auch seine Verachtung aus, die sie, gegen die spröden und schweren Werke seiner Bibliothek gehalten, in hohem Maße verdienten. Der Junge war klein, Kien von ungewöhnlicher Länge. Leicht sah er über ihn hinweg. Mehr Respekt hätte er aber doch erwartet. Bevor er ihm sein Benehmen verwies, rückte er zur Seite, um ihn zu beobachten. Der Junge starrte die Titel der Bücher an und bewegte langsam und leise die Lippen. Ausdauernd glitt er von Band zu Band. Alle paar Minuten warf er den Kopf herum. Auf der andern Straßenseite hing über dem Laden eines Uhrmachers eine ungeheure Uhr. Es war zwanzig Minuten vor acht. Offenbar fürchtete der Kleine, etwas Wichtiges zu versäumen. Den Herrn hinter ihm beachtete er nicht. Vielleicht übte er sich im Lesen. Vielleicht lernte er die Titel auswendig. Er behandelte sie gleichmäßig und gerecht. Man merkte genau, wo er einen Augenblick hielt.

Kien tat er leid. Da verdarb er an diesem niederträchtigen Zeug seinen frischen, vielleicht schon lesehungrigen Geist. Manches miserable Buch würde er in späteren Jahren bloß deshalb lesen, weil ihm der Titel von früh auf geläufig war. Wie soll man die Empfänglichkeit der ersten Jahre beschränken? Sobald ein Kind laufen und buchstabieren kann, ist es dem Pflaster irgendeiner schlecht angelegten Straße, der Ware irgendeines Händlers, der, weiß der Teufel warum, sich auf Bücher geworfen hat, auf Ungnade ausgeliefert. Kleine Knaben müßten in einer bedeutenden Privatbibliothek aufwachsen. Der tägliche Umgang mit nur ernsten Geistern, die kluge, dunkle, gedämpfte Atmosphäre, eine hartnäckige Gewöhnung an peinlichste Ordnung, im Raum wie in der Zeit – welche Umgebung eignete sich besser, um so zarten Geschöpfen über ihre Jugend hinwegzuhelfen? Der einzige Mensch in dieser Stadt, der eine ernstzunehmende Privatbibliothek besaß, war eben Kien selbst. Er konnte keine Kinder zu sich nehmen. Seine Arbeit erlaubte ihm keine Abschweifungen. Kinder machen Lärm. Man muß sich mit ihnen beschäftigen. Ihre Pflege erfordert eine Frau. Fürs Kochen genügt eine gewöhnliche Wirtschafterin. Für Kinder muß man sich eine Mutter halten. Wenn eine Mutter nur Mutter wäre; welche begnügt sich aber mit ihrer eigentlichen Rolle? Im Hauptfach ist eine jede Frau und stellt Ansprüche, die ein ehrlicher Gelehrter nicht im Traum zu erfüllen gedenkt. Kien verzichtet auf eine Frau. Frauen waren ihm bisher gleichgültig, gleichgültig werden sie ihm bleiben. So kommt der Junge mit den starren Augen und dem beweglichen Kopf zu kurz.

Aus Mitleid sprach er ihn gegen seine Gewohnheit an. Durch eine Schokolade hätte er sich gern von seinen erzieherischen Gefühlen losgekauft. Da zeigte es sich, daß es Neunjährige gibt, die ein Buch einer Schokolade vorziehen. Was dann folgte, überraschte ihn noch mehr. Der Junge interessierte sich für China. Er las gegen den Willen seines Vaters. Die Gerüchte von den Schwierigkeiten der chinesischen Schrift reizten ihn, statt ihn abzuschrecken. Auf den ersten Blick erkannte er sie, ohne sie je gesehen zu haben. Eine Intelligenzprüfung bestand er mit Auszeichnung. Das Buch, das man ihm zeigte, rührte er nicht an. Vielleicht schämte er sich seiner schmutzigen Finger. Kien prüfte sie; sie waren sauber. Ein anderer hätte auch mit schmutzigen hingegriffen. Er war in Eile, die Schule begann um acht, doch blieb er bis zur letzten Sekunde. Auf die Einladung stürzte er sich wie ein Verhungerter, der Vater quälte ihn wohl sehr. Am liebsten wäre er gleich am Nachmittag gekommen, mitten in der Arbeitszeit. Er wohnte ja im selben Hause.

Kien vergab sich das Gespräch. Die Ausnahme, die er sich gestattet hatte, schien ihm der Mühe wert. Den schon entschwundenen Jungen begrüßte er in Gedanken als einen kommenden Sinologen. Wer interessierte sich für diese abgelegene Wissenschaft? Knaben spielten Fußball, Erwachsene gingen ihrem Verdienst nach; ihre freie Zeit vertrieben sie sich mit Liebe. Um acht Stunden zu schlafen und acht Stunden nichts zu tun, ergaben sie sich die restliche Zeit einer verhaßten Arbeit. Nicht den Bauch, aber den ganzen Körper hatten sie zu ihrem Gott erhoben. Der Himmelsgott der Chinesen war strenger und würdiger. Selbst wenn der Junge nächste Woche nicht kam, unwahrscheinlich genug, so hatte er einen Namen im Kopf, der sich schwer vergaß: den des Philosophen Mong. Gelegentliche Stöße, unerwartet empfangen, geben Menschen ihre Richtung fürs Leben.

Lächelnd setzte Kien seinen Heimweg fort. Er lächelte selten. Selten war es jemandes höchster Wunsch, eine Bibliothek zu besitzen. Als Neunjähriger sehnte er sich nach einer Buchhandlung. Die Vorstellung, als ihr Besitzer darin auf und ab zu gehen, erschien ihm damals frevelhaft. Ein Buchhändler ist ein König, ein König kein Buchhändler. Für einen Angestellten kam er sich zu klein vor. Einen Laufjungen schickte man immer weg. Was hatte er von den Büchern, wenn er sie bloß als Pakete unterm Arm trug? Lange suchte er nach einem Ausweg. Eines Tages ging er nach der Schule nicht heim. Er trat in das größte Geschäft der Stadt, sechs Auslagen voller Bücher, und fing laut zu weinen an. »Ich muß hinaus, rasch, ich hab Angst!« plärrte er. Man wies ihm den Ort. Er merkte ihn sich gut. Als er zurückkam, dankte er und fragte, ob er nicht etwas helfen könne. Sein strahlendes Gesicht belustigte die Leute. Noch vor kurzem war es von jener komischen Angst verzerrt. Sie zogen ihn ins Gespräch; er wußte viel über Bücher. Für sein Alter fanden sie ihn klug. Gegen Abend schickten sie ihn weg, mit einem schweren Paket. Er fuhr auf der Elektrischen hin und zurück. So viel Geld hatte er sich erspart. Knapp vor der Geschäftssperre, es dämmerte schon, meldete er, der Auftrag sei ausgerichtet und legte die Bestätigung auf den Ladentisch. Jemand gab ihm zur Belohnung ein saures Bonbon. Während die Angestellten in ihre Mäntel schlüpften, schlich er leise nach hinten, an jenen sichern Ort, und sperrte sich dort ein. Niemand merkte was; die dachten wohl alle an ihren freien Abend. Da wartete er lange. Erst nach vielen Stunden, spät in der Nacht, wagte er sich hervor. Im Laden war es finster. Er suchte nach dem Schalter. Bei Tage hatte er nicht daran gedacht. Als er ihn fand und schon in der Hand hatte, fürchtete er sich, Licht zu machen. Vielleicht sah ihn jemand von der Straße und holte ihn nach Hause.

Sein Auge gewöhnte sich von selbst ans Dunkel. Nur lesen konnte er nicht, das war sehr traurig. Einen Band nach dem andern holte er herunter, blätterte drin und wirklich entzifferte er manchen Titel. Später kletterte er auf der Leiter herum. Er wollte wissen, ob die oben Geheimnisse versteckten. Er fiel herunter und sagte: Ich hab mir nicht weh getan! Der Boden war hart. Die Bücher waren weich. In einer Buchhandlung fällt man auf Bücher. Er hätte einen Turm vor sich aufbauen können, aber Unordnung fand er gemein und stellte, bevor er ein neues herunternahm, das alte an seinen Platz. Der Rücken tat ihm weh. Vielleicht war er nur müde. Zu Hause hätte er jetzt schon längst geschlafen. Hier ging es nicht, die Aufregung hielt ihn wach. Aber seine Augen erkannten die größten Titel nicht mehr, das ärgerte ihn. Er rechnete aus, wie viele Jahre es sich hier lesen ließe, ohne daß man einmal auf die Straße und in die dumme Schule ging. Warum blieb man nicht immer da! Ein kleines Bett hätte er zusammengespart. Die Mutter fürchtete sich. Er auch, aber nur ein wenig, weil es so still war. Die Gaslaternen auf der Straße gingen aus. Schatten krochen herum. Gespenster gab es doch. In der Nacht flogen sie alle her und hockten sich über die Bücher. Da lasen sie. Die brauchten kein Licht, die hatten so große Augen. Jetzt hätte er oben kein Buch mehr angerührt, nein, auch unten keines. Er kroch unter den Ladentisch und klapperte mit den Zähnen. Zehntausend Bücher, auf jedem hockte ein Gespenst. Drum war es so still. Manchmal hörte er sie blättern. Sie lasen genauso rasch wie er. Er hätte sich an sie gewöhnt, aber es waren zehntausend, da konnte einer beißen. Gespenster ärgern sich, wenn man sie streift, sie glauben, man will sie auslachen. Er machte sich ganz klein; sie flogen über ihn weg. Der Morgen kam erst nach vielen Nächten. Da schlief er ein. Als die Leute aufsperrten, merkte er nichts. Sie fanden ihn unterm Ladentisch und schüttelten ihn wach. Erst tat er, als ob er noch schliefe, dann begann er rasch zu heulen. Sie hätten ihn gestern eingesperrt, er fürchtete sich vor seiner Mutter, die habe ihn sicherlich überall gesucht. Der Inhaber fragte ihn aus und schickte ihn, sobald er seinen Namen erfahren hatte, mit einem Angestellten nach Hause. Er lasse sich bei der Dame entschuldigen. Der Junge sei irrtümlich eingesperrt worden, aber sonst wohlauf. Er selbst verbleibe mit besten Empfehlungen. Die Mutter glaubte es und war glücklich. Jetzt besaß der kleine Lügner von damals eine großartige Bibliothek und einen ebenso berühmten Namen.

Kien verabscheute die Lüge; von klein auf hielt er sich an die Wahrheit. Er entsann sich keiner einzigen Lüge, außer dieser. Auch sie war verfemt. Nur das Gespräch mit dem Schulbuben, der ihm als das Ebenbild seiner Jugend erschien, hatte sie wachgerufen. Weg damit, dachte er, es ist gleich acht. Punkt acht begann die Arbeit, sein Dienst an der Wahrheit. Wissenschaft und Wahrheit waren für ihn identische Begriffe. Man näherte sich der Wahrheit, indem man sich von den Menschen abschloß. Der Alltag war ein oberflächliches Gewirr von Lügen. So viel Passanten, so viel Lügner. Drum sah er sie gar nicht an. Wer unter den schlechten Schauspielern, aus denen die Masse bestand, hatte ein Gesicht, das ihn fesselte? Sie veränderten es nach dem Augenblick; nicht einen Tag lang verharrten sie bei derselben Rolle. Das wußte er zum vorhinein, Erfahrung war hier überflüssig. Er legte seinen Ehrgeiz in eine Hartnäckigkeit des Wesens. Nicht bloß einen Monat, nicht ein Jahr, sein ganzes Leben blieb er sich gleich. Der Charakter, wenn man einen hatte, bestimmte auch die Gestalt. Seit er denken konnte, war er lang und zu mager. Sein Gesicht kannte er nur flüchtig, aus den Scheiben der Buchhandlungen. Einen Spiegel besaß er zu Hause nicht, vor lauter Büchern mangelte es an Platz. Aber daß es schmal, streng und knochig war, wußte er: das genügte.

Da er nicht die geringste Lust verspürte, Menschen zu bemerken, hielt er die Augen gesenkt oder hoch über sie erhaben. Wo Buchhandlungen waren, spürte er ohnehin genau. Er durfte sich ruhig seinem Instinkt überlassen. Was Pferde zuwege bringen, wenn sie in ihre Ställe heimtrotten, gelang ihm auch. Er ging ja spazieren, um die Luft fremder Bücher zu atmen, sie reizten ihn zum Widerspruch, sie frischten ihn ein wenig auf. In der Bibliothek lief alles wie am Schnürchen. Zwischen sieben und acht Uhr früh gönnte er sich einige der Freiheiten, aus denen das Leben der übrigen ganz besteht.

Obwohl er diese Stunde auskostete, hielt er auf Ordnung. Vor Überschreiten einer belebten Straße zögerte er ein wenig. Er ging gern gleichmäßig; um nicht zu hasten, wartete er auf einen günstigen Augenblick. Da rief jemand laut jemand andern an: »Können Sie mir sagen, wo hier die Mutstraße ist?« Der Gefragte entgegnete nichts. Kien wunderte sich; da gab es auf offener Straße noch außer ihm schweigsame Menschen. Ohne aufzublicken, horchte er hin. Wie würde sich der Fragende zu dieser Stummheit verhalten? »Verzeihen Sie, bitte, können Sie mir vielleicht sagen, wo hier die Mutstraße ist?« Er steigerte seine Höflichkeit; sein Glück blieb gleich gering. Der andere sagte nichts. »Ich glaube, Sie haben mich überhört. Ich möchte Sie um eine Auskunft bitten. Vielleicht sind Sie so freundlich und erklären mir, wie ich jetzt in die Mutstraße finde.« Kiens Wißbegier war geweckt, Neugier kannte er nicht. Er nahm sich vor, den Schweiger anzusehen, vorausgesetzt, daß er auch jetzt in seiner Stummheit verharrte. Zweifellos war der Mann in Gedanken und wünschte jede Unterbrechung zu vermeiden. Wieder sagte er nichts. Kien belobte ihn. Unter Tausenden ein Charakter, der Zufällen widersteht. »Ja, sind Sie taub?« schrie der erste. Jetzt wird der zweite zurückschlagen, dachte Kien und begann die Freude an seinem Schützling zu verlieren. Wer beherrscht seinen Mund, wenn man ihn beleidigt? Er wandte sich der Straße zu; der Augenblick, sie zu überqueren, war da. Erstaunt über das fortgesetzte Schweigen, hielt er inne. Noch immer sagte der zweite nichts. Zu erwarten war ein um so stärkerer Ausbruch seines Zorns. Kien hoffte auf einen Streit. Erwies sich der zweite als gewöhnlich, so blieb er, Kien, unbestritten das, wofür er sich hielt: der einzige Charakter, der hier spazierenging. Er überlegte, ob er bereits hinblicken solle. Der Vorgang spielte zu seiner Rechten. Dort tobte der erste: »Sie haben kein Benehmen! Ich hab Sie in aller Höflichkeit gefragt! Was bilden Sie sich denn ein! Sie Grobian! Sind Sie stumm?« Der zweite schwieg. »Sie werden sich entschuldigen! Ich pfeife auf die Mutstraße! Die kann mir jeder zeigen! Aber Sie werden sich entschuldigen! Hören Sie!« Jener hörte nicht. Dafür stieg er in der Achtung des Lauschenden. »Ich übergebe Sie der Polizei! Wissen Sie, wer ich bin! Sie Skelett! Und das will ein gebildeter Mensch sein! Wo haben Sie Ihre Kleider her? Aus dem Pfandhaus! So sehen sie aus! Was halten Sie da unterm Arm? Ihnen zeig ich's noch! Hängen Sie sich auf! Wissen Sie, was Sie sind?«

Da bekam Kien einen bösen Stoß. Jemand griff nach seiner Tasche und riß daran. Mit einem Ruck, der weit über seine normalen Kräfte ging, befreite er die Bücher aus den fremden Klauen und wandte sich scharf nach rechts. Sein Blick galt der Tasche, fiel aber auf einen kleinen, dicken Mann, der heftig auf ihn einschrie. »Ein Flegel! Ein Flegel! Ein Flegel!« Der zweite, der Schweiger und Charakter, der seinen Mund auch im Zorn beherrschte, war Kien selbst. Ruhig drehte er dem gestikulierenden Analphabeten den Rücken. Mit diesem schmalen Messer schnitt er sein Geschwätz entzwei. Ein fetter Wicht, dessen Höflichkeit nach einigen Augenblicken in Frechheit umschlug, konnte ihn nicht beleidigen. Auf alle Fälle ging er rascher, als er vorhatte, über die Straße. Wenn man Bücher bei sich trug, waren Handgreiflichkeiten zu vermeiden. Er trug immer Bücher bei sich.

Denn schließlich ist man nicht verpflichtet, auf die Dummheiten jedes Passanten einzugehen. Sich in Reden zu verlieren ist die größte Gefahr, die einen Gelehrten bedroht. Kien drückte sich lieber schriftlich als mündlich aus. Er beherrschte über ein Dutzend östliche Sprachen. Einige westliche verstanden sich von selbst. Keine menschliche Literatur war ihm fremd. In Zitaten dachte er, in wohlüberlegten Absätzen schrieb er. Unzählige Texte verdankten ihre Herstellung ihm. An schadhaften oder verderbten Stellen uralter chinesischer, indischer, japanischer Manuskripte fielen ihm Kombinationen ein, soviel er wollte. Andere beneideten ihn drum, er hatte der Überfülle zu wehren. Von peinlicher Vorsicht, monatelang erwägend, langsam bis zum Überdruß, am strengsten gegen sich selbst, schloß er seine Meinung über einen Buchstaben, ein Wort oder einen ganzen Satz nur dann ab, wenn er ihrer Unangreifbarkeit sicher war. Seine bisherigen Abhandlungen, gering an Zahl, aber jede ein Fundament für hundert andere, hatten ihm den Ruf des ersten Sinologen seiner Zeit verschafft. Die Fachkollegen kannten sie genau, beinahe auswendig. Sätze, die er einmal niedergeschrieben hatte, galten als entscheidend und bindend. In strittigen Fragen wandte man sich an ihn, die oberste Autorität auch auf Nachbargebieten der Wissenschaft. Wenige beehrte er mit Briefen. Wen er aber erwählte, der empfing, in einem einzigen Schreiben, Anregung über Anregung und hatte auf Jahre hinaus Arbeit, deren Ergebnisse, in Anbetracht des Anregenden, zum vorhinein sicherstanden. Persönlich verkehrte er mit niemandem. Einladungen schlug er aus. Wo immer eine Lehrkanzel für östliche Philologie frei wurde, trug man sie zu allererst ihm an. Er lehnte mit verächtlicher Höflichkeit ab.

Zum Redner sei er nicht geboren. Bezahlung für seine Tätigkeit würde ihm diese verleiden. Seiner bescheidenen Meinung nach sollten dieselben unproduktiven Popularisatoren, denen man den Unterricht an den Mittelschulen anvertraue, die Lehrkanzeln an den Hochschulen besetzen, damit die eigentlichen, wirklichen, schöpferischen Forscher sich ausschließlich ihrer Arbeit widmen könnten. An mittelmäßigen Köpfen sei ohnehin kein Mangel. Vorlesungen, die er abhalte, könnten, da er an seine Hörer die höchsten Forderungen stellen müßte, nur auf wenig Zulauf rechnen. Bei Prüfungen käme voraussichtlich kein einziger Kandidat durch. Er würde seinen Ehrgeiz dareinsetzen, die jungen, unreifen Menschen so lange durchfallen zu lassen, bis sie ihr dreißigstes Jahr erreicht und sei es aus Langeweile, sei es aus beginnendem Ernst, einiges, wenn auch vorläufig nur weniges gelernt hätten. Schon die Aufnahme von Menschen, deren Gedächtnis man nicht sorgfältig geprüft habe, in die Hörsäle der Fakultät, käme ihm bedenklich und zumindest nutzlos vor. Zehn nach schwersten Vorprüfungen ausgewählte Studenten würden, blieben sie unter sich, unzweifelhaft mehr leisten, als wenn sie sich unter hundert träge Biernaturen, die üblichen an den Universitäten, mischten. Seine Bedenken seien also gewichtiger und prinzipieller Art. Er bitte das Kollegium, auf den Vorschlag, der, obwohl er ihn nicht ehre, doch ehrend gemeint sei, nicht mehr zurückzukommen.

Auf Kongressen, wo es sehr redselig herzugehen pflegt, war Kien eine meistbesprochene Figur. Die Herren, während der längsten Zeit ihres Lebens stille, scheue und kurzsichtige Mäuse, traten da alle paar Jahre einmal ganz aus sich heraus. Sie begrüßten einander, steckten die unpassendsten Köpfe zusammen, tuschelten, ohne etwas zu sagen und stießen bei den Banketten linkisch an. Aufs tiefste gerührt und aufs freudigste bewegt, hielten sie ihr Banner hoch, ihren Ehrenschild rein. Fort und fort gelobten sie in allen Sprachen dasselbe. Auch ohne sie einzugehen, hätten sie ihre Gelübde gehalten. In den Zwischenpausen schlossen sie Wetten ab. Wird Kien diesmal wirklich erscheinen? Man sprach von ihm mehr als von einem berühmten Kollegen, sein Verhalten reizte die Neugier. Daß er seinen Ruhm nie einkassierte, Begrüßungen und Banketten, wo man ihn seiner Jugend zum Trotz gefeiert hätte, seit über zehn Jahren hartnäkkig auswich, daß er bei jedem Kongreß einen wichtigen Vortrag ankündigte, den dann ein anderer vom Manuskript für ihn ablas, betrachteten seine Kollegen als bloßen Aufschub. Einmal, vielleicht diesmal, wird er plötzlich auftauchen, den durch lange Zurückhaltung um so heftigeren Applaus mit Würde einstreichen und sich durch Akklamation zum Präsidenten der Versammlung wählen lassen, eine Stelle, die ihm zukam, und die er selbst als Abwesender auf seine Art einnahm. Aber die Herren täuschten sich. Kien erschien nicht. Der gläubigere Teil verlor seine Wetten.

Kien sagte in letzter Stunde ab. Die Sendungen seiner Manuskripte an irgendeinen Bevorzugten waren von ironischen Wendungen begleitet. Falls man neben dem reichen Unterhaltungsprogramm zur Arbeit gelange, was er im Interesse des allgemeinen Wohlbefindens durchaus nicht wünsche, bitte er, diese Kleinigkeit, das Ergebnis von zweijähriger Arbeit, dem Kongreß vorzulegen. Neue und überraschende Resultate seiner Forschung pflegte er für solche Augenblicke aufzusparen. Ihre Wirkung, die Diskussionen, welche sich darüber entspannen, verfolgte er aus der Ferne argwöhnisch und gewissenhaft, als hätte er sie auf ihre textliche Stichhaltigkeit hin zu prüfen. Die Versammlung ließ sich seinen Hohn gefallen. Von hundert Anwesenden stützten sich achtzig auf ihn. Seine Leistungen waren unschätzbar. Man wünschte ihm langes Leben. Über seinen Tod wäre die Mehrzahl zu Tode erschrocken.

Die wenigen, die ihm in seinen jüngeren Jahren persönlich begegnet waren, hatten die Erinnerung an sein Gesicht verloren. Wiederholt bat man ihn schriftlich um seine Photographie. Er besitze keine, erwiderte er, und denke auch keine zu besitzen. Beides entsprach der Wahrheit. Zu einer anderen Konzession ließ er sich freiwillig herbei. Als Dreißigjähriger vermachte er, ohne im übrigen ein Testament aufgesetzt zu haben, seinen Schädel samt Inhalt einem Institut für Hirnforschung. Er begründete diesen Schritt mit dem Vorteil, den es brächte, sein wahrhaft phänomenales Gedächtnis durch eine besondere Struktur, vielleicht doch auch ein größeres Gewicht seines Hirns zu erklären. Zwar glaube er nicht, schrieb er an den Leiter jenes Instituts, daß Genie Gedächtnis sei, wie man seit einiger Zeit vielfach anzunehmen beliebe. Er selbst sei nichts weniger als ein Genie. Aber den Nutzen des fast erschreckenden Gedächtnisses, über das er verfüge, für seine wissenschaftliche Arbeit zu leugnen, wäre unwissenschaftlich. Er trage gleichsam eine zweite Bibliothek im Kopf, ebenso reichhaltig und verläßlich wie die wirkliche, von der man, wie er höre, allgemein so viel Aufhebens mache. Er sitze an seinem Schreibtisch und entwerfe Abhandlungen, in denen er bis auf die exaktesten Einzelheiten eingehe, ohne, außer eben in seiner Kopfbibliothek, je nachzuschlagen. Wohl prüfe er später Zitate und Quellenangaben anhand der realen Literatur genau nach; aber nur aus Gewissenhaftigkeit. Irgendeines Gedächtnisfehlers, der ihm je unterlaufen sei, könne er sich nicht entsinnen. Selbst seine Träume hätten eine schärfere Fassung als die bei den meisten Menschen übliche. Unplastische, farblose, verschwommene Visionen seien den Träumen, die er bis jetzt berücksichtigt habe, fremd. Nie stelle bei ihm die Nacht etwas auf den Kopf; Laute, die er höre, hätten ihren normalen Ursprung; Gespräche, die er führe, blieben durchaus vernünftig; alles behalte seinen Sinn. Es sei nicht seines Fachs, zu untersuchen, ob der vermutete Zusammenhang zwischen seinem präzisen Gedächtnis und den eindeutigen, klaren Träumen zu Recht bestehe. Er weise nur in aller Bescheidenheit darauf hin und bitte, die persönlichen Angaben, die er sich in diesem Brief erlaube, nicht als Zeichen von Anmaßung oder Geschwätzigkeit zu betrachten.

Kien reproduzierte sich noch einige Tatsachen aus seinem Leben, die sein zurückgezogenes, redescheues und jeder Eitelkeit bares Wesen ins rechte Licht rückten. Aber der Ärger über den frechen und kecken Menschen, der ihn erst nach einer Straße gefragt und dann beschimpft hatte, wurde von Schritt zu Schritt größer. Es wird mir also doch nichts anderes übrigbleiben, sagte er, trat unter ein Haustor, sah sich um – niemand beobachtete ihn – und zog ein langes, schmales Notizbuch aus der Tasche. Auf dem Titelblatt stand in hohen, eckigen Buchstaben: dummheiten. Sein Auge verweilte erst hier. Dann blätterte er um, mehr als die Hälfte des Notizbuches war beschrieben. Alles, was er vergessen wollte, trug er da ein. Mit Datum, Stunde und Ort begann er. Es folgte die Begebenheit, welche wieder die Dummheit der Menschen illustrieren sollte. Ein angewandtes Zitat, immer ein neues, bildete den Beschluß. Die gesammelten Dummheiten las er nie; ein Blick auf das Titelblatt genügte. In späteren Jahren dachte er sie herauszugeben, als »Spaziergänge eines Sinologen«.

Er zog einen scharf gespitzten Bleistift hervor und schrieb auf die erste leere Seite: »23. September, 3/48 Uhr. Auf der Mutstraße begegnete mir ein Mensch und fragte mich nach der Mutstraße. Um ihn nicht zu beschämen, schwieg ich. Er ließ sich nicht beirren und fragte noch einige Male; sein Benehmen war höflich. Plötzlich fiel sein Blick auf ein Straßenschild. Er bemerkte seine Dummheit. Statt sich in aller Eile zu entfernen, wie ich es an seiner Stelle getan hätte, überließ er sich einem maßlosen Zorn und beschimpfte mich auf das gröblichste. Hätte ich ihn nicht geschont, so wäre mir die peinliche Szene erspart geblieben. Wer war der Dümmere?«

Mit dem letzten Satz bewies er, daß er auch vor sich nicht haltmachte. Er war unbarmherzig gegen jedermann. Befriedigt steckte er das Notizbuch ein und vergaß den Mann. Die Bücher waren während des Schreibens in eine unbequeme Lage geraten. Er rückte sie zurecht. An der nächsten Straßenecke scheute er vor einem Wolfshund. Das Tier bahnte sich rasch und sicher einen Weg. An straffer Leine zog es einen Blinden hinter sich her. Dessen Gebrechen war, falls man den Hund übersah, an einem weißen Stock kenntlich, den er in der Rechten trug. Auch die eilfertigsten Menschen, die für den Blinden keine Zeit hatten, schenkten dem Hund einen bewundernden Blick. Er stieß sie mit geduldiger Schnauze zur Seite. Da er schön und kräftig war, litt man ihn gern. Plötzlich holte der Blinde seine Mütze vom Kopf herunter und hielt sie zugleich mit dem Stock, den Leuten entgegen. »Fürs Hundefutter!« bat er. Es regnete Münzen. Mitten auf der Straße drängte man sich um die beiden. Der Verkehr stockte; zum Glück stand an dieser Ecke kein Polizist, der ihn regelte. Kien sah sich den Bettler aus der Nähe an. Er war mit ausgesuchter Armut gekleidet und trug ein gebildetes Gesicht. Weil er die Muskeln rings um die Augen unaufhörlich bewegte – er zwinkerte, zog die Brauen in die Höhe und runzelte die Stirn –, mißtraute ihm Kien und beschloß, ihn für einen Schwindler zu halten. Da erschien ein vielleicht zwölfjähriger Junge, drückte eifrig den Hund beiseite und warf in die Mütze einen schweren Knopf. Der Blinde starrte hin und bedankte sich, um ein Haar noch freundlicher als bisher. Der Klang, den man vom Knopf gehört hatte, war wie von Gold. Kien gab es einen Stich ins Herz. Er packte den Jungen beim Schopf und schlug ihm, da er behindert war, mit der Tasche eine über den Kopf. »Schäm dich«, rief er, »einen Blinden zu betrügen!« Als es geschehen war, fiel ihm ein, was die Tasche enthielt: Bücher. Er schrak zusammen, ein so großes Opfer hatte er noch nie gebracht. Der Junge rannte heulend davon. Um auf die gewöhnliche, viel tiefere Ebene des Mitleids zurückzugelangen, leerte Kien sein ganzes Kleingeld in die Mütze des Blinden. Die Umstehenden nickten laut; er kam sich jetzt vorsichtiger und kleinlicher vor. Der Hund zog wieder an. Gleich darauf, als ein Polizist auftauchte, waren Führer und Geführter im alten Trott.

Kien schwor sich zu, sobald ihn Blindheit bedrohte, freiwillig zu sterben. Immer wenn er einem Blinden begegnete, ergriff ihn dieselbe peinliche Angst. Stumme liebte er; Taube, Lahme und sonstige Krüppel waren ihm gleichgültig; Blinde beunruhigten ihn. Er begriff nicht, daß sie ihrem Leben kein Ende machten. Selbst wenn sie die Blindenschrift beherrschten, waren ihre Lesemöglichkeiten beschränkt. Eratosthenes, der große Bibliothekar von Alexandria, ein Universalgelehrter des dritten vorchristlichen Jahrhunderts, der über eine halbe Million Schriftrollen gebot, machte als Achtzigjähriger eine furchtbare Entdeckung. Seine Augen begannen ihm den Dienst zu versagen. Er sah noch, aber er vermochte nicht mehr zu lesen. Ein anderer hätte die völlige Erblindung abgewartet. Er hielt seine Trennung von den Büchern für Blindheit genug. Freunde und Schüler flehten ihn an, bei ihnen zu bleiben. Er lächelte weise, dankte und hungerte sich in wenigen Tagen zu Tode.

Dieses große Beispiel wird der kleine Kien, dessen Bibliothek nur aus fünfundzwanzigtausend Bänden besteht, kommt die Zeit, mit Leichtigkeit nachahmen.

Den restlichen Weg bis zu seiner Wohnung erledigte er in beschleunigtem Tempo. Sicher war es schon acht. Um acht begann die Arbeit. Unpünktlichkeit verursachte ihm Brechreiz. Hie und da griff er verstohlen nach seinen Augen. Sie sahen in Ordnung und fühlten sich angenehm und ungefährdet an.

Im vierten und obersten Stock des Hauses Ehrlichstraße 24 befand sich seine Bibliothek. Die Wohnungstüre war durch drei komplizierte Schlösser gesichert. Er sperrte sie auf, durchschritt den Vorraum, in dem nur ein Kleiderständer war, und betrat sein Arbeitszimmer. Behutsam legte er die Tasche auf einen Lehnstuhl nieder. Dann schritt er ein paarmal durch die gerade Flucht der vier hohen, weiten Räume, die seine Bibliothek bildeten, auf und ab. Sämtliche Wände waren bis zur Decke mit Büchern ausgekleidet. Langsam hob er an ihnen den Blick. In die Decke waren Fenster eingelassen. Auf sein Oberlicht war er stolz. Die Seitenfenster waren vor Jahren nach hartem Kampf mit dem Hausbesitzer zugemauert worden. So gewann er in jedem Raum eine vierte Wand: Platz für mehr Bücher. Auch schien ihm ein Licht, das alle Regale von oben gleichmäßig erhellte, gerechter und seinem Verhältnis zu den Büchern angemessener. Die Versuchung, das Treiben auf der Straße zu beobachten – eine zeitraubende Unsitte, die man offenbar mit auf die Welt bekommt –, fiel mit den Seitenfenstern weg. Täglich, bevor er sich an den Schreibtisch setzte, segnete er Einfall und Konsequenz, denen er die Erfüllung seines höchsten Wunsches dankte: den Besitz einer reichhaltigen, geordneten und nach allen Seiten hin abgeschlossenen Bibliothek, in der ihn kein überflüssiges Möbelstück, kein überflüssiger Mensch von ernsten Gedanken ablenkte.

Der erste Raum diente als Arbeitszimmer. Ein mächtiger alter Schreibtisch, ein Lehnstuhl davor, ein zweiter in der Ecke gegenüber waren seine ganze Einrichtung. Außerdem machte sich da ein Diwan schmal, den Kien gern übersah, weil er auf ihm bloß schlief. An der Wand hing eine verschiebbare Leiter. Sie war wichtiger als der Diwan und wanderte im Laufe eines Tages von Raum zu Raum. Die Leere der drei übrigen nämlich störte nicht ein Stuhl. Nirgends ein Tisch, ein Schrank, ein Ofen, der das bunte Einerlei der Regale unterbrochen hätte. Schöne, schwere Teppiche, von denen der Boden überall bedeckt war, erwärmten das schroffe Halbdunkel, welches durch die weit geöffneten Türen alle vier Räume zu einer einzigen hohen Halle verband.

Kien hatte einen steifen, nachdrücklichen Gang. Auf den Teppichen trat er besonders fest auf; es freute ihn, daß solche Schritte nicht den leisesten Widerhall weckten. In seiner Bibliothek war selbst einem Elefanten die Möglichkeit, Lärm aus dem Boden zu stampfen, verwehrt. Drum schätzte er die Teppiche sehr hoch ein. Er überzeugte sich davon, daß sämtliche Bücher die Ordnung, in der er sie vor einer Stunde verlassen mußte, beibehalten hatten. Dann begann er die Tasche ihres Inhalts zu entleeren. Bei seinem Eintritt pflegte er sie auf den Stuhl vor dem Schreibtisch zu legen. Sonst vergaß er sie vielleicht und setzte sich, bevor sie weggeräumt war, an die Arbeit, zu der es ihn um acht Uhr auf das heftigste drängte. Mit Hilfe der Leiter verteilte er die Bände, wohin sie gehörten. Trotz seiner Vorsicht fiel der letzte – da er schon so weit war, beeilte er sich noch mehr – vom dritten Regal, für das er nicht einmal die Leiter brauchte, zu Boden. Es war jener Mong Tse, den er über alles liebte. »Dummkopf!« schrie er sich an, »Barbar! Analphabet!«, hob ihn zärtlich auf und ging rasch zur Tür. Bevor er sie erreicht hatte, fiel ihm etwas Wichtiges ein. Er kehrte zurück und schob die Leiter, die an der Wand gegenüber hing, möglichst leise an die Unfallstelle heran. Den Mong Tse legte er mit beiden Händen auf den Teppich zu Füßen der Leiter nieder. Jetzt durfte er zur Tür. Er öffnete sie und rief hinaus:

»Das beste Staubtuch, bitte!«

Kurz darauf klopfte die Wirtschafterin an die bloß angelehnte Tür. Er antwortete nicht. Sie steckte den Kopf diskret in die Spalte und fragte:

»Ist was passiert?«

»Nein, geben Sie nur her!«

Aus seiner Antwort hörte sie, gegen seinen Willen, eine Klage. Sie war zu neugierig, um das auf sich sitzen zu lassen. »Aber ich bitt Sie, Herr Professor!« sagte sie vorwurfsvoll, trat herein und erkannte auf den ersten Blick, was geschehen war. Sie glitt auf das Buch zu. Unter dem blauen, gestärkten Rock, der bis zum Teppich reichte, sah man die Füße nicht. Ihr Kopf saß schief. Beide Ohren waren breit, flach und abstehend. Da das rechte die Schulter streifte und von ihr zum Teil verdeckt wurde, erschien das linke um so größer. Beim Gehen und Sprechen wackelte sie mit dem Kopf. Ihre Schultern machten dazu abwechselnd die Musik. Sie bückte sich, hob das Buch auf und fuhr mit dem Staubtuch ein dutzendmal gründlich drüber. Kien suchte ihr nicht zuvorzukommen. Höflichkeit war ihm verhaßt. Er stand daneben und paßte auf, ob sie ihre Arbeit ernstlich verrichte.

»Ja, das passiert leicht, wenn man auf der Leiter oben steht, ich bitt Sie.«

Dann reichte sie ihm das Buch wie einen staubfreien Teller hin. Sie hätte gar zu gern ein Gespräch mit ihm angeknüpft. Aber es gelang ihr nicht. Er sagte kurz »danke« und kehrte ihr den Rücken. Sie verstand und ging. Als sie die Türschnalle in der Hand hielt, drehte er sich plötzlich um und fragte mit erheuchelter Freundlichkeit:

»Das ist Ihnen wohl schon oft passiert?«

Sie durchschaute ihn und war ehrlich entrüstet: »Aber, ich bitt Sie, Herr Professor!« Das »bitt Sie« stach spitz wie ein Dorn durch ihre ölige Sprache. Sie kündigt mir noch, dachte er und erklärte begütigend:

»Ich meinte ja nur. Sie wissen, was für Werte in dieser Bibliothek stecken!«

Auf einen so leutseligen Satz war sie nicht gefaßt. Sie wußte nichts zu erwidern und verließ befriedigt das Zimmer. Als sie draußen war, machte er sich Vorwürfe. Über seine Bücher sprach er wie der schmutzigste Händler. Wie sollte er eine solche Person denn anders dazu bringen, Bücher anständig zu behandeln? Ihren wirklichen Wert verstand sie nicht. Sie mußte glauben, daß er mit der Bibliothek spekuliere. Das waren Menschen! Das waren Menschen!

Nach einer unwillkürlichen Verbeugung, die den japanischen Manuskripten auf ihm galt, setzte er sich endlich an den Schreibtisch.