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JAN WOLKERS, Amerikanisch kurz

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JAN WOLKERS

AMERIKANISCH KURZ

Roman

Aus dem Niederländischen von Rosemarie Still
Mit einem Nachwort von Onno Blom

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ALEXANDER VERLAG BERLIN

Der Verlag dankt dem Nederlands letterenfonds für die
Übersetzungsförderung.

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© Alexander Verlag Berlin 2016
Alexander Wewerka, Fredericiastr. 8, D-14050 Berlin
info@alexander-verlag.com | www.alexander-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung Antje Wewerka, Abbildung:
Selbstporträt, Kohlezeichnung, 1945
Die Originalausgabe erschien 1962 unter dem Titel
Kort Amerikaans. Die Übersetzung folgt der 54.
durchgesehenen Ausgabe von 2012.
© 1962 by Jan Wolkers and J. M. Meulenhoff bv, Amsterdam
© Bildmaterial by Erben Jan Wolkers, Pomona, Texel
© Nachwort by Onno Blom
ISBN 978-3-89581-431-0 (eBook)

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

There is no trap so deadly as the trap
you set for yourself

Raymond Chandler, The Long Goodbye

Für Karina & Rosita

1

»Splitternackt, nur hier so ’n Fummel«, sagte Peter und fasste sich genüsslich in den Schritt.

Eric schaute hoch zum Kinotransparent über dem Eingang des Trianon auf der anderen Seite der Bree-straat. Eine Frau war darauf zu sehen, die auf den ersten Blick nackt schien. Ihr Schamhaar sah aus wie ein falscher Bart, der mit Bindfäden an Ort und Stelle gehalten wurde. Auf den Brüsten, mit Warzen wie fleischige Stempel, klebten Blütenblätter. Zuckende Blitze schossen aus dem Nabel über ihren Bauch: Radiowellen, ausgestrahlt an alle männlichen Antennen. Triumphierend hielt sie mit beiden Händen eine Boa Constrictor über ihrem Kopf.

»Im Nabel hat sie einen Diamanten«, fuhr Peter fort. »Der bewegt sich und glitzert, wenn sie tanzt. Du glaubst es nicht.«

»Wann warst du denn da«, fragte Eric abwesend.

»Gestern Abend. Ich geh noch mal hin. Und vielleicht sogar ein drittes Mal.«

»Ferkel!«

»Ist doch klasse, so ne Frau‚ die keine Angst hat, auch bei einer Schlange so richtig zuzupacken.« Sie lachten und blieben vor dem Postamt stehen.

»Ich muss einen Brief an meinen Bruder einwerfen, brauch aber noch Briefmarken«, sagte Eric.

Geschickt manövrierte er sich mit seiner Zeichenmappe – er war auf dem Weg zur Kunstakademie – durch die Drehtür. In dem von zahllosen Handabdrücken fettigen Glas spiegelte sich das Kinotransparent. Er sah eine nackte Tänzerin im grünen Schatten eines bedrohlichen Männerkopfes, darunter den Titel, der in Spiegelschrift aussah wie ins Griechische übersetzt.

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Im Postamt saßen nur ein paar vor sich hin dösende oder schlafende alte Männer auf den Bänken an der Wand. Eric trat an einen Schalter, aber niemand saß dahinter. Auch die anderen Schalter waren verwaist.

»Kann man hier noch Briefmarken kaufen«, rief er ungeduldig.

Er steckte den Kopf durch die Luke: Das Personal stand auf Stühlen und schaute durch die hohen Fenster hinaus.

»Dass diese Idioten noch auf die Straße gehen«, sagte ein Mädchen.

»Warum bleiben sie nicht da, wo sie sind«, sagte ein älterer, fast kahler Mann im grauen Kittel. »Die fordern es doch geradezu heraus.«

Eric rannte zur Drehtür. Durch den Spalt zwischen Bürstendichtung und Türpfosten konnte er hinausschauen, ohne selbst gesehen zu werden. Deutsche Soldaten kamen mit Gewehren unterm Arm vorbei. Wie Jäger in einem Rübenacker schritten sie, langsam und aufmerksam, und starrten aufs Straßenpflaster, als könnte jeden Moment ein aRebhuhn oder ein Fasan aufflattern. Plötzlich bückte sich einer, schaute noch mal genauer hin und kratzte dann mit der Innenkante seiner Stiefelsohle über den Boden. Er rief den anderen etwas zu und winkte. Vier Soldaten stellten sich um ihn herum. Er zeigte auf den Boden, als verliefe da eine Spur. Mit gesenkten Köpfen gingen sie auf die andere Seite. Eric sah, dass die Gewehrkolben, die sie unter den Arm geklemmt hatten, wie auf Kommando Richtung El-lenbogen rutschten. An der Bordsteinkante vor dem Foyer des Kinos machten sie Halt. Zwei Soldaten traten nach rechts, zwei nach links. Das Kino war geschlossen, das Foyer menschenleer. Vor der Kasse stand ein mannshoher, verglaster Aufsteller mit den Anfangszeiten der Vorstellungen und einigen Zeitungsausschnitten. Der Soldat, der in der Mitte des Foyers stehengeblieben war, ging vorsichtig da-rauf zu. Dann machte er einen Satz nach vorne und schlug mit dem Gewehrkolben gegen den Aufsteller. Er fiel um, die Glasscheibe zersprang mit lautem Klirren. Er gab den Blick frei auf einen Mann, der mit dem Rücken zur Straße auf dem Boden kniete. Es sah aus, als würde er beten. Der Soldat drückte ihm den Gewehrlauf in den Rücken. Der Mann hob die Hände und stand mühsam auf. Vor dem Soldaten humpelte er aus dem Foyer. Auf seiner Hose war am Oberschenkel ein großer roter Fleck. Die anderen Soldaten klopften ihn ab und durchsuchten seine Taschen. Dann packten sie ihn an den Handgelenken und zerrten ihn mit.

»Der arme Kerl«, hörte Eric jemanden am Fenster sagen.

»Guck dir das an, wie sie den ins Auto treten.«

»Die haben wieder ganz schön viele eingesammelt. Stell dir vor, dein Sohn wäre darunter.«

Eric dachte erschrocken an Peter, der vor dem Postamt auf ihn wartete. Hatte er sie gesehen und noch weglaufen können? Fast unmöglich, alles war so rasend schnell gegangen. Er traute sich nicht, durch die Drehtür zu gehen, um nachzusehen. Langsam ging er zu den Schaltern zurück.

»Haben die auch einen mit nem langen Regenmantel geschnappt«, rief er.

Sie blickten sich verstört um, als sei die Gefahr von draußen ins Postamt eingedrungen. Der ältere Mann im grauen Kittel stieg steif vom Stuhl herunter und trat an den Schalter.

»In meinem Alter ungefähr«, sagte Eric. »Er hat einen langen Regenmantel an.«

»Etwa auch mit so ner schönen Haarpracht«, fragte der Mann missbilligend.

Eric sah ihn scharf an und strich sich die Haarlocke von seiner Stirn über die Narbe an der linken Schläfe.

»Nein, er hat eine Glatze«, antwortete er.

»Der Überfallwagen war schon ziemlich voll«, sagte das Mädchen. »Sie haben nur noch einen aus dem Kino rausgeholt. Der war übel zugerichtet.«

»Der war’s nicht.«

»Wie hast du’s denn geschafft, hier reinzukommen«, fragte der Mann und setzte sich auf den Hocker hinter dem Schalter. Mechanisch schlug er die Mappen mit Briefmarken auf.

»Ich war gerade drin, als sie kamen«, antwortete Eric.

»Die hätten verdammt noch mal hinter dir herkommen können. Dann hätten wir hier auch diese Sche-rereien gehabt. Warum bleibt ihr nicht zu Hause?«

»Zehn Graue mit dem Wasserpferd«, sagte Eric und zog den Brief an seinen Bruder aus der Innentasche.

»Du bist ja ein ganz Abgebrühter«, sagte der Mann.

Widerwillig riss er einen Streifen Briefmarken ab und schob sie über den Schalter Eric zu. Ohne den Mann weiter zu beachten, klebte Eric fünf Marken auf den Umschlag und ließ die anderen in seine Zeichenmappe gleiten.

Die Straße war ausgestorben wie nach einem heftigen Unwetter. Die Soldaten waren verschwunden. Eric ging zu der Stelle, wo sich der Soldat gebückt hatte. Auf dem Boden war Blut. Blutstropfen, die eine Spur bis zum Kino zogen. Er folgte der Spur bis zum Kinoeingang und bog dann links in die Gasse ein.

Ich muss gleich zu Peters Eltern, dachte er. Aber vielleicht hatte er die Moffen ja doch kommen sehen. Vielleicht hatten sie es wirklich nur auf diesen einen Mann abgesehen. Vielleicht ist er doch zur Kunst-akademie gegangen.

Auf der Pieterskerkgracht blieb er stehen und blickte auf die Fassade der Kunstakademie gegenüber. Auf zwei Schmucksteinen direkt unter der Dachrinne stand auf samtenem Grund in goldener Versalschrift: RUST BAART LUST UND LUST MET GOD IS RUST (RUH’ GEBIERT LUST UND LUST MIT GOTT IST RUH’). Langsam überquerte er die Straße. Links von der grünen Tür befand sich eine Tafel mit der Inschrift: Zeichen- und Malakademie ARS AEMULA NATURAE. Er suchte eine Klingel, konnte aber nirgends eine entdecken. Dann schlug er mit der Faust ein paar Mal gegen die Tür, die unter den Schlägen nachgab. Er stieß sie auf und trat in eine große Marmorhalle, von der fünf Türen abgingen, vier ockerfarbene, rechts zwei, und links zwei, und hinten zwischen zwei Bogenfenstern, durch die kaltes Licht einfiel, eine grüne. Über dieser Tür hing eine Plakette mit goldener Aufschrift: Gestiftet von Jan Kneppelhout.

Plötzlich sah er, dass links eine der Türen aufgegangen war. Jemand blickte ihn aus dem Dunkel an. Als er darauf zuging, öffnete sich die Tür weit, und ein großer Mann in weißem Kittel und mit Schlapphut stand auf der Schwelle. Er sah aus wie Benitos Onkel aus dem Bilderalbum von C. Johan Kieviet Benito der junge Vagabund. Dessen Gesicht war so rot eingefärbt, dass es immer aussah, als hätte er gerade geweint.

»Haben Sie geklopft«, fragte der Mann finster.

»Ja, an die Eingangstür«, sagte Eric. »Aber keiner hat aufgemacht, und da bin ich halt reingegangen. Ich wollte hier malen. Nackt, wenn möglich.«

»Nackt…komm lieber angezogen«, sagte der Mann laut lachend und schob unverwüstliche falsche Zähne hinter seinen wulstigen schlaffen Lippen hin und her. »Ich weiß schon, was du meinst!« fügte er hinzu. »Aber Akt, das ist schwierig. Wird einfach zu teuer. Hier arbeitet nur noch ein einziger Student, der ist ein bisschen sonderbar. Wenn ich mich nicht irre, interessiert der sich nicht für nackte Frauen. Und außerdem, die Modelle sehen alle aus wie Hungerhaken, so mager sind sie geworden. Sie schämen sich, sich auszuziehen. Kannst du nicht eine Freundin mitbringen, die nicht so schüchtern ist?«

»Ich hab zwar eine«, sagte Eric. »Aber die hat die Krätze. Ihre Haut ist bedeckt mit juckendem Schorf. Die zieht sich nicht aus, wenn andere dabei sind. Nicht mal vor mir.«

»Ist vielleicht auch besser so.«

Plötzlich schaute er Eric mit einem durchdringenden Blick an.

»Wie alt bist du eigentlich?«

»Im Oktober werde ich neunzehn.«

»Musst du nicht in Deutschland arbeiten?«

»Ich bin untergetaucht, damit ich nicht zum Arbeitseinsatz muss. Ich wohne in einer Dachkammer hier in der Stadt.«

Er erschrak über sein Geständnis, doch als er den Mann ansah, dachte er, dass jemand mit Schlapphut und farbverschmiertem weißen Kittel kein Verräter sein konnte.

»Meine Mutter kommt jeden Tag mit der Tram und bringt mir im Henkelmann was zu essen«, fuhr er fort.

»Ganz schön riskant«, sagte der Mann und stülpte die Lippen vor, sodass sein Mund aussah wie der After eines großen Säugetiers. »Aber ich möchte mich erst einmal vorstellen. Van Grouw.«

Er streckte eine große Hand aus, die, als Eric seine schmale weiße Hand hineinlegte, noch röter wirkte als sein Gesicht. Schwarze Haare wuchsen darauf, krumm wie Insektenbeine.

»Eric van Poelgeest«.

»Du willst hier also den ganzen Tag malen und zeichnen?«

»Nur nachmittags. Vormittags arbeite ich. Da bemale ich Lampenschirme.«

»Lampenschirme«, sagte van Grouw verwundert.

»Mit Seeschlachten aus dem 17. Jahrhundert. Die Nachfrage ist groß. Die Leute interessieren sich immer mehr für unsere ruhmreiche Vergangenheit. Und viel anderes gibt’s ja kaum noch zu kaufen.«

Van Grouw zuckte die Achseln, streckte den Arm aus, sodass aus dem Ärmel seines weißen Kittels ein ebenfalls behaartes Handgelenk zum Vorschein kam, und blickte auf die Uhr.

»Ich habe jetzt keine Zeit mehr, dir die Akademie zu zeigen. Von mir aus kannst du gleich morgen anfangen. Wenn ich nicht da bin, gehst du durch die Tür hier.«

Er ging zu der grünen Tür und öffnete sie. Eric stellte sich neben ihn und sah einen mit gelben Steinen gepflasterten Innenhof, zwischen denen giftgrünes Moos wuchs. Ein großer Holunderstrauch sorgte für feuchte Luft.

»Du gehst durch diese Tür da«. Van Grouw zeigte auf eine baufällige Tür auf der anderen Seite des In-nenhofs. »Dahinter ist eine Treppe, die gehst du hinauf. Dann kommst du von selbst zum Studentenatelier.«

Er schloss die Tür wieder, legte vertraulich die Hand auf Erics Schulter und führte ihn zum Ausgang.

»Da hast du dir aber was vorgenommen, jetzt mit dem Malen anzufangen. So fröhlich sind die Zeiten ja weiß Gott nicht.«

»Jetzt, wo ich zu Haus weg bin, kann ich es endlich machen. Meine Eltern sind streng calvinistisch.«

»Ja, das ist nicht unbedingt das ideale Milieu, um einfach drauflos zu malen.«

»Bete und arbeite ist unsere Devise«, sagte Eric mit einem schiefen Lächeln.

»Du brauchst kein Material mitzubringen, hier gibt es genug. Am besten fängst du mit einem einfachen Stillleben an.« Er blickte auf Erics Zeichenmappe und fragte: »Hast du Arbeiten dabei?«

Eric nickte und reichte ihm die Mappe. Als van Grouw sie aufschlug, fielen die Briefmarken heraus. Er hob sie auf und warf einen kurzen Blick darauf.

»Das Wasserpferd«, sagte er. »Ein germanisches Symbol. Dieses seltsame Wesen schien den Menschen früher ihren Tod anzukündigen. Eine schöne Marke.«

Er steckte die Briefmarken wieder in die Mappe und blätterte die Zeichnungen durch. Jedes Mal, wenn er zwischen den Landschaften ein Selbstporträt entdeckte, sah er Eric einen Moment prüfend an.

Ob er die Narbe vermisst, dachte Eric.

»Eine düstere Sammlung«, sagte van Grouw mit leichtem Spott in der Stimme. »Bisschen wild, aber vielversprechend.«

2

»Paul…Paul!«

Da Jonkheer d’Ailleurs französischem Adel entstammte, rief seine Frau seinen Namen unten an der Treppe, als wohnte jemand aus Warschau im Haus.

D’Ailleurs legte den Pinsel aus der Hand und achtete darauf, dass die farbverschmierten Borsten die Schreibtischplatte nicht berührten. Er war von kleiner Statur, so um die sechzig. Sein Gesicht war ungesund blassrosa und voll horizontaler Falten, wie ein Stück Kalbfleisch, auf dem der Metzger die Schnittrichtung markiert hat.

Mühsam schob er sich hinter dem Ungetüm von Schreibtisch hervor und blieb, ehe er zur Tür rausging, kurz neben Eric stehen, der, über den Leuchttisch gebeugt, das Abfeuern der Kanonen während der Viertägigen Seeschlacht mit ostindischer Tusche von einer Reproduktion auf Transparentpapier über-trug.

»Das ist wieder nichts, das ist einfach grauenhaft«, sagte er mit seiner pedantischen Kastratenstimme und zog vor Abscheu die haarlosen Augenbrauen hoch. »Es ist nicht nur grauenhaft, es ist sogar ab-scheulich, würde ich sagen. Siehst du denn nicht, dass das Pulverdampf ist? Das braucht Feingefühl. Du musst zuweilen die Kontur unterbrechen, das lässt mehr Raum. Jetzt sieht es so aus, als würden die Rauchwolken mit dicken schwarzen Seilen zusammengehalten. Wie aus dir jemals ein Maler werden soll«, murmelte er mit seinen blutleeren Lippen und verließ kopfschüttelnd das Zimmer.

Eric war froh, den sauren Gestank nicht mehr zu riechen, der fast sichtbar wie Dampf aus d’Ailleurs’ Anzug aufstieg.

»Soll er’s doch selber mal versuchen«, sagte er zu Elly, einem blonden jüdischen Mädchen, das mit dem Rücken zu ihm an einem Zeichentisch am Fenster saß. »Aber was tut dieser Rembrandt der Dämmerstunde? Er beschmiert unsere Zeichnungen mit den grässlichsten Farben. Nur schmuddeliger Tabaksaft. Er wird in seinem Farbkasten doch bestimmt auch Kobaltblau und Kadmiumrot haben.«

»Er taucht die Pinsel in seine stinkenden Pfeifen«, sagte Elly lachend. Sie stand auf und ging hinter d’Ailleurs Schreibtisch. »Dieses Meer zum Beispiel. Schau’s dir an. Nicht zu fassen!«

Eric stellte sich neben sie und legte den Arm um ihre Taille.

»Sieht doch aus wie totgekochter Grünkohl. Kein Wunder, dass auf diesen Schiffen so mutig gekämpft wird. Wer verliert, wird in seinem Matsch gekielholt.«

»Ich darf nicht dran denken. Man versinkt ja nicht mal drin.«

»In so ’ner See wie Jesus über die Wellen zu schreiten, ist ein Kinderspiel. Man kriegt nur nasse Füße.«

Beim Reden hatte er vorsichtig ihren Pulli aus dem Rock gezogen und seine Hand hineingeschoben. Mit einem Zipfel ihres Unterhemds strich er ihr sanft über den Rücken.

»Was soll das«, fragte Elly.

»Ist doch schön, so über den Rücken gestreichelt zu werden.«

»Ja, wenn’s Clark Gable täte… Dabei hast du doch so ne nette Freundin. Oder willst du mir weismachen, dass es deine Schwester war, die auf dich gewartet hat?«

»Sie ist erst siebzehn. Das ist nicht viel besser. Küssen und ein bisschen rumfummeln in einem Haus-eingang. Mehr nicht. Du könntest mir bestimmt was beibringen.«

»Na hör mal. Ich gebe doch keine Liebeslektionen«, sagte sie schnippisch.

»Dann muss ich dich eben zwingen«, sagte er grinsend. »Ich kann dich tun lassen, was ich will. Tanzen wie Salome. Nackt, mit dem abgeschlagenen Kopf von d’Ailleurs auf einem Silbertablett.«

»Du und mich zwingen«, sagte Elly und wackelte herausfordernd mit dem Hintern.

Erics Hand wanderte zu ihrer warmen, feuchten Achsel. Sie ließ ihn gewähren, presste den Arm nicht an ihren Körper. Plötzlich zog er den unteren Rand ihres Büstenhalters vom Körper weg, sodass die Brust herausfiel wie ein Pudding aus der Form. Mit den Fingerspitzen rieb er den Nippel, bis er hart war, und kniff mit den Nägeln sanft hinein.

»Ich kann dir drohen, dich anzuzeigen, wenn du nicht alles tust, was ich sage.«

»Dann bist du aber auch dran«, sagte Elly eisig und drehte sich abrupt um, sodass ihre Brust aus seiner Hand hüpfte.

Eric zog seine Hand aus ihrem Pullover und schnupperte daran.

»Und jetzt noch behaupten, dass ich stinke.«

»Du riechst gut. Nach Sommer und dem ganzen Scheiß. Echte Seife. Ich muss mich mit Lehmseife waschen.«

»Deshalb siehst du so grau aus«, sagte Elly spöttisch.

Eric trat ans Fenster, stützte sich auf die Fensterbank und starrte hinaus. Vor der Ortskommandantur hielt ein graugrünes Fahrzeug. Der Fahrer stieg aus, ging um das Auto herum und hielt einem hohen Offizier den Schlag auf.

»Weißt du, dass sie Peter verhaftet haben«, sagte er.

»Der Blonde, der dich gestern abgeholt hat?«

»Kaum eine halbe Stunde danach. Gestern Abend war ich bei seinen Eltern. Er muss Schützengräben ausheben in Katwijk. Die Typen haben Klamotten bei ihm zu Hause abgeholt. Ich konnte um ein Haar entkommen. Er hat vor der Post auf mich gewartet, als dort eine Razzia war. Wenn ich keine Briefmarken gebraucht hätte, wäre ich auch dran gewesen.«

»Ihr verhaltet euch verdammt noch mal auch so, als herrschten normale Zeiten.«

Die Treppe knarrte. Eric ging vom Fenster weg und Elly stellte sich an ihren Zeichentisch.

»Er versucht immer, uns zu ertappen«, sagte sie.

»Der denkt bestimmt, dass wir uns hier mal schnell auf die Matte legen. Versucht er nie, dich zu ver-führen«, fragte Eric und wischte mit einem Lappen die von der Wärme des Leuchttisches getrocknete Tusche von seiner Feder.

»So ab und zu. Eigentlich ist es auch ein bisschen traurig.«

»Wenn du nachmittags mit ihm allein bist?«

»Bist du verrückt! Doch nicht während der Arbeitszeit.«

»Die gehört ja auch dem Chef.«

»Seine Frau geht am Wochenende zu den Enkelkindern, sagt er dann. Wenn die Zeiten nicht so schlimm wären, würde er gern mal mit mir so richtig auf den Putz hauen, meint er und reibt sich vor Freude seine kleinen Hände, als wäre das Ganze nur ein Witz. Aber er klopft dann doch an meine Zimmertür und fragt, ob ich vor dem Schlafengehen noch was mit ihm trinke. Aber ich hab immer du-weißt-schon.«

»Er hält es ziemlich lang hinter der Tür aus.«

Lautlos ging Eric zur Tür und öffnete sie mit einem Ruck. D’Ailleurs stand gebeugt dahinter, den Kopf in Höhe des Schlüssellochs. Er bückte sich und zog den Läufer gerade.

»Wer hier doch immer über die Läufer stolpert, ohne sie wieder richtig hinzulegen«, murmelte er. Dann blickte er verwundert zu Eric hoch, als bemerkte er jetzt erst, dass die Tür offen war. »Willst du durch«, fragte er und richtete sich auf. »Ja, es ist Zeit«, sagte Eric.

Er ging zum Leuchttisch und knipste das Licht aus.

»Vergiss deinen Lumpen nicht«, sagte d’Ailleurs und deutete mit angewiderter Miene auf Erics Pelz-jacke, die über einem Stuhl hing.

»Nein, bestimmt nicht«, sagte Eric.

Er schlüpfte in seine Pelzjacke, grüßte und lief laut pfeifend die Treppe hinunter.

Draußen roch er den blühenden Phlox im Vorgarten. Er überquerte die Straße und ging weiter zwischen den Platanen, die in einer Doppelreihe auf dem begrünten Mittelstreifen standen. Er blickte auf das Denkmal von Boerhaave, das am Anfang der Allee über wogende, immergrüne Büsche herausragte. Eric erinnerte sich auf einmal an die Ansichtskarte, die Onkel Leo kurz vor dem Krieg aus Paris geschickt hatte. Auch darauf war die dunkle Silhouette der Statue eines Mannes mit einem breit um die Schultern geworfenen Mantel zu sehen.

Nächstes Jahr ist alles vorbei, dachte er, dann gehe ich über diesen Boulevard. Es kann nicht mehr lange dauern. Dies wird der letzte Kriegswinter sein.

Er schaute auf die Turmuhr der Uniklinik. Fünf nach eins. Er bog links in den Rijnsburgerweg ein. Als er fast bei den Bahnschranken war, gingen sie herunter. Ein Mann rannte bis zur Mitte der Straße und schob sich mit gebeugtem Kopf unter der Schranke durch. Auf der anderen Seite sprang er behände über die geschlossene Schranke. Eric überquerte die Straße und ging die hölzerne Bahn-brücke hinauf. Auf der Brücke über den Schienen blieb er stehen. Durch die Spalten zwischen den Brettern konnte er den rostigen Schotter zwischen den Schwellen sehen. Er schaute über die Brüstung, ob der Zug schon kam. Die Schienen lagen weiß glitzernd in der Sonne, schossen hinein ins Weideland vor der Stadt, bis sie im Dunkel eines Tunnels zusammengepresst wurden wie von einer Hand, die ein Bündel Spaghetti umklammert. Eine weiße Wolke näherte sich, wurde größer und länger und färbte sich im Sonnenlicht blau und orange. Eric war plötzlich in eine Wolke aus Dampf gehüllt.

Ein paar Sekunden kann mich niemand sehen, dachte er. Der perfekte Untergetauchte.

3

Vor der Akademie war die Hitze erdrückend gewesen, doch im Innenhof war es so kühl, als wäre in den paar Sekunden, die Eric gebraucht hatte, um die Marmorhalle zu durchqueren, eine Jahreszeit verstri-chen. Der Boden dort war glitschig wie Lehmboden im November. Er musste vorsichtig gehen, um nicht auf dem Moos auszurutschen. An der rechten Seite des Innenhofs befand sich ein niedriges Gebäude mit drei großen Fenstern, hinter denen Reihen von Rollstühlen standen.

Das Materialdepot vom Grünen Kreuz, dachte Eric. Er hatte am Haus neben der Akademie ein entsprechendes Schild gesehen.

Er lief zu der Tür, die ihm van Grouw tags zuvor gezeigt hatte, und ging hinein. Durch das Rundfenster über der Tür fiel ein kalthelles Licht ins Treppenhaus. Er stieg die Eichenholztreppe hoch, die einen Bogen nach links machte und in einen Korridor mündete. Von dort blickte er durch ein Fenster hinunter in den Innenhof. Im Depot des Grünen Kreuzes ging ein alter Mann auf steifen Beinen durch die ausgesparten Wege zwischen den Rollstühlen hin und her. Mit einer schroffen Bewegung rückte er einen schiefstehenden Rollstuhl gerade und trat dann ans Fenster. Er sackte leicht in die Knie, schüttelte den Unterleib, gab so einem Körperteil, das eingezwängt war, mehr Bewegungsfreiheit und blickte nach oben, ob ihn bei dieser intimen Handlung jemand beobachtete. Als er Eric am Fenster stehen sah, zog er missbilligend und misstrauisch die Augenbrauen zusammen, sodass sich über der Nasenwurzel eine tiefe Falte bildete. Eric nickte würdevoll, doch der alte Mann ballte die Faust, bemühte sich, sie hochzuheben, ließ den Arm dann aber mit einer gichtgeplagten Bewegung fallen und verschwand vom Fenster.

Eric ging weiter, öffnete die Tür am Ende des Korridors und stand in einem großen Klassenraum mit einer Zwischendecke aus dicken Balken. In der linken Wand waren drei große Fenster, aber die Fülle des Lichts konnte das Dunkel zwischen den Balken nicht vertreiben, sodass der tiefe Raum ge-heimnisvoll wirkte. Gegenüber der Tür gab es drei Wandschränke, der mittlere war geöffnet. In den Regalen lagen Attribute für Stillleben – Schädel, einige glänzend weiß, Tongefäße, staubbedeckte, von Motten angefressene ausgestopfte Vögel, alte, in Leder oder Pergament gebundene Bücher, deren Titel auf den Buchrücken manchmal mit verblasster Tinte geschrieben waren – Gottesfürchtige Betrachtun-gen über die Wunder Christi von Rumoldus Rombouts; Niederdeutsche Sprichwörter, erläutert zum gründlichen Verständnis der vaterländischen Muttersprache von Carolus Tuinman.

An der Rückwand zusammengeschobene Staffeleien. Nur in der Mitte des Studentenateliers stand eine Staffelei mit einer Leinwand. Eric ging hin, aber noch bevor er die Darstellung auf der Leinwand gesehen hatte, sah er das Stillleben mit dem weißen Schädel, der blauen Flasche und der Violine. Es war auf einem großen Zeichenbrett angeordnet, das auf einer Kiste lag, direkt neben der Tür, durch die er hereingekommen war. Die Violine lehnte hochkant schräg an der Wand, hinter dem Schädel. Die Flasche stand neben dem Schädel an der Fensterseite. Das Licht, das durch sie hindurch fel, verursachte einen blauen Fleck auf der linken Schläfe des Schädels. Dann blickte er auf das Bild. Er trat einen Schritt zurück und hielt den Atem an. Die Farben des Stilllebens waren mit großer Genauigkeit wiedergegeben, aber das Licht, das durch die Flasche auf die Seite des Schädels fiel, war violettbraun gemalt.

Ich bin in Gefahr, dachte Eric. Der Mann, der das gemalt hat, muss gewusst haben, dass ich hierher kommen würde. Van Grouw konnte das nicht gemalt haben. Der arbeitete nicht im Studentenatelier. Aber vielleicht hatte er diesem sonderbaren Maler gesagt, dass ein neuer Student käme. Du erkennst ihn sofort, er hat eine große Narbe am Kopf. Genau an der Stelle, wo das blaue Licht auf diesen Schädel fällt. Nur ist sie nicht blau. Das wäre ihm bestimmt lieber. Nein, sie ist abscheulich violett-braun. Dann hat er den Pinsel genommen, etwas Farbe auf der Palette gemischt und über das Blau auf dem Schädel gestrichen. Lächerlich, das zu denken. Van Grouw verhunzt doch kein Bild, um ihn, Eric, zu beschrei-ben. Dennoch musste mehr dahinterstecken. Denn was hätte diesen Maler sonst dazu animieren können, solch eine Kackfarbe für diesen blauen Widerschein zu verwenden, wo er die anderen Farben doch so naturgetreu wiedergegeben hatte.

Er tat ein paar Schritte nach vorn, neigte den Kopf ganz nah an das Gemälde und sah, dass das ursprüngliche Blau tatsächlich violett-braun überpinselt war. Das Bild war trocken, bis auf die Stelle an der Schädelseite.

Er griff zum Pinsel, der vor dem Bild auf der Staffelei lag, und strich damit über seinen Zeigefinger. Dann ging er zu dem kleinen Waschbecken in der linken Ecke des Ateliers. Er drückte sein Gesicht fast gegen den Spiegel und presste den Zeigefinger an seine Schläfe.

Genau dieselbe Farbe, dachte er. Als wäre diese Farbe auf meiner Schläfe und hätte auf meinen Finger abgefärbt.

Er wischte Farbe auf das Glas an der Stelle, wo sich die Narbe widerspiegelte. Man sah sie nicht.

Vielleicht ist es ein dummer Scherz, dachte Eric. Wurde die Farbe auf den Schädel geschmiert, als ich die Treppe hinaufstieg. Vielleicht hat dieser Maler gerade aus einem Fenster geguckt, als ich durch den Innenhof ging. Die Narbe befindet sich an dieser Seite. Von oben muss sie also zu sehen gewesen sein.

Eric drehte sich um und inspizierte die Wände und die Decke. Aber da waren so viele Löcher und Risse, er hätte aus hundert verschiedenen Stellen heimlich beobachtet werden können. Er ging zu der Tür zwischen Waschbecken und Schränken. In Augenhöhe war ein Kärtchen an die Tür gepinnt: VAN GROUW – KUNSTMALER. Eric klopfte und lauschte eine Weile angestrengt. Dann drückte er den Türgriff herunter und stemmte sich dagegen, doch sie ließ sich nicht öffnen. Nichts rührte sich. Als wäre sie von innen verriegelt.

Er ging zum erstbesten Schrank und machte ihn auf. An der Rückwand befanden sich Kleiderhaken. An einem der Haken hing ein grauer Kittel. In einer Ecke stand ein antikes Gewehr mit dem Lauf auf dem Boden. Der Kolben war mit kunstvoll gravierten Metallplatten besetzt. Eric nahm das Gewehr, hängte es sich am Riemen über die Schulter und stellte sich vor den Spiegel. Düster und fanatisch betrachtete er sich.

»Der Aufstand greift um sich wie ein loderndes Feuer«, murmelte er. »Bewaffneten Bürgern gelang es, die wichtigsten Gebäude einzunehmen. Der Feind hat sich auf Stellungen rund um die Stadt zu-rückgezogen. Unter der mitreißenden Führung von Eric van Poelgeest, der trotz einer ernsthaften Ver-letzung an der linken Schläfe den Löwenanteil zur Vertreibung des Feindes beitrug, wird der Kampf bis zum bitteren Ende weitergeführt. Siegen oder sterben, lautet die Devise dieses unbeugsamen Helden.«

Eric sah sich eine Weile ernst im Spiegel an, stellte dann das Gewehr zurück und blickte in den hinteren Schrank. Aber darin standen, wie im mittleren, Objekte für Stillleben.

Trotzdem muss ich alles untersuchen, hier können geheime Räume sein, dachte er.

Er ging hinaus in den Korridor. Gegenüber dem Fenster, von wo aus er den alten Mann beobachtet hatte, befand sich eine Tür. Er öffnete sie und kam in einen Abstellraum. Gipsabgüsse standen unter einer grauen Staubdecke, in einer Ecke hing ein Skelett locker an einem Ständer. Überall lagen bemalte Leinwandfetzen auf dem Boden, die offensichtlich wütend von Keilrahmen gerissen worden waren. Als ob der Boden übersät war mit unförmiger Keramik, misslungenem Gemüse und Äpfeln, die nicht rund hatten werden wollen.

Auf einmal sah Eric, dass der Abstellraum keine Decke hatte, dass sich die Wände nach oben fortsetz-ten. Dass das schwache Licht aus einem schmutzigen, schrägen Dachfenster einfiel. Er ging zu einer Leiter an der hinteren Wand und kletterte hoch. Als sein Kopf über der Wand war, sah er einen Dachboden, der so groß war, dass es schien, als setzte er sich in alle Richtungen bis zum Horizont fort. Nachdem sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah er, dass das Dach bis zum Fußboden reichte. Es war nirgends verkleidet. Die grauen Dachziegel hingen schlaff an den Dachlatten wie eine schuppige, zu große Haut. In der Mitte des Dachbodens stand eine kleine aus altem Holz gezimmerte Hütte, deren Tür mit einem Vorhängeschloss versperrt war. Er wollte hingehen, aber als er die Hände vom Fußboden nahm, waren sie grau vom Staub. Auf den Holzdielen war ein deutlicher Abdruck zurückgeblieben.

Ich würde mich verraten, wenn ich dort hinginge, dachte er. In Zukunft kann es vielleicht nötig sein, dass niemand vermutet, dass ich von dem Dachboden weiß. Eigentlich kann niemand auf dem Boden gewesen sein, um mich zu belauern. Sonst würde ich dessen Fußspuren genauso deutlich sehen wie meinen Handabdruck. Es sei denn, es gibt noch einen anderen Zugang. Er strengte seine Augen an, konnte aber nichts dergleichen entdecken.